Lindenschwärmer (Smerinthus tiliae)

[372] Im Mai und Juni sieht man nicht selten an den Pappelstämmen der Heerstraßen oder der Dorfteiche einen röthlichgrauen Schmetterling hängen, welchen man aus der Entfernung für ein dürres Blatt halten könnte. Die ausgezackten Flügel legen sich so über den Rücken, daß der Außenrand der hinteren über den Vorderrand der vorderen hervorragt. Er hängt in der That; denn nur seine Vordersüße halten ihn fest. Manchmal hängen ihrer zwei aneinander, die Köpfe einander entgegengesetzt, und verweilen in dieser Lage halbe Tage lang. Es ist dies eine von den Eigenthümlichkeiten dieser Schwärmer, welche man ihrer abweichenden Flügel wegen auch Zackenschwärmer genannt hat, daß sie, gegen die Weise der echten Schwärmer, über Tage sich in der Paarung betreffen lassen, und daß sie nach Art gewisser Spinner, welchen sie auch in der Körpertracht nahe stehen, dieselbe sofort beginnen, wenn die beiden Geschlechter in einem Zwinger den Puppen entschlüpft sind. Ihre zweite Eigenthümlichkeit besteht darin, daß sie infolge ihrer weichen und schwachen Zunge nicht schwärmen, sondern während des Nachts lebhaft umherfliegen, ohne gerade den Blumen nachzugehen; wenigstens fängt man sie nie an solchen Stellen, wo Windig, Liguster-, Wolfmilchs-, Weinschwärmer, Tannenpfeil und andere summend und brummend Honig naschen. Trotzdem haben den Zackenschwärmern ihre allgemeine Körpertracht, der Verlauf des Flügelgeäders, die Fühlerbildung sowie die gehörnte Raupe und deren Verpuppungsweise ihren Platz unter den Schwärmern gesichert. Der Pappelschwärmer (Smerinthus populi), welcher anfangs gemeint war, hat stumpf ausgezackte, ziemlich breite Flügel, auf deren vorderen zwei braunrothe, etwas gewellte, schmale Binden die drei Felder abscheiden, ein weißes Mondchen sowie ein braunrother sogenannter »Mittelschatten« das mittelste kennzeichnet; durch die am Vorderwinkel ausgeschweiften, am Innenrande braunroth beschatteten Hinterflügel ziehen zwei Binden. Die Fühler des im Leibe schlankeren Männchens zeichnet eine Doppelreihe von Kammzähnen aus. Im Spätsommer kriecht eine und die andere spitzköpfige, gelbgrüne, durch erhabene Punkte rauhe Raupe, deren [372] Seiten mit weißlichen Schrägstrichen gezeichnet sind und deren vorletztes Glied ein schwarz bespitztes Horn ziert, auf der Landstraße umher, überzieht sich auch mit deren Staube bis zur Unkenntlichkeit. Sie kam vom Baume herab, um sich in der Erde ein Kämmerlein zur Verpuppung zu suchen. Uebrigens frißt sie auch Weiden, wie die ähnliche Raupe des schönen Abendpfauenauges (Smerinthus ocellatus, Fig. 1), welches sich durch das blaue Pfauenauge auf dem karminrothen, in der Farbe nicht echten, d.h. leicht ausbleichenden Hinterflügeln vortheilhaft vor allen heimischen Schwärmern auszeichnet. Der Lindenschwärmer (Smerinthus tiliae), mit ausgenagten Vorderflügeln und von ockergelber Grundfarbe mit veränderlich dunkler Bindenzeichnung, ist der dritte der in Deutschland allgemein verbreiteten Zackenschwärmer, deren jeder seinen eigenen Flügelschnitt hat.


1 Abendpfauenauge (Semerinthus ocellatus) nebst Raupe. 2 Karpfenschwänzchen (Macroglossa stellatarum) nebst Raupe. Natürliche Größe.
1 Abendpfauenauge (Semerinthus ocellatus) nebst Raupe. 2 Karpfenschwänzchen (Macroglossa stellatarum) nebst Raupe. Natürliche Größe.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 372-373.
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