7. Wanderungsgedanken.

[317] Königsberg hat vermöge seiner Lage eine eigenthümliche Stellung, die vormals nur schärfer hervortrat: dem Wesen nach durch und durch deutsch, gehört es doch nicht zu Deutschland. Wie man auf den meisten Karten von Deutschland sich jenseit der nordöstlichen Ecke die Stelle denken muß, an welcher Königsberg aufgezeichnet sein sollte, so sprachen die Königsberger zu meinem großen Mißfallen von einer Reise nach Deutschland als von einer Wanderung in die Fremde. In der That war es auch sehr isolirt: auf dem Wege nach Berlin dehnte sich bei fast gänzlichem Mangel an Chausséen die Tuchelsche Haide eine so lange Strecke aus, daß man ziemlich 8 Tage zu dieser Tour nöthig hatte, wie ich denn bei meiner Reise nach Dorpat mit vier Pferden Extrapost 51/2 Tage und 5 Nächte darauf zubrachte. Die Reiselust war in Königsberg zu Anfange unseres Jahrhunderts ein noch unbekannter Trieb; man sagt, wer damals Berlin zu besuchen Willens gewesen sei, habe zuvor sein Testament gemacht, und wer die Reise dahin zurückgelegt habe, sei als eine merkwürdige Person betrachtet worden. Königsberg hat kein deutsches Hinterland, es ist die Sackgasse von Deutschland, und wer von da aus nicht nach Rußland wollte, kam nicht dahin; aber darum fehlte es nicht an Fremden: zur See kamen Engländer und Holländer, Schweden und Dänen u.s.w.,[317] so daß es den Einwohnern keineswegs an Gelegenheit fehlte, ihren Gesichtskreis zu erweitern. Der Staat that ungleich weniger für die Provinz Preußen, als für andere Theile der Monarchie; dies war so auffallend, daß oft die Meinung auftauchte und im Vertrauen selbst von Regierungsbeamten ausgesprochen wurde, man betrachte das Land als einen verlornen Posten, der über kurz oder lang an das seine Gränze bis zur Weichsel vorzuschieben bedachte Rußland fallen würde; die treue Gesinnung gegen das angestammte Fürstenhaus wurde dadurch nicht erschüttert, aber das Gefühl des eigenen Werthes und das Vertrauen zur eigenen Kraft fand darin mehr Nahrung. Bei der Abgeschlossenheit entwickelte sich eine gewisse Selbstständigkeit, und man legte einen hohen Werth daraus, ein Altpreuße zu sein, und die Isolirung gegen Deutschland führte zu höherer Schätzung des Heimathlichen, so wie zu einer Vorliebe für das Hergebrachte, Alte. Dabei konnte der Sinn für den Luxus der Künste nur sehr mäßig sein, zumal da die Regierung denselben wenig förderte, wie denn noch jetzt die königliche Familie bei uns keine anderen bewohnbaren Zimmer findet, außer in dem einen, nicht völlig und zum Theil von den Russen im siebenjährigen Kriege ausgebauten Flügel des Schlosses. Der Sinn für Solidität und die Verachtung des leeren Scheins gaben sich überall kund: die reichsten Königsberger bewohnten bescheidene Häuser von nicht mehr als drei Fenster Breite, aber von bedeutender Tiefe; nur wenige besaßen anständige Landhäuser, und diese fast nur von der Straße abgelegen, im Walde. Man blieb überhaupt in Hinsicht aus die Aeußerlichkeiten zurück, und die der neuern Zeit eigenen Richtungen, z.B. der Sinn für Genuß der schönen Natur, trat erst spät hervor, wie denn bei meiner Ankunft in Königsberg der Sommeraufenthalt auf dem Lande noch sehr sparsam war, der Gebrauch des Seebades eben erst begann, die schönen Strandgegenden erst entdeckt werden mußten und Fußreisende daselbst in Gefahr geriethen, als Vagabonden oder gar als Spione verhaftet zu werden.

Dies Alles hat sich gegenwärtig geändert, wo der erleichterte und vervielfältigte Verkehr die Eigenthümlichkeiten aller[318] Orte mehr oder weniger verwischt hat. Die bei den Ostpreußen nicht seltene Kraft des Geistes und Tüchtigkeit der Gesinnung hat sich seither und noch in den neuesten Zeiten in den durch diese Verhältnisse gegebenen Richtungen und Formen bewährt. Damals aber mußte Derjenige, der an die vorgeschrittenen Verhältnisse in andern Gegenden Deutschlands gewöhnt war, hier manches veraltet, beschränkt und dürftig finden und sich in solcher Umgebung gedrückt fühlen. Daher hat wohl auf wenigen Universitäten, vielleicht auf keiner, ein so häufiger Wechsel im Personal Satt gefunden, als auf der hiesigen, seitdem man angefangen hatte, Fremde hierher zu berufen. In den 23 Jahren, von 1815 bis 1838, gingen von Königsberg ab: 5 ordentliche Professoren der Theologie (Krause nach Weimar, Vater nach Halle, Hahn nach Leipzig, Giehlow nach Marienwerder, Olshausen nach Erlangen), 5 ordentliche Professoren der Jurisprudenz (Hasse nach Jena, Mühlenbruch nach Halle, Abegg nach Breslau, Albrecht nach Göttingen, Dirksen nach Berlin) und drei außerordentliche ( Rogge nach Tübingen, Sietze nach Naumburg, Nicolovius nach Bonn), 3 ordentliche Professoren der Medicin (Remer nach Breslau, von Baer nach Petersburg, Klose nach Breslau), von der philosophischen Facultät 3 ordentliche Professoren (Hüllmann nach Bonn, Graff nach Berlin, Herbart nach Göttingen) und 4 außerordentliche (Delbrück nach Bonn, Lachmann und Dowe nach Berlin, Ellendt nach Eisleben), zusammen 23, so daß auf jedes Jahr Einer kam, der seine Stelle hier niederlegte, während in diesem Zeitraume 19 starben.

Nicolovius schrieb mir 1814: »Die Erfahrung hat gezeigt, daß es Ausländern anfangs schwer wird, sich an Königsberg zu gewöhnen, daß aber nach einiger Zeit bei ihnen Liebe zu dem Orte und zu den Einwohnern entsteht und immer Bestand behält.« Und bei seiner günstigen Meinung von mir schrieb er 1816: »Mir liegt es am Herzen, Sie an Königsberg fest zu binden; daher wird es mir ein eigennütziges, treues Bemühen sein, Alles, was dazu beitragen kann, zu befördern.« Ich fand aber in Königsberg eine bedeutende Theuerung, so[319] daß ich einsah, ich würde mit dem mir bestimmten Gehalte nicht auskommen. Nun äußerte ich gegen Isfordink, mit dem ich noch einen Briefwechsel unterhielt, meine Unzufriedenheit über die Verzögerung der Errichtung einer anatomischen Anstalt. Da meldete er mir im October 1814, er sei durch den Congreß in den Stand gesetzt worden, mir »in der Umgebung des Königs einen Weg zu bahnen,« den ich später erfahren sollte. »Ich bin aufgefordert,« schrieb er, »Sie zu bitten, in einem Schreiben an den Fürsten Hardenberg vorzustellen, daß man Ihnen in Königsberg Ihre Bedingungen in Betreff des anatomischen Theaters nicht hält. Wollen Sie nach Halle, welches vom Könige große Unterstützung zu erwarten hat, so bemerken Sie dies in Ihrem Schreiben. Säumen Sie keine Stunde, dies Schreiben an mich zu schicken.« Ich stand nicht an, seiner Weisung zu folgen und er berichtete mir im December. »Ihre Vorstellung an den Fürsten ist äußerst gnädig aufgenommen worden.« Der Fürst selbst schrieb mir unterm 5. December: »Auf Ewr. Wohlgeboren gefällige Zuschrift vom 11. v.M. habe ich mit Vergnügen Veranlassung genommen, mich für die von Ihnen gewünschte Versetzung und Verbesserung Ihrer ökonomischen Verhältnisse bei dem königlichen Ministerio angelegentlichst zu verwenden.« Sehr überrascht war ich daher, vom Minister von Schuckmann unterm 30. December ein sehr ungnädiges Schreiben zu erhalten, worin er mir meine Ungeduld verwies und hinzusetzte, mein Wunsch, nach Halle versetzt zu werden, könne »den Schein erregen, als sei es mir bei meinem Gesuche um die Stelle in Königsberg nur darum zu thun gewesen, kostenfrei um eine Station meinem Ziele näher zu kommen.« Ohne mich gegen den Minister zu rechtfertigen, wies ich diese kränkende Behandlung in folgendem Schreiben zurück:

»Wenn ich erkenne, daß ich so unglücklich gewesen bin, mir das Mißfallen Eines Hochverordneten Ministeriums zuzuziehen, so kann ich mich doch nicht überzeugen, dasselbe in so hohem Grade zu verdienen, als das unterm 30. December erlassene Schreiben es ausdrückt. Ich will mir keineswegs erlauben, der[320] Beurtheilung meiner Schritte die Ansichten, die mich dabei geleitet haben, entgegenzusetzen; aber ich müßte des Ehrennamens eines preußischen Staatsdieners unwürdig sein, wenn ich über den einen Punct mein Gefühl ebenfalls unterdrückte. Sollte nämlich Jemand durch den Verdacht mich entehren wollen, als habe ich bei der Bewerbung um meine gegenwärtige Professur bloß kostenfrei um eine Station meinem Ziele näher kommen wollen, so würde ich ihm entgegnen, daß ich ein Ziel habe, das eben so wenig in Halle, als in Petersburg, noch irgendwo ist; daß aber, wenn die Verhältnisse in Königsberg mich hindern sollten, meiner Bestimmung gemäß für die Wissenschaft zu wirken, ich um eine gute Station und nicht kostenfrei von meinem Ziele abgekommen sein würde. Hätte ich übrigens einen Streich der erwähnten Art im Kopfe gehabt, so würde ich nicht so voreilig und ungeduldig Alles versucht haben, um der hiesigen anatomischen Anstalt eine möglichst vollkommene und zweckmäßige Einrichtung zu verschaffen.«

Gegen den humanen Nicolovius rechtfertigte ich mich durch Erzählung des ganzen Herganges und ich erhielt eine Ehrenerklärung durch ein Schreiben des Fürsten Hardenberg vom 16. Januar 1815, worin derselbe mich versicherte, »daß das Ministerium meinen Bemühungen um die Wissenschaft volle Gerechtigkeit widerfahren lasse und gern jede Veranlassung wahrnehmen werde, meinen Wünschen, in soweit es die Lage des Staats erlaube, zu entsprechen.« Auch Nicolovius beschwichtigte mich in seiner freundlichen Weise. – Im Jahre 1816 wurde mir eine Gehaltszulage von 200 Thalern ertheilt.

Im Mai 1817 ließ mir der Graf Lieven, damaliger Curator der Dorpater Universität, durch Professor Ewers die Professur der medicinischen Methodologie, Pathologie und allgemeinen Therapie antragen und mich fragen, welchen Gehalt ich begehre, indem er mir einen größeren als den gewöhnlichen zu bewilligen geneigt sei. Ich schickte diesen Brief an das Ministerium mit dem Vorstellen, daß meine ökonomische Lage noch immer nicht so sei, wie ich es wünschen müsse; da nun[321] dasselbe sein Vorhaben, eine chirurgische Schule zu errichten, geäußert hatte, so bat ich um Anstellung an derselben mit einem Gehalte von 500 Thalern. Die Antwort lautete dahin, daß über Errichtung dieser Anstalt noch kein Beschluß gefaßt sei; indeß habe man das Vertrauen zu mir, daß ich die Aufmerksamkeit und Bereitwilligkeit, die ich gefunden, zu schätzen wisse und nicht in eine Lage zurückkehren werde, in der ich früher so wenig Zufriedenheit gefunden. Indeß hielt ich mir noch eine Zeitlang den Weg nach Dorpat offen und machte endlich Bedingungen, die nicht erfüllt werden konnten, ich forderte nämlich einen Gehalt von 2000 Rubel Silber und daß die drei Jahre, die ich in Königsberg verlebt, für meine dereinstige Pensionirung zu meiner Dienstzeit gerechnet würden.

Nicht ohne Widerstreben hatte ich die Versuche, nur ein größeres Einkommen zu verschaffen, unternommen, da sie meinem Gefühle von Dankbarkeit gegen die Regierung nicht entsprachen. War aber diese Pflicht durch die Nothwendigkeit, mehr für meine Familie thun zu können, besiegt worden, so wurde sie zwar durch eine im Januar 1819 mir ertheilte Gehaltszulage von 130 Thalern noch verstärkt, aber durch die Liebe zur Heimath überwunden. Ich hätte nicht ein geborener Leipziger sein müssen, wenn nicht die im März 1820 eintreffende Nachricht von des Anatomen Rosenmüller Tode den Wunsch, dessen Nachfolger zu werden, hätte wecken sollen. Als ich mich dazu meldete, erhielt ich im Mai vom damaligen Präsidenten des Oberconsistoriums, Herrn von Ferber, ein sehr freundliches Schreiben, worin er unter Anderem sagte: »Mit Bedauern hatte man Sie vor mehreren Jahren von Leipzig abgehen sehen und ich erinnere mich sehr wohl, daß dies Bedauern allgemein war. Um so größer war also auch meine Freude bei der mir sich zeigenden Möglichkeit, Sie für die Universität wieder zu gewinnen.« Er verlangte übrigens meine Bedingungen zu wissen. Auch der Minister, Graf Hohenthal, äußerte sich sehr günstig und die medicinische Facultät denominirte mich primo loco, dann den Professor Jörg und den Dr. Weber. Daß Letzterer die Stelle erhielt, war vielleicht[322] durch meine zu hohen Forderungen veranlaßt, aber jedenfalls die glücklichste Wahl.

Indessen ging Professor Vater im Herbste 1820 von Königsberg weg und die bisher von ihm verwaltete Stelle eines Inspectors des Kypkeschen Stiftes wurde von meinen Collegen mir übertragen. Hier hatte ich nun für die Pflicht, die in neun Stuben unentgeltlich wohnenden Studirenden zu beaufsichtigen und die Geschäfte der Anstalt überhaupt zu besorgen, eine angemesse Wohnung mit Hof und Garten, so wie einen Gehalt von 110 Thalern. Ich ließ bei einem nothwendig gewordenen Reparaturbaue die häuslichen Einrichtungen ganz nach meinem Geschmacke machen, und da nun auch im folgenden Frühjahre mein älterer Sohn heirathete und Compagnon in der Handlung seines Schwiegervaters wurde, so war ich für meine Lebenszeit an Königsberg gebunden.

Quelle:
Burdach, Karl Friedrich: Rückblick auf mein Leben. Selbstbiographie. Leipzig 1848, S. 317-323.
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