Wurzelmaus (Arvicola oeconomus)

[391] In Sibirien, und zwar vom Ob bis zum Onon, tritt neben und zwischen Verwandten eine Wühlmaus auf, welche ebenfalls, obschon aus anderen Gründen als die Feldmaus, Beachtung verdient: die Wurzelmaus (Arvicola oeconomus, Mus und Hypudaeus oeconomus). Sie ist etwas größer als unsere Feldmaus, 18 Centim. lang, wovon 5 Centim. auf den Schwanz kommen, oben hellgelblichgrau, unten grau, der Schwanz oben braun, unten weiß. Von der Feldmaus unterscheidet sie sich durch den kürzern Kopf, die kleineren Augen und die kurzen, im Pelze fast versteckten Ohren.

Pallas und Steller haben uns anziehende Schilderungen von dem Leben dieses Thieres hinterlassen. Die Wurzelmaus findet sich in Ebenen, oft in großer Menge, und wird von den [391] armen Einwohnern jener traurig-öden Gegenden geradezu als Wohlthäterin betrachtet; denn sie arbeitet hier zum besten des Menschen, anstatt ihm zu schaden. Unter dem Rasen macht sie sich lange Gänge, welche zu einem in geringer Tiefe liegenden, großen, runden, mit einigen sehr geräumigen Vorrathskammern in Verbindung stehenden Neste von 30 Centim. Durchmesser führen. Dieses ist mit allerhand Pflanzenstoffen weich ausgefüttert und dient der Maus zum Lager wie zum Wochenbette; die Vorrathskammern aber füllt sie mit allerhand Wurzeln an.

»Man vermag kaum zu begreifen«, sagt Pallas, »wie ein Paar so kleiner Thiere eine so große Menge Wurzeln aus dem zähen Rasen hervorgraben und zusammentragen können. Oft findet man acht bis zehn Pfund in einer Kammer und manchmal deren drei bis vier in einem Baue. Die Mäuse holen sich ihre Vorräthe oft aus weiten Entfernungen, scharren Grübchen in den Rasen, reißen die Wurzeln heraus, reinigen sie auf der Stelle und ziehen sie auf sehr ausgetretenen, förmlich gebahnten Wegen rücklings nach dem Neste. Gewöhnlich nehmen sie den gemeinen Wiesenknopf, den Knollenknöterich, den betäubenden Kälberkropf und den Sturmhut. Letzterer gilt ihnen, wie die Tungusen sagen, als Festgericht; sie berauschen sich damit. Alle Wurzeln werden sorgfältig gereinigt, in drei Zoll lange Stücke zerbissen und aufgehäuft. Nirgends wird das Gewerbe dieser Thiere dem Menschen so nützlich als in Dawurien und in anderen Gegenden des östlichen Sibiriens. Die heidnischen Völker, welche keinen Ackerbau haben, verfahren dort mit ihnen wie unbillige Edelleute mit ihren Bauern. Sie heben die Schätze im Herbste, wenn die Vorrathskammern gefüllt sind, mit einer Schaufel aus, lesen die betäubenden weißen Wurzeln aus und behalten die schwarzen des Wiesenknopfes, welche sie nicht bloß als Speise, sondern auch als Thee gebrauchen. Die armseligen Landsassen haben an diesen Vorräthen, welche sie den Mäusen abnehmen, oft den ganzen Winter zu essen; was übrig bleibt, wühlen die wilden Schweine aus, und wenn ihnen dabei eine Maus in die Quere kommt, wird diese natürlich auch mit verzehrt.«

Merkwürdig ist die große Wanderlust dieser und anderer verwandter Wühlmäuse. Zum Kummer der Eingebornen machen sie sich in manchen Frühjahren auf und ziehen heerweise nach Westen, immer geraden Weges fort, über die Flüsse und auch über die Berge weg. Tausende ertrinken und werden von Fischen und Enten verschlungen, andere tausende von Zobeln und Füchsen gefressen, welche diese Züge begleiten. Nach der Ankunft am andern Ufer eines Flusses, den sie durchschwammen, liegen sie oft zu großen Haufen ermattet am Strande, um auszuruhen. Dann setzen sie ihre Reise mit frischen Kräften fort. Ein Zug währt manchmal zwei Stunden in einem fort. So wandern sie bis in die Gegend von Penschina, wenden sich dann südlich und kommen in der Mitte Julis am Ochota an. Nach Kamtschatka kommen sie gewöhnlich im Oktober zurück, und nun haben sie für ihre Größe eine wahrhaft ungeheure Wanderung vollbracht. Die Kamtschadalen prophezeien, wenn die Mäuse wandern, ein nasses Jahr und sehen sie ungern scheiden, begrüßen sie auch bei der Rückkehr mit Freuden.

Eine auch in Deutschland vorkommende Wurzelmaus gilt als Vertreterin einer besondern Untersippe, der Kurzohrmäuse (Microtus), weil sie sich von den Feldmäusen, deren Zahnbau sie besitzt, durch die kurzen, im Pelze versteckten Ohren, nur vier, anstatt acht Zitzen und weniger Wülste auf den Fußsohlen (fünf anstatt sechs) einigermaßen unterscheidet.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Zweiter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Dritter Band: Hufthiere, Seesäugethiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 391-392.
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