5. Petersburg.

[240] Im Sommer 1813 dachte ich mir die Möglichkeit, Rußland bald zu verlassen, sehr lebhaft und hatte wohl Lust, zuvor noch Petersburg zu beschauen; dazu kam, daß Rehmann und Hauenschild mich dringend dahin einluden und mir sammt meiner Familie ihre Wohnungen anboten; endlich fand ich auch eine angenehme Reisegesellschaft, nämlich Frau von Glama, einen meiner bisherigen Zuhörer, Dr. Melart und den Kaufmann Ehlert. So fuhren wir denn am 17. Juli in drei Wagen aus.

Auf unserer Reise bekamen wir hinter Torma zuerst den Peipussee zu sehen, an dessen westlichem Ufer die Landstraße eine Strecke lang sich hinzieht. Bei Fockmhof eröffnete sich uns eine herrliche Aussicht über den finnischen Meerbusen. Dann überraschte uns das alterthümliche Narwa, dessen ganz eigenthümliche Bauart uns für rein russisch galt und von wo wir nach Jola gingen, um den hübschen Wasserfall der Narowa zu sehen. Wir passirten Jamburg mit seinen prächtigen, für eine von Colonisten zu betreibende große Fabrik erbauten, meist[240] nur noch in Ruinen bestehenden Gebäuden, in deren Zimmern jetzt Schafe weideten, und nahmen unser Nachtquartier in Oranienbaum, in dessen Schlosse man uns die von Peter III. unmittelbar vor seiner Ermordung bewohnten Zimmer zeigte.

Am folgenden Morgen schwebten wir bei köstlichem Wetter voller Lust und Freude in einer zwölfruderigen Schaluppe von der kaiserlichen Marine auf dem Meere, der Inselfestung Kronstadt zu. Die aus mächtigen Quadersteinen aufgethürmten Festungswerke, die in den Docks auf dem Trocknen ruhenden, gigantischen Kriegsschiffe, das Getümmel von Fremdlingen aus den verschiedensten Ländern, unter denen die Eingebornen kaum hervortauchten, der Reichthum an Früchten, Gemüsen und Fleisch auf dem nichts von dem Allem producirenden Eilande – dies machte zusammen den lebhaftesten Eindruck. Ein portugiesischer Viceconsul, Herr Fereira, führte uns in seiner Gondel im Hafen herum; während er uns seine ungetheilte Aufmerksamkeit zu widmen schien, machte er, wie nebenbei, seine Geschäfte ab, und während er mit uns das Deutsche so sprach, als ob es seine Muttersprache wäre, redete er mit gleicher Fertigkeit hier englisch, dort französisch, dort wieder russisch. Hier lag ein russisches Schiff an einem portugiesischen, und während die Matrosen beider Nationen die Maderafässer herauf, herüber und herab hißten, ließen sie wechselsweise ihre Stimmen in ihren Landessprachen erschallen; dort gingen wir auf ursprünglich republikanischen Boden, den die Amerikaner aus ihrem freien Vaterlande in die Nähe der Zaarenstadt geführt hatten; überall aber, in den Läden und Gasthäusern, deckten englische Formen den russischen Geist. Dies an Contrasten reiche Bild regen Lebens hatte uns in eine große Aufregung versetzt, die noch ihre Wirkung zeigte, als wir nach tüchtiger Bewirthung in einem englischen Hause gegen Abend unsere Rückfahrt antraten. Schwere Wetterwolken stiegen auf und ich hielt die Fahrt für bedenklich; aber meine des Russischen kundigen Gesellschafter ließen sich von dem Steuermanne und seinen zwölf Matrosen die Gefahrlosigkeit versichern und versicherten hinwiederum, daß man sich auf diese Mariniers ganz verlassen könne, worauf ich[241] mich denn auch fügen mußte. Ein scharfer Ostwind erhob sich; eine Menge kleiner Fahrzeuge eilte in den Hafen; wir fuhren heraus. Auf der See wurde der Wind stärker; die betrunkenen Matrosen mußten die Segel einziehen, dann den Mastbaum niederlegen, auch das ausgespannte Zelt einpacken, waren aber dabei munter und lustig. Da begann der Sturm zu wüthen, das Gewitter brach los, unsere Schaluppe wurde herumgeschleudert, die Wellen, die sich über uns stürzten, wurden immer mächtiger, die Matrosen beteten und kreuzten sich; auf einen Augenblick war sogar das Steuerruder ausgehakt und nur durch einen Glücksfall kam es wieder in seine Angel. Wir hatten den Tod vor Augen: den Blick auf jede hohe Welle gerichtet, die sich, um unser Grab zu werden, heranwälzte, hielt ich Frau und Kinder fest umschlungen, denn Keiner von uns sollte den Andern auch nur einen Augenblick überleben; bleich und stumm starrten unsere Reisegefährten in den Sturm, und bisweilen mußte ich bei dem Jammergekreische des einen, abwechselnd in Krämpfen liegenden Fräuleins in rauhen Tone Ruhe gebieten. Allmählig waren unsere Matrosen nüchtern geworden; ganz in ihrer Hand, wie wir waren, hatte Keiner von uns bemerkt, daß sie unsinniger Weise, statt zu laviren, geradezu gesteuert und dem Sturme die volle Flanke des Fahrzeugs Preis gegeben hatten. Das Gewitter ging vorüber und wir langten in Oranienbaum an, wo man mit Fernröhren uns beobachtet hatte, um Zeuge unsere gewiß scheinenden Unterganges zu sein. Nach dem Sturme hatten wir, so lange wir noch auf der See waren, uns vorgenommen, die Matrosen wegen ihres unverantwortlichen Benehmens bestrafen zu lassen; als wir aber wieder festen Boden unter uns hatten, ließ uns die Freude über die Rettung unseres Lebens nicht mehr an eine solche Ahndung des an uns verübten Unrechts denken.

Wir besuchten am folgenden Morgen das pompöse Peterhof, welches so sinnig sich verkündet, indem es den Glanz der Goldmassen an seiner Außenseite trägt, nahmen die einfachen Reliquien Peters des Großen in Augenschein und fuhren dann von Strelna aus längs der Kette eleganter Landhäuser,[242] die sich bis zur Hauptstadt hinzieht, in welcher ich mit meiner Familie bei Rehmann abstieg.

Joseph Rehmann aus Donaueschingen war einer der gediegensten Männer, die mir auf meiner Lebensbahn begegnet sind. Ein scharfsinniger und glücklicher Arzt, ein vollkommener Weltmann und ein lebensfroher Mensch, hatte er zugleich ein lebhaftes Interesse für die Wissenschaft, ein warmes Herz und einen ernsten, offenen, durchaus biederen Charakter. Er bewegte sich in jedem Kreise leicht, ohne Zwang, mit dem Anstande und der Zuversicht, welche die feine Sitte und die Gewohnheit an den Umgang mit der großen Welt, verbunden mit dem Gefühle der Superiorität gewährt; ich sah ihn im Umgange mit den Ministern Grafen Rasumowski, Grafen Kotschubec und Fürsten Kurakin: von einer Verschiedenheit des Standes war keine Spur zu bemerken; es war der Adel seines Geistes, was Achtung und Vertrauen einflößte, so daß auch die Hochgestellten sich gezwungen fühlten, ihn als auf gleicher Stufe mit ihnen stehend zu betrachten. In der Zerstreuung übertrat er bisweilen die Regeln der Artigkeit, und Niemand nahm es ihm übel; so war er z.B., wie Rasumowski selbst lachend erzählte, als dessen Leibarzt eines Morgens bei ihm eingetreten, hatte aber sogleich englische Zeitungen auf einem Seitentische bemerkt, sich daran gesetzt und, nachdem er eine halbe Stunde gelesen, den Hut genommen und sich ganz ruhig wegbegeben, ohne mit dem Minister gesprochen zu haben. Eine reiche Einnahme als Folge seiner ausgebreiteten Praxis betrachtete er, als ob sie sich von selbst verstünde und gebrauchte sie ohne Verschwendung, aber in großartiger Weise. – Von seiner bis zur chinesischen Gränze ausgedehnten Reise mit der nach Peking bestimmten Gesandtschaft hatte er eine reichhaltige Sammlung von naturhistorischen, medicinischen und ethnographischen Notizen, so wie von trefflichen Zeichnungen, die er zum Theil schon hatte in Kupfer stechen lassen, mitgebracht; es ist ein Verlust, daß sie nicht veröffentlicht worden ist und es gehört zu den Sonderbarkeiten, dergleichen in Rußland vorkommen, daß er trotz seiner Verbindungen eine Herausgabe auf kaiserliche Kosten[243] nicht bewirken konnte: in einem der letzten Jahre seines Leben stand er deßhalb noch mit Cotta in Unterhandlung. – Als Rasumowski Minister geworden war, folgte er 1811 der Einladung desselben nach Petersburg mit Aufopferung einer sehr reichen Praxis in Moskau, bloß in der Absicht, eine Verbesserung des Medicinalwesens in Rußland zu bewirken. Allein bald sah er ein, daß dies bei dem Egoismus und der Macht von Wylie und Crichton unausführbar sei. »Die Chicane bornirter Hofärzte,« schrieb er mir noch in demselben Jahre, »ist zu mächtig. Mit Rasumowski stehe ich auf gutem Fuße; er ist aber nicht der humane, aufgeklärte Mann, der es verdiente, daß ich ihm meine Zeit und meine häusliche Unabhängigkeit länger opferte. Bloß die Möglichkeit, Gutes zu stiften, hätte mich hier zurückhalten können.« Er wollte also nach Moskau zurück; indeß begaben sich viele Große beim Ausbruche des Krieges frühzeitig von da weg und unterdeß fesselte ihn die immer bedeutender werdende Praxis an Petersburg. Noch im September 1812 klagte er mir das Mißlingen seiner Pläne. »Ich habe mich vielfältig überzeugen müssen, daß es unmöglich ist, hier eine allgemeine Verbesserung des Medicinalwesens zu bewirken und eine wahre Medicinalpolizei, auf Grundsätze gestützt, einzurichten. Die Menschen, denen die Verwaltung dieses Departements jetzt anvertraut ist, sind kurzsichtige Egoisten, die theils zu bequem, theils zu wenig unterrichtet sind, um etwas wahrhaft Gutes begründen zu können.« – Im folgenden Jahre sah ich ihn nun in Petersburg. Er hatte eine Sommerwohnung auf der Apothekerinsel und räumte mir samnt den Meinigen seine Wohnung in der Stadt ein; am Tage vor unserer Ankunft hatte er noch das eine Zimmer mit Ansichten von Wien und seinen Umgebungen geschmückt. Stundenweise kam er zu mir, oft erst am frühen Morgen, als dem Ende seines gestrigen Tagewerkes, wo er mich denn weckte und bei einem Glase Punsch mit mir plauderte, bis er endlich auch Ruhe auf seiner Insel suchte. Da nämlich, den großen Umfang der Stadt abgerechnet, die reichen Petersburger, die nicht durch Geschäfte gebunden sind, den Sommer über auf ihren Landsitzen leben,[244] die zerstreut und zum Theil ziemlich entfernt liegen, so mußte er nicht selten Wege von zehn bis funfzehn deutschen Meilen den Tag über zurücklegen, um alle seine Kranken zu sehen. Deßhalb machte er auch seine Lectüre von Zeitungen und Flugschriften im Fahren ab, und wenn ich ihn begleitete, so fand ich, während er bei einem Kranken war, immer hinreichenden Vorrath zu literarischer Unterhaltung in den Wagentaschen. Natürlich waren zu seinem Gebrauche zwei Postzüge mit eben so viel Kutschern und Vorreitern nöthig; seine Frau bedurfte einer dritten Equipage, und nach diesem Maßstabe war der ganze Haushalt eingerichtet, so daß die bedeutende Einnahme beinahe ganz auf derlei Aeußerlichkeiten darauf ging und ihm für das mühevolle, anstrengende Geschäft durchaus keine hinreichende Entschädigung bot. – Als ich nach Dorpat zurückgekehrt war, schrieb er mir: »Wie sehr bedaure ich, daß ich Ihnen so wenig angehören konnte, so sehr auch mein Gefühl immer bei Ihnen war und immer mit Ihnen sein wird. – Daß weder mein Geist noch mein Herz im Reiche der Illusionen lebt, werden Sie bemerkt haben und daher gern meine Ihnen für das Leben geweihte Freundschaft für etwas Reelles nehmen.«

Ein anderer recht lieber Freund, wenn auch von ungleich geringerem Gehalte, war Professor Hauenschild, aus Ungarn gebürtig. Er hatte in den Sommerferien 1812 Dorpat besucht, sich mit großer Liebe mir angeschlossen und seitdem einen lebhaften Briefwechsel mit mir unterhalten. Er war Philolog und Belletrist, bei seinem Reichthume an literarischen Kenntnissen und der Eleganz seiner Unterhaltung war er bei mehreren Großen, namentlich auch bei einigen Ministern beliebt. Wohlwollend und gern in angenehmen Vorstellungen sich wiegend, sah er Alles im schönsten Lichte und meinte von Jedem das Beste; seiner poetisch üppigen Sinnlichkeit war eine hinlängliche Portion Leichtsinn beigesellt; man behauptete späterhin auch, daß er die Gunst des Ministers, Fürsten Galizin, seinem Eingehen in religiöse Schwärmerei verdankte. Er leistete mir in Petersburg häufig Gesellschaft und ich brachte auch einige Tage bei ihm in Zarsko Selo zu, wo er an einer[245] Erziehungsanstalt junger Edelleute, die sich vornehmlich dem Staatsdienste im Civil widmen sollten, lehrte. Außerdem wollte er ein eigenes Institut in dem nicht weit davon liegenden Sofia errichten. – Er sehnte sich sehr nach dem Süden und hoffte, durch seine Verbindungen einst als Legationsrath dahin zu kommen. Sein Schicksal führte ihn späterhin (nachdem ich Rußland längst verlassen hatte) auf einem anderen Wege zu demselben Ziele. Ein Herr nämlich suchte ihn zu stürzen, bloß um seinem Gönner, dem Fürsten Galizin, den er selbst anzugreifen nicht wagte, wehe zu thun, und die Gelegenheit dazu fand sich, als Kaiser Alexander die Anstalt unvermuthet besuchte und unter den Zöglingen Insubordination bemerkte. Hauenschild wurde auf der Stelle entlassen, aber – Dank seinen Gönnern – mit einem ansehnlichen Gehalte auf Reisen geschickt; er wurde österreichischer Generalconsul in Corfu und starb als Gubernialrath in Ungarn, wo denn seiner Wittwe, einer Tochter des russischen Generals Elsner, – die Pension einer russischen Beamtenwittwe zu Theil wurde.

Meine Hauptbeschäftigung während des fünfwöchentlichen Aufenthaltes in Petersburg war das Studium der anatomischen Präparate in der sogenannten Kunstkammer, die mir auf Befehl des Ministers offen stand und wo ich die meisten Tage von 9 bis 3 Uhr zubrachte. Eine kurze Beschreibung davon habe ich in der »russischen Sammlung« (Bd. I. S. 423-456) gegeben. – Demnächst besuchte ich die medicinisch-chirurgische Akademie, wo mich besonders die reichhaltige Bibliothek und die vorzüglich durch schöne Präparate von Cruikshank und Thomas ausgezeichnete anatomische Sammlung interessirte; die Zahl der Zöglinge wurde mir auf 200 angegeben, und auf meine Frage, ob immer genug Competenten zu Besetzung der erledigten Stellen sich fänden, erfuhr ich, daß nach Entlassung einer gewissen Zahl eine angemessene »Remonte« verlangt und durch die Popen die geforderte Zahl von Zöglingen aus den Schulen ausgesucht würde; schlügen sie nicht ein, so würden sie unter die Soldaten gesteckt. – Außerdem nahm ich mehrere Hospitäler in Augenschein.[246]

Daß ich die übrigen Merkwürdigkeiten, das kaiserliche Palais mit seinen Kunstschätzen, das taurische Palais, das von Kaiser Paul als eine kleine Festung erbaute und für einen Ueberfall mit verborgenen Thüren und Ausgängen versehene Michaelowsche Palais, in welchem er dennoch ermordet wurde, u.s.w. nicht ungesehen ließ, brauche ich kaum zu erwähnen. Auch in dem herrlichen Parke von Pawlowsk war ich; als ich mich aber dem einen Flügel des Schlosses nähern wollte, um die Wandgemälde zu betrachten, brüllte mich eine Schildwache an, und durch Verdeutschung erfuhr ich, daß man nur mit entblößtem Haupte den Mauern sich nähern durfte; wenn ich auch nicht genug gesehen hatte, so hatte ich doch nun zur Genüge gehört und kehrte bescheiden um.

Uebrigens hatte ich noch manchen interessanten Umgang. Dahin gehörte der Leibarzt der Kaiserin, der hochgebildete Stoffregen, und der Leibarzt der Herzogin von Würtemberg, der botanisch-trockne und doch poetische, das Leben ganz in Göthe's Sinne beschauende Trinius: beide Leibärzte verehrten ihre Fürstinnen wie höhere Wesen. In dem curiosen Tilesius fand ich einen alten Bekannten wieder. Zwei Wilnaer Professoren, die sich des Krieges wegen hierher geflüchtet hatten, der wackere Lobenwein und der überall klare Bojanus, waren mir sehr schätzbar. Auch machte ich die Bekanntschaft von Ellisen, Scherer, Orlay, Kaydanow, Zagorski und Andern.

Der wohlmeinende Kaiser Alexander hatte der Dorpater Universität eine berühmten deutschen Dichter zum Curator gegeben. Aber in Klinger war der Deutsche verrußt und der Dichter zum dienstthuenden General erstarrt. Ich fand bei ihm eine kalte und steife Aufnahme; unsere trockene Unterredung wurde nach einiger Zeit durch einen Soldaten unterbrochen, der in voller Armatur in das Zimmer trat, ohne ein Wort zu sagen Gewehr beim Fuß vor dem Dichter-Curator sich hinstellte, der ihm nun eben so stumm eine Depesche unter dem Brustriemen vorzog, einige Worte darein schrieb und sie ihm wieder an der Brust befestigte, worauf der Soldat[247] rechtsum machte und abmarschirte. Ich dachte an die atheistische Physiologie: l'homme machine, und machte, daß ich auch bald davon kam. – Vor meiner Abreise mußte ich meinen Paß in Klingers Bureau visiren lassen; der Dirigent sagte mir, ich möge morgen wieder kommen; ich kam und er hatte gerade keine Zeit. Nun verstand ich ihn wohl, wollte aber doch in einer so einfachen Angelegenheit mich nicht zu den gewöhnlichen Mitteln herablassen, sondern bat den Minister um Vermittelung und nach einer Stunde brachte mir ein Feldjäger meinen Paß, ich aber dachte dabei: im Bureau spiegelt sich das Cabinet.

Von Staatsmännern lernte ich den Staatsrath Turgenew kennen, den gleichgesinnten Freund von Kaysarow, der die Idee einer Regeneration Rußlands noch nährte und, in den Unruhen nach der Thronbesteigung des Kaisers Nikolaus compromittirt, nach Amerika gegangen sein soll; den Saatsrath Uwarof und den Minister Rasumowski. Letzterer, der durch Rehmann und Hauenschild für mich eingenommen worden war, wollte mich nun befördern und von Dorpat versetzen. Denn das russische Ministerium der Aufklärung, oder richtiger: das Ministerium der russischen Aufklärung war das Huhn, welches in der Universität Dorpat ein Entchen ausgebrütet hatte, das aus dem wohlberechneten Abrichtungssysteme hinaus und in das freie Element deutscher Wissenschaft sich tauchen wollte. Kaiser Alexander hatte selbst und unmittelbar für diese Universität sich interessirt und namentlich dem Professor Parrot bei Entwerfung ihrer Statuten viel freien Willen gelassen, so daß sie ganz in deutschem Sinne organisirt, ja mit größeren Vorrechten als irgend eine deutsche Universität ausgestattet worden war, mithin in das russische System nirgends einpaßte, weßhalb man sie in Petersburg mit Mißfallen betrachtete. Der Minister ließ mir durch Rehmann und Hauenschild die durch Sablers Tod erledigte Professur der Pathologie und Therapie in Moskau antragen und sprach, da ich es abgelehnt hatte, noch persönlich mit mir darüber, wobei er denn namentlich die große[248] Praxis, die er mir durch seinen Einfluß zu verschaffen versprach, sehr in Anschlag brachte. Zuletzt fragte er noch, ob ich nicht in Petersburg leben wolle, und da ich, um nicht unartig zu sein, ausweichend antwortete, es sei keine für mich passende Stelle jetzt erledigt, erwiderte er: das wird sich finden. Als ich schon nach Dorpat zurückgekehrt war, machte Rehmann mir nochmals denselben Antrag: zunächst wollte man für mich zwei Stellen schaffen, die dritte würde sich dann gewiß von selbst finden. »Niemand,« setzte er hinzu, »würde dabei mehr gewinnen, als ich selbst. Denn, glauben Sie mir, ich fühle zuweilen das Bedürfniß, mein Gemüth in der Nähe einer tiefen und freundlichen Seele zu erholen. Das Zerstreutsein meines hiesigen Berufes, meine Reisen, so manche andere Umstände haben mich von einer festen, ernsten, auf einen Punct hingerichteten geistigen Thätigkeit abgezogen. Allein, das hindert nicht, daß ich Ihr herrliches, standhaftes Streben zu schätzen verstehe. Die Außenwelt, die Geschichte unseres Lebens bestimmt unsere Form: unser Selbst ist davon unabhängig und ich bin zufrieden, wenn Sie der Freund des meinigen sind.« Als ich ihm darauf geantwortet hatte, daß ich nach Königsberg gehen würde, schrieb er mir: »Ich dachte in dieser Zeit oft und viel an Sie und Ihre nahe Trennung von uns, die aber gewiß zwischen unseren Seelen nicht eintreten wird. Mich freut es für Sie und die Wissenschaft, daß Sie in ein Land, an einen Ort und zu einer Regierung ziehen, wo Sie leichter, freier, muthiger und ungestörter forschen und arbeiten können.« In meinem nächsten Briefe redete ich ihn mit »Du« an, indem ich mich darüber wunderte, daß wir der im Geiste längst bestandenen Brüderschaft nicht schon früher ihr Losungswort gegeben hatten.

Quelle:
Burdach, Karl Friedrich: Rückblick auf mein Leben. Selbstbiographie. Leipzig 1848, S. 240-249.
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