Zwergmaus (Mus minutus)

[365] So schmuck und nett alle kleinen Mäuse sind, so allerliebst sie sich in der Gefangenschaft betragen: das kleinste Mitglied der Familie, die Zwergmaus (Mus minutus, Mus pendulinus, soricinus, parvulus, campestris, pratensis und messorius, Mi cromys agilis) übertrifft jene doch in jeder Hinsicht. Sie ist beweglicher, geschickter, munterer, kurz ein viel anmuthigeres Thierchen als alle übrigen. Ihre Länge beträgt 13 Centim., wovon fast die Hälfte auf den Schwanz kommt. Die Pelzfärbung wechselt. Gewöhnlich ist sie zweifarbig, die Oberseite des Körpers und der Schwanz gelblich braunroth, die Unterseite und die Füße scharf abgesetzt weiß; es kommen jedoch dunklere und hellere, röthlichere und bräunlichere, grauere und gelbere vor; die Unterseite steht nicht so scharf im Gegensatze mit der oberen; junge Thiere haben andere Körperverhältnisse als die alten und noch eine ganz andere Leibesfärbung, nämlich viel mehr Grau auf der Oberseite.

Von jeher hat die Zwergmaus den Thierkundigen Kopfzerbrechen gemacht. Pallas entdeckte sie in Sibirien, beschrieb sie genau und bildete sie auch ganz gut ab; aber fast jeder Forscher nach ihm, welchem sie in die Hände kam, stellte sie als eine neue Art auf, und jeder glaubte in seinem Rechte zu sein. Erst fortgesetzte Beobachtung ergab als unumstößliche Wahrheit, daß unser Zwerglein wirklich von Sibirien an durch ganz Rußland, Ungarn, Polen und Deutschland bis nach Frankreich, England und Italien reicht und nur ausnahmsweise in manchen Gegenden nicht vorkommt. Sie lebt in allen Ebenen, in denen der Ackerbau blüht, und keineswegs immer auf den Feldern, sondern vorzugsweise im Schilfe und im Rohre, in Sümpfen und in Binsen usw. In Sibirien und in den Steppen am Fuße des Kaukasus ist sie gemein, in Rußland und England, in Schleswig und Holstein wenigstens nicht selten. Aber auch in den übrigen Ländern Europas kann sie zuweilen häufig werden.

Während des Sommers findet man das niedliche Geschöpf in Gesellschaft der Wald- und Feldmaus in Getreidefeldern, im Winter massenweise unter Feimen oder auch in Scheuern, in welche sie mit der Frucht eingeführt wird. Wenn sie im freien Felde überwintert, bringt sie zwar einen Theil der kalten Zeit schlafend zu, fällt aber niemals in völlige Erstarrung, und trägt deshalb während des Sommers Vorräthe in ihre Höhlen ein, um davon leben zu können, wenn die Noth an die Pforte klopft. Ihre Nahrung ist die aller übrigen Mäuse: Getreide und Sämereien von verschiedenen Gräsern, Kräutern und Bäumen, namentlich aber auch kleine Kerbthiere aller Art.

In ihren Bewegungen zeichnet sich die Zwergmaus vor allen anderen Arten der Familie aus. Sie läuft, ungeachtet ihrer geringen Größe, ungemein schnell und klettert mit größter Fertigkeit, [365] Gewandtheit und Zierlichkeit. An den dünnsten Aesten der Gebüsche, an Grashalmen, welche so schwach sind, daß sie mit ihr zur Erde beugen, schwebend und hängend, läuft sie empor, fast ebensoschnell an Bäumen, und der zierliche kleine Schwanz wird dabei so recht geschickt als Wickelschwanz benutzt. Auch im Schwimmen ist sie wohlerfahren und im Tauchen sehr bewandert. So kommt es, daß sie überall wohnen und leben kann.

Ihre größte Fertigkeit entfaltet die Zwergmaus aber doch noch in etwas anderem. Sie ist eine Künstlerin, wie es wenige gibt unter den Säugethieren, eine Künstlerin, welche mit den begabtesten Vögeln zu wetteifern versucht; denn sie baut ein Nest, das an Schönheit alle anderen Säugethiernester weit übertrifft. Als hätte sie es einem Rohrsänger abgesehen, so eigenthümlich wird der niedliche Bau angelegt. Das Nest steht, je nach des Orts Beschaffenheit, entweder auf zwanzig bis dreißig Rietgrasblättern, deren Spitzen zerschlissen und so durcheinandergeflochten sind, daß sie den Bau von allen Seiten umschließen, oder es hängt, zwischen 1/2 bis 1 Meter hoch über der Erde, frei an den Zweigen eines Busches, an einem Schilfstengel und dergleichen, so daß es aussieht, als schwebe es in der Luft. In seiner Gestalt ähnelt es am meisten einem stumpfen Eie, einem besonders rundlichen Gänseeie z.B., dem es auch in der Größe ungefähr gleichkommt. Die äußere Umhüllung besteht immer aus gänzlich zerschlitzten Blättern des Rohrs oder Rietgrases, deren Stengel die Grundlage des ganzen Baues bilden. Die Zwergmaus nimmt jedes Blättchen mit den Zähnen in das Maul und zieht es mehrere Male zwischen den nadelscharfen Spitzen durch, bis jedes einzelne Blatt sechs-, acht- oder zehnfach getheilt, gleichsam in mehrere besondere Faden getrennt worden ist; dann wird alles außerordentlich sorgfältig durcheinandergeschlungen, verwebt und geflochten. Das Innere ist mit Rohrähren, mit Kolbenwolle, mit Kätzchen und Blütenrispen aller Art ausgefüttert. Eine kleine Oeffnung führt von einer Seite hinein, und wenn man da hindurch in das Innere greift, fühlt sich dieses oben wie unten gleichmäßig geglättet und überaus weich und zart an. Die einzelnen Bestandtheile sind so dicht mit einander verfitzt und verwebt, daß das Nest einen wirklich festen Halt bekommt. Wenn man die viel weniger brauchbaren Werkzeuge dieser Mäuse mit dem geschickten Schnabel der Künstlervögel vergleicht, wird man jenen Bau nicht ohne Verwunderung betrachten und die Arbeit der Zwergmaus über die Baukunst manches Vogels stellen.

Jedes Nestchen wird immer zum Haupttheile aus den Blättern derselben Pflanzen gebildet, welche es tragen. Eine nothwendige Folge hiervon ist, daß das Aeußere auch fast oder ganz dieselbe Färbung hat wie der Strauch selber, an dem es hängt. Nun benutzt die Zwergmaus jeden einzelnen ihrer Paläste bloß zu ihrem Wochenbette, und das dauert nur ganz kurze Zeit: so sind die Jungen regelmäßig ausgeschlüpft, ehe das Blätterwerk um das Nest verwelken und hierdurch eine auffällige Färbung annehmen konnte.

Man glaubt, daß jede Zwergmaus jährlich zwei bis drei Mal Junge wirft, jedes Mal ihrer fünf bis neun. Aeltere Mütter bauen immer künstlichere und vollkommenere Nester als die jüngeren; aber auch in diesen zeigt sich schon der Trieb, die Kunst der alten auszuüben. Bereits im ersten Jahre bauen die Jungen ziemlich vollkommene Nester, um darin zu ruhen. Gewöhnlich verweilen sie so lange in ihrer prächtigen Wiege, bis sie sehen können. Die Alte hat sie jedesmal warm zugedeckt oder vielmehr die Thüre zum Neste verschlossen, wenn sie die Wochenstube verlassen muß, um sich Nahrung zu holen. Sie ist inzwischen wieder mit dem Männchen ihrer Art zusammengekommen und gewöhnlich bereits von neuem trächtig, während sie ihre Kinder noch säugen muß. Kaum sind dann diese soweit, daß sie zur Noth sich ernähren können, so überläßt sie die Alte sich selbst, nachdem sie höchstens ein paar Tage lang ihnen Führer und Rathgeber gewesen ist.

Falls das Glück einem wohl will und man gerade dazu kommt, wenn die Alte ihre Brut zum ersten Male ausführt, hat man Gelegenheit, sich an einem der anziehendsten Familienbilder aus dem Säugethierleben zu erfreuen. So geschickt die junge Schar auch ist, etwas Unterricht muß [366] ihr doch werden, und sie hängt auch noch viel zu sehr an der Mutter, als daß sie gleich selbständig sein und in die weite, gefährliche Welt hinausstürmen möchte. Da klettert nun ein Junges an diesem, das andere an jenem Halme; eines zirpt zu der Mutter auf, eines verlangt noch die Mutterbrust; dieses wäscht und putzt sich, jenes hat ein Körnchen gefunden, welches es hübsch mit den Vorderfüßen hält und aufknackt; das Nesthäkchen macht sich noch im Innern des Baues zu schaffen, das beherzteste und muthigste Männchen hat sich schon am weitesten entfernt und schwimmt vielleicht bereits unten in dem Wasser herum: kurz, die Familie ist in der lebhaftesten Bewegung und die Alte gemüthlich mittendrin, hier helfend, dort rufend, führend, leitend, die ganze Gesellschaft beschützend.

Man kann dieses anmuthige Treiben gemächlich betrachten, wenn man das ganze Nest mit nach Hause nimmt und in einen enggeflochtenen Drahtbauer bringt. Mit Hanf, Hafer, Birnen, süßen Aepfeln, Fleisch und Stubenfliegen sind die Zwergmäuse leicht zu erhalten, vergelten auch jede Mühe, welche man sich mit ihnen gibt, durch ihr angenehmes Wesen tausendfach. Allerliebst sieht es aus, wenn man eine Fliege hinhält. Alle fahren mit großen Sprüngen auf sie los, packen sie mit den Füßchen, führen sie zum Munde und tödten sie mit einer Hast und Gier, als ob ein Löwe ein Rind erwürgen wolle; dann halten sie ihre Beute allerliebst mit den Vorderpfoten und führen sie damit zum Munde. Die Jungen werden sehr bald zahm, aber mit zunehmendem Alter wieder scheuer, falls man sich nicht ganz besonders oft und fleißig mit ihnen abgibt. Um die Zeit, wo sie sich im Freien in ihre Schlupfwinkel zurückziehen, werden sie immer sehr unruhig und suchen mit Gewalt zu entfliehen, gerade so, wie die im Käfige gehaltenen Zugvögel zu thun pflegen, wenn die Zeit der Wanderung herannaht. Auch im März zeigen sie dasselbe Gelüste, sich aus dem Käfige zu entfernen. Sonst gewöhnen sie bald ein und bauen lustig an ihren Kunstnestern, nehmen Blätter und ziehen sie mit den Pfoten durch den Mund, um sie zu spalten, ordnen und verweben sie, tragen allerhand Stoffe zusammen, kurz, suchen sich so gut als möglich einzurichten.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 365-367.
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