Schneemaus (Arvicola nivalis)

[384] Die Schneemaus (Arvicola nivalis, Paludicola nivalis, leucurus und Lebrunii, Hypudaeus nivalis, alpinus, nivicola und petrophilus), ist eine ziemlich kleine Wühlratte von 18 Centim. Gesammtlänge oder fast 12,5 Centim. Leibes- und 5,5 Centim. Schwanzlänge. Ihr Pelz ist zweifarbig, auf der Oberseite hell bräunlichgrau, in der Mitte des Rückens dunkler als an den Seiten, auf der Unterseite ziemlich deutlich abgesetzt grauweiß. Ständige Verschiedenheiten kommen vor. Die wahre Schneemaus hat derbes Haar, rostgrauen Pelz und weißlich rostgrauen Schwanz, eine andere Form, die weißschwänzige Wühlmaus, weiches Haar, weißgrauen Pelz und weißen Schwanz, die Alpenratte endlich weiches Haar, schwach rostfarbig überflogenen Pelz und einen weißgrauen, verhältnismäßig langen Schwanz. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß diese drei Formen nur verschiedene Ausprägungen einer und derselben Grundform sind, jedoch ebensogut möglich, daß jede eine eigene, selbständige Art darstellt.


Schneemaus (Arvicola nivalis). 2/3 natürl. Größe.
Schneemaus (Arvicola nivalis). 2/3 natürl. Größe.

In der Lebensweise lassen sich, so viel wir wissen, keine Unterschiede bemerken. »Die Schneemaus«, sagt Blasius, »hat unter allen Mäusen den kleinsten, aber eigenthümlichsten Verbreitungskreis. Sie gehört der Alpenkette ihrer ganzen Ausdehnung nach an. Außerdem erhielt Selys sie aus den Pyrenäen. Es ist mir kein Beispiel bekannt, daß sie in den Alpen regelmäßig unter 1000 Meter [384] Meereshöhe gefunden wäre; auch bei 1300 Meter scheint sie in der Regel nicht häufig vorzukommen. Von hieraus aber findet sie sich in allen Höhen bis zu den letzten Grenzpunkten des Pflanzenlebens. In der Nähe der Schneegrenze erscheint sie am häufigsten, aber sogar über die Schneegrenze geht sie hinaus und bewohnt die kleinsten Pflanzeninseln, die mit ihren kümmerlichen Alpenkräutern spärlich bewachsenen Blößen auf der Südseite der hohen Alpenspitzen, mitten zwischen den Schneefeldern, wo die warmen Sonnenstrahlen oft kaum zwei bis drei Monate lang die wöchentlich sich erneuernden Schneedecken überwinden und die Erde auf wenige Schritte hin freilegen können. In dieser großartigen Gebirgseinsamkeit verlebt sie aber nicht bloß einen schönen, kurzen Alpensommer, sondern, unter einer unverwüstlichen Schneedecke begraben, einen neun bis zehn Monate langen, harten Alpenwinter; denn sie wandert nicht, obwohl sie sich im Winter Röhren unter dem Schnee anlegt, um Pflanzenwurzeln zu suchen, wenn die gesammelten Vorräthe nicht ausreichen. Kein anderes Säugethier begleitet die Schneemaus ausdauernd über die Welt des Lebendigen hinaus bis zu diesen luftigen, starren Alpenhöhen; nur einzeln folgt vorübergehend als unerbittlicher Feind ein Wiesel oder Hermelin ihren Spuren.«

Die Schneemaus ist den Naturforschern erst seit wenig Jahren bekannt geworden. Nager entdeckte sie im Jahre 1841 in Andermatt am St. Gotthard, Martins fand sie am Faulhorn, Hugi auf dem höchsten Kamme der Strahleck, über 3000 Meter hoch, und am Finsteraarhorn bei einer Meereshöhe von 3600 Meter mitten im Winter in einer Alphütte. »Wir suchten«, erzählt er, »die Hütte der Stiereggalp auf, welche endlich eine etwas erhöhte Schneestelle verrieth, und arbeiteten in die Tiefe. Längst war es Nacht, als wir das Dach fanden; nun aber ging es an der Hütte schnell abwärts. Wir machten die Thüre frei, kehrten ein mit hoher Freude und erschlugen sieben Alpenmäuse, während wohl über zwanzig die Flucht ergriffen und nicht geneigt schienen, ihren unterirdischen Palast uns streitig zu machen.« Blasius beobachtete die Schneemaus auf den Bergen von Chambery, am Montblanc und am Bernina bei 3600 Meter Höhe auf der obersten, nur wenige Geviertfuß vom Schnee entblößten Spitze des Piz Languard im obern Etzthal. »In den Mittelalpen«, sagt er, »habe ich nur die grobhaarige, graue Form gefunden. Die weichhaarige, weißliche kenne ich aus der Umgegend von Interlaken, und die fahlgelbe bis jetzt nur aus den nordöstlichen Kalkalpen, von den bayrischen Hochalpen an durch das nördliche Tirol bis ans Salzburgische.«

Das Leben, welches die Schneemaus in ihrer unwirtlichen, traurigarmen Heimat führt, ist bis jetzt noch räthselhaft. Man weiß, daß sie Pflanzen, hauptsächlich Wurzeln und Alpenkräuter, Gras und Heu frißt und von diesen Stoffen auch Vorräthe im Winter einsammelt; aber man begreift kaum, daß sie an vielen Orten, wo sie lebt, noch Nahrung genug findet. An manchen Stellen ist es bloß eine einzige Pflanzenart, welche ihr Zehrung bieten kann, an anderen Orten vermag man nicht einzusehen, wovon sie leben mag. Im Sommer freilich leidet sie keine Noth. Sie besucht dann die Sennhütten der Kuh- und Schafalpen und nascht von allem Eßbaren, was sie in den Hütten findet, nur nicht vom Fleische. Ihre Wohnung schlägt sie dann bald in Erdlöchern, bald in Geröll und Gemäuer auf. In der Nähe ihrer Höhle sieht man sie auch bei Tage umherlaufen, und sie ist so harmlos, daß man sie dann leicht erschlagen oder wenigstens erschießen kann. Selbst bei hellem Tage geht sie in die Fallen. Erschreckt, verschwindet sie rasch zwischen Felsblöcken; doch dauert es selten lange, bis sie wieder zum Vorscheine kommt. In ihren Bauen findet man zernagtes Heu und Halme, oft auch Wurzeln von Bibernell, Genzian und anderen Alpenkräutern. Das Nest enthält wahrscheinlich zweimal im Sommer vier bis sieben Junge: Blasius hat solche noch gegen Ende Septembers gefunden. Kommt nun der Winter heran, so zieht sie sich wohl ein wenig weiter an den Bergen herab; doch bis in die wohnliche Tiefe gelangt sie nicht. Sie zehrt jetzt von ihren gesammelten Vorräthen, und wenn diese nicht mehr ausreichen, schürft sie sich lange Gänge in dem Schnee von Pflänzchen zu Pflänzchen, von Wurzel zu Wurzel, um sich mühselig genug ihr tägliches Brod zu erwerben.

[385] Die Waldwühlmäuse (Hypudaeus) unterscheiden sich von den Wühlratten dadurch, daß der zweite untere Backenzahn dreigetheilte Schmelzschlingen, außen drei und innen zwei Längsleisten hat, und daß das Zwischenscheitelbein am Hinterrande flach abgerundet, jederseits aber in eine lange Spitze verschmälert ist. Auch schließt sich die in der Jugend offene Zahnwurzel mit zunehmendem Alter fast gänzlich.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 384-386.
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