Siebente Familie: Lerchen (Alaudidae)

[257] Die Lerchen (Alaudidae) sind kräftig gebaute Sperlingsvögel mit großem Kopfe, kurzem oder mittellangem Schnabel von verschiedener Stärke, ziemlich niedrigen Füßen und mittellangen Zehen, deren hinterste oft einen spornartigen Nagel trägt, langen und sehr breiten Flügeln, nicht besonders langem oder kurzem, meist gerade abgeschnittenem Schwanze und erdfarbenem Gefieder, welches nach dem Geschlechte wenig, nach dem Alter sehr verschieden ist. Der innere Leibesbau kommt im wesentlichen mit dem anderer Sperlingsvögel überein. Das Gerippe ist kräftig, zum großen Theil marklos und luftführend. Die Singmuskeln sind wohl entwickelt; der Magen ist fleischig, also muskelkräftig, ein Kropf nicht vorhanden.

Obwohl in allen Erdtheilen vertreten, gehören die Lerchen, von denen man etwa einhundertundzehn verschiedene Arten kennt, doch vorzugsweise der Alten Welt an; denn das nördlich neuweltliche, südlich neuweltliche und australische Gebiet beherbergen je nur eine Art. Freie Gegenden, das bebaute Feld ebensowohl wie das Unland, die Wüste wie die Steppe bilden ihre Wohnsitze. In den asiatischen Steppen sind sie es, welche der oft einförmigen Gegend Sang und Klang verleihen. Ein Paar der einen Art wohnt dicht neben dem der anderen, und gemeinschaftlicher Gesang füllt im Frühlinge zu jeder Tageszeit das Ohr des Reisenden. Eine von ihnen sieht man stets am Himmel schweben, sei es auch nur, daß der vorüberfliegende Wagen oder der vorbeieilende Reiter sie aufgescheucht und zu kurzem Sangesfluge begeisterte. Alle im Norden wohnenden Lerchen sind Zug- oder wenigstens Wander-, die im Süden lebenden Stand-oder Strichvögel. Ihre Reisen sind nicht sehr ausgedehnt, und der Aufenthalt in der Fremde währt immer nur kurze Zeit. Sie gehören zu den ersten Vögeln, welche der Frühling bringt, und verweilen bis zum Spätherbste bei uns.

Unter allen Sperlingsvögeln sind sie die besten Läufer; aber auch ihr Flug ist durch vielfachen Wechsel ausgezeichnet. Wenn sie Eile haben, fliegen sie in großen Bogenlinien rasch dahin; beim Singen hingegen erheben sie sich flatternd gerade empor oder drehen sich in großen Schraubenlinien zum Himmel auf, senken sich von dort aus erst langsam schwebend hernieder und stürzen zuletzt plötzlich mit ganz eingezogenen Flügeln wie ein lebloser Gegenstand zum Boden herab. Ihre Sinne scheinen durchgängig wohl entwickelt zu sein; ihr Verstand hingegen ist gering. Sie sind lebhaft, selten ruhig, vielmehr immer in Bewegung, in gewissem Sinne rastlos. Mit anderen ihrer Art leben sie, so lange die Liebe nicht ins Spiel kommt, höchst friedfertig, während der Paarungszeit hingegen in fortwährendem Streite. Um fremde Vögel bekümmern sie sich wenig, obwohl einzelne Arten den Schwärmen der Finken und Ammern sich beimischen; stärkere Thiere fürchten sie sehr, den Menschen nur dann nicht, wenn sie sich durch längere Schonung von ihrer Sicherheit vollständig überzeugt haben. Die meisten von ihnen sind gute, einige ganz ausgezeichnete Sänger. Das Lied, welches sie vortragen, ist arm an Strophen, aber ungemein reich an Abwechselung; wenige Töne werden hundertfältig verschmolzen und so zu einem immer neuen Ganzen gestaltet. Alle Arten besitzen die Gabe, fremde Gesänge nachzuahmen: in der Steppe singen alle dort wohnenden Lerchen im wesentlichen ein und dasselbe Lied; denn jede lernt und empfängt von der anderen.

[257] Die Nahrung besteht aus Kerbthieren und Pflanzenstoffen. Während des Sommers nähren sie sich von Käfern, kleinen Schmetterlingen, Heuschrecken, Spinnen und deren Larven; im Herbste und Winter fressen sie Getreidekörner und Pflanzensämereien, im Frühlinge genießen sie Kerbthiere und junge Pflanzenstoffe, namentlich die Schößlinge des Getreides. Sie verschlucken die Körner unenthülst und verschlingen deshalb stets Sand und kleine Kiesel, welche die Zerkleinerung der Nahrung befördern. Zum Trunke dient ihnen der Thau auf den Blättern; sie können das Wasser aber auf lange Zeit gänzlich entbehren, baden sich auch nicht in ihm, sondern nehmen Staubbäder.

Das liederlich, aber stets aus der Bodendecke gleich gefärbten Halmen und Grasblättern erbaute, daher trefflich verborgene Nest steht in einer von ihnen selbst ausgescharrten Vertiefung des Bodens; das Gelege enthält vier bis sechs, bei der zweiten Brut drei bis fünf gefleckte Eier.

Allerlei Raubthiere, Säugethiere, Vögel und Kriechthiere, nicht minder auch die Menschen, treten den Lerchen feindlich gegenüber; sie aber vermehren sich so stark, daß alle ihren Bestand treffenden Verluste sich ausgleichen, nehmen auch mit der gesteigerten Bodenwirtschaft stetig zu.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Fünfter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Zweiter Band: Raubvögel, Sperlingsvögel und Girrvögel. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 257-258.
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