IV.

[245] Indem ich jetzt der Schilderung einer der härtesten Katastrophen unsers jahrelang so glücklichen Familienlebens mich nähere, habe ich zuvor noch zu gedenken, wie zu ebendieser Zeit mir ganz unerwartet auch der Freund verlorengehen sollte, dessen in diesen Blättern so vielfach und noch auf dem vorigen gedacht worden ist. Ich erfuhr an ihm, wie ein Mensch, der mehr und mehr die einfache Ordnung menschlicher Verhältnisse hintansetzt, so leicht dahin kommt, zuletzt seinem eigenen wie dem Leben seiner Freunde die schwersten Verluste zu bereiten.

Regis, den ich seit einer Reihe von Jahren nicht mehr gesehen hatte, korrespondierte noch immer ziemlich regelmäßig[245] mit mir. Ich hatte zuletzt von der Auffindung von Schillers Schädel durch Schwabe1 geschrieben und fuhr dann fort: »Hätte doch auch Mozart seinen Schwabe gefunden, der seinen Schädel aus Dust und Moder gerettet! Aber so sind oft die Augen der Zeitgenossen über Geistesgröße verblendet. Nicht einmal eine arme Totenmaske hat man von ihm abgenommen!« – Dann erwähnte ich aus Dörings Buch (»Schillers Sturm-und-Drang-Periode«) des Verhältnisses von Dalberg zu Schiller und fuhr dann wieder fort: »Hatte nun wohl dieser Dalberg, den man immer rühmen hört wegen Gott weiß welcher Verdienste um den Dichter, doch wirklich nur eine Ahnung von dem Genius, der damals vor ihm auftauchte? Und ging es anfangs Lessing besser? – Ich sah vor wenig Tagen einmal wieder seinen ›Nathan‹ und bin zu manchen Gedanken dadurch aufgeregt worden. Eine Stelle überraschte mich besonders, denn sie verbirgt eine Weisheit, die noch viel Zeit brauchen wird, um allgemein erkannt zu werden. Es ist die im fünften Akt:


Gott, wie leicht

Mir wird, daß ich nun weiter auf der Welt

Nichts zu verbergen habe! Daß ich vor

Den Menschen nun so frei kann wandeln als

Vor dir, der du allein den Menschen nicht

Nach seinen Taten brauchst zu richten, die

So selten seine Taten sind, o Gott!


Das ist es aber eben, was aus dem Schriftchen des Ruf2 gelernt werden kann; denn wenn in ordinärer juristischer[246] Praxis alle Übeltäter schlechthin totgeschlagen werden, so mag das die Notwehr der Gesellschaft mitunter rechtfertigen (ungefähr wie bei der Rinderpest alle kaum erkrankten Tiere erschlagen zu werden pflegen, damit die Pest sich nicht weiterverbreitet), aber nur nenne man dies nicht Gerechtigkeit; denn die Gerechtigkeit kann nur von der Weisheit wahrhaftge sprochen werden, und es überraschte mich, gerade dies hier von Lessing so großartig ausgesagt und menschliche Mangelhaftigkeit so klar dargestellt zu sehen.«

Wer hätte nun glauben sollen, daß so harmlose Worte beitragen konnten, den Verlust eines alten vieljährigen, aber freilich innerlich tief verstimmten Freundes zu beschleunigen, ja zu vollenden! – Dieser Freund, ein seltsames Leben lebend, die Nächte bei Tabaksrauch bis drei, vier Uhr unter seinen Büchern verbringend, die Tage bis Mittag elf, zwölf Uhr durchschlafend, unregelmäßig in seiner Diät und nur durch Unterstützung des Königs und seiner Freunde (letzteres ohne sein Wissen) erhalten, übrigens schon lange vollkommener Hypochonder, zerfiel er mit den meisten Bekannten in Breslau und wurde mißtrauisch gegen die ganze Welt. – Seit einiger Zeit schon fand ich seine sonst geistvollen und humoristischen Briefe leerer und einsilbig; nach jenem Briefe von mir aber, aus welchem das obige Fragment mitgeteilt ist, hörten sie mit einemmal ganz auf. Er schien auch gegen mich mißtrauisch geworden, war verletzt durch meine mildere Ansicht vieler Kriminalfälle, die er sämtlich mit Strang und Schwert gerichtet wissen wollte, und schwieg trotz einiger Mahnungen und Fragen hartnäckig, bis ich endlich auf vermittelnde Anfragen geradezu eine Art von Absage erhielt, worauf ich dann natürlich ebenfalls genötigt wurde, ihn seinem Schicksale zu überlassen. Bei alledem schmerzte mich ein solcher Verlust tief, und nur das Gegengewicht[247] mancher andern reichen geistigen Wechselwirkung mochte mir den Abfall jenes Freundes damals leichter ertragen lassen. Er selbst schien von da an immer tiefer in Verstimmung versunken zu sein und ist einige Jahre später verstorben, ohne daß es mir gelungen wäre, aus den letzten Jahren unsers Briefwechsels die meinigen zurückzuerhalten. Glücklich genug, daß ich die aus den ersten 38 Jahren unserer Korrespondenz mir früher wieder erbeten hatte, denn ohne sie wäre mir ja der größte Teil in diesen Heften gegebener Aufzeichnungen gänzlich unmöglich gewesen.

Aber noch mehr des Schweren war uns vorbehalten! Zunächst bewegte tief das Innere meines Hauses, gerade zu der Zeit, als im Äußern die Welt sich durch das von sieben Millionen Stimmen in Frankreich wieder ausgerufene Kaisertum eigentümlich erschüttert, zum Teil auch nur betroffen fand – der Verlust einer Freundin, welche sehr früh schon innig sich uns angeschlossen hatte; es war Gräfin Ernestine Einsiedel, jene geborene von Warnsdorf, deren bereits öfters in diesen Blättern gedacht ist. Sie hatte namentlich im Jahre 1812, als für Napoleon sich noch einmal die ganze Pracht des alten sächsischen Hofes entfaltete, durch ihre Schönheit bedeutendes Aufsehen gemacht, eine Schönheit, welche auch später noch um so anziehender blieb, als sie sich mit großer Einfachheit und Güte des Herzens verband. Sie war all den Meinigen stets eine liebevolle Freundin, und wieviel Freude sie auch an der Kunst hatte, bewies ihr Kummer, als jene treffliche, einst durch ihre Schwiegermutter in Reibersdorf gegründete Kupferstichsammlung trotz alles Protestierens von ihrer Seite unter den Hammer kam und verstreut wurde.

Und doch sollte ich noch auf weit härtere Proben gestellt werden! – Es traf uns nämlich damals das Schreckliche, daß unsere so sehr geliebte Tochter Eugenie in der Nacht[248] zum 27. Dezember durch einen schnell verlaufenden bösartigen Typhus uns plötzlich entrissen wurde! – Sie, das Bild frischesten blühenden Lebens – eben noch durch ihren Besuch eine vor kurzem nach Schlesien gezogene Freundin beglückend, hatte sie jedenfalls auf diesem Ausfluge selbst den Keim zu solch zerstörender Krankheit in sich gesogen! – Die Zerstörung meines Hauses und all der Meinigen durch ein so gewaltsames Ereignis war fürchterlich. Ich schrieb am Morgen nach dem Tode an unsere Freundin Frau von Lüttichau, die selbst aufs heftigste ergriffen war, denn sie hatte sie sehr geliebt: »So haben wir denn Abschied genommen von dem lieben schönen Kinde: Sie starb in der Nacht mit dem Glockenschlage zwölf, während wir alle um ihr Bett knieten. Ich habe noch ein paar Stunden zu ruhen versucht und fühle mich wenigstens körperlich nicht krank. Der Stern des Morgens leuchtete mit reiner Klarheit in mein nasses Auge, und ich konnte dem Ewigen danken, daß unter so viel Großem und Schönem, was ich erleben durfte, auch das Glück war, an einer so schönen Erscheinung so manche Jahre mich zu freuen.« Es war die erste Leiche, welche unsere Freundin sich entschließen konnte selbst zu sehen – was sie bei keinem ihrer eigenen Toten vermocht hatte –, und wir ahnten nicht, daß aus unserm damaligen Kreise sie selbst die erste sein sollte, die ihr weiterhin folgte!

So stieg denn also das Jahr 1853 tief in Trauerflor gehüllt uns herauf, und wie von da an jenes schöne Christfest – sonst die Freude des ganzen Hauses – zum Gedächtnistag schweren Leides wurde, so nahm nun fürerst auch all unser Leben eine tiefdunkle Färbung an, und nur die Vollendung meiner »Symbolik«, welche in diesem Jahre ans Licht treten sollte, gab mir mitunter etwas von wohltuender Zerstreuung; immer aber lenkte doch die Seele ihren Flug nach der Vergangenheit und sammelte vor[249] allen soviel möglich das Gedächtnis jedes Augenblicks und jeder Gemütsregung, in welchen das entschwundene liebe Wesen sich einst widergespiegelt hatte. So stehe denn nun auch deshalb hier zunächst eine Briefstelle Eugeniens selbst, nur einige Monate vor ihrem Tode an eine Freundin gerichtet, damit teils ebenso in diesen Blättern ein Andenken erhalten werde an ihre eigene feine Ausdrucksweise und teils angedeutet sei, wie mitten im blühenden Leben der Jugend oft jede dunkle Ahnung leicht anklingt und Gedanken durch die Seele ziehen, wie man sie eher am Ende einer Lebensbahn als am Anfange derselben voraussetzen möchte. – Sie schreibt: »Mein lieber lieber Vater hat mir an meinem Geburtstage eine unendlich wehmütige poetische Kohlenzeichnung geschenkt, bei deren Anblick ich die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Ich freue mich so sehr, sie Dir zu zeigen, Du wirst sie auch recht verstehen. Es ist eine stille Mondnacht, und der Mond bescheint eine Wassergegend mit Schilf und weißen blühenden Nymphäen, in der Mitte ein Schwan, der ganz einsam mit ausgespannten Flügeln zieht und den Kopf nach dem Monde emporgerichtet hat. Du glaubst nicht, welche Wehmut in dem Bilde liegt und wie wohl sein Anblick denen tut, die selbst ein Herz voll Trauer haben.«!

Bei Gelegenheit dieses Briefs, dessen abschriftliche Bewahrung ich auch unserer Freundin danke, schrieb ich übrigens an diese über Jenny:


»Sie sank, weil sie zu stolz und kräftig blühte!

Die abgestorbne Eiche steht im Sturm,

Doch die gesunde stürzt er schmetternd nieder,

Weil er in ihre Krone greifen kann.3


O Gott! Man steigt auch immer so in seinen Busen nieder[250] und gräbt das harte Erz des Grams heraus, um immer neue Dolche daraus zu schmieden und sich fortwährend damit zu verwunden.«

Und damit endlich alles hier gesammelt sei, was von dunkeln Trauerzeichen jener Tage mir noch übriggeblieben ist, so mögen hier auch noch zwei Fragmente eines an von Lindenau und eines an Tieck gerichteten Briefes folgen, womit denn hier dieser düstere Lebensabschnitt vorläufig beendet und beschlossen sein möge!

An von Lindenau: »Wer das Leben in so großen Wechselfällen und so lange Jahre hindurch beobachtet hat wie Sie, erkennt am besten den schwankenden Wert aller irdischen Dinge und das Bleibende ernster und treuer Liebe und höherer Geistesentwicklung. Ich kenne die Aufgabe des Mannes, einem großen, unerwartet hereinbrechenden Geschick auch groß entgegenzutreten, und glaube diese Aufgabe würdig zu lösen, aber dem verehrten Freunde ist es wohl gestattet, in die Wunde zu blicken, die der Verletzte schmerzvoll tragen muß und tragen wird.«

Und etwas später an Tieck, im März 1853: »Es war mir ein schönes und bedeutungsvolles Zusammentreffen, daß ich gerade in diesen Tagen von zwei werten und verehrten Männern, von Ihnen und Humboldt, beide auf der äußersten Lebenshöhe angelangt und mit hellem kräftigem Geiste sich dort umschauend, briefliche Sendungen bekam. – – – Wenn das Leben mit allen seinen Schattenseiten doch zu solchen Höhen hinaufleiten darf, wenn man sogleich an mehrern Beispielen es lebendig erfährt, wie reich und groß die Entwicklung sein kann, die ein menschlicher Geist zu erreichen vermag, so fühlt man immer wieder so recht unmittelbar, daß dieses Leben doch ein wunderbares Gewebe ist, das, wenn wir es schön und verständig tragen, wohl zu einem wahrhaft großen Gewinn desjenigen Gottgedankens ausschlagen kann, welcher[251] zuletzt immer in der Brust jedes einzelnen (freilich oft seltsam genug verdeckt) der treibende und wärmende Funke bleibt. – Sie haben zugleich, Teuerster, in diesen Worten den Kern meiner gesamten Philosophie und fühlen daran, weshalb ich in tausend Unvollkommenheiten des Daseins und in bittern blutig einschneidenden Verlusten nie irre werde an dem ewigen Mysterium, welches uns durch einzelne glückliche und durch so viel mehr schwere und oft wahrhaft fürchterliche Lebensaufgaben einesteils prüft und andernteils (wenn wir solchem höhern Walten recht horchen) weiter und weiter fortbildet. Fassen wir daher die Seelenentwicklung in diesem Sinne, so ruhen wir eigentlich im Ewigen selbst, und in diesem Ruhen vermögen wir dann auch allein wahre und echte Tröstung zu finden über Schmerz und Verlust aller Art, ja auch über das tiefste Leid, welches uns aus dem Entschwundensein einer geliebten Seele aus unserm gegenwärtigen Gesichtskreise entspringt.«

Es war der letzte Brief, den ich an ihn richten konnte, denn am 28. April starb auch Ludwig Tieck, er, dessen Andenken Deutschland ja in Ehren halten möge, denn er hat Großes und Schönes für uns gewirkt! – Was er mir, was er den Meinigen war, davon geben diese Blätter ja vielfältig Zeugnis.4 Daß er aber gerade jetzt uns genommen[252] wurde, wo so tiefe Wolken der Trauer über uns lagen, machte unseren Schmerz freilich um so empfindlicher; indes sein Gedächtnis muß durch anderes geehrt werden als durch Klagen, und somit also hier kein Wort weiter davon! –

Es ist im vorhergehenden eine Kohlenzeichnung von mir erwähnt worden, und dies bringt mich jetzt dazu, etwas ausführlicher eines Umstandes zu gedenken, welcher in der Entwicklung meiner Kunstbestrebungen, von denen ich ja doch immer hier gleichfalls Rechenschaft gegeben habe, eine besondere Besprechung verdient – eine Besprechung, welche zugleich dem Leser eine erwünschte Abwechslung gewähren möge nach so manchen schweren und lugubern Berichten!

Schon im Herbst 1851 nämlich hatte Freund Hübner, rückkehrend von einer Reise durch Belgien und am Rhein, von Professor Schirmer – damals noch in Düsseldorf lebend – eine Reihe Landschaften mitgebracht und im Kunstverein ausgestellt, welche in einer neuen, früher in Deutschland so noch nicht angewendeten Manier, das heißt bloß mit Reißkohle, halb gewischt, halb gezeichnet, ausgeführt und dann mittels eines auf der Rückseite des Papiers aufgetragenen Firnisses fixiert waren. Dies Material, eine ungemeine Freiheit und Leichtigkeit der Behandlung gewährend, brachte namentlich in Darstellung großer dunkler Schattenmassen eine außerordentliche Wirkung hervor und interessierte mich eben dadurch im höchsten Grade. Das besondere Verfahren dabei wurde mir bald bekannt, und ich – der ich in den letzten Jahren im ganzen weit seltener als sonst zum Malen gekommen war – versuchte mich nun wieder einmal von neuem in verschiedenen dergleichen Entwürfen. Bald fand ich, daß sich vorzüglich für gewisse mysteriöse, nebulose Effekte, für Mondlicht und nächtliches Dunkel (Gegenstände, denen[253] meine Phantasie mich sonst schon so oft zugewendet hatte) hiermit ausnehmende Erfolge erreichen ließen, und Künstler, Freunde und Freundinnen nahmen sogleich vielfältigen Anteil an diesen nach und nach immer besser geratenden Versuchen. In Zeit von einer oder einigen wenigen Stunden – namentlich nicht selten, im Lauf eines einzigen Spätabends bei der Lampe – gelang es mir oft, irgendeiner düstern Phantasie das Gewand vollkommen befestigter Zeichnung zu geben, und Reihen von Bildern entstanden so, die ungefähr wie das Phantasieren des Musikers auf dem Flügel, gerade weil sie in ihrer flüchtigen Entstehung eine größere Unmittelbarkeit der Vorstellung durchleuchten ließen, auch eine besonders lebendige Wirkung auf den Beschauer hervorbrachten.

Komme ich jetzt nach dieser kleinen Abschweifung auf unsern fernern Lebensgang in diesem Trauerjahre, so bedarf es kaum der Worte, um zu sagen, daß er ein sehr einförmiger und stiller war. Erst im Februar konnte ich die Meinigen dazu bringen, einer um diese Zeit neu einstudierten Aufführung der »Antigone« mit beizuwohnen und an diesem großen Schmerzensbilde des Altertums den eigenen Schmerz in mildere und beruhigtere Formen überzuführen.

Wenn das Leid so alt ist als die Menschheit, so ist es der Trost nicht minder! – Das eine richtet sich wie das andere in seinen Folgen nach der Empfänglichkeit und Bildung des Geistes! – Aus dem Altertume weht so der tröstende Hauch der Sophokleischen Tragödie in unabsehbare Fernen, und wie zu Perikles' Zeit hat dieser Hauch jetzt die Bedeutung, durch große poetische Auffassung und Darstellung tief die Seele durchdringender Schmerzen den Menschen zu erheben und zu läutern; ja man darf sagen, er wurde dadurch insofern einer der würdigsten Vorläufer des Christentums. – Haben aber somit diese Dichtungen[254] eine so allgemeine Bedeutung, was kann dann die Neuzeit Besseres tun, als dahin trachten, das Schöne, wie es damals zuerst lebendig wurde, dann aber auch zeitweise wieder verdeckt war, jetzt abermals hervorzurufen, damit es so gleichsam in höherer Wiedergeburt wieder hervortrete und das Leid mildere, wo ein gebildeter Geist irgend es vermag, solche Wohltat würdig zu empfangen!

Muß ich doch hierbei notwendig an das denken, was ich von der Entwicklung der Menschheit aus Schönheit durch Liebe endlich zur Wahrheit an einem andern Orte gesagt hatte. Auch dies soll ja nämlich nie so gedacht werden, als wenn nun bei der Liebe nicht mehr die Schönheit und bei der Wahrheit weder Schönheit noch Liebe mehr gelten sollte, sondern vielmehr so, daß immer das Nachfolgende das Vorhergehende mit umfasse und dadurch zugleich es erhebe, daß also in der Periode der Liebe die Schönheit mit gehoben und vollendeter werde und in der Periode der Wahrheit sowohl Schönheit als Liebe sich verkläre.

Ich sage nun, in ebensolcher Weise sollte also die Neuzeit nicht die Kunstwerke des Altertums etwa gerade so wiederholen, wie sie damals erschienen, sondern ihrer Wiederbelebung sollte alles das mit zugute kommen, was die Menschheit seitdem durchlebt hat, die Bildwerke sollten also mit ihrer vollen Schönheit und Ursprünglichkeit der Ausführung, aber in noch weit vollendeter Erscheinung wieder auferstehen – die Bauwerke sollten mit allem Tiefsinn der primitiven Erfassung und Konstruktion sich wieder erheben, allein mit vielen Erfindungen erleichtert und bereichert, welche seitdem gemacht wurden –, und wenn nun dies alles so geschieht, so sollen vor allem auch die alten Tragödien auf neue Weise wiedergeboren werden, das heißt geschmückt mit vielem, was uns seitdem durch andere große Durchgangspunkte der Menschheit zuteil worden ist.[255]

Ach, wenn die Seele selbst von einem tiefen Leide erschüttert ist und noch in allen Fugen dröhnt, dann ist sie wohl sehr empfindlich gegen jedes Ungemäße und Unvollkommene, aber sie empfindet es auch um so dankbarer, wenn, wie heute, wahrhaft die Erhabenheit und das Versöhnende als echter und nachhaltiger Trost der Kunst sich betätigt. – Und soviel damals über jenes große Sophokleische Werk!

Die eigen tragische Stimmung unsers Lebens erhielt übrigens immer noch weitere Nahrung, einmal durch Aufführung von Beethovens neunter Symphonie mit all ihren tiefsinnigen, oft fast verzweifelten Gedankengängen und ein andermal durch die Ausstellung eines neuern Gemäldes, dessen ebenfalls tieftragischer Charakter mich damals zu zwei ausführlichen Aufsätzen begeisterte. Es war die berühmte sogenannte Brüsseler Schützengilde von Gallait, über welches ich hier nur aus dem zweiten der darüber niedergeschriebenen Aufsätze einige der prägnantesten Gedanken mitteile:

»Wenn alles Leben sich erst durch den Tod vollendet, wenn erst durch den Tod die Idee – der innerlich treibende göttliche Funke – mit Entschiedenheit frei gemacht werden und so erst ganz erlöst sein kann aus allem Schwanken eines zwischen Schlaf und Wachen immerfort zweifelhaft wechselnden Zustandes, so versteht man leicht, warum der Tod von jeher der eigentliche Vorwurf der Tragödie war, warum auch die Geschichte überall nachzuweisen hat, wie ihre großen Epochen stets durch das Leben zwar vorbereitet, aber durch den Tod erst wahrhaft besiegelt werden mußten. – Solche Tragödie nun und solche Geschichte zugleich ist aber dieses Bild! – Die Gedanken und die Taten von Graf Egmont und Horn, die hier enthauptet liegen, sie wirkten manches Mächtige schon im Leben, aber jetzt erst, nachdem das sterbliche Gefäß zertrümmert[256] ist, das sie einschloß, sind sie frei – teilen sie sich dem Volke mit, gehen sie ein aus einem besondern Dasein in ein allgemeines Leben, und von da an werden sie sonach erst zu einer höhern Wahrheit!

Wie daher schon die alte Tragödie es liebte, durch möglichst wenige Personen die tiefsten und bedeutendsten menschlichen Verhältnisse auszudrücken, so sind auch hier nur ganz wenig Individuen gezeichnet, aber sie sprechen jene große Wendung in der Geschichte der Niederlande vollständig aus, jene Wendung, wo dies Volk aus kirchlicher Gebundenheit zur Freiheit des Denkens und aus Knechtung einer Fremdherrschaft zur Würde freier Selbstbestimmung sich erheben sollte.

Der Moment konnte nicht einfacher, nicht anspruchsloser gewählt sein! – Die Leichname der Hingerichteten sind in eine alte, seit Jahren nicht gebrauchte Kapelle des Rathauses zu Brüssel einstweilen beigesetzt, so wie sie vom Richtplatze kamen, platt auf einer gewöhnlichen Trage ausgestreckt, nur mit einem großen samtenen Trauerteppich jener reichen Familien überdeckt, die blutlosen Häupter auf einem mit rein weißen Laken überbreiteten Kopfkissen wieder an den Rumpf gerückt, liegen sie noch da vor dem dürftigen Altar jener Kapelle, auf dem ein paar schwere kupferne Altarleuchter zu seiten eines nicht bessern Kruzifixes sich befinden, während ein zweites silbernes Kruzifix des altgräflichen Hauses auf den Leichnamen liegt, den Frieden des Erlösers für die Erlösten verkündend. Als Wache ist nur einer der schweren geharnischten Reiter des Herzogs Alba dort aufgestellt und ein anderer Spanier ihm beigesellt, damit er beobachte, was um die Gerichteten sich etwa begebe. – Nun haben die Bürger Brüssels Männer aus ihrer Schützengilde gesandt, damit doch ein Zeichen gegeben sei ihrer Trauer, ihrer Verehrung! Und Alba hat ihren Zutritt genehmigt,[257] damit die bleichen Häupter der Erschlagenen ihnen Furcht und Unterwerfung predigen möchten, wie er denkt. Da treten sie nun hinzu, während eben der Laienbruder zu Häupten der Bahre die alten Wachskerzen auf dem Altare zu einer hier fast symbolisch wirkenden Flamme entzündet. Man sieht nur etwa fünf bis sechs der Männer, voran ihr Anführer mit der güldenen Kette, den Pfeil als jenes Zeichen der Schützengilde in der Hand tragend, welcher bald zum unzerbrechlichen Pfeilbündel sich vervielfältigen sollte, unter dessen Panier die Niederlande sich für immer von Spanien losreißen – und da stehen sie nun, starr geheftet das Auge auf die liegenden Opfer und vieles im Geiste bewegend, während aus dem selten, gefeuchteten Auge bei dem Weichsten eine dicke Träne sich drängt, ein jeglicher aber in seiner Weise tief und gewaltsam ergriffen!

Recht genommen, hat das Bild eigentlich nur eine einzige Handlung, ›den Mönch, der über den Leichen die Kerzen anzündet‹, sonst ist alles Schweigen und Stille. Das Ungeheuere ist gewagt worden, es ist wirklich geschehen; aber wie jeder Augenblick das Samenkorn ist für alle folgenden, so ahnt man sofort, daß aus dieser vollbrachten Tat des Despotismus nun die Tat der Freiheit hervorgehen werde, und darum enthält das Bild bei so wenig Handlung so viel Geschichte.«

1

Der Schädel wurde bekanntlich durch Bürgermeister Schwabe in der Gruft des Stadtkirchhofs aufgefunden.

2

Psychische Zustände, ein Beitrag zur Lehre von der Zurechnung (Innsbruck 1852). Eine sehr interessante kleine Schrift eines Geistlichen, der als Beichtiger vielen Verbrechern geistlichen Beistand geleistet und von dem ich zuvor an Regis geschrieben hatte.

3

Aus der »Penthesilea« von Heinrich von Kleist.

4

Unter Papieren unserer Freundin von Lüttichau fand ich noch nachstehende Aufzeichnung aus jenen Tagen, die denn doch auch noch hier bewahrt sei: »Carus sagt über Tiecks Tod: Die Individualitäten aus einer frühern Zeit gehen unter: das viel allgemeiner verbreitete Hervorragende der jetzigen Generation, die Fortschritte der Menschheit gegen große Ideen und Prinzipien hin, wie zum Beispiel die des Weltfriedens, der freiern Institutionen zur Förderung des Ganzen und ähnliche – machen sozusagen den Makrokosmus kompakter – aber wir, aus der frühern Zeit, werden immer den einzelnen vorzugsweise begabten Menschen vermissen! – Ich kann nicht zum Makrokosmus sagen: Sei mein Freund!«

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 2. Band. Weima 1966, S. 245-258.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Musarion. Ein Gedicht in drei Buechern

Musarion. Ein Gedicht in drei Buechern

Nachdem Musarion sich mit ihrem Freund Phanias gestrittet hat, flüchtet sich dieser in sinnenfeindliche Meditation und hängt zwei radikalen philosophischen Lehrern an. Musarion provoziert eine Diskussion zwischen den Philosophen, die in einer Prügelei mündet und Phanias erkennen lässt, dass die beiden »nicht ganz so weise als ihr System sind.«

52 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon