1. Berufung nach Königsberg.

[276] Wenige können sich rühmen, einen Freund gewonnen zu haben, wie mir Hänsel war; deren zwei zu besitzen, übersteigt das Maß menschlichen Glücks. Hänsels Tod war ein unersetzlicher Verlust für mich: mit dem Manne, dessen Freundschaft in den Ahnungen der frühesten Kindheit wurzelte und, unserer geistigen Entwickelung entsprechend, immer inniger und kräftiger sich ausgebildet hatte, war mir ein wesentlicher Schmuck meiner Jugend geraubt und ich trat nun in einen neuen Abschnitt meiner Bahn. Das Leben wurde ernster; es begann der Zeitraum von 25 Jahren, in welchem meine Kraft zu voller Reise gelangte und ich die Aufgabe meines Lebens zu lösen hatte: ein Zeitraum, noch reich an Freuden, doch nicht mehr an solchen, welche nur das trauliche Zusammenleben mit Jugendgenossen gewährt.

Ich war durchaus dankbar gegen Dorpat. Es hatte mir den freien Gebrauch meiner Kräfte möglich gemacht und mir ein angenehmes Lebensverhältniß dargeboten. Die Universität bewegte sich ziemlich frei; ich hatte zwar den Corporalstock des Curators erblickt, doch hatte die Krone während des Krieges zu sehr au ihre eigene Sicherheit zu denken, als daß sie sich viel um die Universität hätte kümmern können. Eigenmacht und Dünkel einiger Collegen hatte mir zwar Unannehmlichkeiten bereitet, doch billig Denkende blieben mir gewogen und der Beifall meiner Zuhörer, so wie das Wohlwollen vieler achtbaren Männer gewährten mir Ersatz für den über mich verhängten Verdruß. Unter den Eingeborenen waren Viele von feiner Bildung[276] und die geselligen Verhältnisse waren daher uns unter Zutritte der herrschenden Gastfreiheit sehr angenehm. Kamen die Erzeugnisse der neuesten Literatur auch etwas spät an, so blieben sie doch nicht aus. Das Klima übte auf meine und meiner Familie Gesundheit keinen nachtheiligen Einfluß aus, war auch nicht so rauh, daß es mir besonders unangenehm gewesen wäre, und die Art, wie man sich gegen seine Rauheit zu schützen wußte, verschaffte eine besondere Behaglichkeit. Und hatte man nicht dieselbe Auswahl von Früchten wie im Herzen Deutschlands, so mangelte es doch nicht an schmackhaften Nahrungsmitteln. – Späterhin haben mehrere Gelehrte, an die ein Ruf nach Dorpat gelangt war, sich bei mir nach den dasigen Verhältnissen erkundigt und ich habe immer erklärt, daß ich mit meinem Aufenthalte daselbst vollkommen zufrieden gewesen bin.

Befand ich mich aber in diesem Verhältnisse auch ganz wohl, so trat doch die Sehnsucht nach Deutschland mächtig in mir hervor, als dessen Fürsten mit ihren Völkern gemeinschaftliche Sache machten und sie zu einer neuen Ordnung der Dinge für reif erklärten. Der Kriegstyphus, der mir in Finnland meinen braven Amanuensis Pietsch, in Sachsen meinen Hänsel geraubt hatte, machte in Preußen eine meinen Wünschen entsprechende Stelle leer; und mein warmes Interesse an der Befreiung Deutschlands wurde der Anlaß, mich mit dieser Vacanz bekannt zu machen.

Gegen einen meiner Zuhörer hatte ich den Wunsch geäußert, durch seinen Vater, einen Kaufmann in Riga, deutsche Zeitungen zum Lesen zu bekommen. Dem zufolge erhielt ich am 13. März 1813 ein Blatt von der Königsberger Zeitung und fand darin die Anzeige vom Tode des dasigen Professors der Anatomie, Kelch. Ich schrieb Tages darauf an den Professor Remer daselbst, dessen Bekanntschaft ich auf meiner Durchreise gemacht hatte, um mich nach den Verhältnissen zu erkundigen und erfuhr von ihm, daß Kelch einen Gehalt von 300 Thalern gehabt, für seine Vorträge über Anatomie ein entsetzliches Locale benutzt und von der Regierung wenig Unterstützung gesunden habe. Weit entfernt, mich dadurch abschrecken[277] zu lassen, trug ich dem Minister von Schuckmann meinen Wunsch vor, auf eine preußische Universität zu kommen und namentlich die Professur der Anatomie in Königsberg zu erhalten, wenn die Regierung mir 1000 Thaler Gehalt und den Hofrathstitel geben und eine den gegenwärtigen Bedürfnissen entsprechende anatomische Anstalt errichten wolle. Der Minister antwortete, mein Antrag sei ihm sehr willkommen, nur könne er in Betreff der Anstalt erst nach einiger Zeit eine definitive Antwort ertheilen, indessen solle ich den Betrag des mir zu bewilligenden Reisegeldes vorschlagen. Staatsrath Nicolovius, der sich damals in Königsberg aufhielt, trug am 4. Juni Remern auf, mir zu melden, daß das Ministerium meine Berufung beim Könige beantragen werde. Remer bewies große Freundlichkeit und erbot sich, alle Aufträge für meine vorläufige Einrichtung zu besorgen. »Sind wir auch vielleicht,« schrieb er, »in unseren Ansichten der Kunst nicht einer Meinung, so sind wir es doch in redlichem Streben nach der Wahrheit und der Erfüllung unseres Berufes, so wie im Gefühle fürs Rechte und Schöne.« – Sehr bedeutungsvoll für mich war es, daß der König mein Patent in meiner Vaterstadt zwei Tage nach der Leipziger Schlacht unterzeichnete.

Am 4. Januar 1814 schloß ich meine Vorlesungen in Dorpat, und nachdem ich die anatomische Sammlung abgegeben hatte, erhielt ich meinen Abschied, jedoch nur unter der Bedingung, daß ich mich wegen eines während meines Decanats eingetretenen Deficits bei der Universitäts-Casse für verantwortlich erklärte. Der damalige Rentmeister, ein geachteter und begüterter Mann, war nämlich, ohne daß etwas davon ruchtbar wurde, in Unordnung seiner Finanzen gerathen und hatte dem Professor Parrot und mir, ais Revisoren der Casse, Pakete mit Staatspapieren vorgelegt, die wir nach ihrer Aufschrift als richtig angenommen hatten, ohne uns von ihrem Inhalte zu überzeugen; bei seinem Tode hatte sich das Deficit und die Unzulänglichkeit seines Vermögens erwiesen. Da unser Versehen hauptsächlich dem Professor Parrot, als Rector, zur Last fiel und ich überzeugt war, daß er die Niederschlagung schon[278] bewirken würde, so betrachtete ich meine Ausstellung eines Reverses als eine leere Formalität, der ich mich ohne Weigern unterzog.

Ich reiste mit meiner Familie am 12. Februar von Dorpat ab und hatte wieder das Glück, einen jungen Mann, der sich zu meinem Amanuensis für Königsberg erboten hatte, mit mir zu nehmen, während noch Dr. Struve, nachmaliger Professor der Klinik in Dorpat, uns bis Riga begleitete. Die Hülfe dieser jungen Männer war uns in der That höchst nöthig, da sie Menschen und Pferde aus den nächsten Dörfern herbeischaffen mußten, wenn, was oft geschah, unsere Equipage in dem tiefen Schnee sitzen blieb oder bei dem furchtbar schlechten Wege etwas daran zerbrochen war. Unter fortwährenden heftigen Erschütterungen, indem unser Schlitten abwechselnd bergan stieg und in eine Grube herabstürzte, brachten wir fünf Tage und Nächte auf dem Wege nach Riga zu. Hier erholten wir uns wahrend eines neuntägigen Aufenthaltes und genossen sehr viel Güte von den dasigen Einwohnern, so daß wir nicht Zeit hatten, allen freundlichen Einladungen zu genügen. Eine eben so gütige Aufnahme fanden wir in Mitau, wo wir zwei Tage verweilten. Erst von hier aus wurde unsere Fahrt so bequem, daß wir die Lieder anstimmen konnten, welche meine Söhne für diese Reise gesammelt hatten. Mein Amanuensis hatte Dorpat verlassen, ehe sein Paß von Petersburg angelangt war und ihn in Riga vergeblich erwartet; er mußte daher als Contrebande über die Gränze geschafft werden, welches Geschäft ein russischer Zollbeamter gern übernahm. – In Memel hatte ich nichts Eiligeres zu thun, als mich mit der russischen Nationalkokarde zu schmücken.

Quelle:
Burdach, Karl Friedrich: Rückblick auf mein Leben. Selbstbiographie. Leipzig 1848, S. 276-279.
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