Vierzehnte Familie: Pflanzenwespen (Hymenoptera phytophaga)

[325] Die Familie der Pflanzenwespen (Hymenoptera phytophaga oder Phytospheces) zeichnet sich im vollkommenen Zustande ihrer Mitglieder durch einen angewachsenen Hinterleib und durch den größeren Zellenreichthum des Vorderflügels, durch die sogenannte lanzettförmige Zelle (Fig. 1 u. 9, S. 201) vor allen anderen aus, die Larven aber dadurch, daß sie in größerer Selbständigkeit als alle übrigen auftreten, indem sie sich, in der Mehrzahl frei an Pflanzen lebend, einige jedoch auch im Inneren derselben bohrend, nur von lebenden Pflanzenstoffen ernähren. Auf die Larven bezieht sich daher auch obige Bezeichnung der Familie; denn daß alle Aderflügler im vollkommenen Zustande vorherrschend Süßigkeiten lecken, keiner Blätter oder Holz frißt, wurde bereits früher erwähnt.

Der Kopf steht in der Regel dicht vor dem Mittelleibe, ist mit Nebenaugen, sechs (sieben)-gliederigen Kiefertastern und viergliederigen Lippentastern mit geringen Ausnahmen versehen. Figur 4 auf Seite 5 vergegenwärtigt die Grundform der Mundtheile mit Ausschluß der durch nichts ausgezeichneten Kinnbacken. Die ungebrochenen Fühler zeigen zwar die in der ganzen Ordnung vorherrschende Faden- und Borstenform in den überwiegenden Fällen, doch schleichen sich daneben allerlei Nebenformen, besonders als Schmuck der Männchen, ein. Neun (bis elf) und drei sind Zahlen der sie zusammensetzenden Glieder, welche bei der Unterscheidung eine Rolle spielen; sind es ihrer mehr, so pflegt man sie nicht zu zählen. Der Mittelleib nimmt durchschnittlich den dritten Theil der ganzen Körperlänge, mit Ausschluß des Kopfes, ein und ist in seinem mittelsten Ringe, wie bei allen Aderflüglern, am meisten entwickelt, im Hinterrücken hier aber weniger als bei allen übrigen Familien, weil ihm ein »abschüssiger« Theil vollständig fehlt, [325] da der angewachsene Hinterleib seine volle Hinterwand zur Anheftung in Anspruch nimmt. Der kurze Theil, als vorderer von dem abschüssigen bei den anderen Familien unterschieden, zeichnet sich nie durch Felderung, wohl aber jederseits durch ein meist heller gefärbtes häutiges Fleckchen aus, welchem Hartig den Namen Rückenkörnchen beigelegt hat. Der Hinterleib ist bei den Männchen etwas plattgedrückt, bei den Weibchen der meisten walzig und läßt die Scheiden der Legröhre an der Unterseite sehen, wenn dieselbe nicht schwanzartig die Spitze überragt. Diese tritt hier nie in Form eines Stachels auf, sondern als Messer, Stoßsäge, Feile, Raspel. Das Geäder der Flügel, namentlich der vorderen, seiner Zeit ausführlicher besprochen, verdient ganz besondere Beachtung, weil es in erster Linie zur Unterscheidung der zahlreichen Gattungen benutzt wird. An den Beinen haben diese Wespen die zwei Schenkelringe mit allen nicht stechenden Immen gemein. Die beiden Enddornen der Schienen, an den vorderen bisweilen nur einer, kommen nicht immer in der gewöhnlichen Dornenform, sondern bisweilen breitgedrückt, mehr häutig vor, auch sind die Fußsohlen vieler mit breiten napfartigen Erweiterungen (Patellen) versehen und die Klauen zweizähnig.

Die in ihrer Gesammtheit eben kurz charakterisirten Wespen wurden und werden noch vielfach in zwei Familien zerlegt: die Holzwespen mit vortretendem Legebohrer und fußlosen oder höchstens sechsbeinigen, bohrenden Larven und die Blattwespen mit verborgenem Bohrer und mehrfüßigen, äußerlich an Pflanzen fressenden Larven. Unter letzteren kommen jedoch durch äußere Gestalt, Form der Larven und deren Lebensweise so scharf von den übrigen getrennte Wespen vor, daß auch diese eine besondere Familie bilden müßten. Es erscheint daher die Vereinigung aller zu einer Familie und die Zerlegung dieser in drei Sippen, wie im folgenden geschehen, das Zweckmäßigste zu sein.

Von den bisher betrachteten Aderflüglern sind nur die Larven der echten Gallwespen auf von ihnen selbst zu erreichende Pflanzennahrung angewiesen, aber insofern vollkommen unselbständige Wesen, als sie in Gallen wohnen und in der ihnen durch die Gallenbildung angewiesenen Kammer der Ortsveränderung entbehren. Hier finden sich gleichfalls bohrende Larven, welche, dem Lichte entzogen, beinfarben, wie alle dergleichen Larven, erscheinen, aber doch mehr Freiheit genießen, weil sie ihren Gängen eine beliebige Richtung geben können. Dieselben gehören den Holzwespen an und haben sechs deutliche oder verkümmerte Brustsüße, oder einigen wenigen Blattwespen, wenn ihnen zahlreichere Beine zur Verfügung stehen. Die bei weitem größere Anzahl der Larven lebt aber frei auf den Blättern, gleicht durch bunte Farben den Schmetterlingsraupen, für welche sie der Unkundige auch häufig genug hält, und erlangt somit eine Selbständigkeit wie sonst keine Aderflüglerlarve. Diese Afterraupen, wie man sie genannt hat, leben gern in Gesellschaft beisammen und sitzen in der Ruhe schneckenförmig zusammengerollt auf der oberen oder unteren Blattfläche ihrer Futterpflanze. Beim Fressen reiten sie auf dem Blattrande und umsäumen ihn auf sehr eigenthümliche Weise, wenn ihrer mehrere beisammen sind. Dabei haben viele die sonderbare Gewohnheit, den von den Brustfüßen an folgenden Körpertheil fragezeichenförmig in die Höhe zu halten und taktmäßig auf und nieder zu bewegen, wenn erst eine von ihnen den Ton angegeben hat. Es ist höchst unterhaltend, diese wippenden Fragezeichen zu beobachten, aber auch ersichtlich, daß sie nicht zum Vergnügen, sondern zur Abwehr einer vermeintlichen Gefahr dergleichen Turnkünste vornehmen. Man braucht sich nur der kleinen Gesellschaft so weit zu nähern, daß sie den Athem fühlt, so setzt sie sich in der angegebenen Weise in Bewegung, läßt sich wohl auch herabfallen, wenn sie weiter belästigt wird. Ganz besonders dürfte das Gebahren darauf berechnet sein, einer zudringlichen Schlupfwespe ihr Vorhaben zu vereiteln. Mit Ausschluß des vierten und häufig auch des vorletzten Leibesgliedes trägt jedes ein Paar kurzer Beinchen, von welchen die drei vordersten Paare an den Brustringen nur horniger Natur, gegliedert und mit einer Klaue versehen sind, während die übrigen fleischigen Zapfen oder ausstülpbaren Warzen gleichen. Durch jene Lebensäußerungen sowie durch die Anzahl von zwanzig bis zweiundzwanzig Beinen unterscheidet sich jede Afterraupe von der höchstens [326] sechzehnbeinigen Schmetterlingslarve. Ihre Haut erscheint auf den ersten Blick nackt, doch bemerkt man bei genauerer Besichtigung dünne Behaarung, manchmal auffallende Dornspitzchen, nie aber das dichte Haarkleid, wie bei so manchen der letzteren. Die Farben sind lebhaft, doch nicht mannigfaltig, und dunklere Flecke auf hellem Grunde die gewöhnlichen Zeichnungen. Die Afterraupen sind mit einfachen Augen und kleinen Fühlern ausgestattet, häuten sich mehrere Male, wobei manche nicht nur Farbe, sondern auch Gestalt nicht unwesentlich verändern. Eine dritte Form, welche den Gespinst-Blattwespen angehört, weicht in Form und Lebensweise wesentlich von den Afterraupen ab, wovon weiter unten bei Besprechung dieser Sippe.

Erwachsen, verlassen die meisten ihre Futterpflanze und spinnen in der Erde, an derselben, unter dürrem Laube oder Moose, mitunter aber auch am Stengel anderer Pflanzen ein tonnenförmiges, pergamentähnliches, jedoch auch zarteres Gehäuse, in welchem sie in verkürzter Gestalt und bewegungslos den Winter verbringen und erst kurze Zeit vor dem Ausschlüpfen der Fliege zur gemeißelten Puppe werden. Manche entwickeln zwei Bruten im Jahre und ruhen daher in der Sommerbrut nur kurze Zeit, andere brauchen ein volles Jahr und darüber. In dieser Hinsicht kommen aber auch sonderbare Ausnahmen vor. So verpuppen sich die Larven einer brasilischen Hylotoma-Art (Dielocerus Ellissi) gesellschaftlich. Das Nest hat die Form eines gestreckten Eies von 10,5 bis 13 Centimeter Länge und hängt aufrecht an einem Zweige. Jede Larve besitzt ihre eigene Zelle, welche in mehreren Schichten dicht, fast wie Bienenzellen, auf- und nebeneinander liegen, so zwar, daß ihre Queraxe mit der Längsaxe des Zweiges zusammenfällt und ihre beiden Enden freistehen. Dies Ganze wird von einer gemeinschaftlichen Bedeckung umschlossen, welche im Inneren seidenartig, auswendig geleimt ist. Beiläufig sei noch eines anderen Ausnahmefalles gedacht, welcher die Perga Lewisii, eine neuholländische Art, näher angeht. Im April legt das Weibchen seine blaßgelben Eier zweireihig in die Blattmittelrippe einer Eucalyptus-Art. Nach wenigen Tagen erscheinen die dunkelgrünen Lärvchen und fressen gesellig, wie es scheint, des Nachts. Die Mutter sitzt schützend über den Eiern und derjungen Brut, während für gewöhnlich die Mütter nicht mehr sind, wenn letztere zum Leben erwacht. – Man kennt bis jetzt mindestens tausend verschiedene Glieder der Familie.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 325-327.
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