|
Ich habe den Gipfel des zur Laufbahn mir angewiesenen Berges seit Jahren erstiegen. Jenseits, vielleicht nahe, vielleicht tiefer unten im Tale wartet meiner, doch ohne mich zu schrecken, das Grab. Dankbar höre ich indessen die Stimme meiner Kinder, und die ich eben so betrachte, meiner zahlreichen Schüler. Sie fordern zärtlich die Geschichte meines Lebens, und ihnen ist sie wichtig; aber ist sie es auch der Menge, für welche sie dieselbe bestimmen? ... O ja! Freunde wenigstens und Feinde, denke ich, mögen solche – beide auf ihre Weise, benützen. Das Licht in meiner Wanderung ist für jene – der Schatten, den sie auf mich wirft, für diese – das Ganze, für die (vermutlich mehr unparteiischen) Nachkömmlinge von allen.
»Das Leben eines Menschen«, sagt Pythagor, »gleichet dem Homerschen Schilde, an welchem man, so lange man es besichtigt, immer etwas Neues zu lernen findet.« Ob bei solcher Zeichnung derjenige, welcher das Bild vorzustellen hat, den Griffel selbst führen oder andern denselben überlassen solle? Dies ist freilich eine schwer zur Befriedigung von allen zu beantwortende Frage. Wenn ich aber nicht irre, so ist eine Lebensgeschichte nicht mehr und nicht weniger dann eine Reisebeschreibung, die doch der Reisende am besten selbst entwirft, besonders wenn noch Zeugen genug leben, um die Wahrheit seiner Erzählungen zu bestätigen. Wenn mancher seine Lebensgeschichte bei seiner Leichenpredigt anhören sollte, er würde entweder gleich Rabnern ängstlich davonschleichen oder wenigstens (wenn er anders nur das Gröbere seiner Eigenliebe mit seiner irdischen Hülle abgelegt hätte) das Leichentuch schamrot vor das Angesicht[26] halten müssen. Warum also grade das, was man am besten selbst wissen kann, andern (vorausgesetzt, daß man nach seinem Tode doch ein Wort mehr, dann: er ward geboren, hat gelebt und ist gestorben, von ihm sagen werde) zu sagen überlassen? ... Ich selbst schreibe daher meine Geschichte, so weit sie jetzt reichet, hier nieder. Den Überrest, vermutlich sehr wenig, mögen, wenn es anders der Mühe zu lohnen scheint, diejenigen, welche mich näher gekannt haben, nach Vollendung meiner mühevollen Wanderung hinzusetzen.
Denjenigen, welche zu künftigen Weltbürgern bestimmt sind, rate ich im Ernste, sich von kraftvollen, zu denken fähigen und gutartigen Eltern, zu welchem Stande sie auch immer gehören mögen, erzeugen zu lassen. Nicht nur bei Jagdhunden und Pferden kommt es auf die Rasse, ob sie zu ihrer Bestimmung mehr oder weniger Anlage mit sich bringen werden, an. Ist dieser Rat auf Erfahrung gegründet, so weiß ich um so weniger, warum ich nicht von meinen Eltern, so geringe sie auch waren, früher, dann von mir selbst, und zwar etwas umständlicher, zu sprechen hier Anlaß nehmen sollte, als ihre kleine Geschichte nicht alltäglich und der Teilnahme des Lesers nicht ganz unwert ist.
Niklas Frank, mein Vater, war der einzige Sohn eines französischen Lieferanten, der, ich weiß nicht aus welcher Provinz Frankreichs herstammend, sich zu Montroyal, einer in der Grafschaft Sponheim, nahe bei Trarbach gelegenen, damals von den Franzosen besetzten Bergfestung niedergelassen und mit einem deutschen Weibe verehelicht hatte. Als jene Festung von den Franzosen selbst geschleift worden war, rückte die Garnison und mit ihr mein Großvater nebst seinem neunjährigen Sohne bei dem spanischen Sukzessions-Kriege[27] ins Feld. Sein Eheweib wies er an, sich zu ihren Anverwandten nach Mannheim oder, wenn sich diese des Krieges wegen geflüchtet haben sollten, zu jenen von Heilbronn zu verfügen.
Bald nach seiner Trennung ward mein Großvater von einer Partei feindlicher Marodeurs ermordet und von allem, was er noch besaß, beraubt. Dessen Sohn ward jetzt von den Offizieren des Regimentes aus Mitleid erhalten und mußte der Armee folgen. Nach einigen Jahren, als diese zu Ladenburg, nahe bei Heidelberg, stand, ging dieser Knabe, ohne ein Wort von der deutschen Sprache zu verstehen und ohne es merken zu lassen, von der französischen Armee ab und über den Rhein. Kaum war er nach Kaiserslautern gekommen, als ihm die Nahrungsmittel ausgingen. Er sprach einen Handelsmann dieses Städtchens in seiner Sprache um Beistand an. Dieser erbarmte sich des Jungen und behielt ihn in der Absicht, seine eigenen Kinder durch dessen Gesellschaft in der französischen Sprache zu üben, in seinem Hause. Nach und nach gewann Niklas, der einen guten Kopf, viel Fleiß und die größte Redlichkeit verriet, die Geneigtheit des guttätigen Handelsmannes. Ohne mehr lesen oder schreiben zu können, ward er nach und nach zum Handel gebraucht. So vergingen mehrere Jahre, während welchen der redliche Handelsmann, dessen Name leider nicht einmal bis auf mich gelangt ist, seinem Pflegesohne einen Jahresgehalt angewiesen, denselben aber, da jener[28] keinen Abgang litt, aufgespart hatte. Als Niklas zu einem Manne herangewachsen war, entließ ihn dessen Wohltäter mit dem Rat: alsogleich die Frankfurter Messe zu besuchen, dort zuerst nur die Hälfte seines kleinen Kapitals in allerhand kurze Waren zu stecken, mit diesen in das nahe Westreich, wo keine Krämer vorhanden seien, zu gehen und dieselben zu veräußern. So geschah es, und Niklas erwarb sich bald durch seinen Kleinhandel einiges Vermögen.
Nach einigen Jahren ward Niklas in dem Hause meines mütterlichen Großvaters, Theobald Würz, eines wohlhabigen Bürgers und Amtsschultheißen zu Rodalben in der Baden-Badischen Herrschaft Gravenstein im Waßgau zwischen Zweibrücken und Landau bekannt. Wegen seiner Rechtschaffenheit und Klugheit vertraute ihm Würz die Aufsicht über zwei ihm zugehörige Glashütten, ohne daß er deswegen seinen Handel zu versäumen hatte. Bald wurden die Glashütten unter solcher Leitung fast um die Hälfte einträglicher. Einstens lag der alte Würz schon um vier Uhr morgens in seinem Fenster und sah unbemerkt in seinen Hof. Hier ward er gewahr, daß einer seiner jungen Knechte einen Apfel, den er auf der Erde liegend angetroffen hatte, mutwillig mit dem Fuße vor sich herstieß. Gleich darauf kam Niklas und gab dem Knechte, weil er den Apfel nicht aufhob und wenigstens dem Vieh seines Herrn vorlegte, eine derbe Ohrfeige. Diese Beweise von Treue gewannen Niklas die Zuneigung seines Vorgesetzten so sehr, daß dieser ihm in seinem dreißigsten Jahr seine erst vierzehnjährige wohlgebildete Tochter, Marie Margret Würz, zum Weibe gab. Mit dieser zeugte mein Vater 14 Kinder. Nach und nach erwarb sich dieser ansehnliche Grundstücke und baute diese mit eigener Hand und so unermüdetem Fleiße[29] an, daß er sich ein nicht unbedeutendes Vermögen und den Ruhm des arbeitsamsten Mannes in der ganzen Gegend erwarb.
Es waren bereits viele Jahre seines Ehestandes verstrichen, als Niklas einer Unpäßlichkeit halber die Ostermesse zu Frankfurt versäumen und seinem Handelsfreunde Faul von Pirmasens den Einkauf seiner Bedürfnisse überlassen mußte. Dieser begab sich nach Frankfurt und kehrte in einem Gasthofe zu Sachsenhausen ein. Indem derselbe bei naßkalter Witterung eine Zeit lang in der Wirtsstube verweilte, ward er eines reinlich gekleideten uralten Mütterchens, das sich sehr eifrig mit Spinnen beschäftigte, gewahr. Er ließ sich mit demselben in ein Gespräch ein und erfuhr, daß diese mehr als 95jährige Alte durch mancherlei Unglücksfälle so weit gebracht worden war, daß sie sich zum Teil mit ihrer Handarbeit zu erhalten denken müßte. »Hätte ich noch meinen Sohn«, sagte sie weinend, »so weit wäre es vermutlich nie mit mir gekommen!« Nun folgte die Geschichte ihres Verlustes: sie bestimmte ihren ehemaligen glücklicheren Stand, den Ort ihres Aufenthaltes; sie nannte ihren Ehemann, ihr Kind, von welchen sie nie mehr etwas gehört hätte. Alles lehrte den Freund meines Vaters, daß er dessen Mutter auf die seltsamste Weise entdeckt habe. Allein die Furcht, sich selbst und die Verlassene zu täuschen, machte, daß er erst bei seiner Zurückkunft mit seinem Freunde von diesem Vorfall zu reden sich vornahm. Dieser versäumte keinen Augenblick, die Wahrheit auf der Stelle zu entdecken. Alle Umstände trafen auf das genaueste zusammen. Die Mutter meines Vaters, denn sie war es, hatte von ihren Verwandten zu Mannheim, zu Heilbronn keinen mehr angetroffen. Alle hatten sich vor dem Kriege geflüchtet.[30] Ihres Ehemannes, ihres Sohnes beraubt, hatte sich die Unglückliche dahin, wo sie jetzt gefunden ward und wohin dieser sich so viele Jahre hindurch, ohne zu wissen, daß seine Mutter ihm so nahe sei, begeben hatte, verfügt, ihre wenige Barschaft verzehrt und dann in ihrer Arbeit und in dem Mitleid der Familie, bei welcher sie jetzt wohnte, ihren Unterhalt gefunden. Nun warf sich die jetzt glückliche Mutter in die Arme ihrer Kinder und Enkel und erlebte ein Alter von hundert und fünf Jahren.
Den 19. März 1745 wurde ich zu Rodalben geboren. Mein Vater, welcher elternlos erzogen worden und nur durch äußerste Anspannung seiner Kräfte zu etwas gekommen war, behielt bei aller seiner Liebe für seine Familie immer etwas Rauhes in seinem sonst gutmütigen Charakter. Die Anfälle seines Aufbrausens waren für seine Kinder oft schreckend. In einem derselben befahl er meiner Mutter, die mich als ein neun Monate altes Kind an ihre Brust legen und damit mein lautes Geschrei stillen wollte, sie sollte das Zimmer mit mir alsogleich verlassen. Sie hoffte, mich zum Schweigen zu bringen. Der Befehl ward zum zweiten Male wiederholt, und als dieses nichts nützte, griff mich der Erzürnte bei der Brust und warf mich hastig zu der offenen Türe auf eine weite Strecke hinaus. Auf der Stelle sah er und bereute seinen Jähzorn. Ich lag inzwischen in Zuckungen, die mich erst nach neun Wochen verließen. Hingegen war meine Mutter von der sanftesten, liebreichsten Gemütsart und in allen Stücken weit über den Stand, in welchem sie geboren war, erhoben.
Ich mag etwa vier Jahre alt gewesen sein, da ich des Sommers auf einem Platz vor meinem väterlichen Haus allein saß und mir ein Häuschen von Sand baute. Auf einmal[31] stürzten gegen 20 Bauernburschen, die sich auf eben diesem Platze belustigten, vermutlich ohne mich zu sehen, über mich her. Meine Mutter, die mich jetzt auf einmal aus ihren Augen verloren hatte, zerstreute diesen Haufen durch ihr ängstliches Zurufen. Ich lag beinahe gänzlich zusammengedrückt und erstickt zur Erde, und es blieb mir von diesem Zeitpunkt eine öfters zurückkommende Engbrüstigkeit, die mich erst im achtzehnten Jahre meines Alters vollkommen verlassen hat. Da mein Vater auch mit Salz handelte, so weiß ich nicht, was ich an diesem für einen angenehmen Geschmack finden mochte, aber ich genoß täglich eine beträchtliche Menge desselben und vermutlich war dieses die Ursache, warum ich Monate lang einem sehr beschwerlichen Harnbrennen unterworfen war. Bald nachher bekam ich eine beträchtliche Geschwulst in der großen Halsdrüse, die sich heftig entzündete und in Eiterung überging. Nirgend war in dieser Gegend Rat zu finden. Ein Regimentschirurg von Pirmasens, welcher um solchen gebeten ward, verzweifelte an meinem Aufkommen, und zwar, weil mir, wie der gelehrte Mann sich verlauten ließ, ein Nerv gesprungen sei!! Meine Mutter ließ mir auf ihren Kopf durch einen Barbier, der sich kaum hiezu verstehen wollte, diese Geschwulst öffnen, und so ward ich abermals vor dem Ersticken gerettet. Diese Umstände sowohl als meine äußerste Empfindlichkeit verhinderten meinen Vater, mich, so wie er wünschte, zu seinen harten Arbeiten zu gebrauchen; und als er mich einige Male bei rauher Witterung nach Dieuse in Lothringen und nach Frankfurt in die Messe mit sich genommen hatte, so mußte er sich von meiner wenigen Anlage zu seinem Stande überzeugt haben, indem er meiner Mutter nach seiner Weise sagte: ich sei ihm zu kurz auf den Wagen[32] und zu lange auf den Karren. Diese benützte solch eine Bemerkung zu meinem Vorteile, und nun ward meiner Schwäche mehr geschont.
Bald erholte ich mich jetzt an Kräften. Da ich nun mit andern Knaben die Dorfschule besuchte, wo ich, obschon mein Lehrer öfters sagte, daß ich sogar die Bibel zu lesen verstünde, gleich jenen manche Stöße empfing, so kam ich einst als ein sechsjähriger Knabe in vollem Weinen nach Hause. Als ich um die Ursache befragt wurde, sagte ich schluchzend meiner Mutter, ich sei sehr unglücklich, so strenge erzogen zu werden. Auf die Frage, warum, antwortete ich: weil alle meine Schulgesellen ohne Strümpfe herumspringen dürften, während dem meine Füße in diesen und in Schuhen ersticken möchten. Sind wohl die Klagen ganzer Völker gegen heilsame Verordnungen nicht eben so kindisch?
Endlich gab mich meine Mutter in meinem siebenten Jahre zu einem meiner älteren, bereits verehelichten Brüder, Johann Frank, nach Eußertal nahe bei Landau in die Kost. Daselbst erhielt ich zwei Jahre hindurch den meinem Alter angemessenen Unterricht. Als ich von da in mein väterliches Haus zurückkam, äußerte ich das Verlangen nach mehr Unterricht und bat meine Mutter, mich, ohne genau zu wissen, was dies heißen wollte, studieren zu lassen. Mein Vater verwarf anfänglich diesen Einfall. Allein meine gute Mutter, deren frommer, geheimer Wunsch war, mich, im Falle ich studierte, dem geistlichen Stande gewidmet zu sehen, erflehte die Erlaubnis, mich nach Rastatt im Badischen in die lateinischen Schulen der Piaristen schicken zu dürfen. Hier war ich inzwischen zwei Jahre hindurch meiner eigenen, vielleicht der sichersten, Leitung überlassen. Ich[33] erlernte sehr wenig, aber ich blieb ohne Verführung und legte etwas von der Rohheit meiner ersten, ländlichen Erziehung ab. Vieles mag zu jenem die Sparsamkeit, mit welcher ich unterhalten wurde, beigetragen haben. Es war mir nämlich zu meinem außerordentlichen Aufwande wöchentlich nur ein Groschen angewiesen worden, den ich auf einen bestimmten Tag bei der Generalin von Dreger daselbst abholen mußte. Oft war ich von einer Schuldenlast von drei bis vier Groschen für eingekaufte Früchte hart niedergedrückt. Dann vermied ich einen Monat hindurch den Ort, wo meine Gläubigerin, das Obstweib, sich aufhielt, bis ich endlich schamrot meine Schulden zu tilgen im Stande war.
Ich darf hier einer Anekdote nicht vergessen. Ich hatte nämlich als zehnjähriger Knabe eine sehr hellklingende, angenehme Stimme. Da auf dem Theater der Piaristen von ihren Zöglingen öfters Schauspiele aufgeführt wurden, so übertrug man mir eine Frauenrolle, bei welcher ich eine schöne Arie mit so lautem Beifall absang, daß die damals regierende Markgräfin, eine große Liebhaberin der Singkunst, auf den Gedanken verfiel, mich nach Italien zu schicken und vermutlich zur Beibehaltung meiner Sopranstimme zurichten zu lassen. Wenn nicht der Gemahl eben jener erwähnten Generalin die Versicherung erteilt hätte, daß ich als der Sohn eines vermögenden Bürgers nicht nötig hätte, meine Unterstützung so teuer zu erkaufen.[34]
Wegen einem mir zugestoßenen heftigen Quartanfieber wurde ich endlich nach Hause genommen. Damals hatte man gegen die Chinarinde große Vorurteile und als die übrigen Mittel mir nicht helfen wollten, so wurde mir befohlen, mit einem lebendigen Krebse in der Hand zu einem nahen Bache zu gehen und jenen rückwärts in das Wasser zu werfen. Es freut mich noch jetzt, daß ich damals auf ein so albernes Mittel kein Zutrauen gesetzt, sondern, als ich von dem Bache zurückkam, meiner guten Mutter erzählt habe, daß sich der Krebs bei meiner Expedition fast zu Tode gelacht hätte. Für solche Spötterei behielt ich aber auch mein Fieber noch lange und versäumte einen Teil meiner Schulzeit, bis mich endlich mein Vater nach Bockenheim (Boucquenom) in dem nahen Lothringen in die dortige Jesuitenschule abschickte. Mein Fleiß wuchs mit jedem Tage; allein ich schwang mich selten zur ersten Klasse der Schüler hinauf. Ich hatte den größten Widerwillen vom Auswendiglernen, wußte meine Lektionen, so gut ich deren Inhalt verstand, nie recht daherzusagen und hatte manche Demütigung auszustehen. Auch hier widerstand ich glücklich der jugendlichen Verführung. Da ich ein sehr großes Vergnügen an Musik fand, so fing ich an, ein blasendes Instrument zu erlernen. Mein guter Lehrer, der mich für allzu schwächlich hielt, verbot mir dieses auf das schärfste und wies mich zur Saitenmusik. Diese Leidenschaft für die Tonkunst ist mir, ob schon ich es in Ausübung derselben nie weit gebracht habe, bis auf heute zurückgeblieben.[35]
Nach drei Jahren wurde ich nach Baden in der Markgrafschaft verschickt und, um die Rhetorik zu erlernen, in ein gutes Haus getan. Mein Lehrer bemerkte bald, daß ich für diesen Teil des Unterrichtes so wie für die Poesie mehr Geschmack hatte; und sie glaubten bei mir eine noch bessere Anlage zu höheren Wissenschaften zu entdecken. Nach diesem Schuljahr wurde meiner Mutter angeraten, mich nach Frankreich zu schicken und die philosophischen Studien da zurücklegen zu lassen. Ich kam daher im Jahr 1761 nach Metz und das folgende Jahr nach Pont-à-Mousson, wo ein sehr gelehrter und berühmter Jesuit, P. Barlet, die Physik lehrte. Das physikalische Kabinett war daselbst vortrefflich eingerichtet, und ich bekam eine solche Liebe zu dieser Wissenschaft, daß ich, nachdem ich im nämlichen Jahre die Doktorwürde in der Philosophie erhalten hatte, die Arzneikunde als eine Tochter von jener erwählte und zum größten Leidwesen meiner frommen Mutter der Absicht, ein Geistlicher[36] zu werden, entsagte. Auch mein Vater war mit dieser meiner Absicht sehr unzufrieden und erklärte sich, daß er wegen den großen damit verknüpften Unkosten mir seine Unterstützung entziehen würde. Ich war untröstlich und konnte mich unmöglich zur Wahl eines Standes verstehen, der mich von meinem Lieblingsstudium abgehalten haben würde.
Es war aber doch noch eine andere Ursache, die mich armes Weltkind so denken machte. Ich war zu Pont-à-Mousson einem Handelsmann, Herrn Pierron, anempfohlen und in dessen Haus sehr gütig aufgenommen worden. Dieser hatte eine sehr schöne und ausnehmend wohl erzogene Tochter von meinem Alter. Ohne noch zu wissen, was Liebe sei, liebte ich dieses vortreffliche Geschöpf von ganzem Herzen. Aus Schüchternheit hatte ich ihr diese meine Zuneigung nicht früher, dann bis ich mich gezwungen sah, sie zu verlassen, eröffnet. Sie gestand mir bei dem ersten und letzten Augenblick, in welchem ich allein mit ihr sprechen konnte, eben so schüchtern ihre mir günstigen Gesinnungen mit der Versicherung, daß, wenn ich nicht so eben auf dem Punkt wäre, mich von ihr zu entfernen, sie mir dieselben nie würde eingestanden haben. Ich konnte mich vor meinem Glücke und vor dem Schrecken, diesem auf der Stelle entsagen zu müssen, nicht fassen, als ich mich schon von dem Gegenstande meiner Liebe und meiner Verzweiflung verlassen sah. »Wenigstens«, rief ich ihr nach, »wenigstens darf ich Sie dereinst wieder sehen und, wenn ich mich Ihrer würdig gemacht haben werde, Ihnen meine Hand anbieten?« Ein mitleidiger Blick und eine sanfte Träne, die über ihre schöne Wange herabrollte, war die Antwort auf diese meine Frage.[37]
Inzwischen hatte sich mein erwähnter Bruder, da sich unser Vater noch immer weigerte, mich die Arzneiwissenschaften studieren zu lassen, gegen denselben geäußert, daß er, auf solchen Fall, sein eigenes, geringes Vermögen zu meinem Endzwecke verwenden würde. Dieses und endlich der Zuspruch meiner zum voraus von ihm gewonnenen Mutter verschafften mir endlich die Erlaubnis, mich, weil ich doch sonst zu nichts zu gebrauchen wäre, auf die nächste Hohe Schule, nach Heidelberg, zu begeben. Hier fing ich nun an die medizinischen Schulen zu besuchen. Meine Liebe zur Wissenschaft und meine Zärtlichkeit spornten alle meine Kräfte an. Ich besuchte zuerst die Vorlesungen der beiden Professoren Gattenhof und Schönmezel. Der erstere, einer von Hallers vorzüglichsten Zöglingen, ein sehr gelehrter und vortrefflicher Mann, las über die Boerhaavischen Institutionen. Der andere, ein Schüler von Winslow, Petit, Levret und Sauvages, lehrte Anatomie, Wundarznei- und Entbindungskunst mit vieler Deutlichkeit.[38]
Am Ende des Schuljahres lief ich Gefahr, der Arzneiwissenschaft auf ewig zu entsagen. Ich selbst war mit dem, was ich bisher erlernt hatte, gar nicht zufrieden. Ich begab mich glücklicher Weise zu Gattenhof und gestand ihm offenherzig, daß ich nach so viel angewandter Mühe mir keiner Fortschritte in der Wissenschaft bewußt und daher dieser gänzlich zu entsagen gesonnen wäre. »Dies begreife ich nicht«, erwiderte mein Lehrer. »Sie haben alle erforderliche Anlage; Sie haben sich emsig verwendet. Haben Sie bei all' diesem nichts erlernt, so ist wohl der Fehler auf Seiten Ihrer Lehrer.« Er bestellte mich auf den folgenden Tag, um mich allein zu prüfen. Ich antwortete ihm vermutlich mehr, als er sich von einem einjährigen Schüler in der Arzneiwissenschaft zu fordern berechtigt glaubte. »Sind Sie noch der Meinung«, sagte er mit sichtbarem Vergnügen, »daß Sie wenig oder gar nichts erlernt haben?« Ich glaubte dies noch immer, weil ich nicht einsehen konnte, zu was das Erlernte mir dienen sollte. Als ich, um 22 Jahre später, für die Hohe Schule zu Pavia einen medizinischen Studienplan selbst entwerfen mußte, war ich dieser meiner ehemaligen Verlegenheit wohl eingedenk und suchte derselben bei anfangenden Schülern dadurch zu begegnen, daß ich die Einrichtung traf, damit bei so trocknem theoretischen Unterrichte der Endzweck desselben nie außer dem Gesichtspunkte der Zöglinge gestellt würde.
Kaum waren die Ferien erschienen, als ich das wenige Geld, welches ich das ganze Schuljahr hindurch sorgfältig zusammengespart hatte, in größter Verschwiegenheit auf eine Reise nach Pont-à-Mousson verwendete. Ich fand den Gegenstand meiner Zärtlichkeit durch diesen Beweis meiner Beständigkeit gerührt. Man erlaubte mir zu hoffen, wenn[39] meine ferneren Fortschritte in der Wissenschaft in einem so vorteilhaften Lichte als meine Liebe erscheinen würden.
In dem folgenden Schuljahre hatte ich das Glück, bei Gattenhof in die Wohnung genommen zu werden, meinen liebreichen Lehrer bei seinen botanischen Spaziergängen begleiten und bei jedem mir aufstoßenden Zweifel um Aufklärung fragen zu dürfen. Ich wiederholte nochmals die vorjährigen Vorlesungen und besuchte die von Gattenhof gegebene Heilmittellehre. Mit der Chemie war damals in Heidelberg wenig zu tun. Der berühmte kurpfälzische Leibarzt, geheimer Rat und Professor v. Overkamp, ein vortrefflicher Schüler von Boerhaave, las über die Aphorismen seines großen Lehrers. Diese Vorlesungen besuchte ich mit der größten Anstrengung. Da inzwischen Overkamp mehr seinem Berufe als Leibarzt, denn jenem eines Professors nachhängen, folglich öfters 14 Tage und länger seine Vorlesungen aussetzen mußte; da er bei diesen, durch Räuspern und anhaltendes Husten die Schlußworte meistens so sehr von den übrigen trennte, daß es schwer wurde, den Sinn des Gesagten zu erraten, so bedauerte ich einstens in Gesellschaft einiger meiner Mitschüler dieses Hindernis eines vollkommeneren Unterrichtes. Diese meine Bemerkung blieb dem, von mir übrigens sehr verehrten Lehrer nicht verborgen und wurde von ihm übel aufgenommen. Es las noch[40] ein außerordentlicher Lehrer, Dr. Harrer, über Physiologie. Dieser, ein Zögling der hiesigen Professoren, hatte sich mit diesen so abgeworfen, daß dessen Vorlesungen meistens mit jenen der übrigen Lehrer im Widerspruch standen. Harrer war ehemals Repetitor im physiologischen Fache und hatte sich in der syllogistischen Disputierkunst eine große Übung erworben. Ein weitläufiger Anverwandter von mir, welcher bei dem Kurfürsten von der Pfalz in Ansehen stand, riet mir auf das Dringendste, auch die Vorlesungen von Harrer, der sich die Gnade des Kurfürsten (dessen Leibarzt er auch nachher geworden ist) erworben hätte, fleißig zu besuchen, und versprach mir, daß ich auf solche Weise ohnfehlbar eine Anstellung in der Pfalz erhalten würde. Ich folgte diesem Winke und bei der ersten Vorlesung machte Harrer einen großen Aufwand von seiner gelehrten Fechtkunst. Er glaubte zu bemerken, daß ich von seinen Behauptungen nicht so ganz überzeugt wäre, und rief mich öffentlich auf, mein Glaubensbekenntnis abzulegen. Ich gestand ihm, daß ich einer anderen Meinung sei. Harrer griff zu seinen syllogistischen Waffen und zwang mich, derselben in Gegenwart seiner Zuhörer mich gegen ihn zu bedienen. Der nicht schwere Sieg blieb unglücklicherweise auf meiner Seite, und nun verlor Harrer das Gleichgewicht in Ausdrücken, die mich bewogen, die Vorlesungen zu verlassen und solche nie wieder zu besuchen. Bald hierauf verwies mir mein Anverwandter die Verscherzung meines[41] Glückes auf das Ernsthafteste, ohne daß ich mich dazu bereden ließ, die Sache wieder gut zu machen.
Endlich verfügte ich mich im Jahre 1765 nach Straßburg. Hier besuchte ich die Vorlesungen von Spielmann, Pfeffinger und Lobstein. Spielmanns Vorlesungen über die Pathologie nach Gaub machten auf mich, der ich wußte, daß der Lehrer nie Kranke selbst gesehen hatte, gar keinen Eindruck. Lobstein las über die chirurgischen Institutionen sehr gelehrt, aber in einem äußerst einschläfernden Tone. Hingegen gab dieser würdige Mann außerordentlichen Unterricht über Anatomie, welcher sehr fürtrefflich war. Ich übte mich sehr im Zergliedern, und ein Teil meiner Mitschüler gewann bald so viel Zutrauen zu mir, daß sie[42] mich baten, die Physiologie mit ihnen zu repetieren. Ich tat dieses unentgeltlich und lernte im Lehren noch manches. Der berühmte Lehrer Fried gab sich mit der Entbindungskunst nicht mehr ab. Ich wählte daher den Unterricht des Accoucheurs Weigen und fand bei ihm gute Gelegenheit, mich in der Geburtshilfe zu üben. Der erfahrene Leriche, Generalwundarzt der französischen Armeen, war wegen Alters außer Stand, die chirurgischen Operationen, wie gewöhnlich, vorzuzeigen. Dies bedauerte ich sehr, besuchte aber die Demonstrationen seines geschickten Sohnes über eben diesen Gegenstand.
Ich ließ mir äußerst angelegen sein, praktische Kenntnisse zu erwerben. Dazu waren zwei Wege, nämlich in dem bürgerlichen[43] und in dem Militär-Spitale. Jenes hatte zwei Abteilungen, in deren einer, ich weiß nicht in welcher medizinischen Absicht, katholische, in der anderen, protestantische Kranke behandelt wurden. Ich erkundigte mich, welcher von den beiden Spitalärzten für den geschicktesten gehalten würde. Alle Stimmen waren für den protestantischen, und ich begab mich unter dessen Leitung. Noch mehrere junge Ärzte besuchten mit mir unter diesem geschickten Arzte, Dr. Böhm, die nur allzuvielen, von ihm behandelten Kranken. Um noch mehr Gelegenheit zu meiner Vervollkommnung zu benützen, begab ich mich in das Militärspital und wandte mich da an den Dr. G., welcher öfters von dem Badischen Hofe als Arzt gebraucht worden war. Ich erhielt Erlaubnis, diesen geschickten französischen Arzt bei seinen Krankenbesuchen im Spitale zu begleiten. Er besuchte von diesen über 200. Zur rechten Seite stand ihm ein Wundarzt, zur linken ein Apotheker, dann folgte der wachhabende Krankenwärter. Die beiden ersteren führten das Verzeichnis, jener der Aderlässe, Klistiere, Blasenmittel u.s.w., dieser, der Abführungsmittel und übrigen Arzneien. Bett Nro. I. – Hier sah der Arzt links und rechts auf beide[44] geschriebenen Verzeichnisse. »Jean!« sagte er, »comment vous portez vous?« ... »Très mal, Monsieur le médecin«, war die Antwort. »Avez vous été saigné?« ... »Oui Monsieur!« – »Avez vous pris la médecine à purger?« ... »Oui Monsieur!« Mittlerweile legte der Arzt seine zwei Finger einen Augenblick auf die Pulsader und rief laut: »Saignée! Médecine évacuante!« Wundarzt und Apotheker schrieben den Befehl in aller Eile nieder, als der Arzt schon am zweiten Krankenbett stand und eben jene Fragen und Befehle wiederholte. In einer halben Stunde waren wir mit dem Besuche von allen unsern Kranken zu Ende. Die Haare standen mir bei einem solchen Verfahren zu Berge. Inzwischen kam ich drei Tage nacheinander in dieses Spital zurück. Ferner war es mir nicht möglich der Sache zuzusehen, und ich entsagte solchem Unterrichte. G. nahm mir diesen Mangel des Zutrauens so übel, daß ich bei dem Minister des Badischen Hofes der Nachlässigkeit beschuldigt wurde. Böhm ließ mir mehr Gerechtigkeit widerfahren.
Im Sommer verließ ich Straßburg. Die aufrichtige Liebe zu meiner unvergleichlichen Katisch (Katharine) hatte mich auch an diesem verführerischen Orte vor allem Verderbnis meiner Sitten geschützt. Nur für sie lebte ich, und der Gedanke, daß ich mich bloß durch Anwendung aller meiner Kräfte für die Wissenschaft ihrer würdig machen und mein Glück beschleunigen könnte, ließ mich alle, auch noch so große Schwierigkeiten glücklich überwinden. Bei einem abermaligen Besuche war sie äußerst mit meiner Bildung zufrieden, und jetzt erst erhielt ich von ihr das solange gewünschte Versprechen, daß sie, aller Hindernisse ungeachtet, die Meinige werden wollte. Wahre Liebe ist weder zudringlich, noch nachgiebig. Die unserige war so rein wie die Sonne.[45]
Jetzt begab ich mich nach Heidelberg zurück, um mich daselbst den akademischen Prüfungen zu unterwerfen. Overkamp als Dekan empfing mich sehr frostig. »Sie sind noch sehr jung«, sagte er, »um Doktor zu werden.« – »Dies bin ich leider!« antwortete ich, »aber doch vielleicht Ihres Wohlwollens, Ihrer Achtung nicht unwürdig!« – Auf jener Hohen Schule ist es üblich, der entscheidenden Prüfung ein dreistündiges Tentamen, welches meistens viel schärfer ist dann jene, vorauszuschicken. Bei diesem war ich so glücklich, Overkamp, der mir sehr zugesetzt hatte, mir wieder vollkommen zu gewinnen. Schon nach einem kleinen Stündchen hieß man mich abtreten. Wie erschrak ich ob diesem ungewöhnlichen Verfahren! Ich hielt mich für den unwissendsten, für den unglücklichsten aller Sterblichen. Nach wenigen Minuten wurde ich wieder vorgerufen, und der Dekan erklärte mir im Namen der Fakultät: »daß diese, um mich auszuzeichnen, wegen vorzüglicher Zufriedenheit mich einer weiteren Tentierung überhöbe«. Auch die entscheidende Prüfung fiel sehr zu meinem Vorteile aus. Nicht unbillig schrieb ich meinen Sieg der Liebe zu. Sie hatte, was so selten geschieht, den größten Anteil an meinem Fleiße, an meinen schnellen Fortschritten. Schon in Straßburg hatte ich meine Inaugural-Dissertation, De educatione infantum physica, geschrieben. Ich gab sie Gattenhof zur Beurteilung. Dieser lobte den Versuch, aber die Ausführung schien ihm weniger gelungen zu sein. Er versprach mir, diese Arbeit mehr ins Kurze zu bringen, und schrieb[46] die schöne Dissertation De cunis infantum, welche unter meinem Namen erschien und die ich den 26. August 1766 unter großem Zulaufe öffentlich verteidigte. In meinem zu Pavia herausgegebenen Delectus opusculorum medicorum habe ich den wahren Verfasser jener Abhandlung genannt, nichtsdestoweniger aber wurde sie späterhin in das Deutsche und vor zwei Jahren auch in das Französische übersetzt und, was ich nicht verdient habe, mir abermals zugeschrieben.
Ehe ich die Universität verließ, wurde ich vor den geheimen Rat v. Overkamp beschieden. »Sie haben«, sagte er, »eine sehr gute Anlage und eben so vielen Fleiß. Bei diesen haben Sie das Recht, sich dereinst auszeichnen zu wollen. Denken Sie daher schon jetzt auf einen Gegenstand, welchen Sie nebst Berufsgeschäften vorzüglich bearbeiten möchten. In drei Tagen erwarte ich von Ihnen die Bestimmung von jenem.« Ich entschuldigte mich mit meiner Jugend, mit meiner wenigen Kenntnis des Feldes, das einer besseren Kultur bedürfte und doch meine Kräfte nicht überstiege. Man ließ meine Entschuldigungen nicht gelten und beschied mich auf bestimmte Zeit. Wie verlegen war ich inzwischen! Ich trat ängstlich vor meinen Lehrer und sagte: daß ich alle Fächer der Wissenschaft durchgemustert hätte, ohne eines zu finden, das ich besser auszufüllen verstünde. »Ein Gedanke«, sagte ich, »hat sich mir inzwischen vorzüglich aufgedrungen. Ich sehe, daß Ärzte solche Krankheitsursachen, welche entweder ins Große auf die Völker wirken oder von der Willkür einzelner, noch so sorgfältiger Menschen nicht abhängen, selten zu heben im Stande sind. Viele davon könnten aber doch durch obrigkeitliche Vorsorge beseitigt werden. Gibt es wohl schon eine systematisch bearbeitete[47] Wissenschaft, welche die Regeln enthält, nach welchen solch ein Endzweck erzielt werden möge?« ... »Wir haben«, erwiderte der Professor, »mancherlei einzelne Verordnungen, welche hieher gehören; aber ein zusammenhängendes, wissenschaftliches Gebäude ist noch nicht aufgeführt worden. Ihr Gedanke ist daher glücklich. Wie würden Sie das Kind taufen?« ... »Medizinisch wäre einmal der Gegenstand meiner Untersuchung gewiß«, erwiderte ich; und da doch die Ausführung gemeinnütziger Gesundheitsanstalten größten Teils der Polizei eines Landes überlassen werden müßte, so schien mir der Name Medizinische Polizei der Sache sehr angemessen. Auch hiemit war mein Lehrer ganz einverstanden, und nun drang dieser noch mal ernsthaft in mich, meine Absicht ja nicht aufzugeben.
Ich begab mich jetzt zu meinen Eltern, die so vieles für mich geleistet hatten. Da auf eine Entfernung von fünf Stunden außer dem nahen Städtchen Pirmasens kein geprüfter Arzt vorhanden war, so bekam ich bald eine Menge Krankheiten unter dem Landvolke zu behandeln. Es gelang mir, mehrere sehr in die Augen fallende Zufälle glücklich zu heben, und für einen Anfänger ging es mir immer gut genug. Allein auf einem Dorfe, alles wissenschaftlichen Umganges beraubt zu leben, konnte ich mich doch nicht entschließen. Ich gab daher bei dem Markgräflich Baden-Badischen Hofe um die Erlaubnis, die Arzneiwissenschaft in der Residenz des Fürsten zu Rastatt ausüben zu können, eine Bittschrift ein. Vermutlich wegen dem schon erwähnten, mir nicht günstigen Berichte des Straßburger Militärarztes G. bekam ich zur Antwort: »daß mein Gesuch, so lange ich nicht in einem Spitale oder in einer Stadt eine Zeit lang meine Wissenschaft würde ausgeübt haben, nicht Platz[48] finden könnte«. Ich empfand das Bittere dieser Resolution und mußte mich anderswo umsehen.
Es wohnte damals einer meiner Brüder, Martin Frank, zu Bitsch in Lothringen. Dieser schrieb mir, daß in dieser kleinen Stadt nur ein und zwar der deutschen Sprache unkundiger Arzt, Dr. Landeutte, befindlich sei, und daß fast jeder dort den Wunsch hegte, daß ein deutscher Arzt bei ihnen sich niederlassen möchte. Gleich war ich entschlossen, diesem Wunsche zu entsprechen. Man empfing mich ganz höflich, aber wegen meiner Jugend konnte ich mir nicht sogleich das größte Zutrauen versprechen. Ein alter, unwissender Bader hatte sich desselben bereits so bemächtigt, daß der dortige geschickte Garnisonsarzt außer den Militärpersonen nur selten einen Kranken zu behandeln hatte. Nach einigen Wochen wurde ich vor den Lieutenant du Roi geladen und von ihm befragt: wer mir das Recht gegeben hätte, die Arzneiwissenschaften in Frankreich auszuüben? Ich bezog mich auf mein Doktors-Diplom und äußerte meine Verwunderung, daß man einem geprüften Arzte solche Frage stellte, während dem man einem unwissenden Bader die Gesundheit der Bürger anvertrauen zu können dächte. Der Lieutenant du Roi bezog sich inzwischen auf eine bestehende Königliche Verordnung und verwies mich an die Universität zu Pont-à-Mousson, wenn ich mich in Lothringen als Arzt festzusetzen willens wäre. Nicht die Prüfung, sondern die hiemit verknüpften neuen Unkosten schreckten mich ab. Inzwischen mußte ich mir die Sache gefallen lassen. Ich schätzte mich sogar glücklich, auf solche Weise früher wieder dahin zu kommen, wohin ohnedies alle meine Wünsche immer gerichtet waren. Als ich mich zu Pont-à-Mousson mit meinem Begehren an den Dekan der[49] medizinischen Fakultät, den Professor v. Jadelot, gewandt hatte, erklärte mir dieser, daß ich mich einer neuen Prüfung unterwerfen und dadurch die Doktorswürde auch auf hiesiger Universität erwerben, zugleich aber eine Streitschrift in Druck geben und öffentlich verteidigen müßte. Zur Verfertigung einer auch nur mittelmäßig guten Inauguraldissertation konnte ich mich nicht lange genug an diesem Orte aufhalten. Da ich aber von meiner in Deutschland verteidigten Streitschrift einen ziemlichen Vorrat mit mir gebracht hatte, so fiel mir ein, bloß das Titelblatt mit einer sich auf den Ort beziehenden Abänderung wieder hier abdrucken zu lassen. Der Dekan ließ das geschehen. Nun wurde ich geprüft und mit allgemeiner Zufriedenheit zur Promotion gelassen. An allen Ecken der Gassen wurde auf einem lateinisch geschriebenen Anschlagzettel der Tag bestimmt, an welchem ein Fremder der hiesigen Fakultät aggregiert werden sollte. Zur angewiesenen Stunde kam ein Universitätspedell in meine entfernte Wohnung, überbrachte mir eine lange, schwarze Toga und eine wie ein Zuckerhut geformte, oben mit einer seidenen Quaste geschmückte, ebenfalls schwarze Mütze. Da ich keinen Wagen bestellt hatte, so weigerte ich mich, mit solchem Kleide über die Straßen zu gehen. Allein meine Vorstellungen wurden verworfen. In dieser Maske ging ich, ohne eben viel Aufsehens zu erregen, in den großen Saal, in welchem ich meine Sätze verteidigen sollte. Hier fand sich, obschon zur Zeit[50] der Schulferien, eine sehr große Anzahl von Menschen jeder Gattung. Weil ich schon Doktor der Arzneiwissenschaft war, so hatte man eine doppelte Kanzel, die eine für den Präses, den älteren Professor v. Jadelot, die andere, etwas tiefer, für mich aufgerichtet. Ein Gelehrter griff einen meiner Sätze in französischer Sprache an, und da ich in dieser wohl bewandert war, so beantwortete ich ihm in eben derselben die mir vorgelegten Einwendungen bis zur gänzlichen Zufriedenheit. Es fand sich aber unter den sogenannten Corollarien, welche meiner Inaugural-Dissertation hinten angehängt waren, eines, welches die Einimpfung der Pocken betraf und das Verbot dieser Operation als zweckwidrig tadelte. Ein Ordensgeistlicher, welcher zugleich als Professor auf dieser Universität angestellt war, griff diesen meinen Satz in der nämlichen Sprache auf das heftigste an und sagte mir sehr ungestüm: »daß ich, als ein Fremder, sehr dreiste wäre, das erste Parlament in Frankreich, welches kürzlich die Blatternimpfung schärfstens untersagt hätte, eines unregelmäßigen Betragens zu beschuldigen«. Jadelot, welcher hinter mir saß, rief mir leise zu: »Nehmen Sie sich vor diesem gefährlichen Menschen in Acht!« Ich selbst sah die Bedenklichkeit meiner Lage ein und sagte meinem Gegner in dessen Muttersprache: »daß ich, grade weil ich ein Fremder sei, von diesem neuen Verbote nichts gewußt hätte und weit entfernt wäre, einen so verehrungswürdigen Gerichtshof[51] in seinen Handlungen, wenn ich sie auch innerlich nicht billigen könnte, zu tadeln«. Ich gestand jetzt der ganzen, sehr aufmerksamen Gesellschaft, daß meine Streitschrift in Deutschland, und zwar erst vor sieben Wochen, gedruckt und hier nur mit einem neuen Titelbogen versehen worden wäre, und ich bat, meine Behauptung als einen bloß medizinischen Satz zu betrachten. »Sie aber, mein Herr!« fuhr ich fort, »Sie als ein Streiter, welchem viel an seinem Siege gelegen zu sein scheint, würden sich dessen schämen müssen, wenn Sie sich mit mir nicht gleicher Waffen bedienten. Das Französische ist nicht meine Muttersprache. Lassen Sie uns also jene der Gelehrten oder die lateinische (von welcher ich wußte, daß die wenigsten französischen Gelehrten sich gerne in derselben ausdrücken) sprechen, und belieben Sie, mir Ihre bisher gemachten Einwendungen in dieser Sprache zu wiederholen!« Mein Gegner war äußerst betroffen, und er zwang sich einige fehlerhafte lateinische Worte hervorzustammeln, welche ihn der Gesellschaft, die ihn ohnedies nicht zu lieben schien, zum Gelächter machten und mir ein lautes »Vive l'Allemand«! zuwegebrachten.
Als ich dem Kollegium der Lothringischen Ärzte den 10ten Oktober 1766 einverleibt war und mich folglich nichts mehr zurückhielt, meine Wissenschaft in dieser Provinz auszuüben, so eilte ich siegend in die Arme meiner Geliebten zurück und erhielt von ihr die Erlaubnis, ihren Vater um ihre Hand zu bitten. Da dieser seine einzige Tochter glücklich wissen wollte, so gab er ihrer Zuneigung seinen Beifall. Wir kamen überein, daß dieselbe sich, bis unsere Vereinigung stattfinden könnte, nach Boucquenom in ein Frauenkloster begeben und hier in etwas mit der deutschen Sprache[52] bekannt machen sollte. Nach einigen Monaten sah ich sie wieder und, da sie in dieser schweren Sprache wenig Fortschritte zu machen schien, so wurde unsere Verehelichung ferner nicht viel verschoben, sondern auf den 26. Februar 1767 vollzogen. Ich darf mein Glück nicht erst beschreiben. Nie können Sterbliche ein höheres erreichen. Aber leider war es, wie das Glück der Menschen zu sein pflegt, von sehr kurzer Dauer.
Ich fand in Bitsch und in den umliegenden Gegenden nach und nach ziemlich viele Arbeit. Allein da ich keiner festen Besoldung genoß, so reichte der Betrag von jener zur Bestreitung meiner nötigsten Auslagen nicht hin, und ich mußte öfters zur mütterlichen Milde meine Zuflucht nehmen. Wie viele junge Ärzte, welche solcher Quellen entbehren müssen und so wie ich, ehe sie ihres Auskommens gewiß sind, zur Ehe schreiten, müssen solch eine Übereilung lebenslänglich büßen!
Ich war noch nicht ganz zwei Jahre in Bitsch wohnhaft, als ich den Entschluß faßte, in mein Vaterland zurückzukehren. Ich erhielt jetzt die Erlaubnis, mich zu Baden, in der Markgrafschaft, niederzulassen. Es fand sich in diesem Orte nur ein schon alternder Arzt, und zwar aus der Stahlschen Schule, welcher ehemals Leibarzt des Markgrafen von Baden war, sich aber seit einigen Jahren mit einer Pension hieher begeben hatte, wo er zugleich der diesem ansehnlichen Landphysikate anklebenden Besoldung genoß. Ich nahm mir vor, diesen erfahrenen Arzt, Hofrat Bellon, zu[53] gewinnen und zu meiner Vervollkommnung zu benutzen. Da derselbe aber dem Trunke sehr ergeben war, überdies aber ungerne den Eintritt eines zweiten Arztes in sein Gehege gesehen hatte, so waren anfänglich alle meine Bemühungen, dessen Freundschaft zu gewinnen, vergeblich. In kurzer Zeit erwarb ich mir das Zutrauen des hiesigen Publikums und der vielen Fremden, die zur Sommerszeit dieses berühmte Bad zu besuchen pflegten. Nach einem Jahre war Bellon ganz kindisch und beinahe unbrauchbar geworden. Der Hof übergab mir daher sämtliche Geschäfte des Landphysikats und wies mir 100 fl. von der Bellon'schen Besoldung, jedoch mit dem Vorbehalte an, daß ich deswegen bei Erledigung auf dieses Landphysikat (auf welches Dr. Glückherr, ein Hofarzt, sein Auge gerichtet hatte) kein Recht haben sollte.
Sowohl in Bitsch als zu Baden hatte ich mit unermüdetem Fleiße an meiner Vervollkommnung gearbeitet, und des Zuspruches von meinem Lehrer eingedenk, hatte ich auf mein Werk über die medizinische Polizei so wacker losgearbeitet, daß ich solches jetzt schon, und zwar in einem Bande, der Presse zu überliefern gesonnen war. Ich suchte demnach einen Verleger und dachte denselben mit meiner Arbeit zu einem reichen Manne zu machen. Maklot, Buchhändler zu Karlsruhe, sollte dieses Glück zuteil werden. Derselbe antwortete mir, er wolle vorher mein Manuskript einem sachverständigen Manne zur Beurteilung geben. Nach wenigen Wochen erhielt ich meine Arbeit mit dem Bedeuten zurück, daß der Sachverständige derselben seinen Beifall versagt habe. Was? Sachverständiger? sagte ich schamrot und warf den Brief von mir. Nach einer kleinen Pause las ich ihn fort und fand, daß der Mann, welcher[54] meine Arbeit so herabgesetzt hatte, ein vortrefflicher Staatsmann und Schriftsteller, der Badendurlachische Geheimrat Reinhard, wäre. Wie sehr wurde hiedurch mein jugendlicher Wissenschaftsdünkel gedemütigt! Diese Demütigung machte auf mich eine nur allzugroße Wirkung. Anstatt mich zu bessern, beging ich den zweiten dummen Streich: ich nahm mein verachtetes Manuskript grimmig mit zwei Fäusten, zerriß es in tausend Stücke und überlieferte diese der Flamme. Wäre es nicht gescheiter gewesen, wenn ich diese meine jugendliche Arbeit, die dann doch so gar erbärmlich nicht gewesen sein mag, aufbewahrt, in späteren Jahren wieder einmal durchgelesen und gesehen hätte, wie weit ich doch wohl vorgerückt sei? So hatte sich nämlich ein vortrefflicher Bildhauer Italiens betragen, welcher ober der Türschwelle seines eigenen Hauses einige sehr mittelmäßige Figuren angebracht hatte, die er auf mein Nachfragen für das Werk seiner Hände erklärte. Als ich ihn frug, wie er solch eine Arbeit habe aufbewahren mögen, gab er mir zur Antwort, daß der Kluge sich von Jahr zu Jahr an seinen Werken selbst messen müsse. Nebstdem war alles, was ich bisher über meinen Gegenstand gelesen und aus nützlichen Büchern für denselben ausgezogen hatte, auf immer verloren. Dies empfand ich, als ich, bei ruhigerem Blute, meine Arbeit wieder anfing. Aber so viel hatte ich mich doch gebessert, daß ich mehr als das Horazische nonum prematur in annum beobachtete und nur auf den ersten Band meiner medizinischen Polizei jetzt elf Jahre verwandte.
Der Leser verschone mich, über das schrecklichste Schicksal, welches mich jetzt treffen mußte, sich vieles sagen zu lassen. Meine vortreffliche Gattin hatte mich, elf Monate nach unserer Verehelichung, den 2. Jänner 1768 mit einem[55] Sohne beglückt. Und schon den vierten des nämlichen Monats war sie, die ich so teuer erworben hatte, nicht mehr! Ein schreckliches Kindbettfieber hatte sie gleich den ersten Tag nach ihrer Entbindung ergriffen. Es war mir unmöglich, sie selbst zu behandeln. Ein von Rastatt herbeigerufener Arzt ließ ihr, weil er die Sache für eine Entzündung der Därme ansah, zweimal die Ader öffnen, worauf sie bald aus einer Ohnmacht in die andere und endlich in den Todesschlaf verfiel. Ehe dies geschah, riß man mich von ihrer Seite, um mich in das Haus meines Freundes zu schleppen. Da ich seit drei Tagen weder gegessen noch getrunken hatte, so zwang man mich, meinem Freunde, dem Hofrat Braun, bei Tische zur Seite zu sitzen und etwas zu genießen. Kaum hatte ich den ersten Bissen zu mir genommen, als ich die Sterbeglocke anziehen hörte und auf der Stelle einen so heftigen Blutsturz durch die Nase erlitt, daß man mich als ohnmächtig zu Bette brachte. Ein aus Mangel eines Arztes eiligst herbeigerufener Apotheker reichte mir, als ich wieder in etwas zu mir gekommen war, eine starke Gabe Mohnsaftes, wovon ich in einen 36stündigen Schlaf verfiel. Diesen benützte man, die ewig Unvergeßliche zur Erde zu bestatten.
Noch blieb mir ein teueres Pfand ihrer Liebe. Nur dieses konnte mich mit dem Leben versöhnen. Die Gattin eines meiner Freunde, welche vor wenigen Tagen ebenfalls geboren hatte, erbarmte sich meines mutterlosen Sohnes und legte das Kind nebst dem eigenen an ihre Brust. Nach einem halben Jahre kam meine Mutter nach Baden und sprach mir zu, ihr die ersten Jahre hindurch meinen Sohn zu überlassen. Da sehr bösartige Pocken in der Stadt herrschten, so willigte ich ein. Auf der Reise selbst fing das Kind an, Zeichen der[56] bevorstehenden Blattern zu äußern, und es war kaum einige Tage der Ausschlag erschienen, als auch solches mir entrissen ward.
Nach den damals in Lothringen herrschenden Gebräuchen fielen die liegenden Güter der Verstorbenen, obschon ihr Kind dieselbe überlebt hatte, weil kein Ehekontrakt geschlossen worden war, weder mir, noch meinem Schwiegervater, sondern ihrer mütterlichen Familie, von welcher sie gekommen waren, zu, und nur auf die beweglichen Güter hatte ich Anspruch zu machen. Da nun mein alter Schwiegervater dadurch in große Verlegenheit gesetzt wurde, so trat ich ihm mein Recht auf die letzteren in dem tröstlichen Gedanken, daß ich so das Andenken seiner Tochter am besten verehrte, freiwillig ab.
Eine geraume Zeit hindurch war ich außer Stande, meine Arbeiten fortzusetzen. Unter solchen Umständen erhielt ich, nebst dem Hofrat Dr. Bellon und dem Hofmedikus Dr. Glückherr von Rastatt, den Befehl, mich in das naheliegende Städtchen Gernsbach (in der Badischen Grafschaft Eberstein) zu begeben und eine dort herrschende, sehr gefährliche Seuche zu untersuchen. Nach Vollziehung dieses Auftrages gingen wir nach Rastatt, um daselbst mit den Leibärzten des Fürsten über diese Seuche zu sprechen und sodann unser Gutachten hierüber der Regierung gemeinschaftlich abzuliefern. Wegen Krankheit des Markgrafen konnten sich erwähnte Ärzte nicht früher dann des anderen Tages mit uns unterreden. Bei dieser Gelegenheit konnte ich mich überzeugen, daß Feindschaft und Freundschaft unter Menschen oft auf sehr schwankenden Gründen beruhen. Dr. Bellon hatte mir seit meiner Anwesenheit in Baden manche Beweise seiner Abneigung gegeben, die ich[57] auf keine Weise zu überwinden vermochte. Da wir nun jene kleine Reise ohne Bedienten unternommen hatten und zu Rastatt in einem Gasthofe übernachten mußten, so wußte sich Bellon, welcher einer großen Pflege gewohnt war, beim Ausziehen seines am Halse fest zugeknöpften Hemdes nicht selbst zu befreien. Ich eilte ihm zu Hilfe und brachte den schwächlichen Alten sorgfältig zu Bette. Für diese so kleine Gefälligkeit umhalste er mich jetzt, bekannte seinen Fehler gegen mich, bereute ihn und versicherte mich seiner unverbrüchlichsten Freundschaft. Den folgenden Morgen ward er wie vom Heimweh befallen, und da die Leibärzte noch nicht mit uns zusammentreten konnten, so eilte er, obschon der Bericht wegen der Gernsbacher Seuche noch nicht entworfen war, nach Hause. Ich ersuchte ihn, seine bisher noch nicht geäußerte Meinung wenigstens schriftlich zurückzulassen. Er schrieb, und als er schon abgereist war, las ich von ihm Folgendes: »Ich Endesunterzeichneter bekenne, daß ich der nämlichen Meinung bin als Doktor Frank.«
Nachdem wir Ärzte unseren Bericht der Regierung überreicht hatten, erhielt ich von dieser den Befehl, mich nach Gernsbach zurückzubegeben, so lange die Seuche anhalten würde, daselbst zu verbleiben und die Kranken zu bedienen. Dieses tat ich mit vielem Eifer und mit so glücklichem Erfolge, daß ich sechs Wochen hindurch nur drei meiner Kranken verlor, wo vor meiner Ankunft täglich so viele an der Seuche verstorben waren. Nach einem so langen Aufenthalte wurden mir sechs Louisd'or zur Belohnung großmütig ausgeworfen!! Tisch und Wohnung hatte ich inzwischen frei genossen. Die von mir behandelte Krankheit bestand in einem gefährlichen, sogenannten Faul-oder[58] Nervenfieber mit Petechien und Frieselausschlage. Da sich in derselben gleich anfänglich die größte Entkräftigung äußerte, so bediente ich mich gleich in den ersten Tagen der reizenden Heilart. Kaum hatte ich mich 10 Tage mit diesen Kranken beschäftigt, so ward ich selbst von der Seuche ergriffen. Da ich vorhin, meine Gemütskrankheit abgerechnet, vollkommen gesund war, so bediente ich mich ohne Zeitverlust der Sydenhamischen Methode. Ich nahm ein Brechmittel, begab mich zu Bette, trank warmes, flüchtiges Getränk und, was jetzt gut Brownisch heißen würde, eine Flasche Burgunderweins. Bald stellte sich, da ich mich wohl zugedeckt hatte, ein allgemeiner Schweiß ein, welchen ich 48 Stunden unterhielt. Den dritten Tag war ich ganz fieberfrei. Ein Abführungsmittel, welches ich jetzt nach Sydenhams Rate nehmen sollte, schien mir auch damals nicht angezeigt.
Im Jahre 1769 starb der Landphysikus Dr. Bellon, und dessen Stelle ward jetzt dem Badischen Garnisons- und Hofmedikus Dr. Glückherr zuteil. Der regierende Markgraf ernannte mich zum Nachfolger von diesem, indem sich aber eine vornehme Dame für den Dr. Bierenstiel in Rastatt sehr dringend verwandt hatte, teilte der Fürst die von Glückherr besetzten Ämter und gab jenem geschickten jungen Arzte die Garnisons-, mir aber die Hofmedikusstelle mit nur 200 fl. jährlicher Besoldung. Im Spätjahr zog ich also nach Rastatt. Mit den Wissenschaften sah es noch sehr finster hier aus,[59] während dem dieselben in dem nahen Karlsruhe blühten. Die fürstliche Bibliothek war an alten Büchern ziemlich reich; aber seit vielen Jahren war nichts mehr auf dieselbe verwendet und der Zutritt sogar verschlossen worden. Der Beichtvater der regierenden Fürstin, P. Lambla, führte die Aufsicht über diese Büchersammlung. Auf mein Ansuchen erhielt ich von ihm zwar die Erlaubnis, diesen Schatz zu benützen, mußte aber jedesmal um die Schlüssel hiezu schicken, ohne solche, so oft ich es wünschte, erhalten zu können. Inzwischen ließ ich mich durch diese Hindernisse nicht irre machen, und nie habe ich an einem einsameren und stilleren Orte meine freien Stunden als in dieser Hofbibliothek verlebt. Die neueren Schriften mußte ich mir für mein eigenes Geld verschaffen, wozu mir freilich meine schmale Besoldung keinen wichtigen Beitrag lieferte. Zwischen Dr. Bierenstiel und mir herrschte ein uns beiden sehr vorteilhafter Wetteifer, und wir wechselten untereinander die Bücher, die wir uns anschafften. Als wenn es mir vorgegangen wäre, daß ich dereinst in Italien angestellt werden sollte, nahm ich hier einen italienischen Sprachmeister und hielt mir die Florentinische Zeitung, um mich in Stand zu setzen, die Schriften italienischer Ärzte zu lesen. Zu seiner Zeit kam mir dieser Unterricht sehr gut zu stehen. Da die beiden Leibärzte des Markgrafen, DDr. v. Troxelle und Wolff, wegen einer bei Hof geahndeten Mitteilung ansteckender Übel nur wenige Kranke besuchen konnten, so nahmen die meisten derselben ihre Zuflucht endlich zu mir, und sowohl in der Stadt als auf dem Lande war ich äußerst beschäftigt. Doch bediente ich mich öfters des Beirates dieser beiden schon älteren Praktiker. Als ich in dem ersten Jahre meiner jetzigen Anstellung zu einem Bürger gerufen[60] wurde, den vorhin Dr. Troxelle sehr lange an einer allgemeinen Wassersucht umsonst behandelt hatte, als mit welcher es jetzt bis aufs Äußerste gekommen war, so wollte ich dem Kranken ohne Vorwissen seines Arztes keine Mittel verschreiben. Ich begab mich daher zu Troxelle, welcher den Kranken nach den damaligen Begriffen von der Wassersucht, und weil solcher eine sehr blaßgelbe Farbe hatte, beständig mit Mittelsalzen, auflösenden, gelinde abführenden und harntreibenden Mitteln behandelt hatte. Troxelle riet mir, die eben erwähnten Arzneien noch immer fortzusetzen. Ich erwiderte, daß diese Wassersucht von einem vernachlässigten viertägigen Fieber erzeugt worden sei und daß es mir schiene, daß, weil dieses Wechselfieber noch immer, obschon um vieles schwächer, sich äußerte, nur dieses vorerst gehoben werden müßte und sodann auch dessen unmittelbare Wirkung, die Wassersucht, gehoben werden dürfte. »Sie werden«, sagte Troxelle, »mit der China, die Sie geben wollen, den Wolf in den Stall sperren und die Verstopfungen der Eingeweide vermehren!« – »Aber sind diese«, erwiderte ich, »auch wirklich vorhanden? Und wenn sie vorhanden sind, dürften sie nicht, so wie die Wassersucht, eine Wirkung der Schwäche oder des Fiebers sein und die nämliche Heilart wie dieses erfordern?« Dieses Urteil war als schulwidrig (Troxelle hatte in Frankreich seine Wissenschaft erlernt) verworfen. Da ich aber einsah, daß der Kranke bei der bisherigen Heilart bald sterben würde, so gab ich ihm dennoch die so gefürchtete Chinarinde und hatte das Glück, denselben in 14 Tagen vollkommen herzustellen. Dieser Fall überzeugte mich, daß die gesunde Vernunft mit der so hoch gepriesenen Erfahrung nicht im Widerspruch stehe und daß man eben nicht immer einen[61] grauen Bart haben müsse, um sich jener zu bedienen. Bald wurde ich zu einem berühmten und bei Hof sehr beliebten Ballettmeister, einem Italiener (Curioni), gerufen. Dieser war von einer äußerst gefährlichen Ruhr ergriffen worden. Da ich die Bauchschmerzen so wie den Zwang sehr heftig, den Puls aber sehr hart und gespannt antraf, so ließ ich in drei Tagen fünfmal zur Ader und gab keine Abführungs-, sondern bloß schleimichte, sehr sanfte Mittel. Ärzte und Publikum schrien überlaut wegen solch einer Heilart. Es war um meine anfangende Reputation geschehen, wenn der Kranke ihnen zu Gefallen gestorben wäre, aber der selbe genas auf das glücklichste, und bald darauf kam von Straßburg die Nachricht, daß daselbst eine Menge Menschen ein Opfer der Ruhr geworden wären; daß diese aber, welche von einem Entzündungsfieber begleitet sei, jetzt bei den meisten durch Aderlassen und durch schwächende Mittel gehoben würde. So wurde ich auch diesmal durch die Erfahrung überführt, daß, wenn wir es bei einer so unvollkommenen Wissenschaft, als es die Arzneiwissenschaft ist, immer beim Alten belassen wollten, dieselbe wohl nie die mögliche Würde erreichen dürfte.
Da die Entbindungskunst hier von keinem Wundarzte, viel weniger von Hebammen erlernt worden war, so fand ich mich gezwungen, in schweren Fällen selbst Hand anzulegen. Auf Verlangen des Fürsten entwarf ich einen Plan zum Unterricht der Hebammen und Wundärzte in den Baden-Badischen Landen. Er wurde aber nicht ausgeführt, obschon derselbe späterhin der Aufmerksamkeit der Baden Durlachischen Regierung nicht entgangen ist.
Im Jahre 1770 wurde ich von meinen Anverwandten und Freunden, indem sie sahen, daß sich mein kleines Vermögen[62] aus Mangel der Aufmerksamkeit und weil ich von meinem Bedienten bestohlen wurde, versplitterte, aufgerufen, mich wieder zu verehelichen. So wenig noch mein Gemüt für eine neue Verbindung gestimmt sein mochte, so gehorchte ich doch diesem Rate und schritt am 12. Juni mit Marianne Wittlinsbach, einer Tochter des Oberamtsschreibers zu Rastatt, zur Ehe. Bald wurde ich von einem ansteckenden Fieber befallen. Ich kam darin bis zum Äußersten, so daß ich am Ende dieser Krankheit vier Stunden lang im Zustande eines Scheintoten liegen blieb. Kurz vorher, als ich dem Minister wegen meiner geringen Besoldung einige mündliche Vorstellungen machte, fragte mich derselbe, ob ich wohl den berühmten alten Dr. Wepfer aus der Schweiz kenne? »Nur dem besten Rufe nach«, sagte ich. »Nun«, erwiderte er, »ich habe diesen berühmten Mann einst befragt, warum die kleine Schweiz verhältnismäßig mehr angesehene Ärzte als andere weit größere Länder liefere? Und er hat mir geantwortet: ›weil die Schweiz 100 junge Ärzte zusammennehme und dann 75 vor Hunger sterben ließe, wonach dann die übrigen 25 so ziemlich gute Ärzte würden‹.« Ich bat den Minister, mit mir keinen dergleichen Versuch anzustellen, und war der Meinung, daß durch solchen doch manches nützliche Talent erstickt werden dürfte. Nach jener heftigen von mir überstandenen Krankheit[63] wurden mir 100 fl. Zulage an meiner Besoldung angewiesen.
Inzwischen war mein 80jähriger Vater verstorben. Ich hatte das Glück gehabt, einige Jahre vorher denselben, da er von einem eingeklemmten Leistenbruche die größte Lebensgefahr lief, zu retten, und damals hatte er mir auf seine Weise gesagt: »daß er jetzt überzeugt wäre, daß an der Profession, die ich erlernt hätte, etwas sei«. Den Tod meiner ersten Gattin hatte er mit der größten Bestürzung vernommen: »So ein schönes, so ein vollkommenes, junges Weib«, rief er aus, »muß ich alter, zu allem schon unnützer Mann überleben!« In seinem Testament befahl er, daß ich nur sodann mit meinen sechs Geschwistern an seiner Hinterlassenschaft teilnehmen sollte, wenn die Summe, die ich ihn gekostet hätte, geringer wäre dann jene, welche jedem seiner übrigen Kinder zuteil werden könnte. Nach den Landesgesetzen konnte ich mich dieser letzten Verfügung widersetzen. Allein ich wußte, daß mein Vater billig war. Ich verehrte dessen Befehl und setzte meinen Geschwistern bloß das Bedingnis, daß sie das Erbteil ohne Zwistigkeit teilen möchten. Nicht lange nach diesem Verlust folgte auch jener meiner vortrefflichen Mutter und erfüllte meine Seele mit dem bittersten Grame.
Im Jahre 1771 fing die Gesundheit des regierenden Markgrafen August, des letzten Fürsten von der Baden-Badischen Linie, an zu wanken, und es äußerten sich an ihm Spuren der Wassersucht. Die Leibärzte erhielten, als die Krankheit schon sehr zugenommen hatte, von dem Minister den Befehl, auch mich zu Rat zu ziehen. Obschon solche aber mit mir auf ziemlich freundschaftlichem Fuße standen, so weigerten sie sich dennoch, ich weiß nicht aus welchen[64] politischen Ursachen, diesem Befehle zu gehorchen. Endlich wurde auf meine Herbeirufung strengstens gedrungen. Man mußte gehorchen. Aber den kranken Fürsten durfte ich unter dem Vorwand, daß er sein Übel für gefährlicher halten und erschrecken würde, nicht gehen. Man schützte das Nämliche vor, als man auch den von Mainz herbeigerufenen Professor nicht vor den Fürsten lassen wollte, und es war an dem, daß dieser berühmte Arzt wegen solch einer Beleidigung wieder nach Mainz zurückkehren wollte, als endlich die regierende Fürstin den Befehl erteilte, uns, auch ohne Zutun der Leibärzte, zu ihrem kranken Gemahle einzuführen. Der Markgraf empfing uns auf das Beste und machte mir einen Vorwurf, daß ich ihn nicht früher in seiner Krankheit besucht hätte. Wir fanden, daß es mit der Krankheit sehr weit gekommen war und keine Hoffnung zum Aufkommen mehr übrig blieb. Inzwischen lag viel daran, das Leben des Fürsten, so lange es nur möglich war, zu fristen. Bei allem Leiden blieb der Kranke doch ziemlich munteren Mutes. Als wir denselben verließen, hörte ich ihn zu einem Vertrauten lachend sagen: »Nun will ich doch hören, was diese fünf Blutrichter über mich verhängen werden!« Da die harntreibenden Mittel nicht wirken wollten, die beiden Leibärzte aber wechselseitig die Nachtwache bei ihm hielten und der Kranke gerade in der Nacht mehr Harn gelassen hatte, in welcher Dr. Wolff bei ihm geblieben war, so bat der Markgraf diesen jungen Leibarzt: »er möchte doch seinem alten Kollegen, Dr. Troxelle, von diesem Umstande nichts sagen, weil es ihn verdrießen könnte, daß er bei einem Leibarzte mehr dann bei dem anderen geharnet hätte«. Die berühmtesten Ärzte Deutschlands und Frankreichs waren um ihren Rat ersucht und nebst[65] Strack die Doktoren Ehrmann und Böhm von Straßburg sowie Dr. Cohausen von Koblenz und Dr. Glückherr von Baden herbeigerufen worden. Cohausen, obschon er bereits mehr als 80 Jahre zurückgelegt hatte, besaß noch alle Kräfte des Geistes und eine sehr seltene Erinnerung von allem, was er je gelesen oder selbst beobachtet hatte. Ehrmann war der erste praktische Arzt von Straßburg. Diese beiden alten Ärzte, sowie Strack aus Mainz, beehrten mich mit ihrer Freundschaft und unterhielten sich oft stundenlang über wissenschaftliche Gegenstände. Ich benützte, so viel ich konnte, die Gesellschaft so erfahrner Männer. Wir speisten täglich zusammen, und es stand uns eines Tages bevor, auch zusammen zu sterben, wenn ich nicht in Zeiten das Unglück verhütet hätte. Es wurde uns nämlich eine silberne Platte voll der schönsten Forellen aufgetischt. Diese lagen in einer grasgrünen Brühe, die ein jeder von Kerbel oder von einer anderen syrischen Pflanze so gefärbt worden zu sein glaubte. Mir ahnte, daß diese Fische des Abends vorher mit Essig abgesotten wurden, auf dieser Platte die Nacht hindurch gestanden und von Grünspan gesättigt sein dürften. Meine Ahnung wurde bei näherer Untersuchung vollkommen bestätigt,[66] und für diesmal mußte die Hochlöbliche Fakultät auf einen guten Bissen Verzicht tun.
Da ich mich einst bei dem kranken Fürsten allein zugegen fand, befahl er mir, ihm mit aller Aufrichtigkeit und nach meinen Pflichten zu sagen, ob zu seinem Aufkommen noch Hoffnung vorhanden sei. Ich trug kein Bedenken, ihm, dessen männlichen Charakter ich kannte, zu gestehen, daß nichts mehr zu hoffen und sein Ende sehr nahe sei. Dankbar drückte er mir die Hand: »il le faut une fois«, sagte er, und von diesem Augenblick schien er seinem Schicksale gleichgültig entgegen zu sehen. Nach wenigen Wochen, den 21. Oktober 1771, beschloß der kranke Fürst sein Leben. Ich öffnete mit Tränen in den Augen dessen Leiche und fand eine fast gänzliche Verknöcherung der großen Schlagader und ihrer Hauptäste bis zu ihrer Abteilung in die Schenkelschlagadern. Hievon gab ich dem berühmten Tissot, dessen Nachfolger ich fünfzehn Jahre später auf der Hohen Schule zu Pavia noch werden sollte, Nachricht und schrieb ihm: daß nicht nur der bloß 54jährige Bruder dieses Fürsten, sondern auch dessen erst 9jähriger Erbprinz an gleicher Verknöcherung der großen Gefäße gelitten hätten. Mich wunderte nicht wenig, in der Antwort von Tissot zu finden, daß der Markgraf, wenn er gleich anfänglich richtig behandelt worden wäre, mit der Verknöcherung noch lange hätte leben können.
Den 23. Dezember 1771 wurde meine Gattin von meinem ersten Sohne, Joseph, entbunden.[67]
Am 1. April 1772 wurde das ganze Dienstpersonal des entseelten Markgrafen bis auf vier oder fünf Beamte in Pensionsstand versetzt. Ich meines Orts erhielt mit Beibehaltung des Charakters eines Hofmedikus eine Pension von jährlich 75 Gulden. Nach kurzer Zeit wurde ich abermals, und zwar als Vorsteher des Hebammenwesens in einem Teile des zugefallenen Badischen Landes, angestellt. Solch einem Amte konnte ich nicht lange bei jenem eines praktischen Arztes vorstehen. Da aber der alte Geheime Rat und Leibarzt Cohausen bei seiner Rückreise nach Koblenz dem Fürstbischöfe von Speyer, Grafen von Limburg-Styrum, welchem er schon lange bekannt war, mich besonders anempfohlen hatte, so wurde mir bald darauf die Stelle eines Stadt- und Landphysikus in Bruchsal mit einer Besoldung von 400 fl. und dem Hofrats-Charakter angetragen. Ich nahm diesen Ruf an und verließ mein Vaterland, welchem ich so gerne mein ganzes Leben gewidmet hätte.
In Bruchsal hatte ich das Garnisonsspital, ein in Altenbürg, eine halbe Stunde von der Stadt befindliches Versorgungshaus für alte, gebrechliche Menschen, das beträchtliche Zuchthaus, die Gefängnisse und sämtliche arme Kranke unentgeltlich zu bedienen. Zu dem Landphysikate gehörten übrigens noch 36 Ortschaften. Ich war vergnügt, mich in einer Stelle zu sehen, die mir so viele Gelegenheit zur Ausübung meiner Wissenschaft darbot und welche vor langem auch von meinem unvergeßlichen Lehrer, dem Professor[68] Gattenhof, mehrere Jahre hindurch verwaltet worden war. Kaum war ich anderthalb Jahre in Bruchsal, als mir unter der Hand das Kurpfälzische Landphysikat zu Bretten und die Stelle eines Arztes in dem nahen Bade zu Zeisenhausen mit 800 fl. Gehalt angetragen wurde. Der Fürst von Speyer wurde der für mich vorteilhaften Unterhandlung gewahr, schrieb, um diese zu unterbrechen, an den Kurfürsten von Pfalz und erhöhte meine Besoldung mit 200 fl. jährlich. Nach wenigen Monaten verließ der Fürstlich Speyersche Geheime Rat und erste Leibarzt, Dr. Brodbeck, ein sehr geschickter Mann, seine Stelle, und diese wurde nun von dem Fürstbischöfe mir angeboten. Da ich jetzt in dem besten Alter war, um mich durch tägliche Erfahrung am Krankenbette zu vervollkommnen, so gestand ich dem Fürsten, daß ich diese Stelle nicht annehmen könnte, wenn mir nicht gestattet werden wollte, nebst ihn auch das hiesige Publikum noch ferner zu bedienen. Auch dieses wurde mir zugestanden, und ich erhielt jetzt nebst einer freien Wohnung, nebst freier Kost, 22 Malter Getreides, zwei Fuder Weins und eine Besoldung von 800 fl. Zugleich wurde ich zum Arzte der hiesigen Salzsiederei ernannt.
Am 6. Jänner 1774 wurde mein zweiter Sohn, Franz, geboren. Da mir der Fürstbischof bei meiner Ernennung zu seinem Leibarzte überließ, meinen Nachfolger im Stadt- und Landphysikat zu Bruchsal zu bestimmen, so erhielt mein Freund, Dr. Bierenstiel von Rastatt, diese Stelle.
Da in dem Fürstentum Speyer nur eine unterrichtete Hebamme, und zwar bloß für Bruchsal, vorhanden war, so lag[69] dem Fürstbischöfe am Herzen, das Hebammenwesen im ganzen Lande zu verbessern. Zu solchem Ende entwarf ich einen Plan und führte ihn als Lehrer der Entbindungskunst während mehr dann neun Jahren auf das glücklichste aus. Vor Errichtung dieser Schule und in den ersten Jahren starb unter 85 Schwangeren, Gebärenden und Wöchnerinnen eine; als aber die meisten Hebammen unterrichtet waren, starb von 125 derselben ebenfalls nur eine.
Ich war noch kein Jahr Leibarzt des Fürsten, als derselbe mir entdeckte, daß er schon mehrere Monate her mit einer Wassersucht der Scheidehaut einer Geile oder mit einem unrecht so genannten Wasserbruche behaftet sei. Da ich zur Heilung dieses Übels durch innerliche Mittel keine Hoffnung äußerte und wegen der äußersten Reizbarkeit des ohnedies kränklichen Fürsten eine sogenannte Radikalkur nicht vorschlagen wollte, auch deswegen nur das Abzapfen der Feuchtigkeit als bloßes Palliativmittel angeraten hatte, so wollte sich der Kranke, auch gegen meine Meinung, dem Schnitte unterwerfen. Ich bat um Beratschlagung berühmter[70] Ärzte. Von diesen wurde jene Operation gebilligt und auch bald darauf durch den Kurpfälzischen Leibwundarzt Winter vorgenommen. Da die sonst gesunde Geile von einigen kleinen Wasserbläschen besetzt war, so befahl der Kranke, so viel ich auch dagegen laut erinnerte, diesen Teil abzusondern, und der Wundarzt mußte gehorchen. Die Heilung war mit schweren Zufällen begleitet. Kaum fing aber der Kranke an zu genesen, so stellte sich auf der geschlossenen Narbe ein häufiger Ausfluß eines wässerigen Stoffes ein, wobei sich die Kräfte des Fürsten zusehends vermehrten. Nichtsdestoweniger wollte dieser jenen Ausfluß unterdrückt wissen, und da ich mich hiezu drum nicht gebrauchen lassen wollte, weil mir bekannt war, daß der Fürst ehemals sehr viel an Flechten gelitten hatte und bei deren Verschwinden immer von mancherlei Nervenübeln geplagt wurde, so bediente er sich eines elenden Dorfbarbiers, welcher dem Ausflusse durch trockene Mittel in wenigen Tagen ein Ende machte. Bald darauf erfolgte eine Leberentzündung, und als ich diese geheilt, der Genesene aber sich mancherlei Krankheitsursachen neuerdings ausgesetzt hatte, so verfiel derselbe in eine sehr schreckhafte Sinneszerrüttung. In einem Anfalle von dieser war er an dem, daß er sich durch ein hohes Fenster herabstürzte; ich hielt ihn mit Gefahr meines Lebens zurück. Nach mancherlei Auftritten dieser Art fand das Domkapitel zu Speyer für notwendig, eine Deputation nach Bruchsal zu schicken und mir eine Erklärung über den Zustand des Fürstbischofs abzufordern. Ich gab diese dahin, daß der Kranke zwar an Sinnesverrückung litte, daß diese aber mehr eine Folge vorausgegangener Krankheiten und Unordnungen in der Lebensart dann eine ursprüngliche Manie sei und, wie ich[71] mir schmeicheln dürfte, geheilet werden könnte. Der Erfolg lehrte nach einigen Monaten, daß mein Urteil über diese Krankheit, die endlich ganz gehoben worden war, auf guten Gründen beruhet hatte. Jetzt wurde ich zum fürstlichen Geheimen Rat ernannt, meine Besoldung aber um 200 fl. erhöht.
Bald nachher stiftete der Fürstbischof in Bruchsal ein kleines Spital und übergab solches der Bedienung von Barmherzigen Brüdern. Sowohl über dieses Spital als über ein ähnliches zu Deidesheim auf dem linken Rheinufer erhielt ich die medizinische Direktion und neuerdings eine Zulage von 200 Gulden. Späterhin wurde ich zum Mitgliede einer zum Vorteile der frommen Stiftungen niedergesetzten fürstlichen Kommission ernannt.
Da nun ein wohleingerichtetes Spital zu Bruchsal vorhanden und demselben in der Person des B. Joachim Wrabecz ein vortrefflicher Wundarzt zugegeben worden war, so benützte ich diesen Umstand und schlug dem Fürsten vor, zum Vorteile der Landchirurgen anatomische und chirurgische[72] Vorlesungen in diesem Krankenhause halten zu lassen. Mein Plan wurde genehmigt, und Wrabecz übernahm dieses Geschäft mit bestem Erfolg. Ich selbst legte Hand an, übte die Schüler zugleich in der Zergliederungskunst und legte mit jenem Lehrer den Grund zu einem pathologischen Museum in Bruchsal. Da nun auch physiologische Vorlesungen unseren jungen Wundärzten viele Vorteile versprachen, so gab ich ihnen diese täglich zu einer bestimmten Stunde, mehr als sieben Jahre hindurch. Auch führte ich meine Zuhörer zur Sommerzeit beinahe jede Woche ein- oder zweimal zum Botanisieren in die benachbarten Gegenden. Endlich erhielt ich auch von dem Fürstbischöfe einen Garten, in welchem ich die offiziellen Pflanzen und andere mehr erziehen ließ und jungen Wundärzten die Grundsätze der Pflanzenlehre drei Jahre hindurch erklärte.
Seit meinem Aufenthalte in Bruchsal benutzte ich dort fleißig eine durch den Kardinal Fürst v. Hutten von dem berühmten Pistorius in Würzburg erkaufte, nicht unansehnliche und in dem Seminar aufgestellte Bibliothek. Obschon nun in dieser wenige oder gar keine medizinischen Bücher vorhanden waren, so fand ich doch in den vielen klassischen Werken und in andern, größtenteils die Geschichte und die Gesetzgebung betreffenden Schriften, besonders aber in einer vortrefflichen Sammlung der Streitschriften verschiedenen Inhalts, einen großen Schatz für meine medizinische Polizei. Was mir bei dieser Arbeit und bei einer sehr ausgebreiteten medizinischen Praxis an Zeit[73] übrig blieb, das brachte ich in Gesellschaft meiner guten Schwester (Maria Magdalena Frank, Gattin des Fürstlich Speyerschen Regierungssekretärs Lippert) und in jener von zwei unvergeßlichen Freunden, dem jetzigen Geheimen Rat Oehl und dem mir inzwischen durch den Tod entrissenen Hofkammerrat Niesen (dem Verfasser der Algebra für Sehende und Blinde) und dessen vortrefflichen Gemahlin zu.
Im Jahre 1776 ließ ich, ohne Beisetzung meines Namens, zu Mannheim bei Schwan folgendes Werkchen drucken:
1. Sendschreiben eines Rheinischen Arztes über einige von dem Kollegium der Ärzte zu Münster aufgestellte Grundsätze.
Bald darauf ließ ich diesem ein anderes, in lateinischer Sprache geschriebenes folgen, nämlich:
2. Joannis Petri Frank, M.D. Consiliarii Aulici ac Archiatri Spirensis, Epistola invitatoria ad Eruditos, de communicandis, quae ad Politiam medicam spectant, Principum ac Legislatorum Decretis. Mannhemii apud Schwan 1776. 8 vo.
Nach Erscheinen dieser Schrift las ich in einem gelehrten Journal das darüber gefällte Urteil. Der Rezensent lobte den Plan, nach welchem ich meine medizinische Polizei angekündigt hatte, aber er zweifelte, ob ein Mann einem solchen gewachsen wäre, besonders da derselbe in Bruchsal lebte und sich keiner öffentlichen Bibliothek, wie die zu Göttingen ist, bedienen könnte. Auch dieser Einwurf sollte mit der Zeit gehoben werden. Im Ganzen erhielt ich von auswärtigen[74] Ärzten nur wenige Beiträge. Hofrat Grüner aus Jena und Professor Platz aus Leipzig haben mir wichtige Schriften mitgeteilt.
Die unter dem Hornvieh und bald nachher auch unter den Pferden herrschenden Seuchen gaben mir Anlaß, manche pathologische Zergliederung dieser Tiere vorzunehmen. Das herrschende Vorurteil machte, daß, als ich, um eine Schimmelstute, die beim Gebären ihr Leben verloren hatte und jetzt in einem nahen Walde von dem Abdecker verscharrt werden sollte, zweckmäßig zu öffnen, das stärkere Messer von diesem verlangte, derselbe mich wohlmeinend bat: »hiedurch doch ja meiner Ehre nicht zu schaden«! Eben solch ein Vorurteil hätte beinahe die einzige wohl unterrichtete Hebamme in Bruchsal zu Grund gerichtet. Aus Mitleid für eine arme Familie hatte sich nämlich jene dazu verstanden, das einzige Vermögen von dieser, eine Kuh, die ihr Kalb nicht gebären konnte, nächtlicher Weile zu retten. Kaum erfuhr man diese Geschichte in der Stadt, als beinahe kein Weib mehr dieser Hebamme sich bedienen wollte. Ich bewog den Fürsten, daß er ihr für ihre gute Handlung eine Belohnung erteilen ließ.[75]
Im Jahr 1779 gab ich den ersten Band von folgendem Werke heraus:
3. Johann Peter Frank's, M.D. Hochfürstlich Speyerschen Geheimen Rat und Leibarztes, System einer vollständigen medicinischen Polizey. I. Band. Mannheim bei Schwan 1779. 8 vo.
Da dieses Werk auf mein Schicksal keinen geringen Einfluß gehabt hat, so glaube ich, einige Umstände, die sich auf dasselbe beziehen, nicht vorenthalten zu müssen. Als ich das Manuskript zu diesem ersten Bande fertig hatte, bat ich den Fürstbischof von Speyer, der überhaupt auf gelehrte Arbeiten keinen hohen Wert setzte, mir einen Zensor für dasselbe anzuweisen. Hiezu wurde der Geistliche Geheime Rat Schmidt, Bischöflich-Speyerscher Generalvikar (jetziger Weihbischof), ein sehr gelehrter, vortrefflicher Mann, welcher ehemals noch als Jesuit viele Jahre hindurch in Heidelberg als Lehrer des kanonischen Rechtes gestanden hatte, erkoren. Dieser, als er mein Manuskript bedachtsam durchgelesen hatte, gab mir das schriftliche Zeugnis: »daß dasselbe nichts enthielte, was den guten Sitten, der Religion oder der Staatsverfassung zuwider wäre«. Zugleich aber sagte mir dieser weltkundige Mann manche Folgen dieser meiner Arbeit vor, ohne daß diese mich abzuschrecken im Stand gewesen wären. Nun übergab ich mein Manuskript der Presse. Kaum war der letzte Bogen davon abgedruckt, als ein Frankfurter gelehrtes Journal dasselbe auf eine solche Art ankündigte, daß ich wohl sah, daß der Rezensent nur die Seiten-Noten meines Werkes gelesen hatte. Sogleich entstand Lärmen. Der Verleger schrieb mir, daß das Werk, allem Ansehen nach, bei seiner ersten Erscheinung verboten werden würde und daß man an gewissen Orten von amtswegen[76] dasselbe auf das genaueste zergliederte. Ich wußte mich keines Vergehens schuldig, war durch die Zensur gedeckt und erwartete den Ausgang der Sache ganz ruhig. Es verging ein Jahr, ehe ich gewahr wurde, daß dieses Buch auf jemand einen anderen dann seinem Verfasser günstigen Eindruck gemacht habe. Dann aber wurden mir von dem Fürstbischöfe Vorwürfe gemacht, die mich denselben um meine Entlassung aus den Speyerschen Diensten zu bitten verleiteten. Diese wurde mir nicht zuteil. Ich erfuhr, daß die mir gemachten Vorwürfe aus einer fremden Quelle geflossen wären. Der Bischof, dem ich dreimal das Leben gerettet hatte, versicherte mich seiner Zufriedenheit, und ich blieb mit dem Vorbehalte, mein Werk fortsetzen zu können, bei meiner Stelle.
Als die erste Auflage desselben schon im ersten Jahre seines Erscheinens vergriffen war, ohne daß ich inzwischen etwas Merkliches abzuändern oder hinzuzusetzen gefunden hätte, so wurde dieser Band, nur mit einer zweiten Vorrede versehen, wieder bloß abgedruckt.
Inzwischen lieferte ich zu Dr. Joh. Christian Ferd. Scherf's Archiv der medicinischen Polizey und der gemeinnützigen Arzneykunde einen kleinen Aufsatz:
4. Etwas über die Zwistigkeiten der Ärzte und ihre Ursachen, welcher Aufsatz in dem ersten Bande jenes nützlichen Werkes, S. 133, eingerückt worden ist. In eben diesem Bande, S. 151, steht auch:[77]
5. Das Hochfürstlich Speyersche Mandat zur Verhütung der Hundswuth. Bruchsal 1779, dessen medizinischer Teil mich zum Verfasser hat.
Auch befindet sich von mir in Reinhard's medizinischem Wochenblatte für Ärzte, Wundärzte und Apotheker, I. Jahrgang von 1780, S. 221, eine Kurze Beschreibung einer thierischen Mißgeburt.
Im Jahr 1780 erschien von mir:
6. System der medicinischen Polizey, II. Band. Mannheim bei Schwan 1780. 8 vo.
Die Witwe des regierenden Markgrafen von Baden-Baden, geborene Herzogin von Aremberg, hatte ihren Wohnsitz zu Baden. Bei einem Besuche, welchen sie dem Fürstbischof von Speyer verschiedener Geschäfte wegen abgestattet hatte, ersuchte sie denselben zu erlauben, daß ich als Arzt auch sie zu bedienen übernehme und jährlich einige Male, in wichtigen Krankheiten aber, so oft ich es nötig zu sein glaubte und des Fürsten eigene Gesundheit es erlauben würde, besuchte. Da die Entfernung von Baden nicht mehr als sechs Meilen betrug und der Bischof (welcher ohnehin noch einen Leibarzt, Dr. Roußi, hatte) diese Fürstin verbinden wollte, so gestattete er nicht nur, daß ich die Stelle eines Leibarztes bei dieser übernehme, sondern befahl mir sogar in derselben Gegenwart, auf jeden ihrer Winke bereit zu sein. Kaum war die Fürstin abgereist, als mir der Bischof dieser eingegangenen Verbindlichkeit wegen bittere Vorwürfe machte. Ich versicherte denselben, daß ich jene bloß auf sein eigenes Geheiß eingegangen, auch bereit wäre, mich wieder auf seinen Befehl davon loszumachen,[78] daß ich übrigens ihn im Falle, daß er selbst erkranken sollte, nie für irgend jemand verlassen würde. Der Bischof verbot mir, der Markgräfin von diesem Auftritte Nachricht zu geben. Nach einem halben Jahre schrieb mir die Fürstin und verlangte meinen Besuch. Der Bischof befand sich wohl, und ich fragte ihn, ob ich diesen vornehmen oder abschlagen sollte. Er hieß mich ihn vollziehen. Ich versprach, in drei Tagen wieder bei ihm zu sein. Da ich eben abzufahren im Begriffe war, schickte der Fürst seinen Vertrauten und ließ mir durch diesen bedeuten, daß ich zwar die Markgräfin für dieses Mal, aber nicht ferner besuchen möchte, wogegen er mir eine jährliche Zulage von 300 fl. verspräche. Ich antwortete, daß ich den Schein, als ob ich diese vornehme Frau (die nebst dem, daß sie ehemals meine Landesfürstin gewesen sei, mich, als ich noch ihr Hofarzt war, immer sehr gnädig behandelt hätte) gegen diese Summe gleichsam verkaufte, nicht annehmen könnte. Doch sei ich bereit, ohne diese Zulage der Fürstin verständlich zu machen, daß der Bischof meiner auf jeden Augenblick bedürfe und ich mich folglich von demselben nicht mehr entfernen könne. Man untersagte mir nochmals, von dieser Veränderung in den Gesinnungen des Bischofs Kenntnis zu geben.
Nach meiner Rückkunft forderte der Fürstbischof auf das ernsthafteste von mir eine schriftliche Erklärung: »ob ich ihn allein lebenslänglich als Leibarzt bedienen und dagegen die angetragene Zulage annehmen wollte?« Ich gab die Antwort, daß ich mich, auch ohne diese hiezu verbinden[79] würde, wenn auch der Bischof mich seinerseits der Beständigkeit der von ihm seit mehreren Jahren mir zugesagten Bedingnisse, besonders aber (da ich denselben bisher aus vielen Auftritten als einen sehr hastigen Mann kennen gelernt hatte) einer meinen bisher geleisteten und noch ferner zu leistenden Diensten angemessenen Behandlung ebenfalls schriftlich versichern wollte. Nachdem ich der Markgräfin meine Lage zu erkennen gegeben und ihre Einwilligung, ohne die ich nie etwas getan haben würde, erhalten hatte, wurden diese schriftlichen Verbindlichkeiten gewechselt.
Es war kaum ein halbes Jahr vorüber, als mich der Fürst bei allem auf mich gesetzten Zutrauen fühlen ließ, daß ich gebunden sei. Die Vorwürfe wegen dem ersten Bande meiner medizinischen Polizei fingen wieder an und wurden mir unausstehlich. Ich erklärte, daß ich die mir zugesagten Bedingnisse für gebrochen ansähe und mich folglich auch von den meinigen lossagen würde. Da der Fürstbischof indessen die Sache immer wieder beizulegen suchte, so verschob ich die Erfüllung dieses meines Entschlusses noch einige Jahre hindurch.
Um diese Zeit übernahm ich die wissenschaftliche Erziehung Louis Frank's, eines Sohnes von meinem in Bitsch[80] wohnenden Bruder Martin. Jener bereits 18jährige Jüngling war bisher für den gelehrten Stand nicht erzogen, und ich war bloß gebeten worden, denselben auf eine mir mögliche Weise zu versorgen. Da ich nicht einsah, wie solches geschehen möchte, hingegen bemerkte, daß es nicht an guter Anlage fehlte, so nahm ich mir vor, alles nachzuholen, was zur Erziehung eines brauchbaren Wundarztes erforderlich wäre. So lange ich noch in Bruchsal blieb, besuchte Louis meine sämtlichen Vorlesungen. Ich führte denselben, so früh ich nur konnte, an das Krankenbett und überzeugte mich bald, daß man die Erziehung junger Ärzte dadurch, daß man sie so spät zu dieser fruchtbaren Quelle des Wissens führt und mehrere Jahre hindurch bloß mit mehr oder weniger glücklichen Kopien der Natur beschäftigt, unendlich erschwere. In wenigen Jahren hatte der junge Mann alles das selbst gesehen, wovon ich ihm der alten Ordnung zufolge, ehe dies geschehen war, richtige Begriffe hätte beibringen sollen. Dessen meine Erwartung übertreffende Fortschritte bewogen mich nun, meinen Plan mit demselben zu erweitern; und da ich späterhin auf den Hohen Schulen zu Göttingen und zu Pavia angestellt wurde, so benützte ich eine so glückliche Gelegenheit und hatte das Vergnügen, in ungefähr acht bis neun Jahren Louis zu einem geschickten Arzt und Wundarzt zu erziehen. Nun verschaffte ich demselben dadurch, daß ich ihn in dem großen Spitale zu Mailand als Secundararzt anstellte und der Obsorge geschickter Ärzte und Wundärzte anempfahl, die Gelegenheit, seine praktischen Kenntnisse täglich zu erweitern, und als derselbe zu gleicher Zeit als Leibarzt des in Mailand wohnhaften Fürsten von Khevenhüller angestellt worden war, so hatte er sich um nichts als bloß um seine Vervollkommnung[81] zu bekümmern. Während seinem Aufenthalte in Mailand schrieb Louis in Gesellschaft von einigen geschickten Ärzten und Wundärzten das »Nuovo giornale della più recente letteratura medico-chirurgica d'Europa« mit Beifall. Meine Abberufung von Pavia ließ nun meinen Neffen allein in einem Lande, welches er bald vor dem Eintritt der französischen Armee mit seinem Fürsten verlassen sollte. Mit diesem hielt er sich gegen zwei Jahre in Florenz auf und schrieb daselbst die Biblioteca Browniana. Nach dieser Zeit wünschte er, in dem allgemeinen Krankenhause zu Wien als Primararzt angestellt zu werden. Allein nach meinen Grundsätzen riet ich ihm, dieser Absicht zu entsagen. Bald darauf entschloß sich Louis, entfernte, besonders heiße Gegenden zu besuchen und die Krankheiten derselben zu beobachten. Ohne meine Gesinnungen über diesen seltsamen Entschluß abzuwarten, schiffte er sich nach Ägypten ein. Kaum war er acht Monate in diesem Lande und bereits bis nach Oberägypten gekommen, als dasselbe von den französischen Truppen besetzt war. Vermutlich weil er jetzt von den Eingeborenen Gefahr lief, kehrte er nach Kairo zurück und wurde darauf bei der französischen Armee als Arzt angestellt. Bei dieser blieb er, wie ich vernommen habe, bis kurz vor der Übergabe nach Alexandrien, und vermutlich wird er jetzt mit seinen Landsleuten als Gefangener nach Frankreich zurückgekommen sein.
Inzwischen wurde ich von der Kurmainzischen Akademie der Wissenschaften zu Erfurt zum Mitgliede ernannt, und im Jahre 1783 übergab ich derselben als einen Beitrag zu ihren gemeinnützigen Arbeiten folgendes:
7. Observationes medico-chyrurgicae. Observ. I. de singulari abscessu hepatico. Observ. II. de sectione symphysis ossium pubis in[82] Episcopatu Spirensi peracta. Observ. III. de paracenthesi in ascitica muliere gravida suscepta.
Im selben Jahre erschien von mir:
8. System einer vollständigen medicinischen Polizey. III. Band. Mannheim bei Schwan 1783.
Bisher war meine Gattin von noch mehreren Kindern entbunden worden. Da aber einige derselben tot zur Welt kamen, die anderen in den ersten Jahren nach der Geburt ihr Leben verloren, so übergehe ich deren nähere Anzeige. In diesem und in einigen vorhergehenden Jahren hatte ich manchen häuslichen Kummer. Die Erziehung meiner Kinder lag mir allein ob, und da ich den Hof öfters auf das Land begleiten mußte, so wurde mir diese, mir so heilige Pflicht oft sehr erschwert. Eines Tages fragte mich ein vornehmer Mann, warum ich nicht meine zwei Söhne in die damals berühmte Erziehungsakademie zu Stuttgart zu bringen dächte. Ich antwortete ihm: daß ich erstens die Erfüllung meiner Pflichten nicht andern überlassen möchte, zweitens aber, daß mir die Erziehung von Knaben umso schwerer zu sein schiene, je mehrere derselben beisammen wohnten. Auf[83] die mir unerwartete Frage, warum? antwortete ich: daß große Erziehungshäuser gar leicht an einem endemischen Übel litten, das mit der größten Vorsicht kaum zu verhindern wäre; daß mir von dem Erziehungshause von Stuttgart nichts, was nicht zu dessen Ruhme gereichte, bekannt wäre; daß ich aber aus einer vielleicht übertriebenen Furcht, meine Kinder, so viel ich es könnte, lieber unter meinen Augen selbst erziehen wollte.
Der Herr, mit welchem ich so offenherzig gesprochen hatte, war sehr betroffen. Dessen Schwester, die Oberstallmeisterin v.W. zu M., hatte ihren einzigen Sohn in dem erwähnten Erziehungshause. Er schrieb sogleich an diese und gab ihr, ich weiß nicht wie, von der mit mir gepflogenen Unterredung eine Nachricht, welche jene zärtliche Mutter auf das Äußerste beunruhigte. Sie schrieb alsogleich an einen ihrer Freunde, den Freiherrn v.T. zu Bruchsal, bat ihn, mich zu bewegen, ohne Zeitverlust nach Stuttgart zu gehen, ihren Sohn als Arzt zu beobachten und, wenn ich es nötig glaubte, denselben nach Hause zu schicken. Der Freund schickte, weil er selbst zwei Söhne in jenem Erziehungshause hatte, das von dieser Dame erhaltene Schreiben an den Vorsteher von solchem. Dieser glaubte dasselbe dem regierenden Herzoge von Württemberg als dem Stifter dieser Akademie überreichen zu müssen. Der Herzog, welcher in dieser Eigenschaft so unendlich viel Gutes getan hatte, fand sich durch den bloßen Argwohn, welcher jenem[84] Schreiben zum Grund zu liegen schien, auf das Äußerste beleidigt. Ich wurde bald von diesem mich kränkenden Auftritte unterrichtet und glaubte, dem wohltätigen Fürsten eine schriftliche Erklärung schuldig zu sein, worin ich ihm den wahren Hergang der Sache, meine Unschuld und meine Verehrung für sein Institut mit einem mir selbst schuldigen Anstand eröffnete. Der Herzog war mit dieser freimütigen Erklärung sehr zufrieden und ließ mich dessen sogleich versichern. Im Monat Juli 1783 machte der Fürstbischof von Speyer dem Herzoge einen freundschaftlichen Besuch. Ich erhielt den Befehl, jenen als Leibarzt zu begleiten. Als ich dem Herzog vorgestellt wurde, sagte dieser sehr wohlwollend, daß er meine Schriften gelesen habe und ihren Verfasser zu schätzen wisse. Dies war nun freilich für einen Gelehrten ein ganz alltägliches Kompliment. Der Bischof, welcher von der medizinischen Polizei nicht eben so dachte, antwortete, daß er mehr auf Kompendien denn auf ausgearbeitete Systeme hatte ... Der Herzog erwiderte, wie mich dünkt, sehr angemessen: »daß es etwas leichtes wäre, aus einem solchen Kompendien zu erschaffen«. Nun führte der Herzog seinen Gast, weil dieser ein Liebhaber von Pferden war, zuerst in seinen Marstall, sodann aber in das Erziehungshaus.
Die Anzahl der Zöglinge war hier sehr beträchtlich. Die Ordnung des Hauses schien mir selbst unverbesserlich, und jene hatten größtenteils ein Aussehen, aus welchem ich auf ihre moralische Erziehung sehr vorteilhafte Schlüsse zog, als mich der Herzog auf die Seite nahm und in mich drang, ihm aufrichtig zu gestehen, ob mir wohl über den bewußten Gegenstand noch der geringste Zweifel übrig bliebe. Ich wünschte dem Herzoge wegen der sprechenden Gesundheit[85] seiner Zöglinge Glück, gestand ihm aber, daß ich wenigstens wegen der Zukunft noch nicht ganz beruhigt wäre. Der gute Fürst erwähnte aller der Vorsichtsregeln, die er zur Abwendung alles Übels gebraucht hätte, und führte mich selbst zu den Abtritten des Hauses. Die Türen und die Seiten derselben waren von Glas. Kein Knabe konnte sich dahin begeben, ohne daß er von einem seiner Aufseher bewacht wurde. »Sind Sie nun zufrieden?« fragte der Herzog. Ich schien ihm einen Gedanken zu unterdrücken, welchen er zu kennen verlangte. Ich antwortete, es sei mir soeben ein Spruch von Juvenalis eingefallen, nämlich:
Pone serram! ... pone custodes! ... sed quis custodiet ipsos custodes? »Dies«, sagte der Herzog, »heißt doch wohl die Sache zu weit treiben!« – (?)
Am Abend fragte mich der Fürstbischof, ob ich nicht gesinnt wäre, nach dem von dem Herzoge geäußerten Winke eine der Vorlesungen zu besuchen, die den Zöglingen gehalten würden und welche ich zu diesem Ende zu wählen dächte. Ich versprach, in eine der Vorlesungen über die gerichtliche Arzneiwissenschaft und medizinische Polizei zu gehen. Dem Herzog wurde mein Entschluß gemeldet. Als ich des andern Tages Wort hielt, trat bei meinem Eingang in den Lehrsaal der geschickte Professor von seiner Kanzel herab und ersuchte mich dringend, seine Vorlesungen fortzusetzen. Es käme ihm, sagte er mir sehr verbindlich, nicht zu, in Gegenwart des Stifters einer Wissenschaft diese lehren zu wollen. Ich verbat mir so viel Ehre. Allein Lehrer und Zöglinge drangen so sehr in mich, daß ich einsehen mußte, es sei der Wille des Herzogs, daß ich dieser Einladung gehorche. Ich fragte also, worüber heute[86] gesprochen worden wäre. Vom Kindermord, war die Antwort, indem der Lehrer mir die Stelle seines Vorlesebuches, bei welcher er stehengeblieben war, anzeigte. Endlich setzte ich mich zwischen die Schüler und sprach eine Viertelstunde über den vorgelegten Gegenstand. Man hielt mir meine Bereitwilligkeit zu gut.
Des anderen Tages zeigte der Herzog seinem Gaste die von ihm ansehnlich bereicherte fürstliche Büchersammlung und fand auch hier wieder Gelegenheit, mir einen Beweis des Schutzes, welchen er den Wissenschaften gewährte, zu geben. Selbst stieg er in die Höhe, langte die medizinische Polizei aus ihrem Fache herab und zeigte dieselbe dem Fürstbischöfe vor, indem er ihm nochmals den Beifall, welchen er diesem Werke schenkte, öffentlich wiederholte. Nach diesem empfing der Herzog den Fürstbischof zu Hohenheim. Ich darf die prächtigen Anstalten in dieser Gegend nicht erst beschreiben. Da ich einem ansehnlichen Platze, auf welchem sämtliche in dem Herzogtum Württemberg wild wachsende Pflanzen und Gesträuche beisammen erzogen wurden, meine Aufmerksamkeit schenkte, zeigte der Herzog auf seine Jäger, welche auf dessen Befehl in der Botanik eines guten Unterrichtes genossen, auch alle hier versammelte Pflanzen des Landes zusammengetragen hatten, und ersuchte mich, den ersten besten dieser Leute zu prüfen. Ich ergriff die nächste wilde Pflanze, die vor meinen Füßen blühte, und der vom Herzog herbeigerufene Jäger[87] zergliederte dieselbe auf der Stelle, indem er derselben Charakter nach dem Linnéischen System mit großer Fertigkeit bestimmte. Jetzt folgte ich dem Herzoge auf eine künstliche Wiese, und indem er auf eine zierliche Büste hinzeigte, sagte der Fürst: »Hier habe ich meinem unvergeßlichen Freunde, Albert Haller, ein kleines Denkmal gestiftet.« Die Aufschrift war diesem den Musen so günstigen Ausrufe ähnlich.
Nach meiner Rückkunft nach Bruchsal wuchsen meine Verdrießlichkeiten mit jedem Tage, so daß ich mich entschloß, bei erster Gelegenheit denselben ein Ende zu machen. Auf diese durft' ich nicht lange warten. Bald erhielt ich einen Wink, die Stelle eines Professors der Physiologie und der medizinischen Polizei auf der Hohen Schule zu Mainz anzunehmen. Kaum waren drei Wochen verflossen,[88] so wurde ich eingeladen, die in Italien zu Pavia von dem berühmten Tissot niedergelegte Stelle eines Professors der praktischen Arzneischule mit einem Gehalt von 3000 fl. und einer freien, wohl eingerichteten Wohnung anzunehmen. Der verewigte Stoll hatte mich, obschon ich ihm weder persönlich noch durch Briefwechsel bekannt war, dem Fürsten v. Kaunitz vorgeschlagen. Dieser erwartete die Rückkunft Sr. M. des Kaisers Joseph des Zweiten aus Italien, um die höchste Bestätigung einzuholen. Da sich die endliche Bestimmung dieses Geschäftes eben durch die Entfernung des Monarchen sehr verzögerte, der Fürstbischof aber inzwischen von Wien aus etwas von dieser Sache vernommen hatte, so ahnte ich, er dürfte mich unter der Hand abermals in meinen Absichten durchkreuzen; und da ich[89] jetzt zu der durch den Austritt des verdienstvollen Baldinger's erledigten Professur der medizinischen Praxis auf der berühmten Hohen Schule zu Göttingen einen Ruf erhielt, so schrieb ich nach Wien: daß, wenn es nicht möglich wäre, in 14 Tagen von meiner Ernennung zum Professor in Pavia Sicherheit zu erhalten, ich den erstempfangenen Ruf nach Göttingen annehmen müßte. Die Zeit war bereits verflossen, als ich mich wegen letzterem Rufe bestimmt erklären mußte. Die Ehre, welche man mir als einem Katholiken durch diesen Ruf auf eine protestantische Universität erwies, der große Name dieser Hohen Schule, das Vergnügen, in Deutschland verbleiben zu können, die vortreffliche Büchersammlung, die ich dort für mein angefangenes Werk benützen konnte, alles lud mich ein, die angebotene Stelle anzunehmen. Des Königs von Großbritannien Majestät ernannten mich zu ihrem Hofrat und zu einem ordentlichen Mitgliede der K. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Die mir als Professor der medizinischen Praxis angebotene Besoldung bestand nur in 800 Thalern Kassegeldes, nebst 40 Thlr. sogenannten Lizentgeldes; und da, der Vorschrift nach, nur drei Professoren daselbst bei jeder Fakultät die Einkünfte derselben unter sich teilen, so ward mir die erste, in der medizinischen Fakultät sich eröffnende Stelle noch zugesagt.
Sobald ich diese Sache in Ordnung gebracht hatte, legte ich meine Dienste bei dem Fürstbischöfe zu Speyer nieder. Dieser nahm meine Demission nicht sogleich an, sondern ließ mir schriftlich bedeuten, daß er für nötig befunden habe, wegen meinem Betragen gegen ihn selbst an den[90] König von England zu schreiben, und daß ich die Antwort von London abzuwarten hätte. Ich versprach dieses, ging aber auf der Stelle mit Zurücklassung meiner Familie in Bruchsal nach Göttingen, um mich dort über die Ansprüche des Fürstbischofs näher zu erklären. In acht Tagen kam ich wieder zurück. Hier fand ich zu spät ein sehr ehrenvolles Schreiben von dem Fürsten Kaunitz und das Diplom eines Professors zu Pavia, in welchem ich aller von Tissot ehemals daselbst genossenen Vorteile versichert wurde. Da ich aber nun einmal in Göttingen angestellt war, so mußte ich dieses Diplom dankbar wieder zurückstellen. So viel ich nachher erfahren habe, hatte sich der Bischof bei dem Könige darüber, daß man ihn seine Leute débauchire, beschwert. Der König schickte das Schreiben des Bischofs an seine Regierung zu Hannover. Da der Bischof lange keine Antwort erhielt, so widersetzte er sich ferner nicht mehr meiner Abreise. Ich veranstaltete diese alsogleich und kam am 6. Mai 1784 mit meiner Familie in Göttingen an. Bereits am 25. dieses Monats trat ich die mir angewiesene Professur mit einer öffentlichen Rede an, welche nachher in dem dritten Bande meines delectus opusculorum medicorum abgedruckt worden ist, und zwar unter der Aufschrift:
9. Oratio inauguralis de instituendo ad praxim medico Professionis medicae adeundae causa die XXV. Maji 1784 Gottingae habita.
Zu gleicher Zeit gab ich von meiner neuen Anstellung durch folgende Schrift Nachricht:
10. Joannis Petri Frank, Phil. et. Med. Doctor Magnae Brittaniae Regis Consiliarii Aulici et medicinae practicae in Academia Gottingensi Professoris P. & O. etc. Prolusio de larvis morborum biliosis. Gottingae 1784.[91]
Als mir bald nachher auch die Verwaltung der Klinischen Anstalt zu Göttingen übertragen wurde, so legte ich dem gelehrten Publikum meinen Plan in einer eigenen Schrift vor:
11. Johann Peter Frank's, der Arzneywissenschaft und Weltweisheit Doktors, Sr. Königl. Majestät von Großbritannien Hofrates, der praktischen Arzneywissenschaft ordentlichen, öffentlichen Lehrers auf der Universität zu Göttingen, Mitgliedes der Königl. Göttingischen und der Kurmainzischen Akademien der Wissenschaften, Ankündigung des klinischen Institutes zu Göttingen, wie solches bei seiner Wiederherstellung zum Vortheile armer Kranken und zur Bildung praktischer Ärzte eingerichtet werden solle.
Der Ausdruck »Wiederherstellung« wurde von einigen sogleich übel aufgenommen. Mein Fehler war unabsichtlich: Seit Professor Baldinger's Austritt war die Klinik von einem jungen Arzt fortgesetzt worden, ohne daß mir dieses bekannt gewesen wäre. Freilich hätte ich mich besser unterrichten lassen sollen.
Bald darauf überreichte ich der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften einige meiner Beobachtungen, welche dem 7. Bande der Göttingischen Kommentarien einverleibt worden sind und folgende Aufschrift führen:
12. Observatio I. de hydrope cum vasorum ossificatione conjuncto. Obs. II. de haemorrhagia perforationem calvariae inhibente. Obs. III. de partu difficili ob hydropem intestinorum. 4 to.[92]
Kaum hatte ich diese Arbeiten zurückgelegt, so schrieb ich unter fremdem Namen folgende Inaugural-Dissertation:
13. Joh. Lukianovitz Danielevsky Dissert. inaug. de Magistratu, medico felicissimo. Gottingae 1784. 4 to.
Auch verfertigte ich mehrere Rezensionen praktischer Werke in den Göttingischen gelehrten Anzeigen von dem Jahre 1784.
Nebst meinen Vorlesungen über die spezielle Therapie las ich noch über Physiologie und Pathologie nach Gregory; über die allgemeine Therapie nach eben demselben und über die medizinische Polizei nebst der gerichtlichen Arzneiwissenschaft nach eigenen Heften. Dabei besorgte ich die klinische Anstalt zweimal des Tages, nicht in einem Spitale, sondern in den zerstreuten Hütten der Armen. So viel hätte ich allerdings gleich bei meiner Ankunft in Göttingen nicht auf mich nehmen sollen. Gegen 20 Jahre hatte ich zwar bereits das Krankenbett besucht, meine wichtigsten Beobachtungen alle aufgezeichnet, selbst nachgedacht, und eben so lange war ich mit meiner Wissenschaft vorgerückt, so daß ich bei fleißigem Durchlesen der Alten nicht leicht eine nur etwas wichtige Schrift der Neueren außer Augen gelassen und daß ich alles, was mir es zu verdienen[93] schien, sorgfältig aufgezeichnet hatte. Allein ich hätte, ehe ich so viele Vorlesungen hielt, zuerst den Faden zu denselben spinnen sollen. Bald litt daher meine Gesundheit, teils von so überhäuften Geschäften, teils von dem jähen Wechsel meiner bisherigen, in einem gemäßigtern Himmelsstriche geführten Lebensart. Ich verlor alle meine Verdauungskraft und litt täglich drei bis vier Male ein heftiges, sehr ermattendes Erbrechen. Hätte ich die Sache etwas weniger hastig angefangen, so wäre dies alles nicht geschehen. Ich bin gewiß von Seiten des Gouvernements zu Hannover auf das edelste und von sämtlichen Professoren auf das freundschaftlichste behandelt worden. Wegen Verschiedenheit meiner Religion von der herrschenden hatte ich so wenig zu ahnden, daß, als meine Gattin ihrer Niederkunft nahe war, der rechtschaffene protestantische Pastor, in dessen Pfarrbezirke ich wohnte, aus eigenem Triebe sich anerbot, mir die Erlaubnis, einen katholischen Pfarrer zur Taufe meines Kindes herbeirufen zu dürfen, zu Hannover auszuwirken. Ich dankte für ein so nachahmungswürdiges Verfahren, und da mir meine Religion solches gestattete, so ließ ich meine am 30. Mai 1874 geborene Tochter Elisabetha von eben diesem protestantischen Pfarrherren taufen.
Da sich inzwischen meine Gesundheit immer mehr zerrüttete, da ich die Möglichkeit, meine Schüler in ein mit Kranken wohlversehenes Spital zu führen und dort in einer wohlbestellten Klinik vorteilhafter zu unterrichten, nicht einsah, so nahm ich, nachdem ich den zweiten halbjährigen Lehrkurs zu Göttingen geschlossen hatte, die noch immer erledigte Stelle eines Professors der praktischen Arzneischule und Klinik zu Pavia unter den nämlichen Bedingnissen,[94] welche der verdienstvolle Tissot daselbst genossen hatte, an.
Am 25. März 1785 verließ ich also die Hohe Schule zu Göttingen, um mich über Wien nach Italien zu begeben. In der Kaiserlichen Hauptstadt hatte ich das Glück, nachdem ich auf höchsten Befehl das hier erst vor einem Jahre neu errichtete allgemeine Krankenhaus zwei Male besucht und alles daselbst sehr genau beobachtet hatte, des Kaisers Joseph des II. Majestät vorgestellt zu werden. Dieser weise und wohltätige Monarch fragte mich, wie ich mit der Krankenanstalt, die ich so eben gesehen hätte, zufrieden sei. »Vortrefflich!« sagte ich, »und ich habe mich in derselben mit dem Begriffe eines so großen Krankenhauses einigermaßen versöhnt.« – »Was hätten Sie bei solch' einer Anstalt wohl auszusetzen?« ... »Weil ein so großes Uhrwerk«, erwiderte ich, »nur selten recht zu gehen pflegt.« – »Und es geht!« sagte der seiner unendlichen Sorgfalt für diese seine Stiftung sich bewußte Regent. – »Freilich«, sagte ich voll Vertrauens auf die Wahrheitsliebe dieses großen Fürsten, »so lange nämlich ein so mächtiges Gewicht dasselbe in Gang setzt!« – Meine Freiheit ward mir nicht in Ungnaden aufgenommen.
Nach einem Monat, am 9. Mai, verließ ich die Hauptstadt. Bei dem so langen Winter dieses Jahres sah ich auf meiner[95] Reise nach Pavia kaum noch eine Spur des anrückenden Frühlings. Kaum war ich zu Bolzano (Bozen) angekommen, so sah ich dort schon die Reben blühen und das Landvolk mit der Heuernte beschäftigt. Bei größter Sommerhitze traf ich endlich am 18. Mai glücklich zu Pavia ein, als das Schuljahr, welches daselbst mit dem letzten Juni geschlossen wird, seinem Ende schon nahe war. Da es nicht mehr der Mühe lohnte, meine Vorlesungen jetzt erst anzufangen, so übernahm ich nur einstweilen das Klinikum. Der Zufluß von Ärzten und Neugierigen war äußerst beträchtlich. Doch fand ich, weil seit der Abreise Tissot's beinahe die Hälfte der Schüler, besonders aber alle fremde Zuhörer sich verloren hatten, nur ungefähr 44 Zöglinge der praktischen Arzneischule.
Den 12. Juni kamen des Kaisers Majestät mit des damaligen Großherzogs Leopolds von Toskana Königl. Hoheit unversehens nach Pavia. Nachdem der Monarch auch die Universität in Augenschein genommen hatte und dort von allen Professoren empfangen worden war, verfügten sich Höchstdieselben in das Krankenhaus und befahlen mir zu folgen. In einem Saale für kranke Weiber wurde der Kaiser einer kleinen Seitentür gewahr und fragte mich nach derselben Bestimmung. Ich sagte, es wären zwei kleine Stuben für Kranke. Da der Regent diese besuchen wollte, meldete ich, daß dieser Ort sehr ungesund und von ansteckenden Fiebern vollgepropft sei. Dies tut nichts zur Sache, erwiderte[96] der Menschenfreund und trat in die Zimmer. Der Anblick dieses abscheulichen Aufenthaltes machte, daß der Monarch sich gegen mich umwandte und ausrief: »Frank! ist es möglich, daß hieher Menschen verlegt werden! Auf der Stelle soll dieses Nebengebäude niedergerissen werden!« Dieser höchste Befehl mußte schon des andern Tages vollzogen werden. Nun besuchte der Kaiser das ganze Spital und ließ sich von den geringsten Umständen Bericht erstatten. Kaum waren sechs Wochen verflossen, als von Wien aus der höchste Befehl kam, allen von dem Monarchen bemerkten, auch kleinsten Gebrechen mit genauer Bestimmung der Mittel abzuhelfen.
Gleich vom Anfange der vier volle Monate anhaltenden Schulferien verfiel ich in ein ziemlich heftiges Fieber. Zu meiner bei solcher ungewohnten Hitze etwas beschwerlichen Erholung wurde mir von dem Herrn Grafen von Wilczek, k.k. ersten Minister zu Mailand (dessen Schutz und Unterstützung ich zehn Jahre hindurch alles zu verdanken habe), ein schönes, dem Spitale zu Pavia zugehöriges Gebäude zu Casteggio auf der anderen und zugleich gesünderen Seite des Po-Flusses an dem Fuße der Apenninen zur Wohnung angewiesen. In kurzer Zeit hatte ich meine Kräfte wieder erlangt, und nun beschäftigte ich mich zuerst mit Verfertigung meiner Antrittsrede:
15. Sermo academicus de Civis medici in Republica conditione atque officiis ex Lege praecipue erutis, quem professionis medicae adeundae causa die XXIV. Novembris 1785 recitavit Joannes[97] Petrus Frank, Med. & Philosoph. Doct. pridem in Regia Gottingensi, nunc in R. Ticinensi Academia theoriae practicae et medicinae clinicae Professor &c. Ticini 1785 apud Petr. Galeatium. 8 vo.
Sodann bearbeitete ich die Herausgabe einer meinen Schülern gedeihlichen Sammlung der vorzüglichsten, auf deutschen Hohen Schulen in lateinischer Sprache erschienenen Streitschriften, welchen ich meine Bemerkungen hie und da beifügte und zugleich, was ich in lateinischer Sprache schon herausgegeben hatte, einverleibte. Der erste Band dieses Werkes erschien noch im Jahre 1785 unter folgender Aufschrift:
16. Delectus opusculorum medicorum antehac in Germaniae diversis Academiis editorum, quae in Auditorum commodum collegit, et cum notis hinc inde aucta recudi curavit Joannes Petrus Frank &c. Vol. I. Ticini in Typographeo Petri Galeatii 1785. 8 vo.
Diese Sammlung habe ich in den folgenden Jahren fortgesetzt und 1793 mit dem 12. Bande geschlossen. Dieselbe wurde zu Venedig und zum Teil in Leipzig nachgedruckt. Nebst den von mir schon angeführten Abhandlungen ließ ich folgende in Pavia von mir verfertigte Aufsätze derselben einverleiben:
17. Jo. Pet. Frank, Oratio academica de Vesica Urinali ex Vicinia morbosa aegrotante. Recitata die XXIX, Aprilis 1786. Vid. Vol. II.
18. – – – Sermo academicus, observationem de haematomate, alteram de interna hydrocelis causa exhibens, Mense Junii 1786 recitatus. Vid. Vol. III.
19. – – – Oratio de chyrurgo medicis auxiliis indigente. Mense Maji 1737. Vid. Vol. IV.[98]
20. – – – De venaesectionis apud puerperas abusu. die 21. Junii 1787 habita ibid.
21. – – – De Rachitide acuta et adultorum sermo academicus, Mense Maji 1787 recitatus ibid. Vid. Vol. V.
22. – – – Orat. Acad. de Signis morborum ex corporis situ partiumque positione petendis, Mense Maji 1788. Vid. Vol. VI.
23. – – – de haemorrhagia Uteri ex spasmo secundinas incarcerante. Mens. Maji 1789. Vid. Vol. VII.
24. – – – Oratio Academ. de Virtutibus corporum naturalium medicis aequiore modo determinandis. Mens. Maji 1789. Vid. Vol. VII.
25. – – – Oratio acad. altera de Virtutibus corporum naturalium medicis aequiore modo determinandis. Mens. Decembris 1789. Vid. Vol. VIII.
26. – – – Sermo acad. quem ad Tyrones, cum Instituti clinici curam susciperet, die 30. Maji 1785 praefatus est. Vid. ibid.
27. – – – Sermo acad. de morbis pecudum, a medicis nequaquam praetervidendis. Mense Maji 1790. Vid. Vol. IX.
28. – – – Oratio academ. de Populorum miseria, morborum genitrice. Mense Maji 1790 ibid.
29. – – – Sermo acad. de circumscribendis morborum historiis. Mense Maji 1791. Vol. X.
30. – – – Orat. academ. de periodicarum adfectionum ordinandis familiis. Mens. Maji 1791 ibid.[99]
31. – – – Orat acad. de vertebralis columnae in morbis dignitate. 1792. Vid. Vol. XI.
32. – – – Sermo Acad. de medicis peregrinationibus. Mens. Junii 1792, ibid.
33. – – – Programma, puerperae de infanticidio suspectae defensionem exhibens. Mense Maji 1793. Vid. Vol. XII.
34. – – – Oratio acad. de convalescentium conditione ac prosperitate tuenda. Mens. Junii 1793 ibid.
Bei Gelegenheit dieser in Pavia von mir gehaltenen akademischen Reden muß ich hier anmerken, daß ehemals auf dieser berühmten Hohen Schule bei Erteilung der akademischen Würde die Professoren nur eine Lobrede auf jeden Kandidaten zu halten pflegten. Durch mein Beispiel suchte ich diese Gewohnheit für eine nützlichere zu verwandeln, indem ich zu meinen öffentlichen Reden wissenschaftliche Gegenstände zu wählen suchte. Bald fand ich die gewünschte Nachahmung, und oft wurden von meinen gelehrten Kollegen öffentliche Reden gehalten, von welchen ich bedaure, daß sie bis jetzt noch nicht in Druck erschienen sind. Die meisten meiner oben angeführten Abhandlungen, welche bis zum Jahre 1790 erschienen waren, wurden in ein Werk zusammengetragen und zu Leipzig her ausgegeben unter der Aufschrift:
Joannis Petri Frank, etc. Opuscula medici argumenti antehac seorsim edita, nunc collecta. Lipsiae 1790, 8 vo.[100]
Auch sind mehrere dieser Abhandlungen aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt und zum Teil den Sammlungen auserlesener Abhandlungen für praktische Ärzte und jener für Wundärzte einverleibt worden.
Am 14. Jänner 1786 wurde ich zum Direktor des Spitales zu Pavia ernannt und erhielt eine Zulage von jährlich hundert Dukaten aus dem K. Aerarium.
Am 8. Mai d.J. wurde ich von der Königl. Patriotischen Gesellschaft zu Mailand als Mitglied ernannt. Zu eben dieser Zeit übersetzte ein gelehrter Geistlicher, P. Ruttini von Pavia, den ersten Band meiner medizinischen Polizei, zu welchem ich verschiedene Zusätze geliefert hatte, in das Italienische unter der Aufschrift:
Sistema compiuto di Polizia medica, opera di Giovanni Pietro Frank etc. accresciuta di note dall' autore. Tomo I. In Milano 1786. Nell'Imperiale monastero di S. Ambrogio maggiore. 8 vo.
Bald darauf erhielt ich den höchsten Befehl, für die medizinisch-chirurgische Schule auf der Universität zu Pavia einen den Zeiten mehr angemessenen Studienplan zu entwerfen.[101] Ich suchte diesen Auftrag da durch von mir abzulehnen, indem ich vorstellte, daß ich die italienische Verfassung noch nicht hinreichend kenne, daß es überhaupt Mühe koste, sich den Ausländern beliebt zu machen; daß aber ein Fremder als Reformator selten mehr dann Tadel und Gehässigkeit einzuernten pflege: als wodurch dann meine Ruhe gekränkt und folglich auch mein längerer Aufenthalt in Italien erschwert werden dürfte. Dieser Vorstellungen ungeachtet, erhielt ich den Befehl, jenen Studienplan zu verfertigen. Der Entwurf hievon wurde von dem höchsten Hofe bestätigt, und von des Kaisers Majestät wurde mir befohlen, denselben alsogleich in Ausübung zu setzen. Bisher hatte ich alle meine Aufsätze, weil ich in dem Italienischen noch nicht genug Übung hatte, in französischer Sprache geschrieben. Das Königl. Gubernium in Mailand befahl, daß dieser Studienplan in das Italienische übersetzt und dann zum Druck abgegeben werden sollte. Wegen dem letzteren machte ich eine Vorstellung und bat, daß man mich, ehe solches geschähe, meinen Plan vorher wenigstens vier Jahre hindurch ausführen lassen und mir Zeit gönnen möchte, die in demselben allenfalls verborgenen Fehler zu entdecken. Mein Gesuch fand Beifall, und ich sah bald bei der Ausführung, daß ich manche Schwierigkeit übersehen hatte. Nach vier Jahren wurden mir meine Bemerkungen über den neu eingeführten Studienplan abgefordert. Ohne Verschub wurden diese benützt. Aber ich bat nichtsdestoweniger, mir noch einen Versuch von vier Jahren zu gönnen, ehe das Ganze zum Druck befördert würde. Da ich aber im Jahre 1795 nach Wien beordert wurde, so ist erwähnter[102] Plan nie öffentlich erschienen. Hier ist nicht der Ort, diese Lücke auszufüllen, und ich führe nur Folgendes daraus an. Nach dieser neuen Ordnung der Dinge wurde die Anzahl der akademischen Vorlesungen, welche bisher jährlich nur aus 80 bestanden hatten, auf 160 angesetzt. Wenn das heiße Klima die viermonatlichen, in ganz Italien üblichen Schulferien entschuldigen konnte, so schien es mir doch unverantwortlich, jeden Donnerstag in der Woche, ferner zur Fastnachtszeit 8 bis 10, um Weihnachten, zu Ostern 14, zu Pfingsten 8 und in der Kreuzwoche nicht viel weniger Tage ferner zu verschleudern. Auch nach geschehener Aufhebung der allzuvielen Feiertage blieben den Schülern nebst den Sonntagen noch immer genug Tage zum Ausruhen oder zum Nachlesen und zum Ordnen des Erlernten zurück. Es war billig, daß man den Professoren für die vermehrte Arbeit auch das Gehalt in etwas vermehrte. Ich selbst, da meine Besoldung die ihrige weit überstieg, tat freiwillig Verzicht auf die Erhöhung derselben; und so wurden 600 Lire unter die übrigen Professoren verteilt. Es hing nicht von mir ab, diese Summe zu erhöhen. Es wurde ein außerordentlicher Professor für die Anfangsgründe der allgemeinen Anatomie und Physiologie so wie für die komparative Zergliederungskunst und Physiologie in der Person des geschickten Doktors Presciani ernannt und diesem[103] zugleich aufgetragen, ein eigenes Museum für diese beiden Wissenschaften zu errichten. Der nämliche Professor mußte auch die in Leichen vorgefundenen pathologischen Gegenstände für ein eigenes Museum dieser Art vorbereiten und in beständig guter Ordnung erhalten. Der Professor der Krankheitslehre so wie jener der chirurgischen Institutionen mußten ihre Schüler wöchentlich zweimal in dem Spitale an das Krankenbett führen, um ihnen die menschlichen Gebrechen selbst in der Natur vorzuzeigen. Die Schüler der höheren Wundarzneikunst mußten die Vorlesungen für Ärzte und diese jene für Wundärzte mit gleichem Fleiße besuchen. Die Lehrzeit für Ärzte wurde auf fünf, jene für Wundärzte auf vier Jahre ausgedehnt. Für den besseren Unterricht über die Apothekerkunst wurde eine eigene Normalapotheke bestellt. Die praktischen Zöglinge mußten zwei Jahre hindurch das Klinikum besuchen: in dem ersten derselben waren sie bloß Zuschauer, in dem zweiten verhielten sie sich handelnd, übernahmen selbst Kranke, schrieben derselben Geschichte und besorgten[104] unter meiner Aufsicht alles, was zur Heilung des Übels gehörte. Ein vortrefflicher Scheidekünstler (Marabelli) war bei jedem Besuche der Kranken zugegen und beschäftigte sich mit Untersuchung kranker Säfte und alles dessen, was auf die animalische Chemie irgend einen Bezug haben konnte etc.
Indessen hatte sich die Anzahl besonders der Fremden, welche meine Vorlesungen und Klinik besuchten, so wie der Ruf der hiesigen Arzneischule außerordentlich vermehrt, so daß ich mich gezwungen sah, auf die Erweiterung der praktischen Schule zu dringen. Tissot hatte bereits für die Aufnahme kranker Frauen einen schönen Saal zu bauen veranlaßt. Jetzt geschah solches auch für das männliche Geschlecht, so daß ich jetzt 22 Betten mit Kranken beider Geschlecht belegen konnte. Eine chirurgische Klinik ging bisher auf dieser Hohen Schule ab. Zwar verrichtete mein Freund, der große Zergliederer und vortreffliche Wundarzt Professor Antonio Scarpa, auf den chirurgischen Abteilungen des Spitals öfters die wichtigsten Operationen,[105] und auch der in diesem Krankenhause angestellte, sehr erfahrene Wundarzt Dr. Cera machte nebst anderen Operationen den Steinschnitt oft und sehr glücklich. Allein öfters geschah dieses zu unbestimmten Stunden und ohne daß die Schüler einen Vorteil davon ziehen konnten. Ich trug also darauf an, daß mehrere eigene Zimmer und ein schönes Amphitheater für die chirurgische Klinik gebaut und daß diese auf die gleiche Weise wie die medizinische von ihrem würdigen Lehrer täglich besucht würde. Auch bewirkte ich die Aufrichtung eines dritten Saales für die Aufnahme chirurgischer Krankheiten, um diese besser als bisher von den innerlichen Übeln absondern zu können. Auf meinen Vorschlag wurde die Aufsicht über diesen Saal dem vielversprechenden jungen Wundarzt Dr. Volpi zu Pavia erteilt. Da die Ausgabe für Arzneien in dem Spitale zu Pavia in Verhältnis zu seinen Kranken bisher allzu hoch und alljährlich gegen 3600 Lire zu steigen pflegte, so war meine erste Sorge, daß den Verordnungen der Ärzte und Wundärzte dieses Krankenhauses eine bessere Pharmakopoe unterlegt würde. Ich hielt demnach mit sämtlichen Ärzten und Wundärzten desselben und mit dem Chemiker Marabelli wöchentlich eine Sitzung, in welcher wir dieses Werk zu entwerfen beflissen waren. Nach dessen Verfertigung (bei welcher ich freilich wegen Verschiedenheit der Grundsätze, besonders der älteren Wundärzte, manches stehen lassen mußte, was ich hinweggewünscht hätte) ließ ich diese neue Pharmakopoe den täglichen Verordnungen zum Grund legen; und als die Ärzte und Wundärzte des Spitals nach einem halben Jahre vollkommen damit zufrieden waren, so wurde diese Medikamentennorm bestätigt und späterhin dem Druck übergeben unter der Aufschrift:
[106] Apparatus Medicaminum ad usum Nosocomii Ticinensis. Anno 1790. Ticini Reg. ex typographia Josephi Bolzani. 8 vo.
Der Erfolg dieser Arbeit war, daß, ungeachtet jetzt die Spitalärzte (was vorhin nicht der Fall war) den Bisam und andere teuere Mittel ohne höhere Erlaubnis verschreiben mochten, die jährlichen Auslagen für die Arzneien jenes Krankenhauses dennoch über die Hälfte herabsanken. Ich erhielt wegen dieser den Kranken ersprießlichen Ersparung von dem Gubernium zu Mailand ein schmeichelhaftes Belobungsdekret. Da inzwischen ein gewöhnlicher Arzt des Krankenhauses verstorben war, so schlug ich den berühmten Professor Rezia zu dieser Stelle vor; so wie ich nach dem Absterben des Professors der Pathologie zu Pavia, Dr. von Ramponi, zur Besetzung der erledigten Kanzel den vortrefflichen Spitalarzt Dr. Raggi empfahl. Zur Prüfung und augenblicklicher Besorgung der in das Spital aufzunehmenden Kranken wurde ein eigener junger Arzt, Dr. De'felici, einer meiner geschicktesten Schüler, bestellt. Auf diese Weise wurde das Krankenhaus zu Pavia unbemerkt zu einem akademischen Spitale umgeschaffen. Und nun trug ich darauf an, daß die Schüler nebst meiner Klinik nach und nach auch alle Krankensäle unter jenen erfahrenen Männern besuchen mußten.[107]
Als späterhin Dr. Locatelli, ein sehr geschickter Schüler meiner beiden vortrefflichen Freunde und Vorgänger auf der praktischen Kanzel zu Pavia, Bursieri und Tissot, aus England und Schottland, wohin er zu seiner Vervollkommnung eine Reise angestellt hatte, wieder zurückgekommen war, so beförderte ich den Antrag, daß auch in dem großen Spitale zu Mailand ein öffentliches Klinikum errichtet und Dr. Locatelli die Aufsicht darüber erteilt wurde. So konnten nämlich meine sowohl einheimischen als fremden Schüler, welche während unseren langwierigen Ferien nicht nach Hause und von da im künftigen Schuljahre wieder zurück nach Pavia gehen wollten, sich gegen vier Monate in Sammlung mehrerer Beobachtungen nützlich verwenden, so wie sie während dieser Zeit die chirurgischen Operationen des vortrefflichen Paletta und die vielen pathologischen Leichenöffnungen des unermüdlichen und berühmten Monteggia benützen konnten.
Am 7. Februar 1786 wurde ich zum Protophysikus und Generaldirektor des Medizinalwesens in der österreichischen Lombardei und dem Herzogtum Mantua ernannt. In dieser Eigenschaft fing ich am 21. September 1786 in Gesellschaft des ehemaligen chemischen Demonstrators von Mailand,[108] Paolo Sangiorgio, und des damaligen Sekretärs (cancelliere) bei dem medizinischen Direktorium, Dr. Brusa, die erste allgemeine Untersuchung der Apotheken und Physikate des ganzen Landes mit den Provinzen Mailand, Varese, Como, Lodi und Pavia an und beschloß dieselbe am 22. Oktober d.J., um solche in folgendem Jahre fortzusetzen. Ich war über die Schönheiten dieser vortrefflichen Gegenden entzückt, doch war ich es weniger mit dem Zustande der meisten Apotheken auf dem Lande. Die Ärzte und Wundärzte jener Provinzen, worunter ich mehrere vortreffliche Männer, vorzüglich Schüler von Bursieri, antraf, wünschten fast ohne Ausnahme, daß endlich eine bessere Ordnung in dem Arzneiwesen dieses Landes eingeführt werden möchte, und gingen mir mit ihren Bemerkungen über die vorwaltenden Mängel aufrichtiger, als ich es in der Eigenschaft eines Ausländers erwarten mochte, an die Hand.
Nach meiner Zurückkunft in Pavia erhielt ich den Auftrag, zur künftigen Einrichtung sowohl des medizinischen (bisher in Mailand befindlichen, jetzt aber in Pavia als dem Mittelpunkt der Studien aufzustellenden) Direktoriums als auch der inländischen Apotheken einen Plan zu entwerfen. Diesem mußten jedoch die bisher bestehenden Verordnungen zum Grund gelegt werden, so daß in dem[109]
35. Piano di Regolamento del Direttorio medico-chirurgico di Pavia. Milano 1788. 4. und in dem
36. Piano di Regolamento per la farmacia della Lombardia austriaca. Milano 1788. 4.
manches vorkommt, was von mir selbst nicht vor geschlagen, sondern schon lange vor mir eingeführt und daher in dem neuen Plane beizubehalten befohlen worden war.
Am 26. Februar 1786 wurde meine Tochter Carolina geboren.
Im Spätjahre 1787 setzte ich die im vorigen Jahre unterbrochene Untersuchung der Physikate und Apotheken fort. Anstatt des mailändischen Chemikers Sangiorgio wurde ich jetzt von dem vortrefflichen Scopoli, Professor der Scheidekunst und Botanik zu Pavia, und von dem Sekretär[110] des medizinischen Direktoriums daselbst, Doktor Ripari, begleitet. Ich hatte noch einen Teil der Provinz Lodi, die ganze Provinz Cremona, jene von Casalmaggiore und endlich das Herzogtum Mantua zu durchreisen. In den beiden ersten Provinzen fand ich mehrere Apotheker, die des Unterrichtes von Scopoli genossen hatten. Die Apotheken von diesen waren größtenteils besser versehen. Indem ich mir vorbehielt, auf meiner Rückreise in Mantua mich aufzuhalten, setzten wir unsere Untersuchungen bis nach Sermide, nahe an den Grenzen des päpstlichen Staates, fort. Von da begab ich mich auf eine kurze Zeit nach Ferrara, besah das dortige Spital nebst einigen andern Anstalten und machte mit dem dortigen Professor der Klinik, Dr. Zechini, Bekanntschaft. Kaum hatte ich bei meiner Rückkunft nach Mantua die Apotheken selbst untersucht, als ich den Befehl erhielt, alsogleich nach Mailand zurückzukehren. Zwischen dem Direktor des dortigen großen Krankenhauses, dem gelehrten Pietro Moscati, und den Spitalärzten waren Zwistigkeiten entstanden, die des Kaisers Majestät bewogen, die Sache näher untersuchen zu lassen. Der Aufwand für die Arzneien jenes Krankenhauses war, seitdem man dessen vorher auf eigene Regie geführte Apotheke einem[111] Stadtapotheker auf eine neunjährige Pachtung übergeben hatte, auf eine so ungeheure Summe gestiegen, daß der Untergang des sonst so reichen Spitals am Ende der Pachtzeit, ungeachtet die Spitalärzte selbst die neue Pharmakopoe des Krankenhauses entworfen hatten und diese von dem Gubernium bestätigt worden war, leicht vorgesehen werden konnte. Ich hatte über sechs Wochen mit dieser wichtigen Untersuchung zu tun, nach welcher die eigene Verwaltung der Spitalapotheke wieder anbefohlen, dem Pächter aber, damit er auf seinen freilich nicht nach der besten Ordnung geschlossenen Kontrakt mit dem Spitale und auf seinen unglaublichen Gewinn Verzicht leistete, eine Summe von 3000 Dukaten angewiesen wurde.
In diesem Jahre beförderte ich zu bequemerem Gebrauche meiner Zuhörer einen Abdruck von Guilielmi Cullen Synopsis Nosologiae methodicae. Edit. quart. Ticini Reg. 1787. 8. und begleitete denselben mit einer eigenen Vorrede. Da mir noch einige Zeit bis zum Anfange der öffentlichen Vorlesungen zu Pavia übrig blieb, so verfügte ich mich mit meinem älteren Sohne nach Turin, besah die dortigen Anstalten und machte die Bekanntschaft der Professoren dieser Hohen Schule, vorzüglich des berühmten Allioni, des wahrhaft gelehrten Professors der Klinik, Lanieri, des geschickten Professors der Chemie, Bonvicini,[112] sowie des königl. Leibarztes v. Somis. Da ich dem Minister der auswärtigen Geschäfte, Grafen von Perrone, anempfohlen worden war, so riet mir derselbe, des Königs Majestät mich um so mehr, als höchstdenselben meine Anwesenheit in der Hauptstadt nicht verborgen sei, vorstellen zu lassen, und übernahm es, mir hiezu Gelegenheit zu verschaffen. Schon des andern Tages wurde ich dieser Ehre in Caglieri, einem nahen Lustschlosse, teilhaft. Der König geruhte mir für die Sorge zu danken, welche ich in dem Spitale zu Pavia für diejenigen seiner Untertanen, welche das Recht haben, in diesem Krankenhause aufgenommen zu werden, äußerte. Die Gnade dieses Fürsten munterte mich auf, Sr. M. zu eröffnen, daß unter Ihren Untertanen weit mehrere dann unter den Österreichischen, ihren Nachbaren, durch Dolchstiche tödlich verwundet in jenes Krankenhaus überbracht würden. Der König sagte mir gerührt, daß ihm dieser Greuel nur allzu wohl bekannt sei und daß bloß in dem Piemontesischen jährlich gegen 600 solcher Opfer des abscheulichsten Meuchelmordes fielen. »Scharfe Gesetze«, sagte ich, »würden dem Übel wohl abzuhelfen im Stand sein!« ... »Sie irren sich«, erwiderte der König, »sie haben bisher nur wenig gefruchtet: der Jähzorn des Volkes und das Beispiel vieler von jenen, die es die Sanftmut lehren sollten, vereitelt alle meine Verfügungen.«
Einer der Vorsteher der Universität zu Turin, damals ein sehr alter Minister, hegte, wie ich von einigen Professoren[113] daselbst durch stille Klagen vernommen hatte, gegen die Chemie darum eine sehr große Abneigung, weil er solche mit der Alchemie verwechselte, ungeachtet mehrere vortreffliche Chemiker dieser Hauptstadt, namentlich der von mir ebenfalls besuchte Graf v. Morozzi, dieser so nützlichen Wissenschaft viel Ehre machten. Der Minister hatte seinen Professoren anempfohlen, mir alles Sehenswürdige auf dieser Hohen Schule vorzuzeigen. Nach einigen Tagen wurden wir zusammen bei ihm zur Tafel eingeladen. Er fragte mich laut, ob die gegenwärtigen Herren sich mit mir nach seiner Weisung benommen hätten. Ich beantwortete diese Frage zur Bestürzung der würdigen Männer mit Nein. »Wieso?« sagte der Minister. »Diese Herren«, erwiderte ich, »haben mir nichts von ihren für den öffentlichen Unterricht heut zu Tage in jedem Lande so unentbehrlichen Anstalten für die Chemie sehen zu lassen für gut befunden.« Der Minister merkte, wo ich hinzielte, und sagte ganz gelassen: »Freilich ist dieses nicht unsere glänzendste Seite!« – Des anderen Tages wurde ich zu einer medizinischen Doktorpromotion eingeladen. Der Kandidat mochte, vielleicht durch die Anwesenheit eines fremden Lehrers, das Gleichgewicht verloren haben und wurde zu meinem Leidwesen zurückgeschickt.
Auch für den praktischen Unterricht junger Geburtshelfer und der Landhebammen in einem wohleingerichteten Entbindungshause hatte ich in dem Gubernium zu Mailand einen Plan überreicht, und solcher war bereits von dem höchsten Hofe bestätigt worden. Allein verschiedene Umstände haben die Ausführung dieses auch nie im Druck erschienenen Entwurfes verhindert. Da ich die Notwendigkeit einer Verbesserung des Hebammenwesens in der Lombardei[114] sehr dringend fühlte und die vorwaltenden Hindernisse nicht zu überwinden vermochte, so bediente ich mich endlich eines durch eine sehr schauderhafte Geschichte mir dargebotenen Mittels. Eine unerfahrene Hebamme hatte sich nämlich auf dem Lande bei Entbindung eines Weibes eines hölzernen Hakens bedient und hiemit sowohl Mutter als Kind ermordet. Dieses Werkzeug des Todes wurde mir zugesandt, und ich erkannte es für den Stiel eines Kochlöffels. Eben diesen noch blutigen Kochlöffel schickte ich nach Mailand mit der freimütigen Anmerkung: daß ich nach so vielen wegen notwendiger Verbesserung des Hebammenwesens auf dem Lande von mir gemachten Vorstellungen wegen so schreckbaren Auftritten mir selbst keinen Vorwurf zu machen hätte.
Als auch die Republik Genua zu Ende des Jahres 1788 in dem prächtigen Krankenhause der Hauptstadt ein Klinikum zu errichten entschlossen und ihr zu solchem Ende von dem Doktor Olivari ein Plan vorgelegt worden war, so wurde dieser Entwurf von den Herren Protettori an mich gesandt, um hierüber mein Gutachten mitzuteilen. Ich entwarf daher einen eigenen Plan nach dem Beispiele desjenigen, welchen ich für die praktische Arzneischule zu Pavia bisher befolgt hatte. Diesen Aufsatz übergab ich späterhin bei Gelegenheit einer 1790 nach Wien vorgenommenen Reise der Presse:
37. Plan d'école clinique ou méthode d'enseigner la Pratique de la Médecine dans un hôpital académique, par Jean Pierre Frank, Docteur en Médecine, Conseiller de Sa Majesté R. et A. au[115] Gouvernement de Milan, Directeur de la faculté de Médicine, Professeur en Médicine Pratique dans l' Université Royale de Pavie. Vienne 1790, chez Chrétien Fréderic Wappler. 8.
Diese Schrift wurde bald hierauf von einem meiner ehemaligen Zuhörer, Herrn Doktor Careno in Wien, in die italienische Sprache übersetzt und zu Cremona gedruckt :
Piano di scuola clinica ossia metodo d' insegnare la pratica della medicina in un Ospedale academico, del Sig. Gio. Pietro Frank etc. In Cremona 1790. 8.
Eben so hat mein ehemaliger Zuhörer, Professor Titius von Wittenberg, sowohl diese Schrift als zwei andere unter folgender Aufschrift ins Deutsche übersetzt:
D. Johann Peter Frank' s, k.k. wirklichen Gubernialraths zu Mailand und Professors der praktischen Medizin zu Pavia u.s.w., Drei zum Medizinalwesen gehörige Abhandlungen: 1. Entwurf zur Einrichtung einer klinischen Schule; 2. Entwurf zur Einrichtung eines medizinisch-chirurgischen Kollegiums zu Pavia; 3. Apothekerordnung für die österreichische Lombardei.Aus dem Italienischen, Leipzig bei Joh. Gottl. Feind 1790.8.
Am 13. April 1788 wurde ich zu dem Grafen Fenaroli nach Brescia berufen. Hier lernte ich den geschickten Arzt und Verfasser des Werkes de apoplexia nervosa, Dr. Francesco Giuliani, kennen. Besonders erfreulich war mir die persönliche Bekanntschaft, die ich mit Governatore dello[116] spedale degli uomini, Grafen Carlo Ruggieri, daselbst machte. Dieser vortreffliche Mann nimmt sich seines Krankenhauses auf das tätigste an und behandelt dort die befindlichen Kranken wie ein zärtlicher Vater seine Kinder. Es befanden sich damals 18 fromme Stiftungen (luoghi pii) in Brescia. Das Spital für Männer hatte nur 200 bis 280 Betten. Allein mit den aufgenommenen Findlingen besteht es dennoch aus ungefähr 800 Personen. Alle Religionen werden da aufgenommen, alle Armen aus der Stadt erhalten die benötigten Arzneimittel unentgeltlich. Das Spital für Weiber hatte damals 110 Betten. Neben diesem Krankenhause wohnen die elternlosen Mädchen (orfanelle). Es gibt noch zwei Häuser hier, welche für die zu einem sittlicheren Lebenswandel bekehrten Frauenzimmer (pér le donne convertite) gestiftet sind. Viele kommen bloß des Winters, um da ihre Nahrung zu finden, hieher; im Frühjahr fängt die alte Lebensart wieder an. Sie werden zum zweiten, aber nicht zum dritten Male wieder aufgenommen. Die Knaben des Waisenhauses hatten beinahe alle ein gutes Aussehen. Die Findlinge werden, bis solche sieben Jahre erreicht haben, von Weibern erzogen. Dann kommen sie in das Knabenhaus. Die Mädchen erhalten eine Aussteuer von ungefähr 40 Scudi. Beide Geschlechter lernen spinnen, nähen, weben oder sonst ein Handwerk. Auch in dem Männerspital wird alles, was dasselbe brauchen mag, von den Aufgenommenen bearbeitet. Die Orfanelle lernen übrigens auch singen und werden wir zu Venedig in der Tonkunst unterrichtet. Auch für Menschen, die nicht zu arbeiten vermögen (imbecilli), ist eine Stiftung vorhanden. Möge doch das Kriegsfeuer seither nicht alle diese Denkmale der Menschenliebe zerstört haben![117]
Am 15. Mai 1788 wurde mir auch die Oberaufsicht über sämtliche (43) in der österreichischen Lombardei und dem Herzogtum Mantua befindliche Krankenhäuser anvertraut und der Charakter eines wirklichen Gubernialrates zu Mailand beigelegt. Anstatt der für die Direktion des Spitals zu Pavia bisher jährlich angewiesenen 100 Dukaten erhielt ich eine Zulage von jährlich 3000 Lire. Um mich meinem Lehramte nicht zu entziehen, war mir freigestellt, nur so oft nach Mailand zu kommen und dem Rate beizuwohnen, als ich solches für nötig erachten würde. Um diese Zeit ließ ich in Deutschland drucken:
Johann Peter Frank's, M.D.K.K. wirklichen Gubernialrats zu Mailand, Direktors der medizinischen Fakultät und sämtlicher Spitäler der österreichischen Lombardei, Professors der praktischen Arzneischule zu Pavia u.s.w., System einer vollständigen mechanischen Polizey, IV. Band. Mannheim bei Schwan und Götz 1788. 8 vo.
Von den vier Bänden dieses Werkes beförderte Doktor v. Wasserberg in Wien, ohne mich deshalb zu fragen, eine neue Auflage mit eigenen Zusätzen, welche von der v. Trattnerschen Buchhandlung veranstaltet wurde.
Auch wurde von Doktor Bake von diesem Werke eine holländische Übersetzung geliefert, nämlich:
Johann Peter Frank, M.D. Geheimraad en Lyfarts des Bischops van Spiers, hooglearaar in de Geneeskunde te Pavia &c. &c. Geneeskundige Staatsregeling. Naar den Derten Druk uit het hoogduitsch vertaald, en met Aanmerkingen[118] vermearded, door H.A. Bake, Medicinae Doctor. The Leyden. By Frans de Does 1787–1793. 8 vo.
Mit Ende Juni 1788 unternahm ich mit meinem Sohne Joseph in Gesellschaft des berühmten Physikers Don Alessandro Volta und des durch verschiedene Werke bekannten Professors Abbate Bertola von Pavia eine Reise über Cremona, Mantua, Verona, Vicenza, Padua nach Venedig. Die Geschichte dieser und anderer von mir in wissenschaftlicher Hinsicht vorgenommenen und sorgfältig beschriebenen Reisen hätte vielleicht damals die Aufmerksamkeit des Publikums verdient. Allein nach 14 Jahren, besonders nach solchen, wie wir sie durchleben mußten, haben sich alle Gegenstände so unendlich verändert, daß die Erwähnung derselben sowohl zu spät als für diese Schrift zu weitläufig scheinen müßte. Überall wendete ich mein Hauptaugenmerk auf öffentliche Anstalten für die Menschheit und für die Arzneiwissenschaft so wie auf die berühmtesten Männer jeder Gegend, von deren Umgang ich mir Nutzen versprechen konnte.
Kaum war ich von Venedig nach Mailand zurückgekommen, als ich die Folgen dieser bei der ungewöhnlichsten Hitze vorgenommenen Reise empfinden mußte. Ich verfiel nämlich in eine Krankheit, vor welcher mich meine Herkunft für beständig hätte sichern sollen. Anfänglich bestand[119] jene in einer so heftigen Entzündung des rechten Auges, daß ich solches nach der Ahndung meines Freundes, des ersten Spitalwundarztes Dr. Paletta in Mailand, verlieren konnte. Bald aber veränderte sich das Übel in ein heftiges Podagra, woran ich bisher jährlich ein bis zwei Male viel zu leiden hatte.
Am 2. April 1789 unternahm ich zur Zeit der gewöhnlichen Osterferien mit meinem Sohne Joseph eine Reise über Genova und von da zur See nach Nizza in der Provence, um dort einer unter meiner Obsorge stehenden kranken Dame einen Besuch abzustatten. Ich hielt mich acht Tage zu Nizza auf, besah alles Merkwürdige in dieser Stadt und ihren prachtvollen Gegenden und würde gerne, um den zu le Martigues noch herrschenden wahren Aussatz selbst zu beobachten, tiefer in die Provence eingedrungen sein, wenn nicht das nahe Ende der Schulferien meine Rückkehr beschleunigt hätte.
Im Juli 1789 besuchte ich den Marchese Botta von Pavia auf einem seiner Landgüter in dem genuesischen Gebirge. Während dem die Hitze in der Lombardei sehr heftig war, genoß ich hier (zu Borgo Adorno) der angenehmsten Kühle. Ich bestieg in den ersten Tagen eine hohe Alpe unter den Apenninen, den sogenannten Giraldo. Von hier aus übersah ich einen großen Teil der Lombardei, des Montserato, der Savoyesischen Alpen und gegen Mittag des Ligurischen Meeres. Ich machte eine kleine Sammlung von Alpenpflanzen. Die Bewohner dieser Gegenden speisen die Stiele und die kurzen Stengel der Carolina acaulis roh, mit[120] Öl und mit Limonensaft, so wie die Artischoken gespeist werden. Ich fand gleich eine kleine Praxis in diesen an Ärzten armen Gegenden und sah unter dem Landvolke manche zum Teil wichtige Übel, für die ich meinen Rat erteilte. Die mehrsten derselben holt es sich in der Lombardei, wohin es des Verdienstes wegen strömt, die schwersten Arbeiten verrichtet und dann lungensüchtig oder mit Wassersucht zurückkommt.
Nach zehn Tagen kam ich von dieser Landreise zurück und fing bald darauf an, sämtliche Spitäler zu besuchen. Nachdem ich das zu Casalmaggiore untersucht hatte, fuhr ich mit dem Intendenten dieser Provinz in gleicher Absicht nach Pomponesco. Dieser ansehnliche Marktflecken besaß seit mehreren Jahrhunderten zwei kleine römische Statuen, die auf seinen Ringmauern jeder Witterung ausgesetzt blieben. Die Akademie zu Mantua wünschte, diese ziemlich schönen Statuen zu besitzen und besser zu verwahren. Das Gouvernement zu Mailand bewilligte ihr den Besitz derselben. Als aber die Abgeordneten die Statuen abholen wollten, versammelte sich das Volk unter Leitung des dortigen Wundarztes Johann Joseph Cessa und verjagte die ersteren. Wegen dieser Art von Aufruhr wollte der Intendent jenen Wundarzt ernsthaft bestrafen. Kaum war ich in Pomponesco eingetroffen, als Cessa, ein junger Mann von ausdruckvoller Gesichtsbildung, sich bei mir einstellte. Ohne von jenem Auftritte mit ihm zu sprechen, fragte ich ihn, ob er vieles zu arbeiten habe und wichtige Fälle behandle. Er sagte mir: »Jetzt eben nicht, aber vor nicht ganz sechs Wochen habe ich an einer Schwangeren, Ehefrau des Bürgers Giuseppe Borella von Pomponesco, Angiolini Isabella, von 28 Jahren, einer Erstgebärenden, den Kaiserschnitt[121] verrichtet.« – »Sie?« fragte ich, »als Chirurgo minore? Was berechtigte Sie dazu?« – »Die Abwesenheit des ersten Wundarztes«, antwortete er. »Aber war das Weib auch wirklich schon tot?« – »Das eben nicht!« – »Und Sie konnten sich unterstehen!« – »Freilich wohl«, erwiderte er und bat mich, das Weib zu besuchen, indem er mir unterwegs erzählte, wie dieses wegen allzu kleinem Durchmesser des Beckens, auch nach dem Geständnis der sehr geschickten Hebamme des Ortes, nicht gebären konnte. Er habe sich, sagte er, von der Wahrheit dieses Umstandes überzeugt und sodann die Operation vorgenommen. Das Kind habe noch gelebt, sei aber bald darauf verstorben, die Mutter hingegen sei schon die vorige Woche wieder gesund zur Kirche gegangen. Ich bat den Intendenten, mich zu begleiten, und wir begaben uns auf der Stelle zu jener. Sie war ein junges, munteres Weib, zeigte uns ohne Widerrede die große Narbe an ihrer Bauchseite und sagte: »Diesem braven Manne da«, indem sie auf Cessa deutete, »habe ich mein Leben zu verdanken.« Ich nahm jetzt die Hand des Intendenten, bat ihn, auf den von jenem begangenen Fehltritt zu vergessen, und erhielt für ihn Vergebung. Ich glaubte, daß es mit diesem nicht genug sei, machte dem Wundarzte von Seiten des medizinischen Direktoriums ein mäßiges Geschenk und empfahl ihn dem Gubernium zur Gnade und Beförderung. Bald darauf wurde diesem jungen Manne, wenn er sich zur Erlernung der höheren Wundarzneikunst nach Pavia begeben wollte, Unterstützung zugesagt. Da er aber seine[122] Familie und Praxis nicht verlassen konnte, so mußte er auf dieses Anerbieten Verzicht tun.
In Hinsicht auf die ersten fünf in Italien verlebten Jahre konnte ich mit dem Erfolge meiner Verwendungen in diesem Lande zufrieden sein. Schon Bursieri und Tissot hatten mir hier den Weg gebahnet. Allein bei meiner Ankunft zu Pavia fand ich bei vielen meiner hiesigen Schüler, bei aller sonst vortrefflichen Anlage, nicht das feurige Bestreben nach Wissenschaft, nicht den anhaltenden Fleiß, welchen ich in Göttingen bei den meisten zu bemerken Gelegenheit hatte. Ich hielt meine Vorlesungen über die spezielle Therapie in lateinischer Sprache auf das pünktlichste früh von acht bis neun Uhr. Oft fand ich kaum die Hälfte meiner Schüler versammelt: die meisten kamen um eine Viertel-, eine halbe und einige sogar um dreiviertel Stunden zu spät. Hierüber erklärte ich mich alsogleich ernsthaft und bat meine schläfrigen Zuhörer, lieber gar nicht als zu spät zu erscheinen und mich zum Nachteil der fleißigen in meinem Vortrage zu unterbrechen. Da ich diese Äußerung öfters und mit Nachdruck wiederholte, so fruchtete dieselbe so sehr, daß, indem die meisten meiner Schüler die Gewohnheit hatten, ihr Frühstück in einem gemeinschaftlichen Kaffeehause den Vorlesungen vorauszuschicken, sie dieses oft, wenn sie meinen Wagen auch nur von weitem vernahmen, zur Hälfte zurückließen. Bald bemerkte ich, daß meine Zöglinge von den Arbeiten und Fortschritten der Ärzte fremder Länder sehr wenig vernommen und die Literatur ihrer Wissenschaft sehr vernachlässigt hatten. Um so mehr ließ ich mir auch diesen Gegenstand am Herzen liegen. Von neun bis zehn, öfters bis elf Uhr des Morgens und von vier bis sechs, oft bis sieben Uhr des Abends besuchte ich[123] das Klinikum. Da ich nun bei denjenigen, welche unter meiner Aufsicht Kranke zu behandeln übernahmen, die genaueste Geschichte der Krankheit und die Fortsetzung des Tagebuches verlangte, so zogen sich bald viele meiner Schüler, besonders zur Fastnachtszeit, zurück. Da ich inzwischen am Krankenbette vieles zu ihrem Vorteile zu sagen gewohnt war, so unterbrach ich diesen Gebrauch auf einmal, schrieb die Krankengeschichten selbst alle und zeigte, daß ich selbst den Wert meiner Lehren zu viel, als daß ich solche verschwenden sollte, zu schätzen wußte. Da ich mehrere Tage hindurch meine Kranken stillschweigend behandelte, so versammelten sich meine Schüler und fanden für gut, zwei aus ihrem Mittel im Namen von allen an mich abzusenden und mir allen ihren Fleiß und ihre Aufmerksamkeit zu versprechen. Ich nahm sie wie ein zärtlicher Vater seine verirrten Kinder auf und verdoppelte nach diesem mein Bestreben, sie zu dem, was sie jetzt ernsthaft wünschten, zu bilden.
Bisher war die Universitätsbibliothek zu Pavia nur auf Werktage und nur zu gewissen Stunden geöffnet, und wenige meiner Schüler besuchten dieselbe. Ich brachte es dahin, daß auch diesem Fehler abgeholfen wurde, und meine Absicht wurde durch den Eifer des vortrefflichen Vorstehers dieser schätzbaren und mit vielen von dem Kaiser erkauften Hallerschen Büchern sehr bereicherten Sammlung[124] des Abtes Genevrini so befördert, daß jetzt keine der schulfreien Stunden ohne den häufigsten Zulauf junger Ärzte an diese Quelle der Kenntnisse verschwand. Nun sah ich selbst, was die vielen großen Männer dieses Landes schon lange bewiesen hatten, daß der Italiener, was man auch bisher im Auslande sagen mochte, so gut als jeder andere des anhaltenden Fleißes empfänglich und, wenn er in seiner Jugend recht geleitet wird, bei seinen vortrefflichen Anlagen alle Schwierigkeiten ruhmvoll zu besiegen imstande sei.
Bei meinen Vorlesungen bediente ich mich meiner jetzt in Ordnung gebrachten Hefte. Doch wünschten meine Schüler einen Auszug derselben. Diesen bearbeitete ich jetzt so, daß er mehr zu ihrem als zu fremdem Gebrauche dienen konnte. Die unglaubliche Menge meiner übrigen Arbeiten zwang mich oft kurz zu sein, und dadurch verlor mein Werk an Deutlichkeit. Viele meiner Zöglinge konnten sich aus Abgang der Mittel keine anderen Bücher anschaffen. Daher sah ich mich gedrungen, oft ganze Krankengeschichten, welche nicht in einen Auszug gehören, in solchem anzuführen. Ich nannte keinen Schriftsteller mit seinem Namen, zitierte keine ihrer obschon benutzten Stellen, weil ich diese Lücken bei Erklärung meines Textes auszufüllen pflegte. So war also das Werk, wovon ich bisher fünf Bücher geliefert habe, nach und nach entstanden, nämlich:
39. De curandis hominum morbis Epitome, Praelectionibus academicis dicata, Auctore Joanne Petro Frank, etc. Ticini Reg. et Mannheimii 1792 apud Balthasarum Comini 8. Liber I. de febribus.
40. – – – Liber II. de inflammationibus. Ibid. 1792.
41. – – – Liber III. de exanthematibus. Ibid. 1792.[125]
42. – – – Liber IV. de impetiginibus. Ibid. 1793.
43. – – – Liber V. Pars I. de profluviis. Ibid. 1794.
Auch von diesem Werke hat man sich in Venedig einen Nachdruck gestattet, worin zum Glück mehrere, doch nicht alle Druckfehler der Pavesischen Auflage verbessert worden sind. Dr. Mohrbeck, einer meiner Schüler, welchen ich gegen zwei Jahre in mein Haus genommen hatte, übersetzte den ersten Band davon, zwar, wie er sagte, unter meinen Augen, aber weil ich wegen Geschäften ihm wenig an die Hand gehen konnte, nicht mit vielem Glücke ins Deutsche:
Johann Peter Frank über die Behandlung der Krankheiten des Menschen. I. Teil. Mannheim bei Schwann und Goetz 1794. 8.
Späterhin folgten von ihm die übrigen zwei Teile. Ich weiß nicht, wer nach dem Tod dieses Übersetzers jene Arbeit übernommen habe.
Während der verflossenen Jahre bin ich drei Mal an den Hof von Parma, öfters aber nach Piacenza zu Kranken berufen worden und habe so die Gelegenheit gefunden, die dortigen Spitäler und Gesundheitsanstalten genau zu durchsehen.
Endlich wurde im Jahre 1790 die Hohe Schule von Pavia durch den Tod des ihr so wohlwollenden Kaisers Joseph des II., in die tiefste Trauer versetzt. Ich empfand diesen Verlust, wie ich ihn aus Dankbarkeit für seinen der leidenden Menschheit, den Wissenschaften und mir in so vollem Maße gegönnten Schutz empfinden mußte. Im Monat Juli d.J. begab ich mich mit meinem ältesten Sohne über Innsbruck und Salzburg nach Wien. Zu Salzburg hatte ich die Ehre, dem Fürst-Erzbischofe durch meinen verdienstvollen Freund, Hofrat Hartenkeil, vorgestellt zu werden. Ich war[126] kaum 14 Tage in Wien, als ich am 28. August von dem neuen Regenten den Befehl erhielt, das ganze System, welches in dem allgemeinen Krankenhause dieser Hauptstadt befolgt wurde, zu prüfen und über die Veränderungen, die ich für notwendig und zuträglich halten würde, Sr. königl. Majestät meine gutächtliche Meinung untertänigst abzustatten. Ich besuchte drei Wochen hindurch dieses weitschichtige Krankenhaus, erstattete den von mir geforderten Bericht und kehrte ruhig nach Italien zurück. Inzwischen wurden Pfeile des Neides gegen mich gespitzt; doch sobald noch sollten diese nicht auf mich abgeschossen werden.
Am 4. Februar 1791 wurde ich von der Helvetischen Gesellschaft der Ärzte und Wundärzte zum Mitglied erwählt.
Es währte nicht lange, so kam des neuerwählten Kaisers Leopold des II. Majestät in Ihre italienische Staaten. Bei[127] meiner Vorstellung fragte mich der Regent, wie es um sämtliche Spitäler in hiesiger Gegend stünde. Ich antwortete, ich sei hievon nicht mehr hinlänglich unterrichtet; der mailändische Adel habe wie vormals die Leitung aller Krankenhäuser, und zwar auf höchstem Befehl, übernommen; ich aber sei allen gehabten Einflusses auf die Anstalten gnädigst enthoben worden. »So war es nicht gemeint«, sagte der Monarch. »Die medizinische Aufsicht ist Ihnen geblieben, und Sie haben dieselbe wie unter der vorigen Regierung fortzusetzen.« Des anderen Tages besuchte der Kaiser die Hohe Schule, wurde da von allen Professoren auf das feierlichste empfangen und besah die für den öffentlichen Unterricht bestimmten Gegenstände. Als der Rektor sagte, daß nichts mehr vorzuzeigen übrig bliebe, fragte Se. Majestät, warum von dem durch mich aufgestellten pathologischen Kabinette keine Meldung geschähe. Ich selbst gestand, daß dieses Museum wegen seiner Neuheit der höchsten Aufmerksamkeit noch nicht ganz würdig sei. Dennoch sollte es geöffnet werden, und der Kaiser schenkte dieser Sammlung eine gute halbe Stunde. »Wie lange sammeln Sie?« sagte S.M. »Zwei Jahre«, erwiderte ich. »Nun, so haben Sie alles nur Mögliche geleistet, und Ich schätze diese Arbeit nach allen ihren Verdiensten für die leidende Menschheit. Nur Eines bleibt Mir zu wünschen.« Ich wagte es, den höchsten Wunsch zu erraten, indem ich sagte, auch dieser wäre zum Teil schon dadurch, daß ich von den wichtigsten Stücken getreue Zeichnungen veranstaltet hätte und mit der Zeit dem Publikum mitzuteilen gedächte, vermutlich erfüllt. Der Kaiser nahm meine Antwort gnädigst auf, begab sich in das nahegelegene Klinikum und erkundigte sich dort jeder da aufgenommenen Krankheit. Da sich jetzt S.M. in[128] das anstoßende Krankenhaus, von den Vorstehern desselben umgeben, verfügte, ich aber, um allen Anschein von Einmischung in fremde Geschäfte zu vermeiden, in dem Klinikum zurückgeblieben war, so wurde ich herbeigerufen, und S.M. geruhten mich zu fragen: wann Sie dieses Krankenhaus zum letzten Male gesehen hätten. Ich sagte, den 12. Juni 1785 sei dieses Glück demselben zuteil geworden.
»Nun«, sagte der Monarch laut, »Ich kenne dieses Spital kaum mehr, so sehr haben Sie es verbessert. Ich wiederhole Ihnen also den Auftrag, wonach Sie fernerhin die Leitung sämtlicher Spitäler in hiesigem Lande zu übernehmen haben werden.« Nun wurden die auf mich schon zielenden Pfeile bis zu einer besseren Gelegenheit wieder in den Köcher geschoben.
Wenige Tage nachher hatte ich das Glück, des Kaisers M. auch in Mailand vorgestellt zu werden. Bei dieser Gelegenheit erhielt ich nochmals die tröstliche Zusicherung, daß die unter meinem Einflusse getroffene Einrichtung des Medizinalwesens in der Lombardei des höchsten Beifalles genösse, und es wurde mir befohlen, in dieser für die Menschheit so wichtigen Arbeit mutig fortzufahren und, wenn sich mir unüberwindliche Hindernisse entgegenstellten, solche S.M. unmittelbar schriftlich zu eröffnen.
Im Juli 1791 machte ich, abermals in Gesellschaft meines älteren Sohnes, eine Reise in die Schweiz, und bei solcher setzte ich mir zum Hauptziele, die Gegenden, wodurch ich reisen würde, in Hinsicht auf derselben physischen Einfluß auf ihre Einwohner genau zu beobachten und überall die Ärzte, welche mir hierüber den gewünschten Aufschluß geben konnten, zu besuchen. Ich hatte Ursache, mit meiner[129] Ernte zufrieden zu sein. Doch kann ich auch von dieser hier keine Rechnung ablegen und erinnere bloß, daß mir meine Reise auch das Vergnügen verschafft hat, meinen großen Vorfahren auf der Kanzel zu Pavia, den berühmten Tissot in Lausanne, persönlich kennen zu lernen und dessen lehrreichen Umgang drei Tage hindurch zu genießen. In Genf machte ich mit den vortrefflichen Gelehrten Odier, Pictet, Senebier, Cabanis Bekanntschaft. Auf jene des unvergeßlichen Bonnet mußte ich, weil er seinem Tode nahe war, Verzicht leisten. Schon vorher hatte ich nahe bei Zürich einen äußerst interessanten Arzt, den Dr. Hotze,[130] kennen gelernt. Selbst Tissot sagte mir, daß er denselben für den ersten Arzt in seinem Vaterlande halte. Mein Freund Rahn in Zürich sagte mir das nämliche, und so war die Stimme der meisten Schweizer Ärzte, die ich von Hotze sprechen hörte. Möchten der Länder doch viele sein, in welchen sich die Ärzte wechselseitig Gerechtigkeit widerfahren lassen! Mit vielem Vergnügen sah ich noch in Zürich den verdienstvollen Dr. Hirzel. Der berühmte Meister daselbst überhäufte mich so wie Rahn mit Höflichkeitsbezeugungen. Auch Lavater empfing mich auf das zutraulichste. Die Professoren Usteri und Schinz in[131] Zürich so wie Dr. Rengger in Bern, meine ehemaligen Zuhörer, gaben sich alle Mühe, mir meinen Aufenthalt in ihrem Vaterlande angenehm zu machen. Ich übergehe den Überrest dieser für mich so wichtigen Reise und setze die Geschichte meines Aufenthaltes in Italien fort.
Da sich in das Zuchthaus zu Pizzighettone verschiedene der Gesundheit der daselbst verhafteten Personen sehr nachteilige Unordnungen eingeschlichen hatten, so erhielt ich am 13. Dezember 1791 den höchsten Befehl, mich ohne Zeitverlust nach jenem Orte zu verfügen und alles, was auf die medizinische Polizei desselben Bezug hätte, genauestens zu prüfen. Ich fand, daß die Klagen der hier zu 300 angehäuften Elenden nur allzu begründet waren, schilderte derselben Lage mit Nachdruck und teilte meine Gedanken mit, wie, ohne den Zweck jenes Gefängnisses zu verfehlen, den eingerissenen Mißbräuchen abgeholfen werden möchte. Der Hof billigte meine Vorschläge, und das Schicksal dieser Unglücklichen wurde um vieles erleichtert.
Es waren kaum sechs Monate seit der Abreise des Kaisers aus Italien verflossen, als ich der vielen Ränke, die ich spielen sah, überdrüssig und überzeugt, daß ich bei solcher[132] Lage der Dinge wenig mehr nützen könnte, um die höchste Erlaubnis, meine Dienste als Generaldirektor des Medizinalwesens niederzulegen und nur meiner Professur ferner noch vorzustehen, einkam. Noch am nämlichen Tage, an welchem des Kaisers M. diese meine Bittschrift erhalten hatte, geruhten Höchstdieselben Ihrem Gouvernement zu Mailand den Auftrag zu erteilen, daß solches die Beweggründe meines Begehrens untersuchen und darüber seinen Bericht erstatten solle. Ehe aber dieses geschehen konnte, verlor auch dieser Vater seines Volkes sein Leben; und kaum war diese traurige Nachricht nach Italien gekommen, als schon drei meiner Kollegen mich schreckbarer Vergehungen vor dem Throne des neuen Regenten beschuldigten. Die Gerechtigkeit desselben erforderte, daß durch das Mailändische Gubernium der Grund oder Ungrund dieser wichtigen Beschuldigungen genauestens untersucht würde. Während dieser Untersuchung regnete es gegen mich Pasquillen, deren nahe und entfernte Urheber zum Teil auch nicht unbekannt blieben. Ich war in öffentlichen, selbst deutschen Zeitungen als ein Staatsverbrecher, welchen man in Italien bereits in Ketten und Bande gelegt hätte, verschrien. Zu allem schwieg ich stille und verließ mich auf[133] das Bewußtsein meiner Unschuld und auf die Gerechtigkeit meines höchsten Richters.
Schon war ein Jahr verflossen, und noch war kein Urteil erschienen! Im Spätjahre 1792 wurde ich gebeten, einer schwedischen Dame, welche ihrer mißlichen Gesundheit wegen nach Pisa gezogen war, einen Besuch abzustatten. Die Ferien gestatteten mir, diese Reise in Gesellschaft meines ältesten Sohnes alsogleich vorzunehmen. Wir nahmen unseren Weg über Piacenza, Parma, Modena, Pistoja und Lucca. Nachdem ich hier das Wichtigste in Augenschein genommen hatte, setzte ich meine Reise bis nach Pisa fort. Die kranke Dame wurde von dem berühmten Dr. Vacca, Professor der Klinik auf dieser Hohen Schule, behandelt. Nachdem wir unsere Beratschlagung geendigt hatten, besah ich die Merkwürdigkeiten von Pisa. Ich fand das Spital dieser Stadt sehr reinlich. Es lag mir an, mit den medizinischen Professoren dieser Universität bekannt zu werden, und ich stattete denselben, soviel ihrer während[134] den Schulferien hier waren, nämlich den Hrn. Petri, Castellazzi und Branchi, meinen Besuch ab. Auch machte ich mit Hrn. Slopp, Professor der Astronomie, dessen Neffe mein Schüler in Pavia war, Bekanntschaft und besah mit ihm den mit Instrumenten wohl versehenen Wartturm von Pisa. Der Präsident der russischen Admiralität, Graf von Czernichew, befand sich ebenfalls in dieser Stadt. Da mir dessen Gesundheit von dem berühmten Weikard sehr anempfohlen worden war, so stattete ich auch diesem Kranken meinen Besuch ab. Am 24. Oktober verfügten wir uns nach Livorno und besahen hier alles Sehenswürdige. Sodann ging ich über Pisa zurück und nach Florenz, wo ich das Glück hatte, des Großherzogs von Toskana Königl. Hoheit vorgestellt zu werden. Nachdem wir die Seltenheiten dieser prächtigen Stadt beobachtet hatten, machte ich mit einigen berühmten Männern derselben, besonders mit Felice Fontana, Bicchieraj und Nannoni, Bekanntschaft. Dieser übernahm es, mir das prächtige Spital di Santa Maria Nuova, wovon er der[135] erste Wundarzt war, nach meinem Wunsche auf das genaueste vorzuweisen. Ich war mit allen Einrichtungen, besonders aber mit jenen für wahnsinnige Kranke, äußerst zufrieden.
Ich kam nach Pavia zurück, ohne daß ich von dem Ausgang meiner Streitsache etwas vernehmen konnte. Bald wurde meine Gesundheit auf das heftigste erschüttert, als mitten unter den gräßlichsten Verleumdungen einer der vortrefflichsten Fürsten Deutschlands, des regierenden Herrn Markgrafen von Baden Durchlaucht, mich als Landeseingebornen zu seinem ersten Leibarzt zu bestimmen geruhte. So lange aber meine Rechtschaffenheit angetastet blieb, konnte ich mich unmöglich entschließen, Italien zu verlassen. Kaum hatte ich mich zur Hälfte erholt, als ich mich, den Ausgang meiner Sache zu befördern, nach der Hauptstadt verfügte. Hier wurde ich des Kaisers Majestät vorgestellt. Höchstdieselben geruhten mir auf das gnädigste zu sagen: meine Unschuld sei gerichtlich erwiesen, das Urteil aber nach Italien bereits abgesandt worden. Durch solches wurde ich feierlich schuldlos erklärt, in allen meinen Ämtern bestätigt, und meine Ankläger wurden nach Verdienst[136] bestraft. So sehnlich ich nun gewünscht hatte, in den Schoß meines Vaterlandes zurückzukehren, so war es mir doch nicht möglich, Diensten zu entsagen, in welchen ich so gerecht und edel behandelt worden war.
Als ich nach Mailand zurückkam, erfuhr ich, daß meine guten Schüler zum Zeichen ihrer Anhänglichkeit mir entgegenzufahren und mich mit Gepränge nach Pavia zu begleiten beschlossen hatten. Ich bat sie, alles, was die alten Gehässigkeiten erneuern möchte, gänzlich zu vermeiden. Von dieser Zeit an genoß ich in Italien wieder der zu meinen so wichtigen Geschäften so erforderlichen Ruhe.
Endlich erhielt ich am 15. Jänner 1795 den höchsten Befehl, mich alsogleich nach Wien zu begeben und daselbst einer von Sr. K.K. Majestät zur Verbesserung des Medizinalwesens bei Höchst Ihren Armeen niedergesetzten Militärsanitäts-Kommission beizusitzen. Den 26. d.M. traf ich in der Hauptstadt ein. Während dem mir auferlegten Geschäfte wurde die klinische Schule zu Pavia auf Verordnung des mailändischen Guberniums von meinem ältesten Sohne, welcher schon im vorigen Jahre in jener zu meinem Assistens ernannt worden war, fortgesetzt, und in eben diesem Jahr wurde auch meinem jüngeren Sohne die Doktorswürde in der Arzneiwissenschaft erteilt.
Nach vollendetem Kommissionsgeschäfte geruhten des Kaisers Majestät am 20. November 1795 mich meiner zehn[137] Jahre hindurch in Italien geleisteten Dienste zu entheben und dagegen in der Hauptstadt zum K.K. Hofrate, zum Direktor des allgemeinen Krankenhauses und zum ordentlichen Professor der praktischen Arzneischule bei der Universität zu Wien zu ernennen und mir einen jährlichen Gehalt von 5000 Gulden, ohne allen hievon zu leidenden Abzug, nebst einer schicklichen freien Wohnung und zur Bestreitung meiner Reisekosten erforderlichen Summe allergnädigst anzuweisen. Zugleich wurde mein Sohn, Doktor Joseph Frank, zum Primarärzte des hiesigen allgemeinen Krankenhauses ernannt. Da aber jetzt die Schulen zu Pavia bald wieder eröffnet werden sollten, so wurde von Sr. M. befohlen, daß der inzwischen nach Wien gekommene Primararzt Doktor Frank wieder nach jener Hohen Schule zurückkehren und unter Ernennung zum außerordentlichen Professor die praktische Kanzel sowie das Klinikum einstweilen und bis zur Ernennung meines Nachfolgers daselbst versehen sollte.
Am 14. Dezember 1795 fing ich meine praktischen Vorlesungen in lateinischer Sprache nach meiner Epitome de curandis hominum morbis auf der Hohen Schule zu Wien an,[138] und nach wenigen Tagen eröffnete ich auch die klinische Anstalt in dem allgemeinen Krankenhause. Zu jenen war ich vermöge meiner Anstellung keineswegs verbunden, aber ich glaubte notwendig, die Grundsätze, nach welchen ich am Krankenbette handle, meinen Schülern auf das deutlichste zu erklären; und bis jetzt habe ich immer fortgefahren, denselben täglich eine Stunde in diesem Geschäfte unentgeltlich zu widmen. Die Anzahl meiner Schüler war gegen die zu Pavia nicht beträchtlich, so ansehnlich übrigens die Menge derjenigen war, welche die Neugierde anfänglich versammelt hatte. Zur Stelle meines assistierenden Arztes wurde mein jüngerer Sohn, Doktor Franz Frank, ernannt. Das medizinische Klinikum bestand damals, so wie das nebenanstoßende chirurgische, in zwei kleinen, nur auf einer Seite mit Fenstern versehenen und durch einen ziemlich finsteren, im Winter meistens mit Rauch angefüllten Gang von einander getrennten Stuben, in deren jeder sechs Betten, auf der einen Seite für das männliche, auf der anderen für das weibliche Geschlecht aufgestellt waren. In der Mitte war ein besonderes, auch kleines, den chirurgischen Operationen gewidmetes Zimmer mit einem Bette. Für drei von ungefähr[139] 25 bis 30 jungen Ärzten zu besuchende Krankenbetten wären diese Stuben eben nicht viel zu enge gewesen; aber zu Stoll's Zeiten, wo ich im Jahre 1785 gegen 75 Zöglinge hier versammelt gefunden habe, war der Raum viel zu eng, und die Luft mußte hier sehr geschwind eine sowohl diesen als den Kranken bedenkliche Eigenschaft annehmen. Kaum war ich zwei bis drei Monate hier angestellt, als eine beträchtliche Anzahl fremder junger Ärzte zur Benützung dieser Anstalt nach Wien kam. Diese und eine Menge von Wundärzten, welche hier gehalten sind, vor ihrer Prüfung auch die medizinisch-praktische Schule eine Zeit lang zu besuchen, hoben bald alles Verhältnis zwischen dem Raume der Klinik und der Anzahl ihrer Schüler. Bald erkrankten, was schon öfters unter Stoll geschehen war, viele unter diesen sehr heftig an ansteckenden Fiebern. Ich machte deshalb sogleich gehörigen Ortes meine Vorstellungen. Ehe aber noch eine Abänderung geschah, wurde leider mein eigener Sohn, Doktor Franz Frank, am 19. März 1796 ein Schlachtopfer seines Eifers und der hier herrschenden Gefahren. Ich spare auch hier dem Leser die Erwähnung meiner schrecklichen Empfindungen bei solch einem Verluste. – Nun wurde Doktor Thomas Cappellini aus[140] Pistoja, welcher meine Schule noch in Pavia besuchte und sich da als ein sehr geschickter junger Mann ausgezeichnet hatte, zu meinem assistierenden Arzte ernannt. Bis die medizinische Klinik erweitert würde, erhielt ich jetzt die Erlaubnis, die chirurgisch-praktische Schule anderswohin zu übersetzen. Zu solchem Ende wies ich derselben in dem allgemeinen Krankenhause zwei geräumige Krankensäle, jeden für 20 Kranke beider Geschlechter, an. Das zwischen diesen Sälen befindliche ansehnliche Zimmer wurde auf Gutheißen der Regierung zu einem chirurgischen Amphitheater zugerichtet, in welchem für die Zukunft alle wichtigen chirurgischen Operationen, die vormals auf den Krankenzimmern selbst zum Abscheu und Schrecken der übrigen gegenwärtigen Kranken vorgenommen zu werden pflegten, sowohl von den Primarwundärzten des allgemeinen Krankenhauses als selbst von dem Professor der chirurgischen Klinik im Beisein aller seiner und meiner Schüler vorgenommen werden sollten. Die ehemaligen Stuben der chirurgischen Klinik besetzte ich jetzt mit innerlichen Krankheiten zum Gebrauche meiner Schüler, und indem ich jedes meiner vier Zimmer nur mit fünf Betten besetzte, so gewann ich etwas mehr Raum und konnte täglich 20 Kranke mit meinen Schülern daselbst besuchen. Da inzwischen noch immer viele von diesen, deren Anzahl sich jetzt durch den Zulauf von Fremden aller Nationen von Monat zu Monat sehr vermehrte, von ansteckenden Krankheiten allzu oft litten, so wurden endlich auf Höchsten Befehl die vier kleinen Stuben der Klinik mit Hinzuziehung des mittleren Ganges in zwei schöne, ziemlich hohe und auf drei Seiten mit Fenstern so wie mit Ventilatoren wohl versehene Krankensäle, jeder mit zwölf Betten, der eine für das männliche, der[141] andere für das weibliche Geschlecht, aufgerichtet; und so wurde die Gefahr der Ansteckung um sehr vieles vermindert.
Da in einem so großen Spitale, wie das hiesige ist, so manche unheilbare Krankheit, so mancher in der gemeinen Praxis seltene Zustand, so mancher dem Auge des auch noch so erfahrenen Arztes dunkler Vorfall aufstößt, so schien mir hier vorzüglich der Ort, dem Sitze, den Ursachen und Wirkungen dieser Krankheiten in den traurigen Opfern derselben nachzuforschen und durch pathologische Leichenöffnungen die Grenzen ärztlicher Kenntnisse zu erweitern. Zwar waren seit Eröffnung dieses Krankenhauses durch den Privatfleiß seiner Ärzte und Wundärzte mehrere Leichen sorgfältig geöffnet worden; aber oft fehlte es diesen an Zeit, an einem zu solchem Geschäfte schicklichen Orte, an erforderlichen Hilfsmitteln; und dann so erheischt die Zubereitung vieler solcher krankhafter Gegenstände, damit sie in ihrem vorteilhaftesten Lichte aufgestellt werden mögen, eine gewisse Übung und Fertigkeit, die wirklich nicht die Sache eines jeden Zergliederers ist, so sehr er auch übrigens mit dem gesunden Bau des menschlichen Körpers bekannt sein mag. Gesetzt aber, sämtliche diese Hindernisse wurden überwunden, so kamen doch nur die wenigsten von so wichtigen Präparaten in die rechten Hände. Die meisten davon blieben in jenen einzelner Ärzte und Wundärzte, und der öffentliche Unterricht blieb dieser so äußerst wichtigen[142] Hilfsmittel beraubt. Zwar sind in dem anatomischen Kabinett der hiesigen Hohen Schule durch den unermüdeten Fleiß seiner vortrefflichen Vorsteher auch manche sehr wichtige pathologische Präparate gesammelt worden; aber gegen dasjenige dieser Art, was mit den Leichen des allgemeinen Krankenhauses ohne genaues Nachforschen verscharrt wurde, war es doch immer noch sehr wenig, und zudem war es sowohl unter andern, mehr physiologischen Zubereitungen aufgestellt als ferne von dem Orte, wo es der Lehrer der medizinischen Praxis bei seinen täglichen Vorlesungen füglich hätte benützen mögen. Hier in dem Spital fand ich kaum vier bis fünf pathologische, dazu noch übel verwahrte Präparate. Und wie hätten derselben wohl viele in dem abscheulichen und den unerträglichsten Gestank verbreitenden Leichenhause von den auch noch so eifrigen Ärzten und Wundärzten dieser Anstalt ohne augenscheinliche Lebensgefahr erworben werden mögen? Meine vorzüglichste Sorge ging also dahin, daß sowohl für diesen Endzweck als zur Rettung der Scheintoten ein geräumiges und zugleich reinliches Leichenhaus, neben diesem aber eine kleine, zum Wärmen des benötigten Wassers u.s.w. brauchbare Küche und sodann ein zur pathologischen Leichenöffnung eigens bestimmtes Zimmer nebst einer Seitenkammer für den Prosektor errichtet würden, und dieser gemeinnützige Vorschlag wurde ohne Anstand genehmigt. Bei der Menge von Leichen in einem so großen Krankenhause,[143] wohin noch so viele Kranke in den letzten Augenblicken ihres Lebens gebracht werden, war ein eigener pathologischer Prosektor erforderlich, und zu einem solchen wurde Rudolph Aloys Vetter bestellt. Zur Ordnung und Aufbewahrung der pathologischen Präparate wurde einstweilen ein an den Hörsaal für die praktische Schule anstoßendes, geräumiges Zimmer nebst den gehörigen Schränken, Gefäßen bestimmt und zugleich befohlen, über das Gesammelte ein genaues Verzeichnis zu führen und so viel als möglich demselben auch eine kurze Geschichte des tödlich ausgefallenen Übels einzuverleiben. Die übrigen Spitäler Niederösterreichs erhielten die Weisung, sich mit ähnlichen Beschäftigungen abzugeben und das Vorgefundene an das neuerrichtete pathologische Museum dahin einzusenden. Obschon nun dieser letztere Endzweck bisher nicht erfüllt worden ist und von daher kaum zwei Präparate dieser Art eingegangen sind, so sind doch von den bloßen Leichen des Krankenhauses und durch Beiträge meiner auswärtigen, für die Wissenschaft besorgten Freunde in den[144] ersten zwei Jahren dieser Anstalt viele und zum Teil sehr wichtige Präparate aufgestellt worden; und wenn unser Fleiß nicht erkaltet, so dürfte dieses Museum in weniger dann zehn Jahren das erste dieser Art in Europa werden.
Da ich bisher stets der Meinung war, daß der Errichtung eines nur in etwas ansehnlichen Krankenhauses immer drei Gesichtspunkte, nämlich erstens die Verpflegung dürftiger Kranken, zweitens die Erziehung geschickter Ärzte und Wundärzte, drittens aber die Beförderung, Erweiterung der Heilwissenschaft vorgesetzt werden sollten, so blieb mir noch manches zur Erzielung so großer Endzwecke vorzuschlagen übrig.
Für den ersten aus diesen waren schon vor mir sehr vortreffliche Einrichtungen gemacht worden; doch schien mir das Werk noch immer nach und nach vervollkommnet werden zu können. Die ehemals sehr gute, bloß schriftlich verfaßte Pharmakopoe des allgemeinen Krankenhauses war den doch immer vorrückenden Zeiten nicht mehr ganz angemessen, und die jährlichen Auslagen für Arzneien, welche im Durchschnitt gegen 45,000 fl. betrugen, schienen mir ohne allen Nachteil und sogar zum gewissen Nutzen der Kranken gemäßigt werden zu können. Die Landesregierung gestattete daher, daß die vor wenigen Jahren von der Militärsanitätskommission dahier entworfene, neue Militärpharmakopoe, welche auch unsere Spitalärzte und Wundärzte bis auf Weniges, was die Behandlung so vieler Gebärenden[145] und Kinder angeht, für hinreichend erklärt hatten, den gewöhnlichen Arzneivorschriften zum Grund gelegt würde. Durch diese Verfügung erwuchs auch mit Abzug der jetzt nicht mehr wie ehemals für auswärtige Kranke in dem Spitale befindlichen und jährlich mit einer Auslage von 4000 bis 5000 fl. verknüpften sogenannten Frühordination verursachten Unkosten eine jährliche Ersparnis von 7000 bis 8000 Gulden. Hingegen schien mir die Kost der Kranken, nicht sowohl in Hinsicht auf die Gattungen der Speisen dann in Rücksicht auf die Freigebigkeit der Ärzte in Darreichung dieser oder jener erhöhten Nahrungsportion für wiedergenesende Kranke, einen Zusatz und folglich größere Auslagen dringend zu fordern. Unsere meisten Kranken bestehen aus armen Handwerksleuten, Tagelöhnern u.s.w., welche, um wieder zu ihrem mühseligen Gewerbe zurückkehren und ihre darbende Familie ernähren zu können, ihrer Kräfte bedürfen. Bei aller vernünftigen Sparsamkeit, die ich daher den Spitalärzten und Wundärzten in Hinsicht auf die nicht ganz hinreichenden Quellen der Spitaleinkünfte anempfahl, drang ich dennoch darauf, daß nichts gespart würde, was zur geschwinderen, folglich auch dem Spitale selbst vorteilhaften Erholung der Wiedergenesenden beizutragen im Stande wäre. Die Speisen für die Kranken des Spitals wurden damals von eigenen Pächtern oder Traiteurs geliefert; und bei diesen gingen zugleich mehrere Sekundarärzte und Wundärzte des Krankenhauses[146] damals in die Kost. Da aus diesem letzteren Umstände leicht wechselseitige Verbindlichkeiten entstehen konnten, so wurde erwähnten Ärzten und Wundärzten aufgetragen, sich eines anderen Tisches zu bedienen. Da nun den Pächtern sowohl für die tägliche Verköstigung der unentgeltlich aufgenommenen als für die verschiedenen Klassen der bezahlenden Kranken ein bestimmter Preis ausgesetzt worden war, so machten jene Verfügungen, daß die Traiteurs sich äußerst beschwerten und die Lieferung der Krankenkost, so wie sie jetzt von den Ärzten und Wundärzten verschrieben würde, für jenen Preis nicht mehr liefern zu können erklärten. Eine kleine Zulage konnte die Pächter noch nicht zufriedenstellen; und da ich es selbst mit ihrer Bedienung nicht war, so wurde auf Gutbefinden der Regierung in Hinsicht auf Küchenwesen die freilich um vieles bessere, aber bei jetzigen so teuren Zeiten auch kostspielige Regie eingeführt. Da die Brotportionen bisher nach einem 1784 bestimmten Preise dargereicht wurden und mit steigender Teuerung immer kleiner und endlich ganz unzureichend geworden waren, so wurden dieselben jetzt nach dem beständigeren Gewichte bestimmt und nach den in andern ansehnlichen Krankenhäusern Deutschlands und Italiens üblichen Brotgaben um ein merkliches erhöht. Die Stundenordnung des Spitals schien mir zwischen der Einnahme der verschriebenen Arzneien und dem Genusse der Speisen für die unentgeltlich und für die gegen Bezahlung von 10 Kr. aufgenommenen Kranken nicht Raum genug zu lassen. Erst um acht Uhr des Morgens kamen die Ärzte zum Krankenbesuche; und so konnten sämtliche von ihnen verschriebene Arzneien nicht wohl früher als gegen zehn bis elf Uhr aus der Spitalapotheke geliefert werden. Dies waren aber die[147] zum Abspeisen der Kranken bestimmten Stunden; und so konnte den Patienten außer von jenen Mitteln, die schon des Abends vorher verschrieben worden waren, aber des folgenden Tages nicht selten ausgesetzt werden mußten, bis gegen die Mittagsstunde nur sehr wenig gereicht werden. Des Nachts wurden ohnehin selten Arzneien innerlich gegeben. Ich setzte demnach den Frühbesuch der Kranken von ihren Ärzten und Wundärzten das ganze Jahr hindurch auf sieben Uhr, des Mittagsmahles aber auf elf Uhr des Morgens. Da das Abendessen auch jetzt noch um fünf Uhr gereicht wurde, so wurde zwar hiedurch die Zwischenzeit um eine Stunde abgekürzt; aber, weil doch immer viel weniger dann zu Mittage genossen wird, die Fortsetzung der Arzneien nur wenig unterbrochen. In bedenklichen Krankheiten mußten jetzt die Arzneimittel zur Nachtzeit gehörig fortgegeben werden.
Zwar waren auch vorhin für die Wiedergenesenden beiderlei Geschlechts zwei eigene Säle angewiesen worden; da aber so nicht immer eben derselbe Arzt, welcher sie in ihrer kaum überstandenen Krankheit behandelt hatte, die Rekonvaleszenten besorgte, so entging dem fremden Arzte vieles, was zur zweckmäßigeren Behandlung der Wiedergenesung zu wissen erforderlich ist, und dem Genesenden fiel es schwer, seine eigene Krankheitsgeschichte getreu zu erzählen und in einen ihm unbekannten Arzt sein Zutrauen zu setzen. Daher war nun nahe an jeder ärztlichen Abteilung ein eigenes Zimmer für die Wiedergenesenden bestimmt; und diese wurden, bis sie endlich als geheilt das Krankenhaus verlassen konnten, von ihrem bisherigen Arzte behandelt.
Die Heilung aller innerlichen Krankheiten war bisher vier[148] Primarärzten des Krankenhauses überlassen, und so hatte ein jeder derselben, besonders im Spätjahre und Winter, oft 150 und 180 und mehrere Kranke zu behandeln. Es war mir zwar nicht unbekannt, daß es Spitäler gäbe, in welchen ein Arzt 300 bis 400 Kranke allein zu besorgen hat. Aber da ich aus eigener, langwieriger Erfahrung wußte, was ein Mann in so wichtigen Dingen zu leisten vermöge; da mir nicht unbekannt war, daß bei einer allzu großen Anzahl von Kranken das Gedächtnis dem Heilenden nicht immer so getreu bleibe, um daß nicht aus diesem Mangel der Erinnerung manchem Kranken ein Nachteil zuwachsen dürfte; da ich wenigstens drei Minuten Überlegung von dem Arzte bei jedem Krankenbette erwarten mußte, so viel Zeit aber den Arzt bei auch nur 150 Kranken im Durchschnitte doch über vierhalbe Stunden, also bis über die zum Abspeisen der Kranken angewiesene Zeit zurückhalten würde; da auf solche Weise die zuletzt zu bedienenden Kranken des Morgens sehr lange nicht abgefertigt werden könnten; da ich endlich durch die Erfahrung überwiesen worden war, daß in einem Zeitraume von zwölf Jahren in dem allgemeinen Krankenhause zu Wien mehr Ärzte und Wundärzte ein Opfer ansteckender Spitalfieber geworden waren als sonst in fünf Spitälern gleicher Größe in so viel Zeit zu fallen pflegen; daß folglich eine allzugroße Ausdehnung der Krankenbesuche an einem solchen Orte sowohl den Kranken leicht nachteilig als den Ärzten sehr gefährlich werden dürfte; so war ich der Meinung, daß der fünfte Primararzt für das allgemeine Krankenhaus nichts weniger als überflüssig, sondern sogar notwendig sei. Da nun inzwischen bei Aufhören[149] der Frühordination in dem allgemeinen Krankenhause, so wie schon in den Vorstädten geschehen war, auch in der Stadt selbst ein Armenarzt bestellt, zu diesem Amte aber ein Primararzt des allgemeinen Krankenhauses gewählt wurde, so wurde dessen Stelle auf meinen Antrag durch den als Schriftsteller bekannten, gelehrten praktischen Arzt Dr. Sallaba wieder besetzt. So nämlich, wie ich einst zu Pavia getan hatte, wünschte ich auch dem hiesigen Spitale beständig solche Ärzte, die nebst der erforderlichen Erfahrung auch die Theorie der Heilwissenschaft in ihrem ganzen Umfange besäßen und in den Entdeckungen der Zeit so vorgerückt wären, daß die hiesigen Arzneischüler nicht nur auf der praktischen Schule, sondern auch auf jeder Abteilung des Spitales den bestmöglichsten Unterricht finden und so nicht nur des klinischen Professors, sondern allenfalls auch verschiedene Heilmethoden zu beobachten und die eine mit der anderen zu vergleichen Gelegenheit finden möchten. Doktor Sallaba, der an einem unheilbaren Brustübel litt, wurde schon in den ersten Monaten von einem Spitalfieber dahingerissen; und nun wurde dessen Stelle mit Dr. Rensi, welcher schon seit Aufrichtung des allgemeinen Krankenhauses als Sekundararzt gedient hatte, besetzt. So wie nun durch Anstellung eines fünften Primararztes die Auslagen für das Spital erhöht wurden, so wurden dieselben in der[150] Folge, als der Primarwundarzt Sartori mit Tod abging, weil vier Primarwundärzte die nicht so häufigen Externisten (mit äußerlichen Übeln Behafteten) des Spitals gar füglich bedienen mögen, bis auf einige hundert Gulden wieder ersparet.
Die Pferdeställe unter den weiblichen Guldenzimmern wurden in mehrere einzelne Krankenzimmer, woran es in unserem Spitale hauptsächlich fehlt, für epileptische oder für andere die Ruhe störende oder Abscheu erregende Patienten zugerichtet.
Da aber die meisten in dem Irrenturme befindlichen Wahnwitzigen aus Mangel eines schicklichen Platzes nie aus diesem ungesunden Gebäude gelassen werden konnten und sich auf Sonn- und Feiertage eine Menge müßiger, fürwitziger Personen um jenen Turm versammelte, die daselbst verhafteten Personen durch Zurufen störte, oft reizte, auch manchmal denselben schneidende und andere schädliche Werkzeuge zu steckte, so wurde jetzt auf meinen Rat hin durch eine Mauer aller willkürlicher Zutritt versperrt, zugleich aber zu beiden Seiten des Irrenturms ein Rasenplatz mit Bäumen besetzt und den unglücklichen Verrückten zu einiger Bewegung in freier Luft und zu ihrer Ergötzung angewiesen.
Die in jeder Zelle der Wahnwitzigen befindlichen, einen[151] unerträglichen Gestank verbreitenden Abtritte wurden vermauert, hingegen wurde jenen ein verdecktes Gefäß, welches, so oft es zu ihren Bedürfnissen gedient hatte, sogleich beseitigt werden konnte, angewiesen.
Auch die chirurgischen Bandagen und Instrumente wurden jetzt verbessert oder ergänzt; und da von letzteren kein erforderlicher Vorrat mehr vorhanden war, so wurde auch für diesen gesorgt.
In Hinsicht auf Erziehung geschickter Ärzte und Wundärzte, so ward hiezu durch die Erweiterung beider klinischen Anstalten, durch die Aufnahme mehrerer merkwürdiger Fälle, durch das chirurgische Amphitheater, das pathologische Kabinett so wie durch die täglichen, das ganze System der praktischen Heilkunst umfassenden Vorlesungen, weil die sämtlichen Sekundarärzte, Wundärzte und Praktikanten des Spitals diese Anstalten, so viel es der Spitaldienst gestattete, fleißig besuchten, schon der Grundstein gelegt. Da aber die Entfernung des Spitals von öffentlichen Büchersammlungen und die Unmöglichkeit, sich die benötigten Bücher selbst anzuschaffen, noch manchen an täglicher Erweiterung seiner Kenntnisse verhinderten, so wurde zu einer kleinen medizinisch-chirurgischen Handbibliothek der Anfang gemacht, um solche, sobald sie nur einigermaßen in Ordnung und mit den erforderlichen Bequemlichkeiten versehen sein wird, dem Gebrauche der Spitalärzte und Wundärzte zu widmen.
Was die Beförderung und Erweiterung der Heilwissenschaft angeht, so sind die pathologischen Leichenöffnungen, die Aufbewahrung und Beschreibung der bei diesen vorgefundenen Gegenstände zur Erreichung eines solchen Endzweckes sehr beträchtliche Hilfsmittel. Von den wichtigsten[152] Beobachtungen so wie von den herrschenden Krankheiten, die von den Primarärzten und Wundärzten auf ihren Abteilungen gemacht wurden, geschieht bei den gewöhnlichen Sitzungen der sogenannten Hauskommission jedesmal Meldung. Wenn unter jenen Ärzten einer neu entdeckte, bereits öfters mit Erfolge anderwärts geprüfte, obschon in der Militärpharmakopoe nicht enthaltene Arzneimittel anzuwenden gedenkt, so wird ihm hiezu von der Spitaldirektion Gelegenheit verschafft.
Im Jahre 1797 wurde ich zu der von Sr. M. niedergesetzten Studienrevisions-Hofkommission gezogen und entwarf den medizinisch-chirurgischen Unterrichtsplan, welchen dieselbe der Höchsten Genehmigung des Monarchen überreicht hat. In eben diesem Jahre verfertigte ich zu meines Sohnes, des Primararztes Dr. Joseph Frank's Ratio Instituti clinici Ticinensis; Vienna 1797, 8 vo., eine eigene Vorrede, in welcher ich meine Gedanken über die Brownische Lehre näher entwickelt habe.
Am 22. Juni 1798 wurde ich zum Mitglied des Königl.[153] Spanischen Kollegiums der Ärzte zu Madrid und im November 1800 zu jenem des Kollegiums der Ärzte und Wundärzte zu Venedig ernannt. Im Juli d.J. erlitt ich einen starken, obschon kurzen Anfall von Podagra, nach welchem ich in eine merkliche Schwäche verfiel und an beiden Füßen von einer beträchtlichen Wassergeschwulst ergriffen wurde. Ich sah ein, daß ich eine Zeit lang allen Arbeiten entsagen und der Landluft genießen mußte. Daher begab ich mich nach Oberösterreich an den Gmundnersee, besuchte von da das Kammergut und erholte mich in diesen romantischen Gegenden in elf Tagen auf das Vollkommenste.
Endlich wurde ich auch der am 16. Juli 1801 wegen künftiger Einrichtung und Organisation der dahiesigen Vieharzneischule und Tierspitals niedergesetzten Kommission zugesellt. Schon in meinem für die Universität zu Pavia entworfenen Plane hatte ich darauf angetragen, daß auf derselben auch solch eine Schule errichtet oder vielmehr jene, die schon zu Mantua bestand, diesem Mittelpunkt der Studien einverleibt und erweitert werden möchte. Ich zeigte[154] damals die Vorteile einer engeren Verbindung beider Wissenschaften an ein und dem nämlichen Orte und erwies, daß die Arzneiwissenschaft, wenn man ihr nicht von jeher so enge Grenzen gesetzt und sie nicht bloß auf eine, obschon die edelste Gattung lebender Geschöpfe eingeschränkt hätte, schon lange einen höheren Grad von Vollkommenheit erreicht haben würde. Wie sehr, sagte ich, hat sich nicht die Lehre vom gesunden Zustande des Menschen und dessen Verrichtungen zu ihrem Vorteile verändert, seitdem man den Körperbau verschiedener Gattungen von Tieren, die Werkzeuge ihrer Verrichtungen genauer zergliedert und diese und jene mit einander verglichen hat? Welch ein Licht hat nicht selbst eine nähere Bekanntschaft mit dem Leben der Pflanzen über jenes der Menschen und ihrer tierischen Verwandten verbreitet? Warum also nur stückweis arbeiten und immer das Ganze der Teile wegen vernachlässigen wollen? ... Man lehre zuerst, fuhr ich fort, eine allgemeine Anatomie, eine allgemeine Physiologie der ganzen lebenden Natur für alle Klassen von Menschen, die sich den doch immer verschwisterten Wissenschaften widmen wollen, ehe man diese wichtigen Teile der Menschenarzneiwissenschaft so ins Feine zu bearbeiten und die Anwendung derselben auf eine Gattung von Geschöpfen den künftigen Ärzten zu erklären gedenkt. Man errichte anatomische Kabinette, in welchen Teile, die bei verschiedenen Tieren eine gleiche Verrichtung haben, neben einander gestellt, Teile aber, welche nur einer Gattung von Tieren zu besonderen Verrichtungen gegeben worden sind, in ein besonderes Fach eingetragen werden. Zu beiden werden auch die Pflanzen ihre Beiträge liefern. Gleich neben diesen anatomisch-physiologischen Kabinetten lasse man die durch Krankheit veränderten[155] oder neu erzeugten Teile eben dieser Tiere und Pflanzen zur vergleichenden Krankheitslehre in einem pathologischen Museum folgen! Nebst der klinischen, sowohl ärztlichen als wundärztlichen Schule sei unsere Hohe Schule auch mit eigenen Krankenställen für Pferde, für Hornviehe, für Schafe versehen! Diese Krankenställe besuchen eigene, für die Tierarzneikunde bestellte Lehrer; aber es besuche sie auch der Professor der Klinik samt seinen Schülern und bestimme den Unterschied der Ursachen, der Symptome, welche eine und die nämliche Krankheit bei Menschen und bei Haustieren verursachen, begleiten, so wie die verschiedene Wirkungsart der Mittel, ihre Dosen bei Menschen und bei erwähnten Tieren. Der Vieharzt sei zugleich ein erfahrener Menschenarzt, und beide suchen durch eine vergleichende Therapie die Grenzen beider Wissenschaften täglich zu erweitern! Der von mir vorgelegte Plan fand den Höchsten Beifall, und Kaiser Joseph II. befahl denselben auszuführen, als auf einmal die Sache eine andere Wendung nahm und die Vieharzneischule nach Mailand versetzt wurde.
Noch vor Ende des Schuljahres 1801 erhielt ich den Höchsten Befehl, in dem hiesigen allgemeinen Krankenhause die sogenannten Kuhpocken oder Vaccine einer Anzahl von Waisen und Findelkindern einzupropfen, nach einiger Zeit aber mit Einimpfung der wahren Pocken an[156] eben jenen Kindern die Gegenprobe öffentlich vorzunehmen und über die gemeinnützigen Versuche meinen Bericht abzustatten. Mit Anfang des Septembermonats befolgte ich diesen wichtigen Auftrag in Hinsicht der Kuhpockenimpfung an 26 Kindern, wovon jedoch nur 15 die Vaccine deutlich erhielten. Die Zwischenzeit benützte ich zu meiner so nötigen Erholung und begab mich eben dahin, wo ich im vorigen Jahre meine verlorene Gesundheit wieder erhalten hatte. Von da machte ich eine Seitenreise nach Salzburg. Im November eben dieses Jahres nahm ich mit eben den 15 Kindern, welchen die Vaccine mit Erfolg eingeimpft worden war, mit wahrem Pockeneiter die Gegenprobe vor, und ich erinnere hier bloß, daß diese ganz zum Vorteile der Kuhpocken ausgefallen sei.
So viel von meinem Leben! Wenigstens war solches bis auf diesen Augenblick sehr rastlos und, ich darf es wohl sagen, mehr meinen Mitmenschen dann mir selbst gewidmet. Manchmal befällt mich nun mein Spleen, und da sage ich mir heimlich: Hättest du den Stand deines Vaters gewählt, du hättest doch ruhiger geschlafen! Geschlafen? antwortet später die Vernunft; und wer ist bloß zu diesem geboren? Dann schweige ich schamrot und lade mutig die schon gewohnte Last auf meine schon alten Schultern. Des Undankes kann ich weder Deutschland noch Italien beschuldigen. Das schmachtende Pflänzchen, welches ich als[157] Verfasser der medizinischen Polizei in jenen Boden versetzt habe, ist in einem nicht sehr langen Zeiträume zu einem Baume emporgewachsen, welcher seine Äste bereits über den größten Teil von Europa ausgedehnt und überall Früchte, deren Reife ich sobald selbst nicht erwartet hätte, getragen hat. Unter dem Schatten solch eines Baumes mein Grabmal! Wird wohl je die Mißgunst auch meine Asche da zu beunruhigen wagen? Ich kam als ein Deutscher nach Welschland, um zu jener Quelle, aus welcher vor diesem ganz Europa die wichtigsten Kenntnisse in der Heilkunde begierig zu schöpfen pflegte, die nämliche, seitdem um vieles vervollkommnete Wissenschaft zurückzuflößen. Habe ich diese große Bestimmung erfüllt, reden unter den 2000 Ärzten, die ich dort gebildet habe, die meisten zum Vorteile des genossenen Unterrichtes, so habe ich die Achtung der Fremden für die schnelle Kultur meines Vaterlandes gerechtfertigt, und das geniereiche Italien hat mir in seinem durch zehn Jahre nie ausgesetzten Zutrauen ein ehrenvolles Denkmal gestiftet. Freilich bin ich bei allen meinen Arbeiten noch ein großer Schuldner derjenigen, die mich bisher mit ihrem Beifalle beehrt haben. Noch habe ich von meinem System der medizinischen Polizei, um daß es vollständig heißen möge, zwei – von meiner Epitome de curandis hominum morbis wenigstens noch drei Bände zu liefern. Von meinen in der Klinik von drei Hohen Schulen gemachten, zum Teil sehr wichtigen Beobachtungen habe ich nicht den tausendsten Teil bekannt gemacht. Manche schöne Kupferstiche von wichtigen pathologischen Gegenständen habe ich mit vielen Unkosten verfertigen lassen. Und alles dies liegt in meinem Pulte vergraben! Sieht man inzwischen auf die Menge meiner Berufsgeschäfte bei[158] meinen verschiedenen Anstellungen zurück; betrachtet man, daß ich mir bei diesen so viel als gar keine Erholung gestattete, so habe ich hoffentlich auf Nachsicht zu zählen. Die Materialien zu dem, was ich noch zu liefern habe, liegen alle bereit, und ich denke, sie sollen nach so vieljähriger Erfahrung, sowohl was medizinische Polizei als was praktische Heilkunde betrifft, durch einige Zurückhaltung mehr gewonnen dann verloren haben.
Wien, den 24. Dezember 1801[159]
Buchempfehlung
Der junge Vagabund Florin kann dem Grafen Schwarzenberg während einer Jagd das Leben retten und begleitet ihn als Gast auf sein Schloß. Dort lernt er Juliane, die Tochter des Grafen, kennen, die aber ist mit Eduard von Usingen verlobt. Ob das gut geht?
134 Seiten, 7.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro