Mönchsgrasmücke (Sylvia atricapilla)

[184] »Der Vogel, welcher von allen anderen der Kanarischen Inseln den schönsten Gesang hat, der Capriote, ist in Europa unbekannt. Er liebt so sehr die Freiheit, daß er sich niemals zähmen läßt. Ich bewunderte seinen weichen, melodischen Schlag in einem Garten bei Orotava, konnte ihn aber nicht nahe genug zu Gesicht bekommen, um zu bestimmen, welcher Gattung er angehörte.« So sagt Alexander von Humboldt, und es sind nach des großen Forschers Besuch auf den Inseln noch Jahre vergangen, bevor wir erfuhren, welchen Vogel er meinte. Jetzt wissen wir, daß der hochgefeierte Capriote, welchen der Kanarier mit Stolz seine Nachtigall nennt, kein anderer ist, als die Mönchsgrasmücke, Mönch, Schwarzplättchen, Schwarzkappe, Schwarz-, Mohren- oder Mauskopf, Kardinälchen, Kloster- oder Mönchswenzel (Sylvia atricapilla, nigricapilla, ruficapilla, rubricapilla, pileata und Naumanni, Motacilla, Curruca, Philomela und Epilais atricapilla, Monachus atricapillus, Bild S. 182), einer der begabtesten, liebenswürdigsten [184] und gefeiertesten Sänger unserer Wälder und Gärten. Das Gefieder der Oberseite ist grauschwarz, das der Unterseite lichtgrau, das der Kehle weißlichgrau, das des Scheitels beim alten Männchen tiefschwarz, beim Weibchen und jungen Männchen rothbraun gefärbt. Das Auge ist braun, der Schnabel schwarz, der Fuß bleigrau. Die Länge beträgt funfzehn, die Breite einundzwanzig Centimeter, die Fittiglänge fünfundsechzig, die Schwanzlänge sechzig Millimeter. Das Weibchen ist ebenso groß wie das Männchen.

Der Mönch bewohnt ganz Europa, einschließlich Madeiras, nach Norden hin bis Lappland, Westasien, die Kanarischen Inseln und Azoren, während er in Griechenland wie in Spanien nur auf dem Zuge erscheint, überwintert schon hier, dehnt aber seine Wanderung bis Mittelafrika aus. Er trifft bei uns gegen die Mitte des April ein, nimmt in Waldungen, Gärten und Gebüschen seinen Wohnsitz und verläßt uns im September wieder. So viel mir bekannt, fehlt er keinem Gau unseres Vaterlandes, ist aber in einzelnen Gegenden, beispielsweise in Ostthüringen, seit einem Menschenalter merklich seltener geworden, als er früher war.

»Der Mönch«, sagt mein Vater, welcher die erste eingehende Schilderung seines Lebens gegeben hat, »ist ein munterer, gewandter und vorsichtiger Vogel. Er ist in steter Bewegung, hüpft unaufhörlich und mit großer Geschicklichkeit in den dichtesten Büschen herum, trägt dabei seinen Leib gewöhnlich wagerecht und die Füße etwas angezogen, legt die Federn fast immer glatt an und hält sich sehr schmuck und schön. Auf die Erde kommt er selten. Sitzt er frei, und nähert man sich ihm, so sucht er sich sogleich in dichten Zweigen zu verbergen oder rettet sich durch die Flucht. Er weiß dies so geschickt einzurichten, daß man den alten Vögeln oft lange vergeblich mit der Flinte nachgehen muß. Die Jungen sind, auch im Herbste noch, weniger vorsichtig. Sein Flug ist geschwind, fast geradeaus mit starker Schwingenbewegung, geht aber selten weit in einem Zuge fort. Nur nach langer Verfolgung steigt er hoch in die Luft und verläßt den Ort ganz. Zur Brutzeit hat er einen ziemlich großen Bezirk und hält sich zuweilen nicht einmal in diesem. Bei kalter und regnerischer Witterung habe ich die Mönche, welche unsere Wälder bewohnen, manchmal nahe bei den Häusern in den Gärten gehört. Sein Lockton ist ein angenehmes ›Tack, tack, tack‹, worauf ein äußerst sanfter Ton folgt, welcher sich mit Buchstaben nicht bezeichnen läßt. Dieses ›Tack‹ hat mit dem der Nachtigall und der Klappergrasmücke so große Aehnlichkeit, daß es nur der Kenner gehörig zu unterscheiden vermag. Es drückt, verschieden betont, verschiedene Gemüthszustände aus und wird deswegen am meisten von den Alten, welche ihre Jungen führen, ausgestoßen. Das Männchen hat einen vortrefflichen Gesang, welcher mit Recht gleich nach dem Schlage der Nachtigall gesetzt wird. Manche schätzen ihn geringer, manche höher als den Gesang der Gartengrasmücke. Die Reinheit, Stärke und das Flötenartige der Töne entschädigenden Liebhaber hinlänglich für die Kürze der Strophen. Dieser schöne Gesang, welcher bei einem Vogel herrlicher ist als bei dem anderen, fängt mit Anbruch des Morgens an und ertönt fast den ganzen Tag.« Hinsichtlich seiner Nahrung unterscheidet er sich nur insofern von anderen Grasmücken, als er leidenschaftlich gern Früchte und Beeren frißt und sie auch schon seinen Jungen füttert.

Der Mönch brütet zweimal des Jahres, das erstemal im Mai, das zweitemal im Juli. Das Nest steht stets im dichten Gebüsche, da wo der Schwarzwald vorherrscht, am häufigsten in dichten Fichtenbüschen, da wo es Laubhölzer gibt, hauptsächlich in Dornbüschen verschiedener Art. Es ist verhältnismäßig gut, aber durchaus nach Art anderer Grasmückennester erbaut. Das Gelege besteht aus vier bis sechs länglichrunden, glattschaligen, glänzenden Eiern, von achtzehn Millimeter Länge und vierzehn Millimeter Dicke, welche auf fleischfarbenem Grunde mit dunkleren und braunrothen Flecken, Schmitzen und Punkten gezeichnet sind. Beide Geschlechter brüten, beide lieben ihre Brut mit gleicher Liebe, und beide betragen sich bei Gefahr wie ihre Verwandten. Kommt durch Zufall die Mutter ums Leben, so übernimmt das Männchen aus schließlich die Aufzucht der Jungen.

Des ausgezeichneten Gesanges wegen wird der Mönch häufiger als alle übrigen Grasmücken im Käfige gehalten. Die vorzüglichsten Sänger sind diejenigen, welche aus Fichtenwäldern des [185] Gebirges stammen, aber auch die, welche im Laubholze groß wurden, Meister in ihrer Kunst. »Der Mönch«, rühmt Graf Gourcy mit vollstem Rechte, »ist einer der allerbesten Sänger und verdient, meinem Geschmacke nach, in der Stube den Rang vor jeder Nachtigall. Sein langer, in einem fortgehender Gesang ist flötender und mannigfaltiger, dabei nicht so durchdringend als jener der beiden Nachtigallarten, von deren Schlägen der Mönch ohnehin sehr viel dem seinigen einmischt. Viele unter ihnen singen fast das ganze Jahr, andere acht bis neun Monate. Die aufgezogenen taugen nichts, lernen aber zuweilen ein Liedchen pfeifen. Ein solcher Vogel trug das Blasen der Postknechte prächtig vor.« Alle Mönche, selbst die Wildfänge, werden außerordentlich zahm und sind dann ihrem Herrn so zugethan, daß sie ihn oft schon von weitem mit Gesang begrüßen und sich darin, selbst wenn er ihren Käfig umherträgt, nicht stören lassen. »Die Hauptstadt Kanarias«, erzählt Bolle, »erinnert sich noch des Capriote einer früheren Nonne, die täglich, wenn sie dem noch jungen Vögelchen Futter reichte, wiederholt: ›mi niño chiceritito‹ (mein allerliebstes Kindchen) zu ihm sagte, welche Worte dasselbe bald ohne alle Mühe, laut und tönend, nachsprechen lernte. Das Volk war außer sich ob der wundersamen Erscheinung eines sprechenden Singvogels. Jahrelang machte er das Entzücken der Bevölkerung aus, und große Summen wurden der Besitzerin für ihn geboten. Umsonst! Sie vermochte nicht, sich von ihrem Lieblinge zu trennen, in dem sie die ganze Freude, das einzige Glück ihres Lebens fand. Aber was glänzende Versprechungen außer Stande gewesen waren, ihr zu entreißen, das raubte der Armen die, selbst unter den sanften, freundlichen Sitten der Kanarier nicht ganz schlummernde Bosheit: der Vogel ward von neidischer Hand vergiftet. Sein Ruf aber hat ihn überlebt, und noch lange wird man von ihm in der Ciudad de las Palmas sprechen.«

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 184-186.
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