Ibisse (Ibidinae)

[327] Die erste dieser Unterfamilien bilden die Ibisse im engeren Sinne (Ibidinae), verhältnismäßig kleine, aber kräftig gebaute Vögel mit mittellangem Halse, kleinem Kopfe, schlankem, nicht besonders starkem, aber langem, sichelförmig abwärts gekrümmtem, von der Wurzel nach der Spitze zu allmählich verdünntem, fast walzigrundem Schnabel, dessen Oberkiefer eine bis zur äußersten Spitze gehende Längsfurche trägt, und dessen Mundkanten stumpf, aber nicht wulstig sind, hohen, schlanken Beinen, ziemlich langen Zehen, deren drei vordere durch eine kleine Spannhaut vereinigt werden, und schmalen, flachgebogenen, an der Spitze scharfen, unten ausgehöhlten Krallen, deren mittlere zuweilen kammartig gezahnt ist, großen, breiten, zugerundeten Flügeln, unter denen die zweite Schwinge die längste zu sein pflegt, und deren Afterflügel sich durch seine Kürze oder durch Zer schlissenheit seiner Federn auszeichnet, kurzem, breit abgerundetem oder etwas ausgeschnittenem, aus zwölf Federn bestehendem Schwanze und ziemlich derbem, gut schließendem Kleingefieder, dessen Farben sich über große Felder vertheilen. Einige Arten fallen auf durch die Nacktheit des Gesichtes und Halses, eigenthümliche Bekleidung dieser Stellen, verlängerte Hinterhalsfedern und dergleichen. Die Geschlechter unterscheiden sich wenig, die Jungen merklich von den Alten; auch das Sommer- und Winterkleid kann ziemlich verschieden sein.

[327] Das Kopfgerüst ist, laut Nitzsch, in allen Theilen kräftig, die Stirne hoch und breit, die Augenscheidewand vollständig verknöchert; die Wirbelsäule besteht aus funfzehn oder sechzehn Halswirbeln, acht bis neun Brust- und sieben Schwanzwirbeln; die beiden inneren Hautbuchten des Brustbeines kommen den äußeren fast an Größe gleich; viele Theile des Gerippes, so namentlich die Oberarm-, Schulter- und Beckenknochen, das Brustbein und die meisten Wirbel, sind marklos und luftführend. Die Zunge ist eine kleine, dreieckige Kümmerzunge, der Magen muskelig; die Blinddärme zeichnen sich aus durch ihre Kürze, usw.

Die Ibisse, von denen man einundzwanzig Arten kennt, bewohnen vorzugsweise den warmen Gürtel aller Erdtheile, einzelne Arten sehr verschiedene Länder, andere ein mehr beschränktes Verbreitungsgebiet. Diejenigen, welche im Norden leben, gehören zu den Wandervögeln, die übrigen streichen. Sie hausen in Sümpfen, Brüchen und Waldungen, sind Tagvögel, fliegen mit Sonnenaufgange von ihren Schlafplätzen nach Futter aus, beschäftigen sich übertages, ruhen in den Mittagsstunden, suchen nachmittags wiederum Nahrung und ziehen abends gemeinschaftlich den Schlafbäumen zu, wandern auch nur in den Tagesstunden, nicht einmal in mondhellen Nächten. Sie gehen gut, mit gemessenen Schritten, niemals eigentlich rennend, sondern stets schreitend, waden bis an den Leib ins Wasser, schwimmen, wenn ihnen die Lust ankommt, oder die Noth sie zwingt, verhältnismäßig gut, fliegen ziemlich langsam, mit vielen Flügelschlägen, auf welche dann längeres Gleiten folgt, ordnen sich in die Keilform oder eine Linie, welche ihrer Breite nach die Luft durchschneidet, und schweben vor dem Niederlassen. Ihre Stimme entbehrt des Wohlklanges und ist immer dumpf und rauh oder kreischend, klagend und gellend, bei einzelnen Arten höchst sonderbar, bei keinem einzelnen Mitgliede der Familie wirklich ansprechend. Die Sinne stehen auf hoher Stufe; die geistigen Fähigkeiten räumen ihnen die erste Stelle innerhalb ihrer Unterordnung ein. Alle sind gesellig und vereinigen sich nicht bloß mit den Artgenossen, sondern auch mit fremdartigen Vögeln, ohne jedoch mit diesen eine engere Verbindung einzugehen, mindestens ohne eine solche längere Zeit zu unterhalten, wogegen sie unter sich stets in Scharen oder doch paarweise zusammen leben, gemeinschaftlich brüten und wandern und auch in der Winterherberge in enger Verbindung bleiben. Diejenigen, welche sich vorzugsweise an Flußmündungen oder am Meeresstrande aufhalten, fressen hauptsächlich Fische, Krebse und Weichthiere, die, welche am liebsten im Sumpfe leben, Fische, Lurche verschiedener Art und kleines Wassergethier. Während des Freilebens verschmähen sie wahrscheinlich jede Pflanzennahrung; in der Gefangenschaft aber nehmen sie ausnahmslos solche, insbesondere Weißbrod, an. Das Nest wird stets im Gezweige der Bäume oder Gesträuche errichtet, beziehentlich das eines hier stehenden anderen Vogels in Besitz genommen; das Gelege zählt drei bis sechs einfarbige Eier. Ob beide Gatten brüten, bleibt fraglich; wohl aber wissen wir, daß beide sich an der Erziehung der Jungen betheiligen. Letztere bleiben bis zum Flüggesein im Neste, werden aber auch nach dem Ausfliegen noch längere Zeit von den Alten geführt, schon weil sie sich den Vereinen derselben anschließen. Ihre Ausbildung bedarf mindestens zwei Jahre; mehrere Arten scheinen erst im dritten Frühlinge ihres Lebens fortpflanzungsfähig zu werden. Von natürlichen Feinden haben Alte und Junge wenig zu leiden; auch der Jäger läßt sie meist unbehelligt, obgleich ihr schmackhaftes Fleisch die Jagd wohl belohnt. Um so eifriger ist man bedacht, sie zu zähmen, da die gefangenen sich nicht nur bald an den Menschen gewöhnen, sondern, Dank ihres Verstandes und ihrer Liebenswürdigkeit, diesen auch jederzeit aufs höchste erfreuen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Sechster Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Dritter Band: Scharrvögel, Kurzflügler, Stelzvögel, Zahnschnäbler, Seeflieger, Ruderfüßler, Taucher. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 327-328.
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