Drosseluferläufer (Actitis macularia)

[305] Aus Amerika verflog sich der Drosseluferläufer (Actitis macularia, notata und Wiedii, Tringa macularia und notata, Totanus, Tringites und Tringoides macularius) nach Deutschland. Er ist ebenso groß wie der Verwandte, diesem auch sehr ähnlich gezeichnet, unterscheidet sich aber dadurch von ihm, daß die weißen Untertheile in der Mitte keine, an den Seiten eirunde schwarzbraune Flecke, die weiße Kehle und Gurgel schmale, braungraue Schaftstriche, die mittleren Schwanzfedern sechs bis sieben verloschene, am Rande als dunkle Flecke ersichtliche Querbinden und ein dunkles Endband zeigen.

Der Flußuferläufer bewohnt oder besucht, mit Ausnahme des höchsten Nordens der Vereinigten Staaten, Mittel- und Südamerikas sowie Polynesiens, die ganze Erde, nistet auch fast überall, wo er vorkommt. Im nördlichen Deutschland erscheint er um die Mitte des April, zuweilen auch erst im Mai, brütet und beginnt schon im Juli sein Umherschweifen, bis um die Mitte des September die Wanderung angetreten wird. Gelegentlich dieser Reisen, welche des Nachts ausgeführt und bei Tage unterbrochen werden, bemerkt man ihn in kleinen Gesellschaften von sechs bis acht, vielleicht auch zwanzig Stück. Diese Trupps scheinen während der Wanderung zusammenzubleiben; sie brechen abends auf, fliegen bei einigermaßen günstiger Witterung bis zum Morgen, lassen sich dann an einem geeigneten Orte, gewöhnlich an einem Fluß-oder Bachufer, nieder, suchen hier übertages Nahrung, schlafen in der Mittagszeit ein wenig, verweilen, wenn es ihnen besonders gut gefällt, sogar mehrere Tage an einer und derselben Stelle und setzen die Wanderung wieder fort.

Man sieht den Uferpfeifer regelmäßig auf Sandbänken, am häufigsten da, wo das Ufer mit Gesträuch und Schilf bewachsen ist. Er steht wagerecht, läuft behend und mehr trippelnd als [305] schreitend umher und wippt nach Bachstelzenart beständig mit dem Schwanze. Sein Flug ist leicht, schnell und gewandt, insofern ungewöhnlich, als der Vogel beim Wegfliegen selten zu höheren Luftschichten emporsteigt, vielmehr unmittelbar über dem Wasser in gerader Linie hin fort streicht, so daß man meint, er müsse die Schwingen sich netzen. Nur wenn er eine Stelle gänzlich verlassen will, schwingt er sich ebenfalls hoch in die Luft und jagt dann eilig dahin. Die weißen Flecke in den Schwungfedern zeigen sich bei ausgebreiteten Schwingen als breite zierende Binden. Im Nothfalle wirft sich der geängstigte Flußuferläufer ins Wasser, schwimmt, wenn er es kann, rasch auf demselben dahin, oder taucht, wenn es sein muß, in die Tiefe, rudert mit den Flügeln sehr schnell ein Stück weg und erscheint an einer ganz anderen Stelle wieder. Sein Wesen treibt er, wie Naumann sagt, gern im Stillen, halb und halb im Verborgenen, obwohl er sich eigentlich niemals verkriecht und noch weniger im Grase versteckt. Selbst die erhabensten Plätzchen, welche er betritt, liegen fast immer so, daß er wenigstens vom nächsten Ufer aus nicht schon aus der Ferne gesehen werden kann. »Auf einem alten, verstümmelten, aus anderen dicht belaubten Bäumen, Gebüsch und einem Zaune hervorragenden und über das Wasser hängenden Birnbaume, am Teiche neben meinem Garten, war ein Stand und Sitz von Brettern für eine Person, wenigstens anderthalb Meter hoch über dem Wasserspiegel, angebracht; dieser wurde von allen Sandpfeifern, welche in der Zugzeit unsere Teiche besuchten, zum Ruheplätzchen benutzt, obgleich am entgegengesetzten Ufer, nicht vierzig Schritte entfernt, ein sehr betretener Fußweg vorbeiging, von wo aus sie durch vorübergehende sehr oft verscheucht wurden.« Solche Stellen liebt der Vogel ganz besonders; denn er ist nicht bloß vorsichtig und scheu, sondern auch im höchsten Grade furchtsam und, obgleich er sich oft in der Nähe der Ortschaften und selbst in ihnen aufhält, doch jederzeit auf seiner Hut. Dabei besitzt er Verstand genug, gefährliche Menschen von ungefährlichen zu unterscheiden, oder Thieren, denen er nicht trauen darf, rechtzeitig auszuweichen. Selten gelingt es den Raubvögeln, ihn zu überlisten; selbst der hartnäckige Sperber wird oft durch ihn getäuscht, da er, sobald er jenen fürchterlichen Feind gewahrt, so eilig wie möglich in dichtes Gebüsch oder nöthigenfalls ins Wasser flüchtet und sich durch Tauchen zu retten sucht. Mit anderen Strandvögeln macht er sich wenig zu schaffen; nicht einmal die Paare hängen treuinnig an einander, sobald die Brutzeit vorüber ist. Die Stimme, ein zartes, helles, hohes und weitschallendes Pfeifen, ähnelt der des Eisvogels und klingt ungefähr wie »Hididi« oder »Jiht« und »Jhdihdihd«, wird aber während der Paarungszeit in einen Triller zusammengeschmolzen, welcher sanft beginnt, anschwillt und wieder abfallend endet, unendlich oft sich wiederholt und wenigstens nicht unangenehm ins Ohr fällt.

Unmittelbar nach seiner Ankunft im Frühjahre wählt sich jedes Pärchen seinen Stand und duldet in der Nähe kein zweites. Das Männchen zeigt sich sehr erregt, streicht in sonderbaren Zickzackflügen hin und her, trillert, singt und umgeht das Weibchen mit zierlichen Schritten. Dieses wählt an einer den Hochfluten voraussichtlich nicht ausgesetzten Uferstelle, näher oder entfernter vom Wasser, ein geeignetes Plätzchen im Gebüsche oder baut unter dem Gezweige, am liebsten im Weidichte, ein einfaches Nest aus Reisern, Schilf, Stoppeln und dürren Blättern so versteckt, daß man es trotz der verrätherischen Unruhe der Alten gewöhnlich erst nach langem Suchen auffindet. Die vier Eier, welche das Gelege bilden, sind bald kürzer, bald gestreckter, durchschnittlich fünfunddreißig Millimeter lang, sechsundzwanzig Millimeter dick, birnförmig, feinschalig, glänzend, auf bleichrostgelbem Grunde mit grauen Unter-, rothbraunen Mittel- und schwarzbraunen Oberflecken gezeichnet und bepunktet. Jede Störung am Neste ist den Alten ungemein verhaßt; sie merken es auch, wenn ihnen ein Ei genommen wird, und verlassen dann das Gelege sofort. Beide Geschlechter brüten. Die Jungen entschlüpfen nach etwa zweiwöchentlicher Bebrütung, werden noch kurze Zeit von der Mutter erwärmt und nun den Weidehagen zugeführt. Hier wissen sie sich so vortrefflich zu verstecken, daß man sie ohne gute Hunde selten auffindet, obgleich die Alten den Suchenden unter ängstlichem Geschreie umflattern. Nach acht Tagen brechen die Flügel- und Schwanzfedern hervor; nach vier Wochen sind sie flügge und der Pflege der Eltern entwachsen.

[306] Kerbthierlarven, Gewürm und Kerbthiere im Flie genzustande, namentlich Netz- und Zweiflügler, bilden die Nahrung. Sie wird entweder vom Strande aufgelesen oder im Fluge weggeschnappt, auch von den Blättern weggenommen. Fliegen, Mücken, Schnaken, Hafte und Wasserspinnen beschleicht der Flußuferpfeifer, indem er mit eingezogenem Kopfe und Halse leise und vorsichtig auf sie zugeht, plötzlich den Schnabel vorschnellt und selten sein Ziel verfehlt.

In der Gefangenschaft gewöhnt er sich bald an das vorgesetzte Stubenfutter, hat sich nach wenigen Tagen eingewöhnt, wird sehr zahm, hält sich auf einem kleinen Raume in der Nähe seines Freßgeschirres, beschmutzt den Käfig wenig und gewährt seinem Besitzer viel Vergnügen.

Raubthiere, Raben, Krähen und Elstern thun der Brut Schaden; die Alten hingegen haben wenig von Feinden zu leiden, aber in den futterneidischen Bachstelzen entschiedene Gegner und deshalb mit ihnen beständige Kämpfe zu bestehen.


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Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Sechster Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Dritter Band: Scharrvögel, Kurzflügler, Stelzvögel, Zahnschnäbler, Seeflieger, Ruderfüßler, Taucher. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 305-307.
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