Die Muscheln

[338] Wer hat es nicht gelesen, das köstliche Gedicht von Rückert: »Edelstein und Perle«? Wie die beiden ihres Daseins Grund und Entwickelung und ihre vielverschlungene Lebensreise sich erzählen! Die Thräne eines Engels fiel ins Meer, um aufgenommen in den Schoß der Muschel nach und nach zum Kleinode zu erhärten, während die treue Amme jene Räume durchmißt,


»Wo tief in den krystallnen Grotten

Noch ganze Lebensgattungen, versteckt,

Der Forschungen und des Erforschers spotten.«


Wie schön ist die Dichtung, wie poetisch wahr und doch, was die Muschel angeht, kaum ein Zug der Natur entlehnt. Alles Phantasie, Symbol für menschliche Verhältnisse. Sogar so unbestimmt läßt der Dichter unsere Vorstellung von der treuen Amme der Perle, daß wir glauben müssen, ein Triton könne auf ihr blasen. Nun, diese poetische Unbestimmtheit ist der getreue Ausdruck der allgemeinen Unbekanntschaft des zoologischen Laien mit der Welt der Muschelthiere, welche, dem Auge fast vollständig entrückt, aufgesucht sein will und selbst gefunden den Meisten ein unhandliches verschlossenes Räthsel bleibt. Wohl mancher hat aus dem Schlammgrunde eines seichten Gewässers hunderte und tausende von Muscheln in etwas schräger Stellung hervorragen sehen, ohne daß ihm klar geworden, ob sie ihm das Vordertheil oder das Hintertheil zukehren. Und eine geöffnete Auster bietet fast gar keine Anknüpfungspunkte zur Orientirung über ihre Körpertheile, daß die meisten Esser sie ohne jeglichen anatomischen oder systematischen Gedanken verschlucken. Wer eine Muschelschale aufliest, kann sie, so lange er will, von allen Seiten betrachten, er wird höchstens errathen, an welcher Stelle ungefähr der Mund des Thieres gelegen. Dazu, daß uns die Muscheln im allgemeinen so fremd und gleichgültig bleiben, trägt auch ihr ungemein phlegmatisches Temperament bei. Ihnen gegenüber sind die Schnecken die lebhaftesten Sanguiniker. Denn wenn es auch einzelne Muschelarten des Meeres gibt, welche durch schnelles Auf- und Zuklappen der Schalen ziemlich schnell schwimmen können, so sind dies eben seltene und verborgene Ausnahmen. Die übrigen sind fast so bodenständig wie die Pflanzen. Ihre Ernährungsweise treibt sie nicht auf Beutezüge und gegenseitiges Bekriegen; angegriffen wehren sie sich nicht anders, als durch das Verschließen ihres Gehäuses, und selbst die Zeit der Fortpflanzung, welche so viele andere sonst träge Thiere dazu treibt, ihre Röhren und Schlupfwinkel zu verlassen, vermag nicht, die Muscheln aus ihrem Stilleben und ihrer leidenschaftslosen, duldenden Zurückgezogenheit aufzurütteln. Es würde daher, wie schon bei verschiedenen Thiergruppen, mit welchen wir uns früher beschäftigt, wenig Befriedigung gewähren, wollten wir uns auf die Biographie der Muschelthiere in ihrer [338] ungemeinen Gleichförmigkeit beschränken. Ganz anders verhält es sich aber, wenn wir uns auf den höheren Standpunkt stellen, von dem aus wir in die Eigenthümlichkeiten des Baues selbst einzudringen und die niedrigeren und höheren Organisationen mit einander zu vergleichen und durcheinander zu erklären suchen. Für jene wichtigste Frage der gegenwärtigen Thierkunde, das Abändern und die Entstehung neuer Arten, sind z.B. unsere Süßwassermuscheln von großer Bedeutung. Schon ein paar Jahrzehnte bevor Darwin seine epochemachende Hypothese veröffentlichte, fühlte sich der treffliche Roßmäßler besonders durch das Studium jener Muscheln zu dem Ausspruche veranlaßt, daß die sogenannten Arten nichts Beständiges seien, sondern durch fortwährende Anpassungen mit theilweiser Erhaltung des Ererbten ineinander übergingen und neu würden. Es wird also für den Naturfreund gewiß sich der Mühe verlohnen, nicht bloß oberflächlich einmal eine Muschelschale in die Hand zu nehmen oder nach abgebrauchter Sammlerweise viele Muschelschalen etikettirt und numerirt unter Glas in sauberen Kästen zu besitzen, sondern auf den Kern einzugehen und durch die Kenntnis der Klasse der Muschelthiere als eines Ganzen niederer Ordnung der Erkenntnis des großen Ganzen sich zu nähern.


Thier von Anodonta anatina (Entenmuschel), von unten. Mantelhälften zurückgeschlagen. Natürliche Größe.
Thier von Anodonta anatina (Entenmuschel), von unten. Mantelhälften zurückgeschlagen. Natürliche Größe.

Nachdem wir uns sowohl einige leere Schalen als lebende Exemplare der gewöhnlichen Fluß- oder Teichmuscheln verschafft, beginnen wir daran unsere Orientirung. »Ein allgemeines Bild von einem Blätterkiemer oder Muschelthiere kann man sich entwerfen, indem man sich ein in eine Decke gebundenes Buch vorstellt: mit dem Rücken nach oben und mit dem Kopfende nach vorn gewendet. Denn die zwei Decken entsprechen rechts und links den zwei Klappen der kalkigen Muschel, die zwei nächstfolgenden Blätter von beiden Seiten dem Mantelblatte des Thieres, das dritte und vierte Blatt jederseits den zwei Paar Kiemenblättern desselben, und der noch übrige innere Theil des Buches dem Körper des Thieres. Doch nehmen diese Blätter vom äußersten an auf jeder Seite bis zum Körper an Umfang ab, so daß die zwei gewölbten Schalenblätter als die größten alle übrigen, wie der Mantel die Kiemenblätter, ringsum einschließen. Alle diese Theile sind längs ihrem oberen Rande wie die Blätter eines gebundenen Buches mit einander verwachsen.« (Bronn.) Wir machen uns nun diese Worte klar an einer Muschel, welche entweder im Wasser, in der wir sie seit einiger Zeit hielten, abgestorben ist, oder die wir durch kurzes Einlegen in Weingeist tödteten. Die Schale wollen wir zuletzt betrachten. Der Rand des Blattes, welches den Muschelkörper jederseits bedeckt und zunächst unter der Schale liegt, der Rand des Mantels (g) haftet gewöhnlich längs des Schalenrandes fest, läßt sich aber mit dem flachen Stiele eines Skalpels leicht unverletzt ablösen. Das Hinterende jedes dieser Blätter ist mit zahlreichen Wärzchen (h) besetzt, welche außerordentlich empfindlich sind und bei allen denjenigen Muscheln sich finden, den meisten, welche mit der vorderen Körperhälfte sich eingraben. Wir wissen also nun, welchen Körpertheil uns diese Thiere aus dem Sande oder Schlamme zukehren. Bei weitem nicht alle Muscheln haben die Mantelränder frei, wie unsere Flußmuscheln, sondern auf größere oder geringere Strecken verwachsen. Namentlich bildet der Mantel am Hinterende Röhren. Er sondert die Schale ab.

Zunächst unter dem Mantelblatte jeder Seite liegen die beiden Kiemenblätter (d), ganz besonders stark entwickelt bei unseren Süßwassermuscheln, überhaupt aber immer so charakteristisch [339] und in die Augen fallend, daß davon die ganze Klasse den Namen »Blätterkiemer« (Lamellibranchiata) erhalten hat. Zwischen ihnen nach vorn liegt der keilförmig zugeschnitzte Fuß (a). Man kann sich von dem Gebrauche desselben leicht an lebenden Thieren überzeugen, die man in ein Becken mit Wasser und einige Finger hohem Sande gethan. Sobald die Muschel Ruhe um sich herum spürt, lüftet sie die Schale und die vordere Fußecke erscheint wie eine Zunge zwischen den auch etwas hervortretenden Mantelrändern. Ist die Umgegend sicher, so kommt der Fuß immer weiter hervor, bei größeren Muscheln vier bis fünf Centimeter weit; er senkt sich alsbald in den Sand, und das Thier hat die Kraft, sich an dem Fuße aufzurichten. Es dringt, mit dem Fuße einschneidend, mit dem Vorderende in den Boden und sein langsam zurückgelegter Weg wird durch eine Furche bezeichnet. Der Gebrauch sowohl wie die Lage zu den übrigen Körpertheilen, nicht minder die Entwickelungsgeschichte lehren, daß der Keilfuß der Muscheln nichts anderes ist, als die Kriechsohle der Schnecken. Außer dem Fuße haben wir an der Teichmuschel noch zwei sehr wichtige Muskeln, nämlich diejenigen, durch welche die beiden Schalenhälften aneinandergezogen werden und welche deshalb die Schließmuskeln heißen. So lange das Thier lebt, kann man nur mit Anwendung großer Gewalt die Muschel öffnen; man bricht oft eher die Schalen aus, als daß die Muskeln nachgeben. Der eine liegt vor dem Munde und bildet durch seine untere Seite mit dem Fuße das Versteck für den Mundeingang. Der hintere liegt unterhalb des Mastdarmes, welcher, nachdem er über ihm hinweggegangen, etwas nach abwärts biegend, hinter ihm zum Vorscheine kommt.

Vergeblich sucht man nach einem Kopfe. Die Muscheln und die noch übrigen Weichthiere haben keinen von dem übrigen Körper abgesetzten Theil, der diesen Namen verdiente, ein Mangel oder eine Unvollkommenheit, welche, wie wir sahen, sich auch noch auf manche höhere Weichthiere übertragen hat und von welcher unsere und die nächsten Klassen den Sammelnamen »kopflose Weichthiere« (Acephala) erhielten. Es ist besonders dieser Mangel eines Körpertheiles, nach dessen Vorhandensein man sich über die Gestaltung der höheren Thiere sofort orientirt, der es macht, daß wir uns anfänglich an dem Muschelleibe gar nicht zurecht finden können. Geht man mit einem dünnen Federkiele auf der vorderen und oberen Kante des Fußes nach aufwärts, wobei man die beiden dreiseitigen Blätter (c), welche jederseits vorn vor den Kiemen liegen, nach aufwärts schlägt, so trifft man mit Sicherheit auf die in einem verborgenen Winkel liegende Mundöffnung (b). Die Mundhöhle der Muscheln ist ohne jegliche Bewaffnung und Vorrichtung für die Zerkleinerung der Speisen, da alle diese Thiere nur von mikroskopisch kleinen Pflänzchen und anderen niederen Organismen sich ernähren. Wir werden weiter unten anführen, wie diese Nahrung zum Munde gelangt. Eine kurze, weite Speiseröhre erweitert sich zum Magen. Gleich oberhalb und seitlich von diesem liegt die Leber (folgende Figur, i) und von ihm aus steigt der Darm in jenen Körpertheil, welcher sich an den Fuß nach hinten und oben anschließt. Nach einer oder zwei schlingenförmigen Biegungen am vorderen Theile der Rückenlinie unter halb des Mantels angelangt, verläuft er vollends in ziemlich gerader Richtung bis zum Hinterende, unterwegs – aller Sentimentalität bar – das Herz durchbohrend. In unserer Abbildung sehen wir die Afteröffnung in f, während sowohl oberhalb wie unterhalb derselben sich die Mantelblätter verbinden. Durch die Verlängerung dieser Manteltheile kann in anderen Fällen eine Röhre entstehen, durch welche die Auswurfsstoffe entleert werden.

Zwei Paar dreiseitiger Blätter jederseits am Munde (c) heißen die Fühler oder Mundtentakeln, auch Lippenanhänge.

Hat man, wie in der nun folgenden Abbildung geschehen, sowohl den Mantel wie die Kiemen (e und g) zur Seite geschlagen, so wird man nach einigen vergeblichen Versuchen im Stande sein, die Haupttheile des Nervensystems, wenn auch nicht vollständig rein herauszupräpariren, doch sich vollkommen klar zur Anschauung bringen. Ein Ganglienpaar (1) liegt neben und etwas hinter dem Munde. Ein zweites (2) tief im Fuße. Die die beiden Nervenmassen verbindenden Stränge [340] umfassen den Schlund, nicht weniger diejenigen, welche das erste mit dem dritten, obgleich weit davon entfernt befindlichen dritten Paare (3) unter dem hinteren Schließmuskel in Verbindung setzen. Es bedarf gar keines großen vergleichend-anatomischen Scharfblickes, um in dem koncentrirten, in der Regel auch aus drei Paaren Ganglien bestehenden Schlundringe der Schnecken diese Theile des Muschel-Nervensystems wieder zu erkennen; ja, die Gleichheit ist eine so vollständige, daß die Muscheln sogar die beiden Gehörbläschen auf den Fußganglien besitzen, wie man besonders leicht an den Embryonen mancher Gattungen bei unversehrtem Thiere unter dem Mikroskope sehen kann. Als eine zweite Art von Sinneswerkzeugen haben wir schon die Tastwärzchen am Hinterrande des Mantels kennen gelernt. Wir wundern uns nicht mehr über ihre Empfindlichkeit, wenn wir in jedes derselben von zwei großen, dem dritten Ganglienpaare entspringenden Nervenstämmen einen Zweig eintreten sehen. Wir finden also eine Reihe der wichtigsten Organe, welche im und am Kopfe der Schnecke nahe bei einander liegen, und welche dem Schneckenkopfe eigentlich seine Bedeutung als Kopf geben, hier in der Muschel von einem Ende des Körpers zum anderen zerstreut vor: einer der überraschendsten und einfachsten Beweise zu dem allgemein gültigen Satze, daß die Kopfbildung im Thierreiche auf einer Koncentration beruht und mithin eine höhere Stufe der Entwickelung anzeigt. Wir würden noch eine ganze Reihe von Abbildungen nöthig haben, um die Verhältnisse des Gefäßsystems und Blutlaufes auseinander zu setzen.


Nervensystem und andere Organe der Teichmuschel.
Nervensystem und andere Organe der Teichmuschel.

Das Herz mit seiner rechten und linken Vorkammer liegt in einem dünnen Herzbeutel eingeschlossen am Rücken und treibt das Blut in den Körper. Bevor das Blut aus dem Körper in die Kiemen tritt, muß es seinen Weg durch ein sehr umfangreiches, aber anatomisch höchst schwierig darstellbares Organ, von schwammiger Beschaffenheit und nach seinem Entdecker das Bojanus'sche Organ genannt, nehmen. Durch eine auch beim Zurückschlagen der Kiemen zum Vorscheine kommende Oeffnung (y) kann dasselbe Wasser aufnehmen und dem Blutgefäßsysteme zuführen. Damit ist ganz auf die Weise, wie bei den Schnecken, das Schwellvermögen unserer Thiere erklärt. Das Aufblähen der Mantelränder, vor allem aber das Anschwellen und Hervorstrecken des Fußes, ist durch die freiwillige Aufnahme von Wasser in die Blutgefäße möglich. Auch hat man mehrere Oeffnungen an Mantel und Fuß entdeckt, durch welche die Blutwasserflüssigkeit wieder abgelassen werden kann. Nimmt man die Muschel, welche behaglich den Fuß weit hervorgestreckt hat, plötzlich aus dem Wasser, so wird das Wasser in mehreren Strahlen gewaltsam aus ihrem Körper getrieben. Die Zusammenziehungen, welche dies bewirken, sind zwar so heftig, daß Zerreißungen der Fuß- und Manteloberfläche nicht ausbleiben; zu den beständigen, normalen Oeffnungen gehört aber vor allen eine auf der Kante des Fußes. Zu ihr führt ein ansehnlicher Kanal mit dem eigenthümlichen sogenannten Schwellnetz dieses Körpertheiles, welches gegen den Abzugskanal, wenn die Schwellung stattfinden soll, abgesperrt werden kann, während die Schleuse jedesmal geöffnet wird, wenn der Fuß unter der Schale geborgen werden soll. Wir erinnern nochmals an die oben angeführten Versuche von Agassiz.

Sehr einfach verhalten sich die Fortpflanzungsorgane der Muscheln. Sie sind beschränkt auf die inneren Drüsen. Immer liegen sie in dem etwa dem Rumpfe anderer Thiere vergleichbaren [341] Körpertheile, der nach oben aus dem Fuße hervorgeht. Bei unseren zweigeschlechtigen Fluß- und Teichmuscheln finden wir demnach Eierstock oder Samendrüse unterhalb und hinterwärts von der Leber, und ihr Ausführungsgang wird in der Kiemenfurche sichtbar (x).

Die ganze Lebensökonomie des Muschelthieres würde aber unverständlich bleiben, wenn wir nichts wüßten von der Thätigkeit der Flimmerhärchen an der Oberfläche ihrer Körpertheile. Man lasse sich eine unserer Muscheln in einer mit Sand und einer einige Finger hohen Wasserschicht gefüllten Schüssel ruhig eingraben und streue dann, nachdem sie sich placirt, ein nicht zu Boden sinkendes Pulver in die Nähe ihres emporragenden Hintertheiles. Es werden sofort schon vorher bemerkbare Strudel und Strömungen sichtbar. Die Pulvertheilchen verschwinden unterhalb des Afterschlitzes, und aus diesem Mantelschlitze, in welchen der Mastdarm mündet, kommen sie nach einiger Zeit mit einer starken Strömung wieder zum Vorscheine. Die ganze innere Mantelfläche, die gesammte Oberfläche der Kiemen und der Lippententakeln sind mit lebhaft thätigen Flimmerhaaren besetzt, durch welche ganz regelmäßige ununterbrochene Strömungen unterhalten werden. Durch dieselben wird nicht bloß den Kiemen neues Wasser, sondern mit diesem auch dem Munde Nahrung zugeführt. Das Verbrauchte und Unbrauchbare aber stoßen die in entgegengesetzter Richtung wirkenden Wimperfelder durch die obere Röhre oder durch den oberen Schlitz wieder aus. Bei denjenigen Muscheln, welche, wie unsere Teich- und Flußmuscheln, ihre Eier bis zum Ausschlüpfen der Jungen in den Kiemen tragen, wird der Transport der Eier und die Befruchtung ebenfalls durch diese Strömungen vermittelt. Kurz, durch einen diese Flimmerschleimhäute befallenden Katarrh können mit einem Male die wichtigsten Lebensverrichtungen der Muschelthiere unterbrochen werden. Die ganze Existenz hängt von dem Vorhandensein und der Gesundheit jener unsichtbaren Härchen ab. Daß übrigens der Wasserwechsel innerhalb der Schale nicht allein durch die Flimmerorgane bewirkt wird, davon kann man sich durch kurze Beobachtung überzeugen. Ohne jede äußere Veranlassung klappt die Muschel von Zeit zu Zeit plötzlich die Schale zu, wodurch natürlich auch ein gewaltsames Abströmen des zwischen den Mantel- und Kiemenblättern enthaltenen Wassers erfolgt. Das Oeffnen der Schale erfolgt darauf langsam.

Wir wissen, daß sehr viele Weichthiere durch die absondernde Thätigkeit des Mantels im Stande sind, sich ein Gehäuse zu bauen. Der Mantel der Muscheln schwitzt auf der äußeren Fläche und an den freien Rändern Kalkmasse aus, welche sich zu der Muschelschale organisirt. Die beiden Schalenhälften bestehen meist aus zwei verschiedenen Schichten; die äußere, von den Mantelrändern abgesonderte – die Säulenschicht – ist aus prismatischen, mit kohlensaurem Kalke angefüllten Zellen oder Säckchen gebildet, die senkrecht auf der Mantelfläche stehen; die innere besteht aus einer Menge dicht übereinander liegender, blätteriger, strukturloser Ausbreitungen, in und zwischen denen der Kalk abgelagert ist. Bald bildet die äußere, bald die innere, die Perlmutterschicht, die Hauptmasse der Schale. Wir erwähnten schon, daß beide Schalen auf ihrer inneren Fläche nur durch die durch Eindrücke sichtbaren Ansätze der Muskeln und an ihrem Rande durch eine von den Mantelsäumen ausgehende Oberhaut mit dem Thiere verwachsen sind. Diese Oberhaut oder Epidermis überzieht auch die äußere Fläche der Schalen, wird jedoch bei vielen Muscheln immer wieder abgerieben. Die Verbindung der Schalen aneinander geschieht durch ein elastisches Band, das Ligament, welches zugleich durch seine Elasticität die Muschel öffnet, mithin den Schließmuskeln entgegenwirkt. Dieses Ligament ist der Willkür des Thieres entzogen und eigentlich eine todte Masse. Es erklärt sich daraus, warum abgestorbene Muscheln zu klaffen pflegen: die Muskeln, welche im Leben nach dem Willen des Thieres sich zusammenzogen und die Wirkung des Bandes zeitweilig unterbrachen, sind erschlafft. Die Muscheln öffnen also, wenn man will, ihre Schalen nicht selbst, durch eigene Kraft, sondern die Schalen öffnen sich infolge des Nachlassens des Muskelkraft oder Muskelthätigkeit des Thieres. Bei den meisten Muschelschalen liegen vor dem Ligament die beiden Wirbel, ein Paar nach vorn gerichtete Erhebungen der Schalenhälften, so daß, wenn Ligament und Wirbel deutlich ausgeprägt sind, man sich mit größter Leichtigkeit[342] über die Gegenden der Schale und die Lage des Thieres in ihr unterrichten kann. Natürlich ist es unumgänglich nothwendig, zu wissen, welche Gegenden an der Muschel man mit oben und unten, Rücken und Bauch, Vorder- und Hinterende bezeichnen soll. In Uebereinstimmung mit dem, was sich aus der anatomischen Betrachtung des Thieres ergab, nennen wir den Rand, an welchem das Ligament sich befindet, den Rückenrand, den entgegengesetzten den Bauchrand. Die vordere Seite liegt vor den Wirbeln und ist gewöhnlich mehr abgerundet als die hintere, für welche der hinter dem Ligament befindliche abfallende Rand übrig bleibt. In der Abbildung ist also c der Wirbel, d Bauchrand, a Vorderende, b Hinterende. Wo das Ligament beide Schalen vereinigt, besitzen dieselben oft zahnartige Vorsprünge, welche ineinander greifen, wie ein Charnier. Die ganze Verbindung der beiden Schalen durch Band und Charnier heißt Schloß. Zu den wichtigen Kennzeichen und systematischen Bestimmungscharakteren der Muscheln gehören auch verschiedene Eindrücke und Zeichnungen auf der Innenseite der Schalen.


Cytherea maculata. Linke Schalenhälfte von innen. Natürl. Größe.
Cytherea maculata. Linke Schalenhälfte von innen. Natürl. Größe.

Die Muskeleindrücke (m, m') sind schon genannt. Sehr auffallend ist auch der Manteleindruck, welcher gemeiniglich dem Bauchrande parallel von einem Schließmuskeleindruck zum anderen verläuft. Alle Muscheln aber, welche Athemröhren und Afterröhren besitzen, zeigen den Eindruck des Ansatzes der Muskeln, welche diese Röhren zurückziehen in Gestalt einer hinten offenen Bucht des Mantelrandes (n).

Wenn wir uns gegenwärtig halten, daß bei der ausnahmslosen Einförmigkeit der Nahrungsaufnahme durch die Wimperthätigkeit der für die Ausbildung des Baues und der verschiedenartigsten Lebensäußerungen so wichtige Unterschied von Pflanzen- und Fleischfressern eigentlich ganz wegfällt, daß das Nervensystem und die Sinneswerkzeuge, deren Entfaltung so viele Abwechselung in die Erscheinung der höheren Thiere bringt, hier in die engsten Form- und Entwickelungsgrenzen gebannt ist, daß nicht einmal die Zeit der Fortpflanzung und der Brut eine erhöhte äußere Lebendigkeit zu Wege bringt und die Muscheln, sozusagen, aus ihrem apathischen Alltagsleben aufzurütteln im Stande ist, so schwindet von vorn hinein die Aussicht auf den bunten Wechsel jener äußeren Lebensverrichtungen, welche in anderen Thierkreisen an die Mannigfaltigkeit der Lebensbedürfnisse geknüpft sind. Die innere Eintönigkeit der Muschelthiere macht aber auch ferner ihre systematische Behandlung außerordentlich schwierig. So fern uns auch ein eigentliches Eindringen in diese Seite der Naturgeschichte liegt, so wenig haben wir uns doch eines allgemeinen Einblickes in die Ueber- und Unterordnung der Thiergruppen als des Resultates der Erkenntnis aller ihrer inneren und äußeren Lebensverhältnisse entschlagen können. Daß die viertausendfünfhundert bekannten lebenden Muscheln in Form und Tracht gar sehr auseinander gehen, erwarten wir; ihr innerer Zusammenhang liegt so weit ganz auf der Hand, als das Schema ihres Baues sich wesentlich gleich bleibt; wie sie aber verwandtschaftlich von einander abzuleiten seien, in welcher Weise zu gruppiren, ist unklar. Wir sehen nur eine Menge, zum Theile höchst merkwürdiger Anpassungen an äußere Verhältnisse, wodurch Schalen, Fuß und Mantel in erster Reihe umgemodelt werden. Wir müssen aber doch versuchen, einige Gesichtspunkte zur Beurtheilung der größeren oder minderen Vollkommenheit einer Muschel zu gewinnen und halten uns dabei an einige der allerbekanntesten Formen. Wir nehmen irgend eine Fluß- oder Teichmuschel (Unio, Anodonta), die uns oben zur Erörterung des Baues gedient hat, und eine Auster. Die Schale der Flußmuschel erscheint als die vollkommenere wegen ihrer harmonischen Ausbildung, Glätte, Nettigkeit und Abgeschlossenheit. [343] Die beiden Hälften der Austerschale sind ungleich, massiv im Verhältnisse zum Thiere und besonders an einigen fossilen Austern ist die Abscheidung der schilferigen, unschönen Kalkschichten so voluminös, daß sie fast zur Hauptsache des ganzen Lebensprocesses des Thieres geworden zu sein scheint. Ferner ist die Flußmuschel mit zwei symmetrisch entwickelten, starken, aber doch nicht umfangreichen Muskeln mit der Schale verbunden; die Auster hat einen großen Schließmuskel. Auf beide Weisen wird der Verschluß der Schalen gut erreicht; an sich, und wenn man die Lage der übrigen Körpertheile berücksichtigt, sind wohl die zwei Schließmuskeln vortheilhafter. Merkwürdigerweise sind aber in keiner Muschel die Sinneswerkzeuge so hoch entwickelt, als gerade in einer mit einem Schließmuskel versehenen Sippe, den Kammuscheln, ein Umstand, geeignet, uns in dem systemisirenden Sichten zu beirren. Aus der Beschaffenheit des Mantels ergibt sich weder für die Flußmuschel noch für die Auster ein ihre Stellung bestimmendes Moment; bei beiden ist der Mantel von vorn bis hinten geschlitzt. In vielen anderen Sippen aber ist der Mantel so weit geschlossen, das heißt seine Ränder verwachsen, daß bloß vorn ein Schlitz zum Durchtritt des Fußes und hinten ein oder zwei Schlitze oder Röhren für die Athmung und Entleerung offen geblieben. Es ist nicht zu leugnen, daß durch diesen vollkommeneren Abschluß eine gewisse höhere Stellung wenigstens vorbereitet wird. Ich möchte aber bei Berücksichtigung der faktischen Verhältnisse darauf nicht so viel geben, als manche Systematiker thun. Wir finden nämlich den Mantelverschluß und die Röhrenbildung bei den sich tief in den Schlamm und Sand versenkenden und in Stein und Holz bohrenden Sippen, ohne daß eine anderweitige Vervollkommnung an ihnen hervorträte.

In ihrer Entwickelung weichen die Fluß- und Teichmuscheln nicht nur von der Auster, sondern überhaupt von den übrigen Klassengenossen erheblich ab. Wir werden bei Gelegenheit ihrer Naturgeschichte näher darauf eingehen und bemerken hier nur so viel, daß sie sich darin vielen anderen, das Süßwasser und das Land bewohnenden Thieren anschließen. In der Entwickelungsgeschichte dieser Thiere zeigt sich oft die Besonderheit, daß ihnen die für die verwandten Meeresbewohner charakteristischen Larvenzustände abhanden gekommen, womit häufig auch eine allgemeine höhere Entwickelung verbunden. Alles in allem sind daher die Seemuscheln niedriger als die Süßwassermuscheln, die mit einem Schließmuskel niedriger als die mit zwei Schließmuskeln, die mit blätteriger, unregelmäßiger Schale niedriger als die mit wohlausgebildeter regelmäßiger, und allenfalls auch die mit offenem Mantel niedriger als die mit theilweise geschlossenem. Was nun aber das Aneinanderreihen der Familien noch schwieriger macht, ist die äußerst schwankende Fähigkeit der Ortsbewegung oder, was dasselbe ist, die höchst verschiedene Ausbildung des Fußes. Sowohl bei den Muscheln mit zwei Schließmuskeln (Dimyaria) als bei denen mit einem (Monomyaria) kann die Ortsbewegung vollkommen schwinden, und da endlich auch der Leitstern, welcher bei anderen Thierklassen die Auffindung des natürlichen Systems erleichtert, nämlich die Vergleichung der jetzt lebenden mit den untergegangenen Sippen, bei den Muschelthieren nur ein sehr vages Licht gibt, so können wir zwar mit einiger Sicherheit den Ordnungen ihren gegenseitigen Rang anweisen, müssen aber hinsichtlich der weiteren Eintheilung mit Philippi dafür halten, daß »eine linealische Anordnung der Familien nach den Graden ihrer Vollkommenheit nicht möglich ist«.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Zweiter Band: Die Niederen Thiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1887., S. 338-344.
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