Zweite Ordnung: Die Zweipaarfüßler, Tausendfüßler, Schnurasseln [625] (Diplopoda, Chilognatha)

In der äußeren Erscheinung unterscheiden sich die Chilognathen von den Mitgliedern der vorigen Ordnung wesentlich durch den senkrecht gestellten Kopf, den drehrunden oder halbwalzigen Körper, dessen mehr oder weniger zahlreiche Ringe vom fünften oder sechsten an je zwei Paar Gangbeine führen. – Der verhältnismäßig große Kopf zerfällt in einen oberen und vorderen, mit freiem Rande endenden Scheiteltheil und in zwei unterhalb liegende, an jenem etwas beweglich angefügte Backentheile. In zwei Stirngruben stehen weit von einander entfernt die meist siebengliederigen, in der Regel nach vorn schwach verdickten Fühler, über oder hinter ihnen die gehäuften, auch gereiheten einfachen Augen, sofern sie nicht gänzlich fehlen; im ersteren Falle drängen sie sich nicht selten so zusammen, daß sie dem äußeren Anscheine nach für Netzaugen gehalten werden könnten. Den Mundtheilen kommen hier die vier vordersten Beine nicht zu Hülfe, sondern sie bestehen aus jederseits einer polsterförmigen Scheibe als Kaufläche, einem deren oberer Spitze eingelenkten, die Kinnbacken bildenden Zahne, und aus der unteren Mundklap pe: einem dreieckig zugespitzten Grundstücke in der Mitte nebst zwei nach vorn sich anschließenden Stämmen, deren Spitzen meist noch eine verkümmerte, aber bewegliche Lade als die Unterlippe tragen, und zwei damit verwachsenen Seitenstücken, den Kinnladen; dieselben bilden einen großen, zur Seite der Unterlippe herabsteigenden Stamm mit zwei verkümmerten Laden am vorderen, breiteren Ende. Die Körperringe schwanken in der Zahl von neun bis mehr als achtzig und bleiben insofern für eine und dieselbe Art nicht beständig, als sie sich mit zunehmendem Alter mehren. Jeder nimmt mit seinem Hinterrande den falzartigen Vorderrand des folgenden in wenig dauernder Verbindung auf; denn nach dem Tode wenigstens fallen die Ringe ungemein leicht auseinander. Je nachdem jeder derselben kreisrund und nur am Bauche durch eine feine Spalte ungeschlossen ist, einen Halbkreis bildet oder über den Seitenrand noch übergreift, ergeben sich die hier vorkommenden, dem Körperbaue zu Grunde liegenden drei Grundformen. Weil die Vorderbeine nicht zu Mundtheilen werden, so gelangen die Rückentheile ihrer Ringe auch zu vollständiger Entwickelung und verkümmern nicht theilweise, wie bei den Einpaarfüßlern, obschon sie und einige der folgenden nur je ein Paar kurzer und zarter Gangbeine tragen, von derselben Beschaffenheit, wie die übrigen, welche in doppelter Zahl den folgenden Leibesringen entspringen. Höchst eigenthümlich gestalten sich hier die Verhältnisse der Fortpflanzungswerkzeuge. Bei beiden Geschlechtern münden sie am Hüftstücke des zweiten oder dritten Beinpaares, so daß ihre Ausführungsgänge von hinten nach vorn verlaufen, weil die Eierstöcke und männlichen Samenbläschen im hinteren Körpertheile ihren Platz haben. Dagegen befindet sich das paarige männliche Glied nicht an der Ausgangsstelle der Samenbehälter, sondern an oder vor dem siebenten Körperringe, oder bei den Rollthieren vor dem After. Vor der Paarung hat mithin das Männchen durch Biegung seines Körpers die beiden Ruthen mit Samenflüssigkeit aus den Hüften jener Beine zu versorgen, um sie dann an der gleichen Stelle des Weibchens versenken zu können. Die Luftlöcher liegen sehr verborgen in der Nähe der Fußwurzeln und entsenden die Kanäle büschel- oder paarweise, nicht mit benachbarten Stämmen vereinigt, zu den inneren Organen. Die Oeffnungen auf den Seiten des Rückens aller oder einzelner Ringe, welche von Treviranus für die Luftlöcher ausgegeben worden sind, sondern zur Vertheidigung einen ätzenden Saft ab, wenn die Thiere ergriffen werden.

[625] Die Zweipaarfüßler breiten sich über alle Erdtheile aus, erreichen aber in Europa und den gemäßigten Erdstrichen überhaupt nur unbedeutende Größe, während heiße Länder beinahe fußlange und fingerdicke Arten aufzuweisen haben, welche gewisse Schlangen an Größe entschieden übertreffen. Ohne Thierleichen zu verschmähen, begnügen sie sich vorzugsweise mit Pflanzenkost; sie halten sich an dunklen Verstecken auf, wenn auch nicht mit solcher Entschiedenheit wie die Einpaarfüßler. Hier legen in Erdhöhlen die Weibchen ihre Eier haufenweise ab, und die ihnen entschlüpfenden Jungen kommen mit nur drei oder mit sechs Körperringen, entschieden in sehr gekürzter Form, zur Welt, wachsen durch zahlreiche Häutungen, bei denen sich neue Glieder zwischen die schon vorhandenen einschieben, jedoch fehlen genauere Beobachtungen über gewisse Einzelheiten dabei sowie über die Lebensdauer der verschiedenen Altersstufen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 625-626.
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