Grauwürger (Lanius minor)

[484] Alle ebenen Gegenden unseres Vaterlandes, in denen der Laubwald vorherrscht, beherbergen den Grauwürger, Rosen- und Schwarzstirnwürger, Schäferdickkopf, Sommerkriek- und Drillelster (Lanius minor, italicus, longipennis, vigil, roseus, nigrifrons, eximius und graecus, Enneoctonus minor), eine der schönsten Arten der Familie. Das Gefieder ist auf der Oberseite hell aschgrau, auf der Unterseite weiß, an der Brust wie mit Rosenroth überhaucht; Stirn und Zügel sowie der Flügel, bis auf einen weißen Fleck, welcher sich über die Wurzelhälfte der neun ersten Handschwingen verbreitet, und einen schmalen weißen Endsaum der Armschwingen, schwarz; die vier mittelsten Steuerfedern haben dieselbe Färbung, die darauf folgenden sind fast zur Hälfte weiß, die übrigen zeigen nur noch neben dem dunklen Schafte einen schwarzen Fleck auf der inneren Fahne, die äußersten sind reinweiß. Das Auge ist braun, der Schnabel schwarz, der Fuß graulich. Die Jungen sind an der Stirn schmutzigweiß, auf der Unterseite gelblichweiß, grau in die Quere gestreift. Die Länge beträgt dreiundzwanzig, die Breite sechsunddreißig, die Fittiglänge zwölf, die Schwanzlänge neun Centimeter.

Unter den im Frühlinge zurückkehrenden Sommervögeln ist der Grauwürger einer der letzten. Er erscheint erst zu Anfange des Mai, und ebenso tritt er mit am frühesten, gewöhnlich schon im Spätsommer, zu Ende des August, seine Reise wieder an. Bereits im September begegnet man ihm in den Waldungen der oberen Nilländer und ebenso wahrscheinlich in ganz Mittelafrika; denn hier erst verbringt er den Winter. So häufig er in gewissen Gegenden ist, so selten zeigt er sich in anderen. In Anhalt, Brandenburg, Franken, Bayern, Südfrankreich, Italien, Ungarn und der Türkei, im südlichen Rußland ist er gemein; die übrigen Länder Europas berührt er entweder gar nicht oder nur auf dem Zuge; den Norden Europas meidet er gänzlich. Zu seinem Aufenthalte wählt er mit Vorliebe Baumpflanzungen an Straßen und Obstgärten, ebenso kleine Feldgehölze, Hecken und zusammenhängende Gebüsche, fehlt aber oft in Gegenden, welche anscheinend allen Lebensbedingungen entsprechen, gänzlich, verschwindet wohl auch allmählich aus solchen, welche ihn vormals in Menge beherbergten, ohne daß man stichhaltige Gründe dafür aufzufinden wüßte.

Alle Beobachter stimmen mit mir darin überein, daß der Grauwürger zu den anmuthigsten und harmlosesten Arten seiner Familie gehört. Er belebt das von ihm bewohnte Gebiet in höchst ansprechender Weise; denn er ist beweglicher, munterer und unruhiger als jeder andere Würger, hieran und an [484] seiner schlanken Gestalt sowie den spitzigeren Schwingen auch im Sitzen wie im Fliegen leicht vom Raubwürger zu unterscheiden. Vortheilhaft zeichnet ihn vor diesem ferner seine geringe Raubsucht aus. Naumann versichert, daß er ihn niemals als Vogelräuber, sondern immer nur als Kerbthierjäger kennen gelernt habe. Schmetterlinge, Käfer, Heuschrecken, deren Larven und Puppen bilden seine Beute. Lauernd sitzt er auf der Spitze eines Baumes, Busches, auf einzelnen Stangen Steinen und anderen erhabenen Gegenständen; rüttelnd erhält er sich in der Luft, wenn ihm derartige Warten fehlen, stürzt sich, sobald er eine Beute gewahrt, plötzlich auf den Boden herab, ergreift das Kerbthier, tödtet es und fliegt mit ihm auf die nächste Baumspitze zurück, um es daselbst zu verzehren. Dies geschieht gewöhnlich ohne alle Vorbereitung; denn seltener als seine Verwandten spießt er die gefangenen Thiere vor dem Zerstückeln auf Dornen und Astspitzen. »Durch Färbung und Gestalt«, sagt Naumann, »ist der schwarzstirnige Würger gleich schön im Sitzen wie im Fluge, und da er immer herumflattert und seine Stimme hören läßt, so macht er sich auch sehr bemerklich und trägt zu den lebendigen Reizen einer Gegend nicht wenig bei.


Grauwürger (Lanius minor). 3/8 natürl. Größe.
Grauwürger (Lanius minor). 3/8 natürl. Größe.

Sein Flug ist leicht und sanft, und er schwimmt öfters eine Strecke ohne Bewegung der Flügel durch die Luft dahin wie ein Raubvogel. Hat er aber weit zu fliegen, so setzt er öfters ab und beschreibt so viele, sehr flache Bogenlinien. Seine gewöhnliche Stimme klingt, ›Kjäck, kjäck‹ oder ›Schäck‹, seine Loc kstimme, ›Kwiä-kwi-ell-kwiell‹ und ›Perletsch-hrolletsch‹, auch ›Scharreck, scharreck‹. Von seiner bewunderungswürdigen Gelehrsamkeit, vermöge welcher er den Gesang vieler kleinen Singvögel ganz ohne Anstoß nachsingen soll, habe ich mich nie ganz überzeugen können, ungeachtet er sich in meiner Gegend so häufig aufhält und ich ihn im Sommer täglich beobachten kann. Ich habe ihn die Lockstimme des Grünlings, des Sperlings, der Schwalben, des Stieglitzes und mehrerer anderen kleinen Vögel und mitunter auch Strophen aus ihren Gesängen unter einander mengen, darunter [485] dann auch seine Locktöne öfters mit einmischen und auf diese Art einen nicht unangenehmen Gesang hervorbringen hören; allein ein langes Lied irgend eines kleinen Sängers, im ordentlichen Zusammenhange, hörte ich nie von ihm. Immer waren Töne und kurze Strophen aus eigenen Mitteln mit eingewebt, und wenn er auch auf Augenblicke täuschte, so schwand der Wahn bald durch diese Einmischungen. Strophen aus dem Gesange der Feldlerchen hört man oft von ihm; auch ahmt er den Wachtelschlag leise, aber ziemlich täuschend nach. Die fremden Töne ahmt er sogleich, als er sie hört, nach und ist übrigens ein sehr fleißiger Sänger. Daß er den Gesang der Nachtigall auch nachsinge, habe ich noch nicht gehört, obgleich in meinem eigenen Wäldchen Nachtigallen und graue Würger in Menge neben einander wohnen.«

Das Nest legt der schwarzstirnige Würger gewöhnlich in ziemlicher Höhe in dichtem Gezweige seiner Lieblingsbäume an. Es ist groß, wie alle Würgernester aus trockenen Wurzeln, Quecken, Reisern, Heu und Stroh aufgebaut und inwendig mit Wolle, Haaren und Federn weich ausgefüttert. Zn Ende des Mai findet man in ihm sechs bis sieben, vierundzwanzig Millimeter lange, achtzehn Millimeter dicke, auf grünlichweißem Grunde mit bräunlichen und violettgrauen Flecken und Punkten gezeichnete Eier, welche von beiden Gatten wechselweise innerhalb funfzehn Tagen ausgebrütet werden. Die Jungen erhalten nur Kerbthiere zur Nahrung. »Wenn sich eine Krähe, Elster oder ein Raubvogel ihrem Neste oder auch nur einem gewissen Bezirke um dasselbe nähert«, sagt Naumann, »so verfolgen ihn beide Gatten beherzt, zwicken und schreien auf ihn los, bis er sich entfernt hat. Nähert sich ein Mensch dem Neste, so schlagen sie mit dem Schwanze beständig auf und nieder und schreien dazu ängstlich, ›Kjäck, kjäck, kjäck‹, und nicht selten fliegen dem, welcher die Jungen aus dem Neste nehmen will, die Alten, besonders die Weibchen, keine Gefahr scheuend, ins Gesicht. Die Jungen wachsen zwar schnell heran, werden aber, nachdem sie bereits ausgeflogen, lange noch von den Eltern gefüttert. Sie sitzen oft alle auf einem Zweige, dicht neben einander und empfangen ihr Futter unter vielem Schreien; durch ihr klägliches, ›Giäh, giäck, gäkgäckgäck‹ verrathen sie ihren Aufenthalt sehr bald. In jedem Gehecke ist eins der Jungen besonders klein und schwächlich. Da sie sehr viel fressen, so haben die Alten mit dem Fangen und Herbeischleppen der Nahrungsmittel ihre volle Arbeit und sind dann außerordentlich geschäftig. Bei trüber oder regnerischer Witterung, wenn sich wenige Kerfe sehen lassen, fangen sie dann auch manchmal junge Vögel und füttern die Jungen damit.«

Habicht und Sperber stellen den alten schwarzstirnigen Würgern nach, Raben, Krähen und Elstern zerstören trotz des Muthes, welchen die Alten an den Tag legen, die Brut. Der Mensch, welcher diesen Würger kennen gelernt hat, verfolgt ihn nicht oder fängt ihn höchstens für das Gebauer, und zwar in derselben Weise, wie ich schon weiter oben mitgetheilt habe. Die gefangenen Grauwürger erfreuen durch ihre Schönheit und Nachahmungsgabe.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 484-486.
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