Unio batavus

[346] Diejenigen Unio-Formen unserer mitteldeutschen Gewässer, welche am unbestrittensten auf den Rang von sogenannten guten Arten Anspruch haben, sind Unio tumidus, pictorum und crassus. Eine Beschreibung ihrer schwierigen Unterschiede würde nach dem oben Gesagten hier sehr am ungeeigneten Platze sein. »Ich würde«, sagt Roßmäßler, »aus meiner Sammlung noch vier bis sechs heraus bringen, wenn ich zwanzig bis dreißig unentschiedene Formen – zum Fenster hinaus werfen wollte. Ich besitze aus dem Gebiete der genannten vier Arten mindestens zweihundert verschiedene, meist auch in der Form abweichende Vorkommnisse. Diese würden auch, wenn ich überall feste Arten sehen wollte, entweder zu mindestens zehn Arten verlocken oder – zur Verzweiflung bringen.« Und nun führt uns der Zweifler an dem alten Dogma der Artbeständigkeit an die herrlichen Ufer des Wörthersees bei Klagenfurt in Kärnten, um uns die Entstehung einer neuen Art an einem bestimmten Beispiele zu zeigen. Wir citiren noch diese ganze Stelle aus der so lehrreichen Ikonographie der Land-und Süßwassermollusken, weil sie unserer Vorstellung vom Artbegriffe eine bestimmte Richtung gibt und zu weiterem Nachdenken und zu Vergleichungen auffordert. »Der Wörthersee bei Klagenfurt«, heißt es, »hat den Unio platyrhynchus geschaffen, ob aus Unio pictorum (der gemeinen Malermuschel), läßt sich aus begreiflichen Gründen direkt freilich nicht nachweisen. Als man von dem See den (zur Stadt führenden) Lendkanal ableitete, füllte denselben das Wasser des Sees, und es mußte dieses dadurch nach und nach natürlich eine veränderte Beschaffenheit annehmen. Es steht, je entfernter von seinem Ursprunge aus dem See, desto ruhiger, da der Kanal blind, das heißt ohne Abfluß endigt. Der Kanal hat wohl unterhaltene, regelmäßig abgeböschte Ufer, eine Breite von beiläufig acht bis zehn Schritt und eine durchschnittliche Tiefe von etwa drei Fuß. Bei der ersten Füllung des Kanales mit dem Wasser des Sees mußten natürlich einige Muscheln mit diesem in den Kanal gelangen, deren Nachkommen wir jetzt überall in demselben finden. Nun trifft man im Kanale, in welchem Unio pictorum in charakteristischer Form vorherrscht, keinen einzigen U. platyrhynchus, den Bewohner des Sees, und im See keinen einzigen U. pictorum. Sollte es also eine zu kühne Hypothese sein, anzunehmen, daß U. platyrhynchus, dem man seine große Verwandtschaft mit U. pictorum leicht ansieht, im Kanale wieder zur Form von U. pictorum zurückgekehrt sei, nachdem er den eigenthümlichen Entwickelungsbedingnissen des Sees entrückt und in eine neue Sphäre versetzt war? Parallel mit dem Kanale fließt etwa eine halbe Stunde südlicher aus dem See der Glanfurtbach aus. Natürlich muß dieser wegen der fortwährenden Erneuerung seines Wassers durch Seewasser eine dem See viel ähnlichere Beschaffenheit als der Kanal haben, aber gleichwohl nicht dieselbe, schon wegen des steten beweglichen Abflusses. Der Unterschied ist aber schon bedeutend genug, um den Platyrhynchus, der sich in dem Glanfurtbache nie findet, zu U. longirostris zu machen, der recht eigentlich zwischen jenen beiden in der Mitte steht. U. decurvatus (des Sees) kommt in einzelnen bedeutend modificirten Exemplaren vor, dagegen in Unzahl eine kleine Form von U. batavus (des Kanales) und eine Stunde weiter unterhalb fand ich nur noch, und zwar in Unmasse, den U. batavus, und zwar wieder etwas modificirt, wogegen die ganze übrige Gesellschaft verschwunden war. Nun frage ich, kann man sich augenfälligere Erklärungen über das Verwandtschaftsverhältnis der Muschelformen unserer tausendfältig verschiedenen Gewässer wünschen? Man beweise mir mit wenigstens gleich plausibeln Gründen, daß meine Schlußfolgerung falsch und daß die Muscheln des Wörthersees, des Lendkanals und des Glanfurtbaches in keinerlei Abstammungsbeziehung zu einander stehen, und dann, aber auch nur dann, will ich mich herbeilassen, die zahllosen Arten, welche gewisse Herren verfertigen, als solche anzuerkennen.«


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Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 346.
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