II.

[222] Bald nach der Rückkehr von dieser flüchtigen Berliner Exkursion wurden wir in Dresden durch mancherlei Gerüchte einer bevorstehenden ernsten Spaltung zwischen Preußen und Österreich in neue Aufregung versetzt. Es war, als sollte nun einmal das arme Deutschland nicht zur Ruhe kommen. Schon sprach man von Truppendispositionen, zu befestigenden Elbübergangspunkten und dergleichen. – Doch die Wetter verzogen sich allmählich und endeten bekanntlich noch glücklich genug mit jenen an sich freilich auch ziemlich erfolglosen Konferenzen, auf die ich weiter unten zurückkommen werde.

All diese Unlust im Äußern drängte natürlich sehr zu Betrachtungen im Innern und zum Austausch der Gedanken mit näher Verbundenen. Wenige übriggebliebene Zeichen solcher Wechselwirkungen fügen sich daher hier gleichsam von selbst am zweckmäßigsten ein – nicht immer ist es jedoch eben das Bedeutendste, was die unerbittlich zerstörende Zeit in solchen Fällen verschont hat.

Jenes große Wort, mit welchem Zelter sich einst in das Stammbuch von Goethes Enkel einzeichnete:


Lerne gehorchen,


es war in den verflossenen Jahren mehr und mehr in Vergessenheit gekommen, und zwar sowohl bei den Völkern – zu gehorchen dem Gesetz – als bei den Regierungen – zu gehorchen dem Rechte der Zeit. Wer aufmerksam unsern Zuständen nachgeht, möchte leicht schon in diesem einem den ersten Grund des meisten Elends finden, welches Europa in den letzten Zeiten verwüstete. Gewiß ist es jedenfalls, daß je mehr und um so vollständiger dieses Wort nach oben und unten zur Geltung gebracht werden wird, um so mehr werden unsere Hoffnungen sich erheben dürfen![223]

Da schmähen uns Deutsche die Ausländer – besonders die Engländer – mit vornehm tuendem Gesicht über unsere verfehlt gebliebene ideelle Revolution und wissen alles besser und bemitleiden uns, und wir wissen doch, daß Deutschland dabei Großes im Herzen trug und daß in seinem Parlament und seinen Grundrechten und seiner Aufhebung gewisser unbegründeter Vorrechte und seiner Einheitserklärung, so verkehrt und ungeschickt diesmal wieder alles angefangen wurde, Keime lagen, späterer Zeit vielleicht einmal in einer reinern Weise zur Ausbildung bestimmt! – Sei es aber darum! – Wenn ein Empedokles auf dem Ätna in den Krater hinabstürzt, weil er ernst und stetig nach den Sternen blickte – so kann man sich wohl denken, daß umherlaufende Buben, wenn sie das mit ansehen, ihn ausspotten würden, aber möchtest du doch darum nicht lieber Empedokles sein, als zu denen gehören, die einen Empedokles verspotten?

Freilich alle Philosopheme dieser Richtung allein werden die Menschheit auch noch nicht aus ihren Nöten erretten! Die Zeit muß erst im ganzen und großen die rechten Entwicklungsperioden der Völker herbeiführen, und der rechte Mann muß dann auch erweckt werden, der tatkräftig die Verhältnisse im einzelnen zurechtzurücken vermag, dann nur erst wird das Bedürfnis nach harmonischer Einordnung des Allgemeinen kein leerer Traum mehr bleiben.

Unter den Erinnerungen des Jahres 1850 finde ich übrigens auch noch zwei, deren nähere Erwähnung hier ebenfalls, da von dieser Zeit andere besondere Erlebnisse mir nicht aufzuzeichnen geblieben sind, einen Platz finden mögen. Zuerst also die Begegnung mit einem der Matadore der Düsseldorfer Malerschule, der bis dahin mir persönlich unbekannt blieb, so bedeutend auch die Wirkung war, die seine Werke mitunter auf mich geübt hatten;[224] zum andern dann der merkwürdige Eindruck, den mir die ersten Pläne und großen bildlichen Darstellungen jenes ungeheuern Eisenbaues für die Londoner Weltausstellung gemacht hatten, welche damals die Aufmerksamkeit von ganz Europa auf sich zog.

Jener Maler war Lessing, der Autor der Bilder aus der Geschichte des Huß und mancher geistvoll und eigentümlich aufgegriffenen Landschaft. Ich traf ihn im Oktober eines Abends bei Freund Hübner. Ich habe viel mit ihm gesprochen, aber er scheint bloß mit Farben sich ausdrücken zu können, so wenig ist in Worten ihm abzugewinnen. Sein Äußeres ist groß und massiv, er sieht fast wie ein derber Zimmermeister von weitem aus; in der Nähe liegt dann in dem dunkeln Auge unter der mehr starken als schönen Stirn und zwischen buschigem Haar und Bart etwas, das mich an Friedrich mahnt und, gleich den feinen Zügen um Nase und Mund, auf das Künstlerische in ihm deutet.

Er ist passionierter Jäger, trägt nie einen Frack oder Hut und steht jedenfalls der Natur als Maler immer schlagfertig gegenüber. – Es war mir merkwürdig, von seinem Freunde Erhardt zu hören, daß er, als sie beide in der Nähe des Großen Gartens ihre Freude gehabt hätten an den schönen Formen seiner Belaubung, plötzlich doch gesagt hatte: »Ich sehe es aber den Wipfeln dieser Bäume an, daß sie keine sehr tiefen Wurzeln haben können.« Und allerdings – die häufigen Windbrüche dieses hübschen kleinen Waldes zu diesem Ausspruche unmittelbar den Kommentar; die Erklärung aber liegt zum Teil in den Bodenverhältnissen, nämlich in einer nicht starken Erdlage über mächtigen Kieslagern. Nur ein geübtes forstmäßiges Auge jedoch sowie wahres künstlerisches Vertrautsein mit echter Waldesnatur wird solche Erkenntnis möglich machen![225]

Was das Ausstellungsgebäude in London betraf, so wurde es mir zum erstenmal vollkommen gegenständlich durch das schön ausgeführte Blatt von Hawkins (Royal-Folio, buntgedruckte Lithographie) und machte mir architektonisch ungefähr einen ebenso überraschenden und originalen Eindruck, wie etwa früher die Eisenbahnen ihn mir in technischer Beziehung gegeben hatten. Beide Phänome haben ja auch das Ähnliche untereinander, daß unsere Nachkommen, denen sie allmählich alltäglich werden müssen, beide als ein Notwendiges hinnehmen und jenes Wunderbare derselben weniger bedenken, welches uns Ältern noch so sehr erinnerlich bleibt. Kurz, dieser ungeheuere Eisenbau, dessen Geschichte alle Zeitschriften beschrieben, erregte mich damals zu so vielen Betrachtungen, daß ich eines Abends einen langen Aufsatz darüber niederschrieb, dessen wesentliche Gedanken ich denn hier noch im folgenden gebe:

Was hatte ich nicht in frühern Jahren, als ich unter vielem andern auch einige architektonische Studien machte, die Säulenordnungen zeichnete, ägyptische Pylonen und Bilder aus den Ruinen von Palmyra kopierte, stets für Kummer gehabt, daß unsere Zeit – in vielem so bedeutend und eigentümlich – noch zu gar keinem eigenen Baustil gekommen sei! Und nun fand ich auf einmal ein ungeheueres Gebäude – schnell aufgerichtet – von großer Festigkeit, zugleich doch elegant und zweckmäßig in seiner Gliederung – einen Bau, von dessen Art, ja von dessen Möglichkeit frühere Zeiten noch nie einen Begriff hatten fassen können, und natürlich gab schon das einen breiten Stoff zur Betrachtung; denn zu all den verschiedenen frühern Baustilen war nun mit einemmal ein durchaus neuer – der Stil des Eisenbaues – gekommen. Dabei war es so eigen! Dieser Stil hielt sich in seinen Verzierungen immerfort an die alten Formen und Gesetze,[226] allein sein Charakter war der nivellierende – allgemeine, bloß verstandesmäßige der Neuzeit –, der Charakter, dem jene Poesie des antiken sowie des gotischen Baues ganz fern liegt (nie wird ein Eisenbau den Eindruck eines Parthenon oder gotischen alten Doms erreichen), der aber das Zeitbedürfnis ergreift und in seiner immer etwas trockenen Allgemeinheit eben das Zweckmäßige für die neueste Periode des Menschheitslebens darstellt, dabei auch in einem solchen schnell aufgerichteten, mit Glasdach und Fahnen verzierten Gebäude gleich diesem, immer noch an die erste flüchtige Wohnstätte des Nomaden, an das Zelt erinnert!

Eine zweite Betrachtung erregte mir dann jenes Blatt selbst und alles, was ich sonst über diesen Bau las, und die war: daß ich eine gewisse Hindeutung auf ein anderes großes Moment unserer Tage, auf den Sozialismus, darin nicht verkennen konnte. Schon daß diese Bauten fast aus lauter einzelnen, in gleiche Formen gegossenen Röhrenstücken sich zusammensetzten, gab ihnen einen gewissen demokratischen, auf dem Allgemeinen ruhenden Charakter, noch mehr aber war dies Moment darin ausgesprochen, daß fast überall, wo ein solcher Eisenbau angewendet wird, es sich um große soziale Aufgaben der Menschheit – wie gleich hier, bei solcher Ausstellung der Produkte und Gewerbeerzeugnisse aller Länder der Erde – handelt.

Ebenso kamen mir später auch noch einige Blätter zu aus dem Nachlaß von Frau von Lüttichau, worin sie mancher Gespräche Erwähnung tut, welche eben weitere Betrachtungen bei ihr angeregt hatten. So schreibt sie z.B.: »Carus sagte heute: Denken an und für sich ist der eigentliche Genuß! Der, der den Inhalt dessen, was er andern durch Worte und Bilder beibringt, wahrhaft hat und in sich ausbildet, ist weit glücklicher als der Leser eben dieser[227] Gedanken, dem dadurch die seinigen erst gelichtet oder zu seinem formlosen Gedankenstreben die Gestalten untergeschoben werden. Das vor uns liegende gedruckte Heft von etwas, das wir vorher nur einzeln in das werdende Manuskript niedergelegt hatten, ist dann gleichsam wieder ein neues, der Abstraktion abgewonnenes Individuelles für uns geworden.«

Ferner schreibt sie: »Ich kann begreifen, daß den Menschen, die keine großen Erinnerungen mit hinübernehmen ins Alter, im letzten Stadium des Lebens zumute sein muß wie im Theater bei einem zu langen Trauerspiele: man wird zuletzt müde und ungeduldig. Die Hauptfragen, um die sich die Situationen drängten, sind teils gelöst, teils ahnt und weiß man ihren Ausgang; die Haupterschütterungen sind vorüber, nun gilt es nur noch das Sterben und Abwickeln dieser Zustände; die Kräfte fangen schon an, sich zu erschöpfen, so daß man weniger teilnimmt, und von der Trostlosigkeit des Ganzen durchdrungen, sehnt man sich nur nach Schlaf und Vergessen. Wem aber eine leuchtende, begeisternde Idee gefolgt ist durch alle Akte hindurch, wer dadurch in sich die Fähigkeit zu erglühen behalten hat, nur der wird mit einer gewissen Wärme unbedingt aushalten können bis an Ende!«


Man wird mir übrigens, wenn man den Geist dieser und ähnlicher Fragmente bedenkt, wohl glauben, daß ich bei dergleichen und der regen Teilnahme dieses Geistes an meinen eigenen Arbeiten mich oft an das alte Goethesche Wort erinnerte: »Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle!« Denn wie lebhaft war oft in jungen Jahren schon mein Wunsch nach reinem Mitgefühl und lebendigem Gedankenaustausch gewesen! Und wie oft, selbst bei großen Aufopferungen, war mir Stein für Brot geboten worden – während mir hier, auf der[228] Höhe des Lebens, schon in den Sechzigern – wenn auch im ganzen nur für kurze Zeit – ein so feines Verständnis und eine Tiefe der Einsicht sich eröffnete und für Jahre lebendig blieb, wie sie gewiß immer zu den seltensten Glücksfällen gerechnet werden muß, und zwar um so mehr, als eine solche Anregung von einer Seite uns meist auch gegen andere Seiten hin empfänglicher macht und zum Nachdenken und zu eigenen Schöpfungen da anregt, wo man sonst ohne Aufmerksamkeit vorübergegangen wäre.

Und gerade in diesem Sinne ist es, daß mir eben noch ein längerer Aufsatz einfällt, welcher seine Entstehung mehrfachen Gesprächen mit einer andern ältern, welterfahrenen Freundin aus Schweden, einer Gräfin Löwenhielm, verdankt, deren Gesundheit sie immer von Zeit zu Zeit wieder nötigte, meinen ärztlichen Rat und die von mir verordneten deutschen Heilquellen in Anspruch zu nehmen, worauf sie dann, aus den Bädern zurückkehrend, gewöhnlich einige Monate in Dresden zubrachte. Sie, die nun seit langem gewohnt war, allen bedeutendern Tagesfragen ein lebhaftes Interesse zu erhalten und in vielen hohen Kreisen reiche Erfahrungen zu sammeln, war damals auch mit einigem Neuern über Kranioskopie und Phrenologie bekannt geworden und verfehlte nun nicht, mir, dessen Interesse für dergleichen sie kannte, einst allerhand Zweifel und Einwürfe gegen solche Forschungen auszusprechen. Da sie nun, wie gesagt, eine welterfahrene und sehr unterrichtete Frau lebhaften Geistes war, so führte dies uns bald zu vielerlei Diskussionen, in deren Folge ich abends darauf dazu kam, nachstehende Betrachtungen niederzuschreiben, die ich nun hier um so lieber mitteile, als sie manchem in meinen psychologischen Arbeiten als Komplement dienen.
[229]

Über Egoismus


Ich hatte gestern abermals die vielverbreiteten Vorstellungen zu widerlegen über Möglichkeit gewisser, dem Menschen zuweilen von der Geburt an gleich Brandmalen aufgedrückten Zeichen angeborner Laster. Wir kamen auf Entstehung der Verbrechen, und ich bemühte mich auseinanderzusetzen, wie jedes doch ursprünglich immer nur auf einem Irrtume beruhe (nach Spinoza: »malum est error«) – wobei mir denn eingehalten wurde, wie doch, da Verbrechen sogar im großen von sehr intelligenten Menschen geübt würden, gar nicht sowohl der Irrtum, sondern vielmehr der Egoismus als die eigentliche Quelle des Verbrechens sich herausstelle, wobei unter andern nun auch Napoleon als Beispiel gelten sollte. Sofort hatte ich natürlich die Spitze meiner Argumentationen wesentlich gegen diesen mir auch schon oft genug entgegengestellten Satz zu richten, da ja der Egoismus eben an sich selbst nur einer der weitverbreitetsten Irrtümer genannt werden muß. – Das eigentliche höchste Gut des Menschen, seine eigene eingeborene Gottesidee, sie wächst und reift nur, indem sie immer ihre Lichtstrahlen auswirft in das Dunkel der Welt umher, und nicht der lebt folglich im eigentlichen und höhern Sinne, der da nur lebt, um zu leben, sondern nur der, der fortwährend sein Leben drangibt, der es dem Göttlichen und Ewigen rastlos darbringt. Gehen wir aber von hier aus, so kann ich nun ebensowenig als seine Fehler und Verbrechen auch die Größe Napoleons, irgendwie als Ergebnis seines Egoismus gelten lassen. Macht doch die wahre Selbstsucht den Menschen immer klein – groß macht ihn nur die Idee. Hätte dem Napoleon nicht eine große Idee vorgeschwebt (ich lasse es natürlich hier vorderhand ganz dahingestellt sein, ob es wirklich die wahre und höchste Idee von der Menschheit[230] und nicht vielmehr ein Scheinbild derselben war), er wäre nimmermehr selbst groß geworden.

Fast so, nämlich wie dazu, daß ein Maler sein Kunstwerk vollendet, es die erste Bedingung ist, daß sein Auge die Lichtempfindung der im Kunstwerke darstellbaren Welt nicht bloß innerlich subjektiv erfahre und behalte, sondern daß er die erhaltene Umstimmung der Netzhaut zugleich nach außen als Sehfeld projiziere, dadurch also gleichsam dieser ersten Lichteinwirkung sich wieder entäußere, so daß es nun dadurch dem Geiste möglich wird, auch die zweite Bedingung zu erfüllen und das Kunstwerk selbst gleichsam als ein neues künstlich verkörpertes Sehfeld außer sich darzustellen; oder so wie der Mensch nur reich an Liebe wird durch Liebe, die von ihm ausgeht, und wie es deshalb im Evangelium gesagt ist, daß Geben seliger sei als Nehmen, so erhebt sich überhaupt der Mensch nicht durch das Zusammenraffen und in sich Vergraben, sondern durch das Ausbreiten und Ausstrahlen all seines edelsten geistigen Besitzes.

Ist doch schon im Organismus alle Entwicklung, alles Wachstum auf Teilung wesentlich gegründet! Keine Pflanze, kein Tier vergrößert sich durch Zusammensetzung, sondern stets durch Zellenspaltung, durch Auseinanderlegen: So denn auch der Geist! – Das Unbewußte ruht noch in einem; der Geist ist die Einheit im unendlich Vielen.

Wie oft muß man daher das alte Märchen erzählen hören, »dieser oder jener große Mann sei nur groß geworden, weil er ein Egoist gewesen sei«, während doch noch nie einer wahre Größe erreicht hat, als indem ihm eine Idee – ein großes geistiges Vorbild (Vorbild eines Seins vor dem Sein) vorgeschwebt und ihn begeistert und er sich ihm ganz hingegeben hatte! – Dabei ist freilich immer noch die Frage, ob dies Gedankenbild ein wahres und[231] echtes war oder nicht. Allein wie in der Liebe zuweilen sogar der Irrtum – das Erfassen eines Scheinbildes statt des Urbildes – im höchsten Grade fördernd auf inneres Seelenleben wirken kann, so auch im Schauen und Verfolgen der Idee. Wir haben viele weltgeschichtliche Größen – ja eigentlich sind es die meisten –, die an einem im ganzen wirklich falschen Streben doch groß geworden sind. Oder ist Mohammed etwa ein wahrer Prophet? – Oder war es das wahre Urbild des Staats, dem Alexander der Große oder Cäsar nachstrebten? Ja fand nicht Columbus durch den Irrtum, Indien auf kürzerm Wege erreichen zu wollen, den neuen Weltteil? – Also darauf kommt es zunächst nicht an – sobald man nämlich nur die Frage von Größe stellt –, ob die Idee die ganz wahre und echte sei, aber allemal darauf, daß der Mensch in dieser Idee aufgehe, daß er sich seiner selbst entäußere, daß er sich der Idee opfern könne! – Wer bloß sich selbst will (der wahre Egoist), wer keiner Entäußerung – keiner hingebenden Liebe für sein Urbild fähig ist, er wird nie aus einer dürftigen Existenz sich erheben, nie zu Größe gelangen.

Ich kannte einen alten Professor, der, wenn ihm eine Flasche besonders guten Weines zukam, diese, bis er sie ausgetrunken hatte, unter seinem Stuhle zu verwahren pflegte, bloß damit niemand von der Familie etwas davon bekommen könne; und so sah ich andere, denen der sonst Nächste und Liebste sogleich unbequem wurde, wenn er irgendeinen Anspruch an sie machte, und über welche dann natürlich auch nie eine Idee Gewalt hatte – das waren denn wirkliche Egoisten, und mit Hufelands »Makrobiotik« in der Tasche wurden sie sogar ziemlich alt – aber groß – geistig mächtig und bedeutend werden habe ich noch nie einen solchen gesehen!

Ich meine daher, wer alles das sorgfältig bedenken will, der wird sich zwar leicht überzeugen: daß nicht der Egoismus[232] zu Verbrechen erst leitet, sondern daß er selbst ein Verbrechen ist, nämlich ein Verbrechen an der eigenen Seele und an andern, aber er höre auch auf zu glauben, daß dieser Egoismus es sei, der den Menschen groß zu machen, ihm in höherm Sinne eine Bedeutung zu geben imstande sei! – Der wahre Egoismus also wird jedenfalls nie mehr und nie weniger als ein Irrtum bleiben und den Menschen klein erhalten, die Hingebung dagegen ist es, welche ihm die Flügel leihen kann zu allem Großen! – Ganz so wie es in jenen schönen Worten Goethes heißt:


Die Erde wird durch Liebe frei,

Durch Taten wird sie groß.

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 2. Band. Weima 1966, S. 222-233.
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