Erstes Buch

[6] Ich bin geboren in Stuttgart am eilften März eintausendsiebenhundertundneunundfünfzig. Mein Vater, damals Lieutenant in einem württenbergischen Infanterieregiment, war zwar in Württenberg geboren, aber stammte von einer niederländischen Familie ab, die wie so viele protestantische Familien zu Philipps des Zweiten Zeiten auswanderte und sich in Bönnigheim, einem kleinen Städtchen in dem sogenannten Zabergäu, ansiedelte. Daß die Familie unter die angesehenen in ihrem Vaterland gehört hatte, beweist unser adeliges Wappen, und daß sie auch eine wohlbemittelte gewesen, ist daraus zu schließen, daß die früheren Vorfahren meines Vaters in der Kirche zu Bönnigheim begraben wurden, was nicht geschehen wäre, wenn sie nicht ihrem Stande gemäß hätten leben können. Indessen kam die Familie im Lauf der Zeit immer mehr herunter, so daß nach dem Tod meines Großvaters das Besitztum seiner Witwe in nichts weiter als in einem kleinen Haus, einigen Morgen Getreidefeldern und einem Weinberge bestand. Von mehrern Kindern, welche sie ihm geboren hatte, lebten nach seinem Tode noch zwei Söhne, von denen der ältere mein Vater war, und eine Tochter, welche nach dem Tod ihrer Mutter sich an einen württenbergischen Quartiermeister und nach dessen Tod an einen bejahrten, aber wohlhabenden Dorfschulzen verheuratete. Unvermögend, seinen Söhnen eine dem frühern Stand der Familie angemessene Erziehung zu geben und eine demselben entsprechende Laufbahn zu eröffnen, überließ er sie ihrer Neigung, und so entschieden sich beide für den Militärdienst. Der ältere, mein Vater, wurde zuerst als Fourier bei einem Infanterieregiment angestellt, erwarb sich durch seine Brauchbarkeit und sein Wohlverhalten die Gunst seiner Vorgesetzten, und es dauerte nicht lange, so wurde er zum Lieutenant[7] befördert. So war ihm nun eine Laufbahn eröffnet, wo er immer weiterkommen konnte, und in die Lage versetzt, eine Familie anständig ernähren zu können.

Früher schon hatte er meine Mutter, die Tochter des Revierförsters und Stabsrichters Vischer in Zavelstein, kennengelernt. Sie galt für eines der schönsten Mädchen in der Umgegend, und weil sie auch überall in dem Rufe eines sehr braven Mädchens stand, auch mein Vater ihrer Neigung zum voraus schon versichert war, so bat er die Eltern um die Hand der Tochter und erhielt, nach einiger Bedenklichkeit, die Einwilligung derselben. Die Verlobung wurde zu Zavelstein gefeiert, wenige Wochen darauf erfolgte die Hochzeit, und sobald der neue Ehemann die erforderlichen Einrichtungen in Stuttgart getroffen hatte, holte er seine junge Frau dahin ab.

Die erste Frucht dieser stets glücklichen Ehe war eine Tochter. Diese starb bald nach ihrer Geburt, und nun kam ich auf die Welt. Als der erstgeborene Sohn und jetzt noch das einzige Kind war ich begreiflich meinen Eltern alles in allem; aber die Freude an dem gesunden muntern Knaben wurde bald getrübt. Denn ich war noch nicht drei Jahr alt, so äußerte mein Großvater den Wunsch, den Knaben zu sich zu nehmen, und meine Eltern konnten diesen Wunsch um so weniger unerfüllt lassen, da ihnen bereits ein zweiter Sohn geboren worden und meinem Vater alles an dem Wohlwollen seines Schwiegervaters gelegen war. So brachten mich denn meine Eltern in das großelterliche Haus nach Zavelstein, und man kann sich vorstellen, mit welcher Freude die Großeltern ihren ersten Enkel aufgenommen. Vorläufig war ausgemacht, daß ich bis in mein siebentes Jahr bei ihnen bleiben sollte, und da meine Eltern überzeugt waren, daß die Großeltern für die Erziehung ihres Enkels alles tun würden, fiel es ihnen um so weniger schwer, ihn zurückzulassen, da sich ihre Liebe bereits zwischen zwei Kindern teilte und bald ein drittes zu hoffen war. Man sagt, daß die Großeltern die Enkel eher verzärteln als die Eltern die Kinder; allein dies war nicht der Fall mit mir. So lieb ich auch den Großeltern war, so taten sie doch nichts, was irgendeinen physischen oder moralischen nachteiligen Einfluß auf mich hätte haben können.[8]

Sie erkannten, daß bei einem Kind von drei Jahren es vorzüglich darauf ankomme, für seine Gesundheit zu sorgen und seinen Tätigkeitstrieb auf eine seinem Alter angemessene Art zu befriedigen. Das erste suchten sie zu bewerkstelligen, indem sie mich streng an eine gesunde einfache Kost hielten, mir jede Art von Näschereien versagten, mich leicht und reinlich kleiden, kühl schlafen und auch bei minder guter Witterung täglich Bewegung im Freien machen ließen; das andere, indem sie mehrere gutmütige und wohlgezogene Kinder meines Alters zu meinen Gesellschaftern machten, welche zu Hause mit mir spielen und im Freien sich mit mir herumtummeln sollten. Der größte Teil dieser Gesellschafter waren natürlicherweise Knaben, doch waren auch Mädchen nicht ausgeschlossen, und unter den letztern war vorzüglich eines, einige Jahre älter als ich, das sich wegen seiner Liebenswürdigkeit besonders bei der Großmutter zu insinuieren gewußt hatte. So lieb mir auch die Knaben waren, so war mir dieses Mädchen doch noch viel lieber. Es schien mir immer etwas zu fehlen, wenn es nicht da war. Noch jetzt steht mir sein Bild lebendig vor den Augen, und wenn Liebe schon in einem so zarten Alter möglich wäre, so würde ich sagen, daß ich wirklich so etwas für dieses Mädchen empfunden habe.

Indessen war mein Umgang keineswegs bloß auf Kinder beschränkt; ich kam auch auf mancherlei Art mit ältern Personen in Berührung. Die Verwandtschaft meiner Großeltern war groß. Außer zwei Töchtern, welche noch unverheuratet waren, und zwei Söhnen, von welchen der ältere als herzoglicher Leibjäger und der jüngere als Feldjäger angestellt war, hatte meine Großmutter auch noch drei in Zavelstein und in Teinach verheuratete Schwestern. Unter den Tanten war mir die jüngere Schwester meiner Mutter am liebsten; sie war meine eigentliche Pflegerin in dem großelterlichen Hause, und da ich auch in der Folge in näherer Berührung mit ihr blieb, so war es vorzüglich sie, welche die Erinnerung an mein Kindesalter immer lebendig in mir erhielt.

Auch in dem Umgang mit den Großtanten befand ich mich wohl. Ich besuchte dieselben öfters, besonders gerne auch die, welche an einen Wundarzt in Teinach verheuratet war. – Der[9] Wundarzt hatte kränklichkeitshalber seine Profession aufgegeben, lebte als Privatmann in Teinach, und weil er ein großer Kinderfreund und ich ein munterer zutätiger Knabe war, so gewann er mich bald so lieb wie ein eigenes Kind. Unter der Menge von Gegenständen, welche ich bei ihm sah, interessierte mich besonders eine Sammlung ausgestopfter Vögel und eine Schmetterling- und Käfersammlung, welche er mir abwechselungsweise vorzeigte; auch besaß er ein ziemlich reiches Herbarium vivum, welches mich aber weniger interessierte, weil mir die frischen lebendigen Pflanzen viel schöner vorkamen als die getrockneten toten. Aber er hatte noch eine andere Sammlung, welche mich nicht weniger, ja noch mehr interessierte als die vorhin genannten, eine Sammlung von Tabakspfeifen. Diese zeigte er mir zwar nicht vor, aber ich betrachtete sie immer mit dem größten Vergnügen, weil mir die verschiedenen Formen der Köpfe gar wohl gefielen und die mancherlei gar schön gearbeiteten Pfeifenrohre als Dinge vorkamen, mit denen sich auf mannigfaltige Art spielen ließe. Indessen ließ ich von diesem Wohlgefallen nichts merken, aber um so mehr erregte besonders der Anblick der Pfeifenrohre die Begierde nach dem Besitze des einen oder des andern in mir. Diese Begierde vermehrte sich, je öfter ich sie ansah, und so geschah es, daß ich, als ich mich einmal in dem Zimmer allein befand, ein Pfeifenrohr, welches mir besonders wohl gefiel, wegnahm und zu mir steckte. Da der Pfeifenrohre mehrere waren, so vermißte der Besitzer das entwendete nicht; aber um so mehr ängstete mich dessen Entwendung. Ich fühlte, daß ich etwas Unrechtes getan hatte, ich konnte wegen dieses ängstigenden Gefühls die ganze Nacht nicht schlafen, und mein einziger Gedanke war, wie ich das Pfeifenrohr ebenso heimlich, wie ich es genommen hatte, wieder an sei nen Platz bringen könne. Es gelang mir am folgenden Tag, wo bei meinem Eintritt in das Zimmer glücklicherweise niemand zugegen war. Das Pfeifenrohr ward wieder an seinen Ort gelegt, und eine Last war mir vom Herzen, von welcher das Nachgefühl auch jetzt noch nicht in mir verschwunden ist. Da Kinder von meinem damaligen Alter noch keinen klaren Begriff von Eigentum haben, so sind solche kleine Diebstähle[10] allerdings zu entschuldigen, und es ist genug, um in der Folge dergleichen zu verhüten, sie davor, als vor einem sehr großen Unrecht, zu warnen. Aber es ist ein großes Glück, wenn das Gefühl dieses Unrechts bei der ersten Gelegenheit in ihnen selbst erwacht wie bei mir. Diesem Umstand glaube ich es vorzüglich danken zu müssen, daß mir das Eigentum anderer mein ganzes Leben hindurch stets heilig geblieben und auch die größten Besitztümer und Vorzüge anderer nie ein Gefühl von Neid und Mißgunst in mir erregt haben.

Aber so großes Vergnügen mir auch der Umgang mit allen diesen Anverwandten machte, so war ich doch immer am liebsten in der Gesellschaft meines Großvaters, und nichts freute mich mehr, als wenn er mich mit sich in den Wald nahm. Dies tat er schon, ehe ich vier Jahre alt war, wo ich ihn, wenn es nicht zu weit ging, gewöhnlich begleiten durfte. Anfangs war seine Absicht dabei bloß, mich an die freie Luft zu gewöhnen, und daher nahm er mich auch oft bei rauherer Witterung mit, denn er glaubte, daß den Körper nichts so sehr stärke als der Genuß der freien Luft und die Bewegung in derselben. Weiterhin aber verband er damit noch einen andern Zweck, er wollte, daß ich auch die mancherlei Bäume im Wald, die mancherlei Pflanzen, die darin wachsen, die mancherlei Tiere, die darin leben, kennenlernen sollte. So richtete er meine Aufmerksamkeit auf alles, was ich sah, und so endlos auch meine Fragen waren, so beantwortete er sie doch alle, wie er es meinem Alter für angemessen hielt, auf das freundlichste. Dasselbe geschah auch, wenn er mich mit sich auf seine Äcker und Wiesen und in seine Gärten nahm, und so lernte ich denn eine Menge von Pflanzen und Tieren kennen, ohne zu wissen, wie ich dazu kam. Am meisten interessierten mich jedoch die Vögel, weil sie aber, wenn ich sie näher betrachten wollte, immer davonflogen, so schoß der Großvater mir manchmal einen von einem Baum herunter, den ich, als ob er noch lebte, sorgfältig nach Hause trug und mit Frohlocken der Großmutter zeigte. Auch hielt der Großvater, um diesem Interesse zu genügen, stets einige Vögel, als Zeisige, Lerchen, Stieglitze usw., deren Fütterung mir übertragen war, in niedlichen Käfigen, und diese kindliche Liebhaberei[11] ist ohne Zweifel die Ursache, warum mir unter allen Gattungen von Tieren die Vögel bis jetzt die liebsten geblieben sind.

Nächst diesen Anverwandten lernte ich auch bald mehrere fremde Menschen kennen, denn es ist leicht zu erachten, daß es einem so braven, verständigen und tüchtigen Mann, wie mein Großvater war, weder in der Nähe noch in der Ferne an Freunden fehlen konnte. So hatte er sich die meisten Badegäste, welche im Sommer Teinach besuchten, zu Gönnern gemacht, besonders aber die Jagdfreunde, welche er gewöhnlich auf der Jagd begleiten mußte und zu welchen mehrere der bedeutendsten Männer im Lande gehörten. Aber auf einem eigentlich freundschaftlichen Fuß stand er mit Männern seinesgleichen, sowohl in der nahe gelegenen Stadt Calw als auf den Dörfern in der Umgegend. Bei den Besuchen, die er ihnen machte, durfte ich ihn öfters begleiten, und noch öfter sah ich sie in dem großelterlichen Hause bei ihren Gegenbesuchen. Von diesen Freunden erinnere ich mich noch besonders ihrer drei, des Revierförsters von Naislach, des Büchsenmachers von Berneck und des Schloßverwalters in Teinach.

Der Revierförster von Naislach war ein kleiner, hagerer Mann, von breiter Stirn, ungewöhnlich großen, über der Nase zusammengeflossenen Augenbrauen, einer langen, schmalen Nase, eingefallenen Wangen, hervorstehendem Unterkiefer, schwarzen Haaren und schwarzen lebhaften Augen. Dabei hatte er ein kurzes Bein und hüpfte mehr, als er ging. Sooft er meinen Großvater besuchte, sprach er sich unzufrieden über die obern Forstbehörden aus, behauptete, daß sie nichts verständen und in ihrem Dünkel die Revierförster, welche doch bei dem Forstwesen die Hauptpersonen seien, über die Achsel anzusehen pflegen. Der Großvater, welcher hierin viel billiger dachte, kam deshalb oft mit ihm in Streit, und um dem Streit ein Ende zu machen, brachte er ihn gewöhnlich dadurch zur Ruhe, daß er ihn, ohne ihn zu unterbrechen, fortreden ließ und, wenn er ruhiger geworden, in dem ihm eigenen Ton und mit freundlicher Miene sagte: »Lassen wir es damit gut sein, Bruder, die Obern sind einmal so, wie sie sind, wir werden sie nicht anders[12] machen, seien und bleiben wie nur tüchtige Förster und gute Freunde, so darf uns alles andere nicht kümmern.«

Der Büchsenmacher von Berneck war in seiner Art noch ein eigenerer Mann als der Förster von Naislach. Weil er für meinen Großvater arbeitete, so kam er öfter nach Zavelstein. Er war ein Mann schon ziemlich bei Jahren, sehr geschickt in seiner Profession und auch in der Ferne als ein vorzüglicher Büchsenmacher bekannt. Diese Zelebrität hatte er vorzüglich meinem Großvater zu danken, der ihn überall, besonders den vornehmen Badegästen und Jagdliebhabern, empfohlen hatte. Indessen war Dankbarkeit nicht seine Sache. Er hielt alles Lob, was ihm zuteil wurde, für Schuldigkeit und verbarg dieses auch nicht vor meinem Großvater. Sooft er auf Besuch zu ihm kam, so mochte der Gegenstand der Unterhaltung sein, welcher er wollte, der Büchsenmacher wußte das Gespräch immer auf seine Kunst zu lenken, setzte den Wert derselben umständlich auseinander und endigte immer mit seinem Selbstlob. Er war ebenfalls ein kleiner, hagerer Mann, von schwarzen Haaren, schwarzen Augen, finsterem Blick, minder beweglich als der Förster von Naislach mit seinem kurzen Bein. Beim Sprechen, Gehen, kurz bei allen seinen Bewegungen war er langsam, steif und gravitätisch, und selbst wenn er in einen leidenschaftlichen Zustand geriet, zeigte sich dieser selten anders, als daß sein Blick lebhafter und seine Gesichtsfarbe röter wurde. Besonders geriet er in einen solchen leidenschaftlichen Zustand, wenn er mit dem Förster von Naislach zusammenkam. Denn sie hatten einander kaum begrüßt, so ging der Streit sogleich an. Auch dem Naislacher arbeitete zwar der Büchsenmacher, und auch er war mit seiner Arbeit wohl zufrieden, aber das Selbstloben des Büchsenmachers konnte er nicht leiden. Er ließ ihm zwar Gerechtigkeit widerfahren, aber nie lobte er seine Gewehre, ohne ihm zugleich zu verstehen zu geben, daß es doch noch weit geschicktere Büchsenmacher gebe als er, und führte zum Beweis die französischen an, auf welche der Bernecker, wie auf die Franzosen überhaupt, nicht das mindeste hielt. Was sie aber noch mehr aneinanderbrachte, waren ihre politischen Meinungen. Der Förster war ein enthusiastischer Verehrer des Königs[13] von Preußen, dessen Lob damals das Tagesgespräch war, der Büchsenmacher dagegen war österreichisch gesinnt, und die Veranlassung zum Streit gab gewöhnlich, wenn der Förster auf die Taten der Franzosen in dem Siebenjährigen Krieg zu sprechen kam. »Ich habe selbst nichts auf die Franzosen«, sagte der Büchsenmacher, »aber sie sind doch jederzeit gute Soldaten gewesen; hätten sie sich als Alliierte von Österreich besser gehalten, so wäre der König von Preußen nicht so gut weggekommen, er wäre ein ganz kleines Fürstlein geworden, und jedermann hätte gesagt, es sei ihm recht geschehen, so wie man jetzt von nichts reden hört als von dem großen König von Preußen, als ob nie ein so großer König und Herr in der Welt gewesen wäre.« Auch mein Großvater war gut preußisch, aber ließ auch Österreich nichts zuleide geschehen. Er machte daher immer den Vermittler zwischen den Streitenden, und so schieden sie jederzeit als gute Freunde voneinander. Da ich bei diesen Streitereien meistens zugegen war, aber nichts von dem Gegenstand derselben verstand, so merkte ich mir bloß, was der Förster zum Lob des Königs von Preußen gesprochen hatte, und da ich ihn immer den großen König nennen hörte, so verlangte ich von dem Großvater zu wissen, wie groß denn der König von Preußen sei, und war höchst verwundert über die Antwort, daß er ein ganz kleiner Mann sei, weil ich mir vorstellte, er müsse wenigstens noch einmal so groß sein als der Kammertürke des Herzogs, welchen ich in Teinach gesehen hatte. Der Großvater lachte herzlich über meine kindische Einfalt, und sooft er in der Folge von den Streitereien des Försters und des Büchsenmachers sprach, erinnerte er sich auch jedesmal meiner kindischen Frage.

Ich komme nun auf den dritten Mann, den ich noch öfter als die beiden vorgenannten in dem großelterlichen Hause sah, auf den Schloßverwalter in Teinach. Er hieß Klein, und seine Figur entsprach auch ganz seinem Namen. Unter den Freunden des Großvaters war er der kleinste, aber niedlich gebaut, blond von Haaren, die Augen blau, die Nase mehr stumpf als gebogen, die Gesichtsfarbe ungewöhnlich rot. Er war schon ziemlich bejahrt, als ich ihn kennenlernte, doch war er noch lebhaft, gesprächig und stets von heiterem Humor. Da Teinach von[14] Zavelstein nur eine halbe Stunde entfernt ist, so besuchte er meinen Großvater öfter als die meisten andern Freunde, und seine Besuche waren ihm um so angenehmer, da er mancherlei Anekdoten von den Badegästen zu erzählen wußte, mit welchen er in eine ungleich nähere Berührung kam als mein Großvater. Diesen interessierte vorzüglich, was er von den vornehmen Badegästen, die er auf der Jagd begleitete, erzählte, und er war doppelt erfreut, von ihm zu vernehmen, daß dieser oder jener gut von ihm gesprochen, weil er, wie so viele vom Bürgerstande, sich etwas darauf einbildete, bei den Vornehmen etwas zu gelten. Ein Schneider von Profession, war der Schloßverwalter anfangs bloß Schloßdiener, und sein Geschäft war, die schadhaften Tapeten, Sesselüberzüge, Bett- und Fenstervorhänge etc. auszubessern. Aber bald wurde er auf Empfehlung des Intendanten, welcher gewöhnlich vor der Badezeit nach Teinach kam, Aufseher und dann Verwalter des Schlosses, und da er als solcher nicht nur mit allen den vornehmen Badegästen, welche im Schloß wohnen durften, sondern auch selbst mit der fürstlichen Familie, von welcher alle Sommer das eine oder das andere ihrer Glieder das Bad besuchte, in nähere Berührung kam, so glaubte er, sich auch diesem Verhältnis gemäß betragen zu müssen. Aber wie leicht zu erachten, ging er darin viel weiter, als einem Schloßverwalter geziemt. Er kleidete sich wie ein Mann von Stand, ließ sich alle Tage frisieren, ging meistens in Schuhen und Strümpfen; indem er aber auch zugleich die Haltung und die Manieren der vornehmen Stände nachzuahmen suchte, verfiel er in ein affektiertes, steifes, geziertes Wesen, welches ihn ebenso lächerlich machte als das Hochdeutsch und die französischen Wörter, welche er seinem affektierten Hochdeutsch einmischte. So suchte er seinen frühern Stand auf alle Weise vergessen zu machen; nur in dem Umgang mit seinen vertrautern Freunden war er natürlicher, und bei meinem Großvater, von dem er wußte, daß er ein Todfeind solcher Zierereien war, nahm er sich besonders in acht. Schon um deswillen, noch viel mehr aber, weil er den Schloßverwalter, was er auch wirklich war, für einen braven Mann hielt, sah er ihn gern bei sich, auch machte er ihm, wenn er nach Teinach kam, meistens einen[15] Gegenbesuch, wobei ich ihn öfters begleiten durfte, weil der Schloßverwalter ein großer Kinderfreund war, mich besonders liebgewonnen hatte und mich mit allerlei Spaßmachereien auf das angenehmste zu unterhalten wußte. Zuweilen besuchte ich ihn auch ohne den Großvater, wenn ich die Tanten in Teinach besuchte. Denn es war mir erlaubt, nun allein nach Teinach zu gehen, nur mußte ich immer den Fußweg nehmen, weil dieser viel kürzer war und mir nichts Nachteiliges auf demselben zustoßen konnte. Nicht nur wurde ich von dem Schloßverwalter jederzeit auf das freundlichste aufgenommen, sondern er nahm mich auch öfters mit sich, wenn er die Badegäste in den Gasthöfen besuchte. So erinnere ich mich, daß, als ich ihn einst in die »Krone« begleitete, uns auf der Treppe eine schöne junge Dame begegnete, die mich gar freundlich ansah. »Das ist eine sehr vornehme und reiche Dame«, sagte er, nachdem sie vorübergegangen war, »die aber nicht bei Vernunft ist.« Ich verstand nicht, was er damit sagen wollte, denn ich hatte wohl schon ein paar simpelhafte Menschen, aber noch nie einen Wahnsinnigen gesehen. Am folgenden Tag, wo ihm die Dame wieder begegnete, fragte sie ihn, wer der Knabe sei, der ihn gestern begleitet habe. Er antwortete, daß er der Sohn eines Offiziers sei, der bei seinem Großvater erzogen werde. Sie stutzte, und nachdem sie sich einige Augenblicke besonnen hatte, rief sie auf einmal aus: »Nein! das kann nicht sein, das ist mein Sohn, er ist gefunden, und ich will und muß ihn haben.« Die Dame war nämlich auch an einen Offizier verheuratet, sie hatte einen Sohn geboren, der jetzt von meinem Alter sein würde, wenn er nicht gestorben wäre. Der Verlust des Kindes hatte sie wahnsinnig gemacht, denn sie konnte sich schlechterdings nicht von dem Tode des Kindes überzeugen, und ihre fixe Idee war, es sei nicht gestorben, sondern von einem Zauberer entführt worden, und die Zeit sei nahe, wo er es werde wieder zurückgeben müssen. Ohne Zweifel hat sie mich für das entführte Kind angesehen, und es ist leicht zu erachten, daß der Schloßverwalter seit diesem Vorgang mich nicht mehr bei seinen Besuchen mit sich genommen und auch sein eigenes Zusammen treffen mit dieser Dame sorgfältig vermieden hat.[16]

Unter diesen Verhältnissen hatte ich bereits das fünfte Jahr zurückgelegt, und nun glaubte mein Großvater, daß es Zeit sei, den Anfang im Lesen und Schreiben mit mir zu machen. Da er mich nicht in die öffentliche Schule schicken wollte, so ließ er mir von dem Schulmeister des Orts täglich anfangs eine, dann zwei Privatstunden geben. Die Stunden gab mir der Schulmeister in seiner Wohnung, und da er für einen Dorfschulmeister eine ziemlich gute Methode hatte und mich zugleich sehr liebreich behandelte, so kam ich bald vorwärts. Wem ich aber dieses schnellere Vorwärtskommen vorzüglich mit zu danken hatte, war seine Tochter Ernestine, eben das Mädchen, von dessen Liebenswürdigkeit schon früher die Rede war. Denn wie diese Ernestine früher meine liebe Gespielin gewesen, so war sie jetzt meine liebe Lehrerin geworden. Nach beendigter Lehrstunde ließ sie mich selten gleich nach Hause gehen, nicht um mit mir zu spielen, sondern mich bald im Lesen, bald im Schreiben zu üben, im erstern, indem sie immer ein Buch bei der Hand hatte, aus welchem ich ihr vorlesen mußte, im letztern, indem sie mich zu Schreibübungen nach Schriften von ihrer eigenen Hand, die wirklich recht schön waren, anhielt. So hatte ich es vorzüglich ihr zu danken, daß die von ihrem Vater für mich verfaßten Neujahrs- und Geburtstagswünsche, welche ich den Großeltern beim Auswendighersagen zugleich schriftlich übergab, ihnen so viel Freude machten.

Nachdem ich auf diese Art ziemlich fertig Lesen und Schreiben gelernt hatte, so sollte nunmehr auch der erste Unterricht im Lateinischen beginnen. Denn obschon damals der Unterricht weder in den gelehrten Sprachen noch in andern wissenschaftlichen Gegenständen mit der Hastigkeit betrieben wurde, wie er jetzt betrieben wird, so stimmte doch der Großvater mit meinem Vater überein, daß, da einerseits bloß vom Lateinlernen die Rede war und andererseits bei einem Knaben, welcher schon in der Wiege zum geistlichen Stande bestimmt war und bereits das sechste Jahr angetreten hatte, mit dem Unterricht im Lateinischen nicht gezögert werden dürfe. Von einem Dorfschulmeister, der wohl das Lateinische lesen konnte, konnte natürlicherweise kein Unterricht in der lateinischen Sprache erteilt[17] werden, und ebensowenig konnte mich der Großvater in die lateinische Schule in der zwei Stunden von Zavelstein entfernten Stadt Calw schicken, wenn er mich nicht daselbst in Kost geben wollte, was schon darum nicht anging, weil er vernünftigerweise mich eher meinen Eltern zurückgegeben hätte. Es blieb ihm daher, um mich bei sich zu behalten, nichts übrig, als sich an den Pfarrer in Zavelstein zu wenden, und er konnte von diesem um so weniger eine abschlägige Antwort befürchten, da ich unter den Kindern des Dorfs ihm das liebste zu sein schien. Überhaupt war der Pfarrer ein Kinderfreund, wie es wenige gibt, und da er selbst kinderlos war und bei der beständigen Kränklichkeit seiner Frau ein eigenes Kind nicht zu hoffen hatte, so trug er die Liebe zu eigenen Kindern auf fremde Kinder über. So behandelte er mich denn ganz wie sein eigenes Kind, nannte mich selten anders als seinen Sohn Fritz, auch war er und seine Frau mir fast ebenso lieb als der Großvater und die Großmutter. Sooft ich zu ihm kam, wußte er mich auf das angenehmste zu unterhalten, da er mit einer Menge von Spielsachen versehen war, welche er mir abwechselungsweise vorzeigte und, nachdem er mir bemerklich gemacht hatte, was alles damit zu machen sei, zum eigenen Hantieren damit überließ. Hatte ich ausgespielt, so unterhielt er mich gewöhnlich damit, daß er mir ein in Reime gebrachtes christliches Sprüchlein vorsagte und so oft wiederholte, bis ich es auswendig wußte, z.B.


Ich bin ein kleines Kind,

Und meine Kraft ist schwach,

Ich möchte werden ein Christ

Und weiß nicht, wie ich's mach.


Oder:


Wer ein guter Christ will sein

Und dabei es weiterbringen,

Muß in seinem Kämmerlein

Fleißig beten, fleißig singen.


Daß ich mir auf das Auswendigwissen dieser Reime, obschon ich ihren Sinn unmöglich verstehen konnte, sehr viel einbildete, läßt sich denken. Ich sagte sie her, wie ein abgerichteter Vogel[18] die ihm angelehrten Wörter, und wollte immer mehrere lernen, weil ich sah, daß es dem Pfarrer und den Großeltern große Freude machte, wenn ich sie ohne Anstoß hersagte. So lernte ich beinahe alle Tage ein neues solches Sprüchlein; endlich verging mir doch die Lust, und weit mehr ergetzte ich mich an den Erzählungen des Pfarrers von seinen Jugendjahren, womit er mich gewöhnlich unterhielt, wenn er mich mit sich in seinen Garten nahm. So erzählte er mir z.B., daß er einmal als ein kleiner Knabe sich in einem nahe an der Stadt gelegenen Wäldchen verirrt habe, und weil man ihn nicht habe finden können, seine Eltern ihn haben austrommeln lassen, daß er aber dessenungeachtet erst zufällig von einem Fremden, der ihm in dem Wäldchen begegnet, gefunden und nach Hause gebracht worden. So erzählte er mir ein andermal, wie er schon in seiner frühen Kindheit Lust gehabt, ein Geistlicher zu werden, daß es aber seine Eltern anfangs nicht hätten zugeben wollen, weil sie zu arm seien, ihn studieren zu lassen, endlich aber doch seinem Willen nachgegeben, weil sie ihn öfters, wenn er allein zu sein glaubte, auf einem Stuhl wie auf einer Kanzel stehend, hätten predigen hören und gar viel Vergnügen an seiner starken Stimme, seiner guten Aussprache und seinen Gestikulationen gehabt hätten. Diese Erzählung gefiel mir, weil ich auch ein Geistlicher werden wollte, besonders wohl; auch ich stellte mich, wenn ich mich allein wußte, auf einen Stuhl und machte den Prediger, aber damit begnügte ich mich nicht. Ich wollte auch in der Kirche von der Kanzel herab predigen, und als ich einmal im Vorbeigehen die Kirchentüre offen sah, schlich ich mich hinein, bestieg die Kanzel, und mit lauter Stimme sprach ich oder schrie vielmehr die christlichen Reime herunter, welche der Pfarrer mich gelehrt hatte. Die Vorübergehenden, durch den Lärm aufmerksam gemacht, erkannten beim Eintritt in die Kirche sogleich den kleinen Prediger, riefen dann den zunächst an der Kirche wohnenden Mesner herbei, der mich scheltend von der Kanzel heruntertrieb, von der Kirche in das Pfarrhaus lief und dem Pfarrer den Vorgang pflichtgemäß anzeigte. Der Pfarrer verwies mir zwar diese kecke Ungezogenheit, wie es sich gebührte; aber es freute ihn doch, daß sein Beispiel so[19] mächtig auf mich gewirkt hatte, und wie meine Großeltern, und besonders die Großmutter, glaubte auch er, in diesem voreiligen Besteigen der Kanzel eine günstige Vorbedeutung meines Berufs zum geistlichen Stand zu erkennen.

So gut gegen mich gesinnt, nahm der Pfarrer das Ansinnen meines Großvaters wegen des Unterrichts im Lateinischen nicht nur mit Wohlgefallen auf, sondern er erklärte auch, daß er diesen Unterricht mit um so mehr Vergnügen übernehme, da er selbst kinderlos sei und auf das Vergnügen, einen eigenen Sohn zu unterrichten, verzichten müsse. Allein der versprochene Unterricht hatte noch nicht angefangen, so wurde der Pfarrer zum Oberpfarrer, damals in Württenberg Spezial genannt, in der fünf Stunden von Ludwigsburg entfernten Landstadt Lauffen am Neckar befördert. Der Unterricht wurde daher bis zur Ankunft des neuen Pfarrers in Zavelstein ausgesetzt, in der Hoffnung, daß dieser ebensowenig abgeneigt sein werde, denselben zu übernehmen, als der abgegangene. Die Hoffnung blieb nicht unerfüllt. Der neue Pfarrer, dem ich gleich nach seiner Ankunft von meinem Großvater vorgestellt wurde, übernahm den Unterricht mit Vergnügen, und da er mich ebenso liebreich behandelte als mein bisheriger Lehrer im Deutschen, so machte ich bald erfreuliche Fortschritte. Die lateinischen Buchstaben hatte mich schon der Schulmeister kennengelehrt; bei dem Pfarrer lernte ich zuerst die lateinischen Wörter lesen, dann die Anfangsgründe der lateinischen Sprache selbst, so daß ich bald Deklinieren und Konjugieren, Substantivum und Adjektivum zusammensetzen, leichte Exempel vom Gebrauche der Zeitwörter machen konnte, während ich bei meinem guten Gedächtnis eine Menge Vokabeln auswendig gelernt hatte.

Indessen kam die Zeit, wo ich das großelterliche Haus verlassen sollte, immer näher. Ich wurde im nächsten Frühjahr sieben Jahre alt, und da ausgemacht war, daß ich nicht länger als bis zu meinem siebenten Jahr bei meinen Großeltern bleiben sollte, so durfte meine Rückkehr in das elterliche Haus nicht länger verzögert werden. Es kam daher bloß auf die nähere Bestimmung der Zeit an, wenn mich meine Eltern von Zavelstein abholen wollten, und ein Brief an den Großvater kündigte[20] den Tag ihrer Ankunft an. Durch meinen langen Aufenthalt bei den Großeltern waren mir die Eltern, obschon sie mich gewöhnlich alle Jahre besuchten, fremd geworden, und da mich schon der Gedanke, daß sie mich bei ihrem bevorstehenden Besuch mit sich nehmen werden, ängstigte, so kann man sich denken, welchen Schrecken mir ihre Ankunft in Zavelstein verursacht hat. Natürlich konnte dies meinen Eltern nicht entgehen. Sie sahen mit Betrübnis, daß meine kindliche Liebe auf die Großeltern übergegangen, und da sie wußten, daß auch die Großeltern sich schwer von ihrem Enkel trennen würden, so war ihnen wirklich auf den Augenblick dieser Trennung bange. Da mein Vater nur auf acht Tage Urlaub hatte, so konnte auch die Abreise nach Ludwigsburg nicht länger verzögert werden. Aber es ging besser, als meine Eltern erwartet hatten. Die Jugend ist leichtsinnig, und neue Eindrücke verdrängen bald die alten. Meine Eltern hatten durch ihr freundliches Benehmen gegen mich auch meine Zuneigung zu ihnen gewonnen, die Großeltern taten sich Gewalt an, ihre Betrübnis über die Trennung von ihrem Enkel zu verbergen, die Vorspiegelung, wie schön es in Ludwigsburg sei, erregte die Neugierde des Knaben, das Versprechen, daß ich die Großeltern bald besuchen dürfe, beruhigte mich über die nahe Trennung, und die Zusage der Tante Christiane, daß sie mich nach Ludwigsburg begleiten und recht lange dort bleiben werde, machten mir den Abschied von den Großeltern leichter, und so reiste ich denn an dem festgesetzten Tag an einem schönen Morgen mit meinen Eltern und der Tante von Zavelstein ab.

Am Abend desselben Tages kamen wir in Ludwigsburg an. Mein Bruder, damals ein Knabe von nicht vollen sechs Jahren, den ich nur ein einziges Mal in Zavelstein, wohin ihn meine Eltern bei ihrem vorletzten Besuch mitgenommen, und eine Schwester von drei Jahren, die ich noch nie gesehen hatte, kamen uns freudig entgegen. Die Eltern hatten mir so viel Gutes und Liebes von beiden gesagt, daß ich, zwar anfangs etwas befremdet, ihnen zutraulich nahete und dadurch auch sie an mich zog. Ich mußte bald zu Bette gehen, und ermüdet von der Reise schlief ich bald ein und die ganze Nacht hindurch fort. Aber[21] beim Erwachen, wo ich alles um mich her anders sah als in Zavelstein, ergriff mich eine Wehmut, die ich zuvor nie empfunden hatte. Ich war still, in mich gekehrt, und wie die Tante hereintrat, fing ich an bitterlich zu weinen. Natürlich konnte diese Gemütsstimmung meinen Eltern nicht unerwartet sein, daher ging mein Vater, um mich aufzuheitern, sobald ich angekleidet war, mit mir aus und führte mich in der Stadt herum, in der Hoffnung, daß der Anblick so vieler zuvor nie gesehener Dinge mich in eine heitere Stimmung versetzen würde. Aber das Gefühl, nicht zu Hause zu sein, überwältigte alle andere. Alles erschien mir fremd, auch meine Eltern nicht ausgenommen. Die Stadt war mir zu groß, die Straßen zu weit und zu lang, die Häuser zu hoch, der Menschen, die ich in den Straßen hin und her gehen sah, zu viel, und es dauerte mehrere Wochen, bis ich mich an diese fremde Welt gewöhnt hatte. Indessen ließ mir der Vater nicht viel Zeit, diesen Gefühlen nachzuhängen. Gleich wenige Tage nach meiner Ankunft wurde ich von ihm in die Schule geführt und nach erstandenem kurzen Examen in die unterste Klasse der lateinischen Schule aufgenommen. Wie in den zwei höhern Klassen war auch in dieser nur ein einziger Lehrer angestellt, und es wurde nichts in derselben gelehrt als das Lateinische, bloß der Freitag war der deutschen Sprache gewidmet, so wie der Sonntag dem Religionsunterricht in der Kirche, wo die Schüler vormittags der Predigt und nachmittags der Katechisation beiwohnen mußten. Im Sommer dauerte der Unterricht vormittags von sieben bis eilf und nachmittags von zwei bis fünf Uhr; im Winter ging der Vormittagsunterricht eine Stunde später an, der Nachmittagsunterricht endigte eine Stunde früher, und jedesmal wurde der Unterricht mit einem Gebet angefangen. Der Lehrer dieser Klasse war zwar ein ernster, etwas strenger Mann, aber er behandelte seine Schüler freundlich, und die fleißigen besuchten die Schule gern. Da die Schüler dieser Klasse erst Anfänger waren und ich schon einen ziemlich guten Grund im Lateinischen gelegt hatte, so wurde ich sogleich unter die erstern eingereihet, unter denen ich auch meinen Platz fortan behauptete. Das Lernen machte mir Freude, weil der Präzeptor (denn so hießen die Lehrer in der lateinischen[22] Schule) mich stets freundlich behandelte und sich mit meinen Fortschritten zufrieden bezeigte, und schon im folgenden Jahre war ich so weit, daß ich in die zweite Klasse versetzt werden konnte. Auch in dieser Klasse wurde außer der lateinischen Sprache nichts weiter gelehrt; allein wie in der ersten nur das Deklinieren und Konjugieren, die Syntax und das Vokabelnlernen getrieben wurde, so ging es in der zweiten an das Exponieren der in den eingeführten Schulbüchern enthaltenen Aufsätze, das Übersetzen aus dem Deutschen in das Lateinische, die sogenannten Exerzitien etc. Der Lehrer an dieser Klasse war zwar ebenfalls ein tüchtiger Schulmann und ließ sich auch den Unterricht sehr angelegen sein; aber er gehörte zu den Frommen und sah weniger darauf, daß wir große Fortschritte in der lateinischen Sprache machten, als daß wir fleißig in die Predigt gingen, nie die Katechisation versäumten und wie in der Schule auch außerhalb derselben uns stets so betrugen, wie es einer frommen christlichen Jugend gezieme. Daher ließ er auch am Freitag, wo das Deutsche getrieben wurde, gewöhnlich christliche Bücher lesen, und nicht selten hielt er mit uns wie in der Kirche förmliche Katechisationen. Waren wir ihm dabei nicht aufmerksam genug und konnten wir die geistlichen Lieder, die er uns auswendig zu lernen aufgab, nicht fertig hersagen, so rügte er es hier zwar bloß mit Worten, aber er merkte sich die Unaufmerksamen, und wenn einer beim lateinischen Unterricht sich nicht aufmerksam, fleißig und sittsam betrug, so bekam er die Schläge, welche er ihm dort zugedacht hatte, hier desto gewisser. Daher liebten wir ihn bei aller Achtung, die wir vor ihm hatten, weniger als den Präzeptor der ersten Klasse, und wir waren um so fleißiger in den lateinischen Lehrstunden, je mehr wir wünschten, sobald wie möglich in die dritte Klasse befördert zu werden. Diese Beförderung geschah nämlich jährlich einmal im Herbst, und es kam darauf an, wie man in der von dem Obergeistlichen oder Spezial vorgenommenen Prüfung bestanden, um ein Jahr früher in eine höhere Klasse befördert zu werden. Solchergestalt durfte ich auch in der zweiten nur ein Jahr lang bleiben und kam nun in die dritte, wo zwar das Lateinische wiederum der Hauptgegenstand des[23] Unterrichts war, zugleich aber auch Griechisch und Hebräisch gelehrt wurde, jenes als Vorbereitung zu den gelehrten Studien überhaupt, dieses als Vorbereitung zum Studium der Theologie insbesondere. Der Lehrer an dieser Klasse hatte den Titel Oberpräzeptor und hieß Jahn. Er war ein Geistlicher wie der Präzeptor der zweiten Klasse, aber er predigte nie, wie dieser oft tat, weil er bei der Schule bleiben und kein Pfarramt annehmen wollte. Seit seinen Universitätsjahren hatte er sich dem Schulwesen gewidmet, und teils durch diese vieljährige Übung, teils wegen seines ausgezeichneten Talents zum Schullehrer hatte er sich dazu so ausgebildet, daß er lange zuvor, ehe er nach Ludwigsburg berufen wurde, für einen der vorzüglichsten Männer in seinem Fach anerkannt war. Ich habe in meinem Leben viele Lehrer gehabt, aber ich kenne keinen, der in seinem Fach vorzüglicher gewesen wäre als er in dem seinigen. Meister sowohl im Griechischen und Hebräischen als im Lateinischen, hatte er auch bei seinem Unterricht eine Methode, welche ganz dazu geeignet war, seine Schüler weiterzubringen, ohne daß sie gewahr wurden, wie es eigentlich damit zuging. Außer der hohen Würde, durch die er ihnen imponierte, und dem ruhigen Ernste, mit dem er seinen Unterricht erteilte, war es vorzüglich die Konsequenz, mit welcher er bei demselben verfuhr. Er kannte jeden seiner Schüler, so viel auch ihrer waren, genau, und da er wußte, was er jedem zutrauen dürfe, wußte er auch jeden nach Maßgabe seiner Vorkenntnisse zu fördern, so daß zuletzt auch der minder Fähige dem Fähigern nur wenig nachstand. Zwar waren die Gegenstände, worüber er Unterricht zu geben hatte, bloß die obengenannten gelehrten Sprachen; aber bei der Erklärung der lateinischen und griechischen Schriften, welche er mit seinen Schülern las, brachte er ihnen zugleich so viele geographische, historische, überhaupt so viele wissenschaftliche Kenntnisse bei, daß sie viel vorbereiteter in die höhern Studienanstalten aus seiner Schule übergingen als aus allen andern lateinischen Schulen im Lande. Wie viele vortreffliche Männer ihm diese Vorbereitung zu ihren gelehrten Studien zu danken gehabt, ist gewiß in Württenberg noch nicht vergessen, und ich halte es um so mehr für Pflicht, seiner hier dankbar zu gedenken, da ich[24] in den letzten Jahren seines Lebens sein Hausarzt gewesen. Er starb als ein hochbejahrter Mann an der Wassersucht nach schweren und langen Leiden, aber er litt und starb mit derselben Ruhe und Geduld, die er stets als Lehrer bewiesen hatte, und ich gestehe, daß ich als Mann mit ebender Verehrung an sein Krankenbett trat, als vormals als Knabe in seine Schule. Ich werde noch einmal Gelegenheit haben, von diesem würdigen Schulmann zu sprechen, und fahre nun in meiner Erzählung weiter fort.

Es ist leicht zu erachten, daß es mir unter den Schülern, die mit mir zugleich die Schule besuchten, keineswegs an Kameraden fehlen konnte, allein nur mit wenigen kam ich in ein eigentliches freundschaftliches Verhältnis. Schon von meiner frühesten Jugend an gewöhnt, nur wenige Knaben meines Alters um mich zu sehen, teils weil in dem Dorfe, wo ich meine Kinderjahre zubrachte, der Knaben meines Alters überhaupt nicht viele waren, teils weil meine Großeltern mir nur mit den wohlgezogensten umzugehen erlaubten, fühlte ich auch kein Bedürfnis weitläuftiger Bekanntschaften. Aber noch mehr beschränkte mich mein Vater in meinem Umgang, indem er einerseits seine Kinder, und insbesondere seine Söhne, von Jugend auf zu einem anständigen und würdigen Betragen gewöhnen wollte und andererseits, weil beide Söhne studieren sollten, streng darauf sah, daß keine Zeit zum Lernen versäumt werde. Es sollte etwas Ausgezeichnetes aus uns werden, damit nicht nur das vormalige Ansehen der Familie durch uns wiederhergestellt werde, sondern auch daß wir durch uns selbst, nicht durch Empfehlungen und Protektionen, zu Ansehen und Würden gelangen sollten. Denn mein Vater konnte nicht vergessen, daß er der Abkömmling einer vornehmen adeligen Familie sei, und wie er selbst als Offizier dieses Ziel immer vor Augen hatte, so sollte es durch seine Söhne wirklich erreicht werden. Daher ermahnte er uns stets zum Fleiß, nicht nur in, sondern auch außerhalb der Schule, sah mit Strenge darauf, daß wir zu Hause die uns aufgegebenen Pensen auf das pünktlichste fertigten und in den freien Stunden, auf Spaziergängen und bei unsern körperlichen Übungen uns nur zu denjenigen Kameraden hielten, von denen[25] er glaubte, daß sie uns im Fleiß und in der Gesittung zum Muster dienen könnten. Was jedoch meinem Vater bei der Durchsetzung dieser Erziehungsmaximen vorzüglich zustatten kam, war, daß der ehemalige Pfarrer in Zavelstein und nachmalige Spezial in Lauffen zum Spezial in Ludwigsburg befördert worden war. Ich hatte an ihm wieder meinen alten Freund und Gönner gefunden. Sooft es meine Zeit und seine Geschäfte erlaubten, war ich bei ihm. Allein wie er mich in Zavelstein mit Spielereien, gereimten geistlichen Sprüchlein und Erzählungen unterhalten hatte, unterhielt er mich jetzt auf eine ernstlichere Weise, indem er mir nicht nur im Lateinischen, Griechischen und Hebräischen forthalf, sondern auch keine Gelegenheit versäumte, mich zu einem wohlgesitteten Betragen zu ermahnen, wobei er gewöhnlich damit schloß, daß ich mich auf das sorgfältigste des Umgangs mit leichtsinnigen und ungezogenen Knaben, die er die bösen Buben nannte, enthalten solle. Solchergestalt wurden natürlicherweise meine Kameradschaften immer beschränkter, und ohne Zweifel wäre ich zuletzt ein finsterer Sonderling oder gar ein frommer Kopfhänger geworden, wenn nicht meine Besuche in dem Spezialathause zeitig genug von meinem Vater beschränkt worden wären. So beliebt der Spezial nicht nur als Pfarrer in Zavelstein, sondern auch als Spezial in Lauffen gewesen war, so wenig konnte er die Gunst des Publikums in Ludwigsburg gewinnen. Schon als ein geborner Ludwigsburger und der Sohn eines Bäckers hatte er das Vorurteil des Publikums gegen sich; allein noch mehr schadete ihm bei demselben sein Bestreben, durch affektiertes Geltendmachen seiner hohen geistlichen Würde seine niedere Geburt vergessen zu machen, vorzüglich aber seine Art zu predigen, indem die meisten seiner Kanzelvorträge Strafpredigten waren, worin er alles, was er für anstößig und einem christlichen Wandel unangemessen hielt, wie z.B. das Tanzen an Kirchweihen, das Erscheinen auf Maskeraden, ja selbst das Besuchen des Theaters, auf eine ebenso anzügliche als plumpe Art rügte. So verlor er die Gunst des Publikums nicht nur überhaupt, sondern er brachte auch viele einzelne Personen, welche die Anspielungen in seinen Predigten auf sich bezogen, gegen sich auf,[26] und zu diesen gehörte besonders der als Dichter und Musikus rühmlich bekannte und in der Folge wegen seiner Gefangenschaft auf der Festung Hohen-Aschberg noch berühmter gewordene Schubart. Dieser war damals Organist an der Stadtkirche zu Ludwigsburg, und weil er die Orgel gut spielte, so spielte er auch nach dem Gottesdienste öfters noch fort, aber gewöhnlich keine geistliche, sondern sogenannte weltliche Lieder. Dies verdroß nun den Spezial gewaltig, und er war darüber um so aufgebrachter, da er argwohnte, viele seiner Zuhörer gingen bloß dieses Orgelspiels wegen in die Kirche. Daher verbot er dem Organisten dieses Orgelspiel nach der Kirche nicht nur von Amts wegen, sondern er ließ auch seinen Groll gegen ihn auf manche andere Art aus. Aber Schubart, der die Stimme des Publikums für sich hatte, kehrte sich nicht an das Verbot. Er spielte nicht nur seine weltlichen Lieder nach der Kirche fort, sondern versäumte auch als beliebter Kasualdichter keine Gelegenheit, wo er dem Spezial durch witzige Anspielungen auf ihn etwas anhängen konnte. Diese Anspielungen waren besonders den Offizieren willkommen, welche dem Spezial überhaupt nicht hold waren, und da er in den ästhetischen Vorlesungen, welche er ihnen hielt, es selten an solchen Anspielungen fehlen ließ, so bekam er diese ganz auf seine Seite, so daß er sich auf ihren Schutz gegen den Spezial in jedem Fall sicher verlassen konnte. Nun war unter den Offizieren, welche seinen Vorlesungen beiwohnten, auch mein Vater, und es konnte nicht fehlen, seine Achtung für den Spezial mußte sich in ebendem Maße vermindern, als ihn Schubart nicht nur als einen eiteln abgeschmackten Pedanten, sondern auch als einen bloßen Scheinheiligen heruntersetzte. Die Folge davon war, daß mein Vater Anstand nahm, mich das Spezialathaus fernerhin besuchen zu lassen; um jedoch den Mann, dessen Wohlwollen sein Sohn in so hohem Grade genoß und gegen den er sich selbst nicht als undankbar bezeigen wollte, nicht zu beleidigen, beschloß er, meine Besuche bei ihm unter dem allerdings nicht ungegründeten Vorwand, daß ich jetzt mehr zu Hause zu lernen hätte, allmählich zu beschränken. Auch nahm er sich, weil es ihm schien, als habe das viele Beisammensein[27] mit dem Spezial schon wirklich nachteilig auf mich gewirkt, und ich in Gefahr sei, ein frommer Sonderling und Kopfhänger zu werden, vor, von der Strenge seiner Erziehungsmaximen überhaupt etwas nachzulassen. Er nahm mich daher zuweilen mit sich in das Theater, zu Seiltänzern, auf die venezianische Messe, welche zur Karnevalszeit in Ludwigsburg gehalten wurde und auf welcher man nur maskiert, auch Kinder nicht ausgenommen, erscheinen durfte. Zugleich gestattete er mir auch mehr Freiheit in dem Umgang mit meinen Schulkameraden, was mir um so erfreulicher war, je mehr ich desselben früher hatte entbehren müssen. Ich benutzte daher auch diese Freiheit nach Herzenslust, und es ist kein Zweifel, daß mich die lange Entbehrung zum Übermaß würde verleitet haben, wenn nicht, wie bei meiner ersten Dieberei in Zavelstein, auch jetzt mein guter Genius über mich gewacht und einen Zufall herbeigeführt hätte, der mich bei Verübung mutwilliger Streiche vorsichtig machte. So war z.B. eine Hauptfreude meiner Kameraden das sogenannte Klöpfeln um Weihnachten, wo man, wenn es Abend geworden, den Leuten unversehens eine Handvoll Erbsen an die Fenster warf. Auch ich machte einmal diesen Spaß mit, aber in dem Augenblick, da ich meine Erbsen an die Fenster warf, hörte ich jemand die Treppe herunterkommen, und aus Furcht, erwischt zu werden, flüchtete ich mich in das nächstgelegene Haus, dessen Türe eben offen stand. Allein unglücklicherweise stand jemand hinter der Türe auf der Lauer, und ich wurde so unbarmherzig am Arm gepackt und so weidlich durchgeprügelt, daß mir die Lust zum Klöpfeln und überhaupt zu dergleichen mutwilligen Streichen auf immer vergangen ist.

Nun hatte ich bereits das zehnte Jahr zurückgelegt, und die Zeit, wo ich die lateinische Schule verlassen sollte, kam immer näher. Als künftiger Studiosus der Theologie mußte ich aus der lateinischen Schule in eine der damaligen zwei niedern Klosterschulen und nach zwei Jahren in eine der höhern und von da aus auf die Universität übergehen. Ehe die Studiosen der Theologie in die Klosterschule aufgenommen wurden, mußten sie sich drei Jahre nacheinander einer Prüfung bei dem[28] sogenannten Landesexamen in Stuttgart unterwerfen, und nur wenn sie in allen dreien gut bestanden waren, wurden sie in die Klosterschule aufgenommen, im entgegengesetzten Fall als zum Studium der Theologie untauglich abgewiesen. Schon hatte ich dieses Examen einmal erstanden und sollte nun im nächsten Jahr das zweite erstehen, als ein ganz unerwartetes Ereignis mich nicht nur von dem Besuch des Landesexamens abhielt, sondern mich auch bestimmte, das Studium der Theologie selbst aufzugeben.

Im Jahr 1770 hatte nämlich der damals regierende Herzog Karl auf der Solitude, seinem zwei Stunden von Stuttgart entlegenen Sommeraufenthaltsort, unter dem Namen »Militärische Pflanzschule« eine Erziehungsanstalt für Söhne armer Eltern, hauptsächlich aber Soldatensöhne, errichtet, welche für die Kunst, besonders für die Garten- und Bildhauerkunst, erzogen werden sollten. Anfangs entsprach die Anstalt ganz ihrem Namen; es wurden bloß Söhne armer Eltern und Soldatensöhne aufgenommen. Aber bald erweiterte sich, wie es bei allen von diesem Fürsten errichteten Anstalten der Fall war, auch der Plan dieser Anstalt. Es sollten auch Söhne aus höhern Ständen und besonders Offizierssöhne aufgenommen und die militärische Pflanzschule eine allgemeinere und höhere Erziehungsanstalt werden, welche auch Studierenden zu einer Vorbereitungsschule dienen könnte. Es wurden daher nicht, wie anfangs, bloß Lehrer in der deutschen Sprache, Rechnen, Zeichnen usw., sondern auch Professoren angestellt, welche Unterricht in der Geographie, Geschichte usw. geben sollten, und der erste, der als Professor an die Schule berufen wurde, war der Oberpräzeptor Jahn in Ludwigsburg, ebender, von welchem ich oben als einem der vorzüglichsten Lehrer gesprochen habe. Der Ruf war für ihn sehr ehrenvoll, er hatte ihn bereits angenommen und sich ungesäumt an den Ort seiner neuen Bestimmung begeben. Aber nun fehlte es noch an den Schülern, und weil der Herzog es zunächst auf die Söhne seiner Offiziere abgesehen hatte, so ließ er diese insgesamt, vorzüglich aber diejenigen, die mehrere Söhne hatten, auffordern, sie der neuen Erziehungsanstalt zu übergeben. Begreiflich setzte diese Aufforderung[29] die meisten Offiziere; in eine nicht geringe Verlegenheit; aber nur wenige wagten, die Aufforderung abzulehnen, der größere Teil und zumal diejenigen, die mehrere Söhne hatten, fürchteten die Ungnade des Herzogs und entschlossen sich, der Aufforderung zu entsprechen. Unter den letztern war auch mein Vater, und bei allem seinen Widerwillen gegen die Anstalt meldete er sich doch, um nicht, wie bereits andere Offiziere, in Ungnade zu fallen, um die Aufnahme seines jüngern Sohnes, meines Bruders, in dieselbe. Die Bewilligung der Aufnahme folgte wenige Tage nach der Meldung, die Vorkehrungen zur Abreise waren getroffen, an dem bestimmten Tage ging die Reise vor sich, und ich durfte meinen Bruder auf die Solitude begleiten.

Sogleich nach seiner Ankunft ließ sich mein Vater bei dem Herzog melden, der Herzog bestimmte die Stunde und den Ort, wo ihm der Knabe vorgestellt werden sollte, und kaum hatte sich mein Vater mit seinem Sohn an dem bezeichneten Ort eingefunden, so kam auch der Herzog in der zum Schlosse führenden Allee heraufgeritten, begrüßte, wie er näher gekommen, meinen Vater freundlich, betrachtete meinen Bruder mit Wohlgefallen und fragte meinen Väter, ob der Knabe sein einziger Sohn sei. Mein Vater antwortete, daß er noch einen ältern Sohn habe, und auf die Frage, warum er nicht auch diesen in die Anstalt gebe, erwiderte er, daß derselbe zum geistlichen Stande bestimmt sei. »Das ist ein anderes«, sagte der Herzog, »aber da er älter ist als sein Bruder«, fuhr er gegen den nebenstehenden Professor Jahn fort, »so wird er auch in seinen Kenntnissen weiter sein als der jüngere?« Jahn bejahte dies, und der Herzog ritt weiter. Nach Tische kam der Vorsteher der Anstalt, Hauptmann Seeger, zu uns ins Wirtshaus und sagte meinem Vater, der Herzog habe erfahren, daß er auch seinen ältern Sohn bei sich habe, und geäußert, daß er ihn sehen wolle. Dieser Äußerung zufolge fand sich mein Vater zur bestimmten Stunde an demselben Platz mit mir ein, wo er den Herzog am Vormittag gesprochen hatte. Der Herzog kam wieder in derselben Allee heraufgeritten, und nachdem er meinen Vater wie am Morgen freundlich gegrüßt und mich scharf angesehen[30] hatte, sagte er: »Das ist also Sein älterer Sohn, Herr Hauptmann, den Er heute vormittag vor mir verheimlicht hat? Er hat unrecht getan, denn da Er mir ihn nicht geben will, so hätte Er ihn mich wenigstens sehen lassen sollen.«1 Hierauf sah er mich abermals scharf an und fragte mich dann, wie es mir auf der Solitude gefalle. Und auf die Antwort, es gefalle mir sehr wohl, fragte er weiter, ob ich nicht auch in die Pflanzschule aufgenommen zu werden Lust hätte. Ich antwortete: »O ja, wenn ich nicht ein Geistlicher werden sollte.« – »Hat Er es gehört, Herr Hauptmann?« sagte der Herzog, sich gegen meinen Vater wendend, »der Knabe hat deutlich erklärt, was er wünscht, und er bleibt bei seinem Bruder, nicht wahr?« Der Herzog bemerkte die Verlegenheit meines Vaters, und ohne eine Antwort abzuwarten, ritt er weiter. Wir begaben uns zurück in das Wirtshaus; aber es war noch keine halbe Stunde vorbei, so kam der Professor Jahn, der meinem Vater aus Auftrag des Herzogs sagte, daß es dieser sehr gerne sehen würde, wenn er auch seinen ältern Sohn in die Pflanzschule gäbe. Mein Vater wußte nicht, was er antworten sollte; aber Jahn setzte ihm die Gründe für und wider so auseinander, daß er endlich nachgab, jedoch unter der Bedingung, daß ihm der Herzog erlauben möchte, mich noch auf einige Tage mit sich zurückzunehmen, weil zu meinem Eintritt in die Anstalt gar nichts vorbereitet sei. Allein der Herzog gestattete diesen Aufschub nicht. Es bedürfe keiner Vorbereitung, ließ ihm der Herzog sagen, was die Zöglinge nötig haben, besorge der Herzog, und so mußte nun mein Vater allein nach Ludwigsburg zurückkehren.

Den Schrecken meiner Mutter, wie sie meinen Vater allein aus dem Wagen steigen sah, kann man sich denken. »Wo ist denn Fritz?« rief sie aus, »hat uns der Herzog auch ihn weggenommen, oder wo hast du ihn sonst gelassen, daß er nicht mitkommt?« – »Das sollst du alles erfahren, liebe Frau«, entgegnete ihr der Vater, »nur habe einen Augenblick Geduld und beruhige dich.« Mein Vater erzählte ihr nun alles umständlich,[31] was vorgegangen, wie er dem Verlangen des Herzogs nicht habe widerstehen können, wie er sich dessen Ungnade durch seine Weigerung im höchsten Grade würde zugezogen haben und wie ihm daher keine andere Wahl übriggeblieben als dem Verlangen des Herzogs nachzugeben. Meine Mutter schien durch diese Gründe etwas beruhigt. »Aber«, fing sie wieder an, »was wird der Großvater, was die Großmutter sagen, wenn sie hören, daß Fritz nun kein Geistlicher werden soll?« – »Auch sie«, erwiderte der Vater, »werden sich beruhigen, der Großvater ist ein vernünftiger Mann, der sich in die Umstände zu schicken weiß, und die Großmutter wird den Vorgang als eine Fügung Gottes ansehen, der man nicht widerstehen dürfe.« – »Und was wird der Herr Spezial sagen«, fuhr sie fort, »wenn er hört, daß Fritz kein Geistlicher wird?« – »Der Spezial«, erwiderte der Vater, »ist ein Geistlicher, der schon von Amts wegen in allem, was geschieht, den Willen Gottes erkennen soll, und gerade er ist es, der den Großvater und die Großmutter am besten beruhigen wird, und ich will ihn bitten, daß er ihnen zuerst Nachricht von der Sache gibt.«

Wirklich begab sich mein Vater gleich am folgenden Tag zu dem Spezial, erzählte ihm umständlich, was vorgegangen, und bat ihn, die Großeltern von dem Vorgang zu benachrichtigen und sie darüber zu trösten. Anfangs wollte dem Spezial die Sache nicht recht gefallen. »Ei, ei, Herr Hauptmann!« sagte er, indem er den Kopf schüttelte und mit dem aufgehobenen Zeigefinger der rechten Hand bedenklich winkte, »war denn keine Möglichkeit, sich mit guter Manier aus der Affäre zu ziehen? Die militärische Pflanzschule mag wohl eine gute Anstalt werden, aber Gott weiß, wie lange sie bestehen wird. Die großen Herren sind veränderlich, dem Herzog kann, wie schon so vieles andere, die Anstalt entleiden, und was soll dann mit Fritz werden, der indessen seinen Eintritt in die Klosterschule versäumt hat?« Aber nachdem ihm mein Vater alle die gewichtigen Gründe, durch welche er zu seinem Entschluß bestimmt worden, entwickelt hatte, gab er endlich nach und versprach, an meinen Großvater zu schreiben, was auch schon am folgenden Tage geschah. Sosehr die Großeltern im ersten[32] Augenblick über die Nachricht bestürzt waren, so faßten sie sich doch bald. Sie sahen die Sache an, wie es mein Vater vermutet hatte, und wie sie bald darauf aus Briefen meines Vaters erfuhren, daß es mir auf der Solitude gut gehe, so waren sie endlich ebenso zufrieden wie mein Vater und meine Mutter.

So waren also beide Brüder Zöglinge der militärischen Pflanzschule, und da wir uns in unsern militärischen Uniformen gar wohl gefielen und es uns auch sonst gut ging, so vermißten wir das elterliche Haus je länger, je weniger. Wirklich war für die Zöglinge der Anstalt in jedem Betracht gut gesorgt. Das Haus, in welchem wir wohnten, war hübsch, die Schlaf- und Speisezimmer waren geräumig, luftig und zweckmäßig eingerichtet, ebenso auch die Lehrzimmer, die Kost war einfach, nahrhaft und reichlich. Die Uniform, in welche die Zöglinge gekleidet waren, gab ihnen ein gutes Aussehen. Die Stunden des Unterrichts wechselten mit den zu körperlichen Übungen bestimmten Stunden gehörig ab. Die für jedes Fach angestellten Lehrer waren größtenteils gut gewählt. Die Aufseher, welche über das sittliche Betragen der Zöglinge zu wachen hatten, waren wackere gediente Unteroffiziere. Der Intendant der Anstalt führte die Aufsicht über das Ganze mit Einsicht, und der Herzog selbst, der gewöhnlich dem Speisen und öfters auch dem Unterricht beiwohnte, bezeigte sich den Zöglingen stets auf das liebreichste wie ein Vater, so wie er sie auch gewöhnlich seine Söhne nannte.

Bei dieser Behandlungsart der Zöglinge konnte es natürlicherweise nicht fehlen, die Anstalt mußte bald Aufmerksamkeit erregen und Beifall finden, die Aufnahme in dieselbe wurde für ein Glück gehalten, und bald suchten auch mehrere der angesehensten Familien die Aufnahme ihrer Söhne bei dem Herzoge nach. Dem Herzog, ohnehin geneigt und gewohnt, alles ins Große zu treiben, waren diese Aufnahmsgesuche erwünscht, weil sie ihm Gelegenheit gaben, die Anstalt, seinem schon früher gefaßten Entschluß gemäß, zu erweitern. Seine Absicht war nämlich, aus der Pflanzschule eine Akademie zu machen, und um diese Absicht zu erreichen, beschloß er, vor allem ein dem erweiterten Plan entsprechendes Gebäude herzustellen.[33] Der Plan zu dem Gebäude wurde entworfen, ohne Verzug sollte zur Ausführung geschritten werden, und wirklich wurde auch der Grundstein zu dem Gebäude in Gegenwart eines großen Teils des dazu eingeladenen Hofes, der fremden Gesandten und einer Menge Menschen aus allen Ständen auf das feierlichste gelegt. Allein zur Aufführung des Gebäudes geschah nichts, nicht der großen Kosten wegen, die seine Erbauung und Einrichtung erfordert hätten, denn dem Herzog waren, um einen großen Plan auszuführen, keine Kosten zu groß, sondern weil es ihm für seinen Plan, die Pflanzschule zu einer Akademie zu erheben, zweckmäßiger schien, sie nach Stuttgart zu versetzen. Als das beste Lokal für dieselbe erschien ihm die zunächst hinter dem neuen Residenzschloß gelegene große Kaserne. Die Wahl war entschieden, die Einrichtung der Kaserne zu einem Akademiegebäude wurde ungesäumt ins Werk gesetzt, und im Jahr 1775 zogen die Zöglinge der Pflanzschule mit ihren Vorgesetzten und Lehrern in Stuttgart ein. Der Einzug war sehr feierlich. Die Zöglinge in ihren Uniformen zogen in militärischer Ordnung von der Solitude aus, und nachdem sie Stuttgart bis auf eine halbe Stunde nahe gekommen waren, stellte sich der Herzog, der ihnen entgegengeritten, zu Pferd an ihre Spitze, und so zogen sie denn unter der Anführung des Herzogs in Stuttgart ein. Der Zug geschah langsam im Paradeschritt, eine Menge Menschen begleitete den Zug. In den Straßen, durch welche er ging, waren alle Fenster mit Zuschauern besetzt. Es wurden Blumen aus den Fenstern geworfen, dem Herzog wiederholte Lebehoch gebracht, und am Eingang des Akademiegebäudes begrüßten die wartenden Eltern mit freudigem Zuruf ihre Söhne.

Das Gebäude war beim Einzug noch nicht ganz vollendet. Es mußte wegen des noch fehlenden gemeinschaftlichen Speise- und Rangiersaales noch ein dritter, mit den schon vorhandenen gleichlaufender Flügel erbaut werden, der noch nicht ganz fertig war. Nur die zwei schon vorhandenen Flügel, worin die obern Etagen zu Schlafsälen, die untern zu Lehrsälen eingerichtet waren, und die Zimmer in dem Mittelgebäude und in den Mansarden, welche teils zu Wohnungen für die Offiziere,[34] teils zu andern Zwecken dienten, die Küche und die Viktualienkammern etc. waren fertig und vollständig ihren Zwecken gemäß eingerichtet. – Mit Vergnügen würde ich eine detaillierte Beschreibung der Einrichtung des Gebäudes, nicht allein wie es damals war, liefern, sondern ich würde auch erzählen, wie mit der Erweiterung der Anstalt selbst auch das Gebäude immer mehr erweitert worden, wie zu den schon vorhandenen Lehrsälen neue hinzugekommen, wie für die Kunstbeflissenen jeder Art eigene Ateliers, für die Bibliothek und Naturaliensammlung eigene Säle und Zimmer, ein Lokal zu einem Winterbad eingerichtet, und nachdem die Akademie zur Universität erhoben worden, die Kirche zugleich zu einem Auditorium benutzt, eine eigene Buch- und Kupferdruckerei errichtet worden und wie alle diese Einrichtungen, sowohl in Rücksicht auf Schönheit, ja wie der Speisesaal, selbst auf Pracht als in Rücksicht auf Zweckmäßigkeit, nichts zu wünschen übrigließen. Allein ich enthalte mich dieser Beschreibung, teils weil mir nicht alles so genau mehr erinnerlich ist, teils weil auch dieselbe zu nichts dienen würde, da die hernachmalige Gestalt des Gebäudes nur noch wenige Spuren von seiner vormaligen akademischen zeigt. Gleich nach dem Tode des Herzogs nämlich wurde von seinem Bruder und Nachfolger, Herzog Ludwig, die Akademie aufgehoben.2 Die Zöglinge wurden entlassen und ihren Familien zurückgegeben. Von den Professoren wurden einige an dem Gymnasium in Stuttgart, andere an der Universität in Tübingen, andere anderwärts angestellt. Die vorgesetzten Offiziere traten wieder in ihre vorigen Stellen zurück oder erhielten Pensionen. Das Gebäude wurde wieder zu einer Kaserne gemacht, nur zu einer Kaserne anderer Art, als sie vor ihrer Verwendung zum Akademiegebäude war, die Schlafsäle wurden zu Wohnungen begünstigter Hofleute und Hofdiener eingerichtet und die Hörsäle in Pferdeställe umgewandelt.

Aber indem ich mich aus den eben angeführten Gründen[35] einer detaillierten Beschreibung des Gebäudes und seiner Einrichtung enthalte, wende ich mich um so lieber zur Schilderung der Anstalt selbst als Erziehungs- und Lehranstalt und spreche zuerst von der in derselben eingeführten Lebensordnung. Daß die Verfassung der Anstalt militärisch war, ist bereits früher gesagt worden. Diese Verfassung behielt sie beständig, auch selbst nach ihrer Erhebung zur Universität. Die Kleidung der Zöglinge war eine Uniform, der tuchene Rock von hellblauer Farbe mit schwarzen manchesternen Aufschlägen und Kragen, übersilberten Knöpfen und weißen baumwollenen Achselschnuren, die Weste und die Beinkleider von weißem Tuch, der Hut dreieckig mit Kordons von baumwollenen Schnüren wie die Achselschnur, die Strümpfe von Baumwolle, die Schuhe von schwarzem Kalbleder und die gleichfalls uniformen Schuhschnallen von übersilbertem Metall wie die Rockknöpfe; bei schlechtem Wetter und im Winter wurden Stiefel getragen. Die Hauskleider, welche sich die Zöglinge, sowie die Hemden und anderes Weißzeug, selbst anschaffen mußten, waren Überröcke von selbst beliebiger Farbe, in welchen sie auch die Lehrstunden besuchten. Die Uniformen wurden bloß beim Mittag-und Abendspeisen, auf Spaziergängen und am Sonntag beim Besuch der Kirche getragen. Die Haare auf dem Scheitel waren abgeschoren, die Haare des Hinterkopfs in einen Zopf gebunden, die Seitenhaare zu einer Rolle gekräuselt und mit Haarnadeln befestigt. Die Betten der Zöglinge bestanden aus einem Strohsack, einer mit Roßhaaren gefüllten Matratze mit einem Leilach überdeckt, einem Kopfkissen mit einem linnenen Überzug und einer wollenen, über einen zweiten Leilach gelegenen Decke. Sich ankleiden, die Betten zurechtmachen, ihre Kleider reinigen mußten die Zöglinge selbst, beim Zopfmachen und Frisieren leisteten sie sich gegenseitige Hülfe. Streng wurde auf Reinhaltung der Uniformen, des Weißzeuges, der Betten usw. gesehen, vorzüglich aber auf Reinhaltung des eigenen Körpers durch fleißiges Waschen und Baden, im Sommer in den dazu eingerichteten Bassins in dem akademischen Garten, im Winter in dem schon obenerwähnten Winterbad.[36]

Die Kost der Zöglinge war, wie schon früher bemerkt, einfach, nahrhaft und reichlich. Das Frühstück bestand einmal wie das andere in einer eingebrannten Mehlsuppe, das Mittagessen in einer Fleischsuppe, einer Portion Rindfleisch, einem Zugemüs, wie es die Jahrszeit gab, zuweilen einem Nachtisch von leichtem Backwerk, einer Portion gut gebackenen weißen Brots, und für die ältern Zöglinge aus einer Karavine nicht starken, aber reinen Landweins. Nach dem Abmarsch aus dem Speisesaal erhielten die Zöglinge eine zweite, der ersten gleiche Portion Brot zum Imbiß auf den Nachmittag. Das Abendessen bestand wiederum in einer Suppe, und abwechselnd entweder in einem Wild- oder Kalbsbraten mit Salat oder in einer leichten Mehlspeise nebst der bestimmten Portion Brot, jedoch ohne Wein.

Wie die Stunden zum Speisen, waren auch die Unterrichts-, Vorbereitungs- und Erholungsstunden genau bestimmt und mußten auf das pünktlichste eingehalten werden. Der Vormittagsunterricht begann im Sommer früh um sieben, im Winter um acht Uhr und dauerte bis eilf Uhr; der Nachmittagsunterricht begann um zwei Uhr und endigte sich um sieben Uhr. Eine Stunde vor dem Vormittagsunterricht mußten die Zöglinge angekleidet sein, um aus ihren Schlafsälen in den Speisesaal zum Frühstück geführt zu werden. Nach eingenommenem Frühstück begaben sie sich partienweise, jede Partie in denjenigen Hörsaal, welchen sie nach der Stundeneinteilung besuchen mußte und wo sie den ganzen Vormittag blieb, wenn sie nicht dazwischen zum Unterricht in andern Lehrsälen gehen mußte. Die Lehrstunden dauerten, wie schon gesagt, bis eilf Uhr, eine Stunde vor dem Mittagspeisen, welches unabänderlich um zwölf Uhr festgesetzt war.

Sowohl bei dem Mittag- als bei dem Abendspeisen mußten die Zöglinge jederzeit in Uniform erscheinen, und nachdem sie sich in der Freistunde von eilf bis zwölf Uhr angekleidet hatten, wurden sie von ihren vorgesetzten Offizieren und Aufsehern in den unter dem Speisesaal gelegenen sogenannten Rangiersaal geführt, daselbst nach ihren verschiedenen Abteilungen in Reihe und Glied gestellt, sodann von dem Intendanten der[37] Akademie oder gewöhnlich von dem Herzog selbst, der fast täglich dem Mittag- und Abendessen beiwohnte, inspiziert. Nach beendigter Inspektion wurde von dem Rangiersaal aus unter der Anführung des Oberaufsehers in den Speisesaal marschiert. In diesen führten zwei Flügeltüren, durch beide wurde zugleich einmarschiert, durch jede in einer doppelten Reihe, die eine links, die andere rechts längst der gedeckten Tafeln, bis jeder Zögling an seinem Platz war. Nun wurde rechts- und linksum kommandiert, und nachdem sich die Zöglinge, das Gesicht gegen die Tafeln gekehrt, gestellt hatten, wurde auf das letzte Kommandowort: Zum Gebet! von dem Zögling, an welchem die Reihe war und welcher beim Einmarsch in den Speisesaal ausgetreten und sich auf die zwischen den beiden Flügeltüren angebrachte Erhöhung gestellt hatte, das vorgeschriebene Tischgebet gesprochen. Nach dem Gebet durften sich die Zöglinge nicht gleich setzen, sie mußten in ihrer geraden Stellung stehen bleiben, bis ihnen der Herzog oder in seiner Abwesenheit der Intendant erlaubte, sich zu setzen und zu essen, wo je für sechs Zöglinge eine Schüssel aufgetragen war. Nach dem Essen marschierten sie in derselben Ordnung aus dem Speisesaal in ihre Schlafsäle, und nachdem sie ihre Hauskleider angezogen hatten, begaben sie sich in Begleitung ihrer Aufseher in den akademischen Garten, in welchem sie zu allerlei körperlichen Übungen, Springen, Ringen, Ballspielen, Bauen ihrer Gärtchen, denn jeder Zögling hatte sein eigenes, Gelegenheit hatten, seltener auf Spaziergänge außerhalb der Akademie, wie sie denn auch nur zuweilen partienweise das Theater und im Mai die damals splendide Messe besuchen durften. Um zwei Uhr fingen die Lehrstunden wieder an und dauerten bis abends um sieben Uhr. In der Freistunde von sieben bis acht Uhr kleideten sich die Zöglinge zum Abendessen an, wobei wie der alles wie beim Mittagessen gehalten wurde. Um neun Uhr war die Zeit zum Schlafengehen. In jedem Schlafsaal schliefen zwei Aufseher und ein Offizier. Kein Zögling durfte über die gesetzte Zeit aufbleiben; sobald die Zöglinge zu Bette gegangen waren, mußte jede, zumal lärmende Unterhaltung aufhören. Es durfte außer dem Nachtlicht kein Licht gebrannt werden.[38] Die Zöglinge sollten gehörig ausschlafen, um morgens zur gehörigen Zeit aufstehen zu können; nur diejenigen, die sich als krank angaben, durften länger zu Bette bleiben, wurden aber sofort auf eins der Krankenzimmer gebracht, wo sie bis zu ihrer Genesung verblieben.

Zur Durchführung und Handhabung dieser Lebensordnung waren die Zöglinge in vier Abteilungen geschieden, eine für die adeligen, drei für die bürgerlichen, wovon die eine die Studierenden, die zweite die Kunstbeflissenen, die dritte die jüngern Zöglinge in sich faßte. Jede Abteilung hatte ihren eigenen Schlafsaal, ihre eigene Tafel in dem Speisesaal und ihre eigenen Vorgesetzten. Der Vorgesetzten waren bei jeder Abteilung fünf, ein Hauptmann, zwei Lieutenants und zwei Aufseher, letztere durchaus vormalige wackere Unteroffiziere. So wie die Aufseher den Lieutenants, so waren diese den Hauptleuten untergeordnet. Die Aufsicht über das Ganze führte der Intendant der Akademie, der Oberst und nachmalige General von Seeger, welchem ein Stabsoffizier von geringerem Rang und ein Adjutant, Oberaufseher genannt, beigegeben war, letzterer ebenfalls ein Subalternen-Offizier, dessen Funktionen waren, dem Intendanten Rapport zu machen, seine Befehle an die Unterbehörden zu bringen, dem Speisen beizuwohnen, bei dem Einmarsch der Zöglinge in dem Speisesaal vorzumarschieren, das obenerwähnte Kommando dabei zu führen, zu unbestimmten Zeiten in dem Gebäude die Ronde zu machen, um nachzusehen, ob alles in der gehörigen Ordnung sei, durch die Hörsäle und Lehrzimmer am Schlusse der Vorlesungen zu gehen, um nachzufragen, ob nichts Ordnungswidriges während derselben vorgefallen, und von allem Wahrgenommenen dem Intendanten jedesmal vor dem Mittag- und Abendessen Rapport zu erstatten.

Daß bei dieser strengen Disziplin und bei dieser sozusagen allgegenwärtigen Aufsicht nicht leicht Exzesse von Bedeutung vorfallen konnten, ist einleuchtend. Dagegen gab es desto öfter geringere Vergehen, sowohl in den Schlaf- und Hörsälen als bei den Belustigungen im Garten, beim Baden, auf den Spaziergängen, im Theater usw. Waren die Vergehen unbedeutend,[39] so wurden sie von den Aufsehern und Lehrern bloß gerügt, waren sie hingegen bedeutender, so wurden sie den vorgesetzten Offizieren angezeigt. Diese sowie auch die Lehrer, wenn sie während ihrer Vorlesungen vorgefallen, schrieben das Vergehen auf ein Blatt Papier, Billett genannt, das Billett wurde dem beschuldigten Zögling zugestellt, und dieser mußte es dann entweder dem Herzog selbst oder in dessen Abwesenheit dem Intendanten bei der Inspektion in dem Rangiersaal vorzeigen. Der Vorzeiger des Billetts wurde gefragt, ob die Beschuldigung wahr sei, seine Verantwortung angehört und, wenn er straffällig befunden worden, die Strafe diktiert. Die gewöhnliche Strafe für minder bedeutende Vergehen war das Karieren. Dieses bestand darin, daß der Zögling der Abendkost entbehren und, während die andern Zöglinge saßen und speisten, an seinem gewöhnlichen Platz stehend, denselben zusehen mußte. Für bedeutendere Vergehen, wie Raufereien, Ungehorsam gegen die Vorgesetzten und Lehrer, Verspottungen oder Beleidigungen derselben usw., wurden Stockschläge ad posteriora verfügt, welche jedoch selten stattfanden. Die größte Strafe war die Relegation, aber ich erinnere mich keines Falles, wo diese verfügt worden wäre. Außer dem Intendanten durfte niemand eine Strafe diktieren und auch dieser nur in Abwesenheit des Herzogs und bei leichtern Vergehungen. Schwerere Vergehungen zu bestrafen, hatte sich der Herzog vorbehalten, und ich weiß mich keines Falles zu entsinnen, wo die von ihm ausgesprochene Strafe dem Vergehen nicht angemessen gewesen wäre.

Indessen kamen, wie leicht zu erachten, nicht alle Vergehungen der Zöglinge zur Kenntnis des Herzogs und des Intendanten. Von den leichtern wurden die meisten von den Vorgesetzten und Lehrern im stillen gerügt, von andern bekamen diese, weil es unter den Zöglingen keine Verräter gab, keine Notiz, ja selbst bedeutende und hochverpönte Vergehen blieben im verborgenen, weil sie mit Vorsicht und Schlauheit verübt wurden. So durften die Zöglinge weder Tabak rauchen noch Tabak schnupfen, sie durften sich keine Eßwaren zubringen lassen, und um der Übertretung dieser Verbote um so[40] gewisser vorzubeugen, durften sie kein Geld führen, sondern was sie von ihren Eltern und Anverwandten bei ihren Besuchen geschenkt bekamen, mußten sie an die Aufseher abgeben, welche für die Verwendung zu stehen und den Zöglingen Rechnung abzulegen hatten. Daß viele Zöglinge bei der Abgabe des Geldes an die Aufseher nicht immer ganz gewissenhaft verfuhren und mehr oder weniger zu unerlaubten Ausgaben zurückbehielten, läßt sich leicht denken, es kam nur darauf an, daß die auf diese Art möglich gemachte Übertretung jener Verbote nicht entdeckt wurde. So wurde bei den Sonntagsbesuchen den Zöglingen von ihren Verwandten und Freunden manches Verpönte zugebracht; aber bei der Vorsicht, mit welcher es geschah, war es kaum möglich, daß es bekannt wurde, ja es wurde sogar Handel mit den verpönten Sachen getrieben, und zwar besonders von einem ältern der Zöglinge, welcher, nachdem er das Herbeischaffen der verbotenen Dinge schon länger für sich unentdeckt getrieben hatte, sich seinen vertrauten Kameraden zu ihrer großen Freude zum Spediteur erbot. Er versah sich daher mit allem, was von verbotenen Waren verlangt werden mochte, mit Schnupf- und Rauchtabak, Knackwürsten, Hefenknöpfen, Backwerk etc., welches alles herbeizuschaffen er abends bei Licht und während der Vorlesungen eines kurzsichtigen Professors zum hintersten Fenster des parterre gelegenen Hörsaales leise hinaus- und vor beendigter Vorlesung wieder hereinstieg. Wir hießen ihn daher unter uns den Marketender der Akademie, und weil er nie bei diesem Wagstück erwischt wurde, nannte ihn Schiller den Allmächtigen. So wurden die meisten seiner Kunden insbesondere heimlich Tabakschnupfer, wenigere wagten auch zu rauchen. Aber um so stärker rauchte er selbst, und um nicht entdeckt zu werden, rauchte er seine Pfeife meistens in einem Vorkamin des Schlafsaales, wobei er, wie er scherzend sagte, im Sommer die Vorsicht brauchte, nicht zu stark zu dampfen, weil ihn der aus dem Schornstein aufsteigende Rauch leicht verraten könnte. Einen eigenen Spediteur dieser Art hatten wir Mediziner an einem Krankenwärter, einem alten, gutmütigen Gesellen, welchen wir ganz für uns eingenommen hatten. In dem letzten Jahr unseres[41] Lehrkurses nämlich hatten wir weniger Kollegien zu besuchen als in den ersten vier Jahren, und unsere freie Stunden mußten wir in den Krankenzimmern zubringen, um die daselbst befindlichen Kranken zu beobachten, den Ärzten bei ihren Besuchen über den Zustand derselben zu referieren und über jeden ein Tagebuch zu führen. So wurden wir bald mit dem erwähnten Wärter vertraut und ihm so lieb, daß er uns nichts abschlagen konnte. Er schaffte uns daher alles, was wir wünschten, und weil das meiste verbotene Ware war, so nannten wir die Würste, Hefenknöpfe, Butterbrezeln etc. Sünden, und wir durften ihm nur die Nummer nennen, womit wir jene Waren bezeichneten, um ihn sogleich zu verständigen, welche Sünde wir begehen wollten.

Soviel in Rücksicht auf die Lebensordnung in der Akademie. Ich komme nun auf den Unterricht in derselben, und es ist nötig, dabei etwas länger zu verweilen. Anfangs war, wie schon bemerkt, die Anstalt nicht mehr, als was ihr Name besagte, eine militärische Pflanzschule zur Erziehung und Unterweisung armer und verwaister Kinder, besonders Soldatenkinder. Aber bald erweiterte sich der Plan, es wurden auch Söhne von Offizieren aufgenommen, und wie anfangs bloß im Lesen, Schreiben, Rechnen, Zeichnen etc. Unterricht erteilt wurde, so wurde jetzt auch Latein, Geometrie, Geographie, Geschichte etc. gelehrt. Allein auch dabei blieb der Herzog nicht stehen. Die militärische Pflanzschule sollte auch eine Vorbereitungsschule für Studierende, ein militärisches Gymnasium werden, in welchem wie in andern Gymnasien alles gelehrt werden sollte, was zur Vorbereitung auf die Universität erforderlich ist. Zu einem solchen militärischen Gymnasium war die militärische Pflanzschule schon vor ihrer Versetzung nach Stuttgart geworden; aber bald wurde auch das Gymnasium erweitert, es sollte über mehrere wissenschaftliche Gegenstände Unterricht erteilt werden, es wurden daher mehrere Lehrer angestellt, und da in ebendem Verhältnis, in welchem sich die Anstalt selbst erweiterte, auch der Zudrang zu derselben größer wurde, indem jetzt auch von den angesehensten Familien die Aufnahme ihrer Söhne nachgesucht wurde, so nahm auch der Herzog daher Anlaß,[42] die Anstalt immer mehr ins Große zu treiben. Aus dem Gymnasium sollte eine Akademie werden, auf welcher wie auf den Universitäten Unterricht in den höhern Wissenschaften gegeben werden sollte, bloß die Theologie und Medizin ausgenommen. Allein bald wurde auch die Medizin in den Kreis gezogen, und es wurden sofort fünf Fakultäten angeordnet, eine juridische, eine kameralistische, eine medizinische, eine militärische und eine philosophische. Für jede Fakultät wurden nach den Verzweigungen der Wissenschaft mehrere Lehrer angestellt, die Lehrer hielten ihre Vorlesungen wie die Lehrer auf den Universitäten, und wenn die Akademie schon deswegen den Namen einer Universität verdiente, so verdiente sie diesen Namen noch weit mehr, indem sie nicht nur zugleich ein Gymnasium für diejenigen Zöglinge, die sich zu den höhern Studien vorbereiteten, sowie auch eine Trivialschule für jüngere Kinder, denn schon Kinder von sechs und sieben Jahren wurden in die Akademie aufgenommen, blieb, sondern auch eine Schule für Künstler, Musiker, Maler, Bildhauer und Kupferstecher war. So erhielt die Anstalt zuletzt einen Umfang, wie ihn zuvor nie eine Erziehungs- und Unterrichtsanstalt gehabt hat und vielleicht nie eine mehr haben wird. Außer in der Theologie wurde nicht nur in allen Wissenschaften und Künsten Unterricht erteilt, sondern es fehlte auch nicht an Gelegenheit, reiten, fechten, tanzen, ja sogar exerzieren zu lernen, da die dazu erforderlichen Gewehre in beträchtlicher Anzahl vorhanden waren. Auf den ersten Anblick hat allerdings eine Anstalt von solchem Umfang etwas Abenteuerliches; aber es ist nur das Ungewöhnliche, was ihr dieses Ansehen gibt. Sie leistete alles, was ihr Stifter bezweckte. Ausgezeichnete Gelehrte, wie Cuvier, große Dichter, wie Schiller, große Künstler, wie Dannecker, treffliche Offiziere, wie Oberst von Müller, gingen aus ihr her vor, und auch die Hauptabsicht des Herzogs, sich seine Staatsbeamten selbst zu bilden, um zu beurteilen, wozu jeder am besten zu brauchen sei, blieb nicht unerreicht. Noch zu seinen Lebzeiten waren die meisten Stellen bereits von seinen Zöglingen besetzt, und nach seinem Tode ließen seine Nachfolger sie nicht nur an ihren Stellen, sondern sie beförderten sie auch[43] zu höhern, ja selbst die meisten ihrer Minister waren Zöglinge der Karls-Hohenschule.

Was den Unterricht selbst betrifft, so hatten die Professoren bei ihren Vorträgen volle Freiheit. Es war ihnen nicht wie zu unserer jetzigen Zeit vorgeschrieben, was und wie sie lehren sollten. Nur das Fach, das ihnen zugewiesen war, war bestimmt, und keiner durfte in ein anderes übergreifen, wie das auf andern Universitäten der Fall ist – eine weise Verordnung, da dieses Verbot das sicherste Mittel ist, dem in mehreren Beziehungen so nachteiligen Rivalisieren der Professoren zu begegnen.

Es würde mich zu weit führen, wenn ich alle Professoren und Lehrer, welche nach und nach an der Akademie angestellt worden, namhaft machen wollte. Im ganzen war der Herzog bei der Wahl derselben glücklich und vielleicht glücklicher als bei der Wahl der vorgesetzten Offiziere und Aufseher, in der Folge Hofmeister genannt. Indessen waren doch bei allen Fakultäten einzelne, welche ihren Platz nicht ganz ausfüllten. Ich nenne diese Personen nicht, obschon die meisten längst gestorben sind; aber um so lieber nenne ich einige der ausgezeichneteren, wie z.B. den Hofrat Reuß in der juridischen, den Hofrat Stahl in der kameralistischen, die Professoren Cunsbruch, Klein und Reuß in der medizinischen, den noch lebenden Oberst Rösch in der militärischen, die Professoren Schott und Abel und den Magister Moll in der philosophischen Fakultät. Sie waren alle ebenso wackere Männer als ausgezeichnete Gelehrte. Ihre Vorträge waren gründlich, klar, ja wie die Vorträge des Professors der Geschichte Schott, selbst beredt. Ein eigentliches Genie unter den Lehrern war der Lehrer der höhern Mathematik, der Magister Moll, aber dabei ein großer Sonderling, der nie in Stuttgart zu Mittag aß, beinahe mit niemand umging und wie der gemeinste Handwerker gekleidet war, weswegen er vermutlich auch nie zum Professor ernannt wurde. – Auf eine andere Art eigen war der Professor der Philosophie Abel. Von Figur klein und etwas dick, war er äußerst beweglich, stellte sich bei seinen Vorträgen selten auf den Katheder, sondern lief mit schnellen Schritten im Hörsaal auf und ab,[44] wie er denn eben dieser Beweglichkeit wegen in seinen Vorträgen etwas weitläuftig war. Übrigens war er ein Mann von dem vortrefflichsten Charakter und vielleicht der beliebteste von allen Professoren. Es ist derselbe Abel, der in der Biographie Schillers als einer seiner vorzüglichsten Freunde aufgeführt ist. – Von den Professoren der juristischen, kameralistischen und militärischen Fakultät kann ich nichts Besonderes sagen, weil ich als Mediziner zu wenig mit ihnen in Berührung kam. Um so näher bekannt war ich mit den Professoren der medizinischen Fakultät Reuß, Klein und Cunsbruch. Reuß las Naturgeschichte, Chemie, Pharmazie und Arzneimittellehre, ein ernster, trockener Mann, aber gründlich gelehrt in seinen Fächern und zugleich ein sehr guter praktischer Arzt und eben deswegen auch als Akademiearzt angestellt. Klein lehrte Anatomie, Chirurgie und Geburtshülfe, alle drei Pensa vortrefflich, denn er war einer der geschicktesten der damals lebenden Anatomen und ein ebenso guter theoretischer als praktischer Chirurg und Geburtshelfer; auch war er zugleich Leibchirurg des Herzogs, der ihn nicht nur wegen seiner Geschicklichkeit, sondern auch wegen seines geraden, treuherzigen, echt schwäbischen Charakters hochschätzte, weswegen er ihn auch immer auf seinen Reisen begleiten und nicht nur den Arzt, sondern auch den Kassier, ja manchmal selbst den Quartiermacher machen mußte. Cunsbruch las Physiologie, Pathologie, Semiotik und Therapie, und seine Vorlesungen waren ebenso angenehm als instruktiv. Er war ein Mann von dem besten Charakter, heiter, wohlwollend, dienstfertig, und dabei ein trefflicher Gesellschafter wegen seines natürlichen, ungesuchten und oft feinen Witzes. Als praktischer Arzt war er einer der beliebtesten und gesuchtesten Ärzte in der Stadt. Auch uns Studierenden war er sehr lieb, er war nicht bloß unser Lehrer, sondern auch unser Freund, und ob ich gleich in der Folge weniger mit ihm in Berührung bliebt als meine Mitschüler, so konnte ich mich doch bei jeder Gelegenheit überzeugen, daß er bis ans Ende seines Lebens mein wahrer Freund und Gönner geblieben ist.

Ehe ich weiter fortfahre, muß ich noch zweier fremder Professoren[45] gedenken, welche von Tübingen nach Stuttgart berufen wurden, um philosophische Kollegien, der eine theoretische Philosophie und Ästhetik, der andere Logik und Metaphysik, zu lesen, die Professoren Böck und Ploucquet. Abel las zwar diese Pensa auch, aber sein Hauptfach war Moralphilosophie. Sie wurden beide nur auf ein Jahr engagiert, und zuerst kam Böck, ein Mann von mittlerer Größe, hager, von blaßgelber Gesichtsfarbe, langer gebogener Nase und in seiner Haltung etwas vorwärts gebückt. Seine Stimme war zwar etwas schwach, aber doch laut genug, um ihn zu verstehen, zumal wenn er, was bei seiner Lebhaftigkeit öfters geschah, in Affekt kam. Seine Vorträge hatten sämtlich das Gepräge eines selbstdenkenden Philosophen, und man hörte sie, weil er sehr gut sprach, gern, zumal seine ästhetischen Vorlesungen, wo er die Stellen aus Klopstocks »Messias« und anderen unserer besten Dichter der damaligen Zeit sehr gut deklamierte. Am Schlusse seiner Vorlesungen schrieb er eine Dissertation »De perfectibilitate sensuum externorum«, welche unter seinem Vorsitz von seinen Zuhörern öffentlich verteidigt wurde, in sehr schönem Latein; auch war ihm aufgetragen, die bei der Stiftungsfeier der Akademie gewöhnliche Rede zu halten, in welcher er sich auch als deutscher Schriftsteller vorteilhaft auszeichnete.

Schon vor seiner Rückreise nach Tübingen war Ploucquet angekommen, bekanntlich einer der berühmtesten Philosophen seiner Zeit, aber ein Mann von der sonderbarsten Art, sowohl in seinem Äußern als in seinem Benehmen. Alles war an ihm dick, sein Kopf, sein Hals, sein Bauch, seine Arme und Beine. Er war gekleidet wie unsere heutigen massiven Bierbrauer, nur daß er eine Stutzperücke trug, die gewöhnlich etwas schief aufgesetzt war. Seine Stimme war rauh, seine Sprache mehr die Sprache eines Handwerkers als eines Gelehrten, und wie wenig die Philosophie bei ihm ins Leben übergegangen, zeigte seine Art, sich zu benehmen, sowohl auf dem Katheder als auch anderwärts, selbst bei Hofe an der herzoglichen Tafel. Indessen ließ seine Zelebrität dieses alles vergessen, und besonders übersah ihm der Herzog auch die größten Gemeinheiten und Ungezogenheiten, welche er sich gewöhnlich an der Tafel, zu[46] welcher er fast täglich geladen war, gegen ihn erlaubte, ja er ergetzte sich vielmehr an denselben ungefähr so, wie sich in frühern Zeiten die Fürsten an den Schwänken ihrer Hofnarren ergetzten. So wurde er, um nur ein einziges Beispiel anzuführen, einst an der Tafel von dem Herzog gefragt, ob er der Verfasser einer damals viel Aufsehen erregenden Broschüre: der »Lumpenspiegel«, sei. Ploucquet bejahte die Frage, und wie er sah, daß sich der Herzog darüber verwunderte, fügte er hinzu, daß er nach seiner Rückkehr nach Tübingen gesonnen sei, noch einen zweiten Teil zu schreiben, weil er während seines Aufenthalts in Stuttgart auch noch manche Lumpen aus den höhern Ständen habe kennenlernen, die eine eigene Spezies ausmachen. Indessen verminderte sich das Wohlgefallen des Herzogs an seinen Ungezogenheiten je länger, je mehr; er wurde seltener zur Tafel gezogen, und er fiel zuletzt völlig in Ungnade. Die wahrscheinliche Veranlassung dazu war folgende: Der Herzog hatte ihm nämlich aufgetragen, eine Charakteristik von ihm zu schreiben, und da er sich dazu verstanden hatte, sagte ihm der Herzog: »Aber wohlgemerkt, Herr Professor, ganz unparteiisch, ich sage, ganz unparteiisch.« – »Daran soll es nicht fehlen«, erwiderte Ploucquet, »wenn die Charakteristik nur nicht zu unparteiisch ausfällt.« Ploucquet übergab die Charakteristik; wie sie ausgefallen, ist nicht bekannt worden. Aber das Benehmen des Herzogs gegen ihn bewies, daß er in Ungnade gefallen, und da eben das Jahr, auf welches er engagiert worden, zu Ende war, verließ er Stuttgart ebenso ohne Sang und Klang, wie er vormals seine Pfarrei im württenbergischen Oberland, wo er sich unter andern Ungebührlichkeiten auch die erlaubt haben soll, daß er den Sonntag auf die Mittwoch verlegen wollte, verlassen hatte und als Diakonus nach Freudenstadt versetzt wurde.

Von der Schilderung der bedeutendern an der Akademie angestellten Lehrer kehre ich wieder zu dem Unterricht selbst zurück. Wie derselbe bei der juridischen, kameralistischen und militärischen Fakultät und bei den Künstlern beschaffen war, kann ich als Mediziner nicht genau angeben, nur von dem medizinischen und dem allen Zöglingen gemeinschaftlichen Religionsunterricht kann ich etwas Näheres sagen.[47]

Was zuvörderst den medizinischen Unterricht betrifft, so war sowohl für den theoretischen als auch für den praktischen nicht nur durch die gute Wahl der Professoren, sondern auch durch die dazu getroffenen Anstalten genugsam gesorgt. Zwar fehlte es für den praktischen Unterricht an einem eigenen botanischen Garten, an einem eigenen chemischen Laboratorium und an einer Anstalt für die Klinik, bloß für die Anatomie war ein ebenso gut eingerichtetes als reichlich mit Kadavern versehenes Lokal vorhanden und ein ausgezeichneter Prosektor namens Morstadt angestellt. Indessen gebrach es doch auch für den praktischen Unterricht in der Botanik, Chemie und Pharmazie und für den klinischen Unterricht nicht an für die damalige Zeit hinlänglicher Gelegenheit. Zum Unterricht in der Botanik diente außer den botanischen Exkursionen der in der Nähe des Akademiegebäudes gelegene öffentliche botanische Garten, an welchem einer der ausgezeichnetsten praktischen Botaniker, der Garteninspektor Martini, angestellt war, welcher den Professor Gmelin von Tübingen, den sogenannten Petersburger Gmelin, auf seiner botanischen Reise nach Sibirien begleitet hatte und dem Herzog auf einer Reise in die Schweiz von dem berühmten Haller empfohlen worden war, ein schon bejahrter, unscheinbarer, gar nichts aus sich machender und ebendaher dem seine Leute sonst sehr gut kennenden Herzog bloß als simpler Inspektor des botanischen Gartens bekannter Mann. – Zum praktischen Unterricht in der Chemie und Pharmazie diente die Hofapotheke, wohin wir geführt wurden, sooft Prozesse, die für uns instruktiv waren, daselbst vorkamen. – Zum klinischen Unterricht endlich dienten teils die Kranken in der Akademie selbst, teils die Kranken in den städtischen Krankenhäusern, zu denen uns die Gefälligkeit der sie besorgenden Ärzte den Zutritt gestattete. Diejenigen Mediziner, welche sich vorzüglich der Chirurgie und der Geburtshülfe zu widmen gesonnen waren, begaben sich nach vollendetem Lehrkurs in der Akademie nach Straßburg, wo bekanntlich damals die vorzüglichsten Anstalten dazu vorhanden waren.

Was den Religionsunterricht in der Akademie betrifft, so waren für denselben zwei eigene Geistliche angestellt, der eine[48] für den dogmatischen, der andere für den historischen Teil. Der letztere war zugleich Akademieprediger, und ich darf hier unbemerkt lassen, daß diese Stelle auch eine Zeitlang von dem nachmals so berühmt gewordenen Lehrer der Theologie auf der Universität Göttingen Planck bekleidet war. Der Unterricht in der katholischen Religion war, wie der Unterricht in der reformierten dem reformierten Stadtpfarrer in Cannstatt, den Geistlichen an der herzoglichen Hofkapelle anvertraut. In der Akademiekirche wurde an allen Sonn- und Feiertagen vormittags Predigt gehalten, welcher alle Zöglinge mit ihren Vorgesetzten beiwohnen mußten. Mit den jüngern Zöglingen wurde in eigen dazu bestimmten Stunden katechisiert, zweimal im Jahr kommuniziert, und keiner von den konfirmierten Zöglingen durfte sich von der Kommunion ausschließen. Die Katechisationen wurden wie damals überall nach dem lutherischen Katechismus gehalten. Die beiden Religionslehrer waren strenge Orthodoxen, aber gelehrte und auch wegen ihres Charakters in hoher Achtung stehende Männer.

Ferien gab es in der Akademie nicht wie auf andern Universitäten. Da die Zöglinge, außer unter ganz besondern Umständen, keine Besuche außerhalb derselben machen und in der Regel nur am Sonntage nachmittags Besuche von den Ihrigen annehmen durften, so wurden auch die Vorlesungen das ganze Jahr hindurch ununterbrochen fortgesetzt bis vierzehn Tage vor der Stiftungsfeier der Akademie, welche auf den einundzwanzigsten Dezember fiel und die einzige große Feierlichkeit war, welche in der Akademie stattfand. Während jener vierzehn Tage wurden die öffentlichen Prüfungen der Zöglinge vorgenommen, sowohl in den Wissenschaften als auch in den Künsten. Die Zöglinge wurden in allen Zweigen derselben, gewöhnlich in Gegenwart des Herzogs selbst, unter freiem Zutritt der Väter der Zöglinge und öfters auch mit Zuziehung auswärtiger Gelehrten von ihren Lehrern examiniert; die Kunstbeflissenen mußten die ihnen aufgegebenen Arbeiten gefertigt haben, welche dann von ihren Lehrern gemeinschaftlich beurteilt wurden. Die Stunden für die Prüfungen waren genau bestimmt, und abends nach dem Nachtessen wurden die Resultate derselben[49] und die Namen der Individuen, welche nach dem Urteil der Lehrer die ersten und des für jedes Fach bestimmten Preises würdigsten waren, von dem Sekretär der Akademie verlesen. Nach Beendigung der Prüfungen hielt der Herzog in dem Speisesaal, wo außer dem Hof auch die Eltern und Anverwandten der Zöglinge Zutritt hatten, nach dem Abendessen eine Rede, in welcher er über den Erfolg der Prüfungen sowie überhaupt über den Zustand der Akademie sprach, sich des Gedeihens derselben erfreute, die Zöglinge, welche sich bei den Prüfungen vorzüglich ausgezeichnet hatten, unter Nennung ihrer Namen lobte, die minder gut bestandenen tadelte und seine Hoffnungen für die Zukunft verkündigte.

Der Stiftungstag der Akademie selbst wurde auf das feierlichste begangen. Die Feier begann mit einer in der Akademiekirche von dem herzoglichen Oberhofprediger, in der katholischen Hofkapelle eine Stunde früher von dem ersten Geistlichen derselben gehaltenen Predigt, und beiden Predigten wohnte der Herzog bei. Nach der Predigt begaben sich die Zöglinge in ihre Schlafsäle, verweilten da bis zum Mittagspeisen, welches wie gewöhnlich abgehalten wurde. Hierauf begaben sie sich wieder in ihre Schlafsäle zurück, wo sie blieben, bis die Stunde zum Abmarsch in den großen Rangiersaal gekommen war, wo sie mit ihren Vorgesetzten und Lehrern die Ankunft des Herzogs erwarteten. Vor dem Platz, welchen der Herzog mit seinem Gefolge einnahm, stand eine lange Tafel, auf welcher die Preise und Orden, die ausgeteilt werden sollten, in gehöriger Ordnung gelegt waren, auf der andern Seite der Tafel standen die Zöglinge mit ihren Vorgesetzten und Lehrern. Nun kam der Herzog, in die Uniform der vorgesetzten Offiziere gekleidet, mit seinem Gefolge, und nachdem er sich mit demselben niedergesetzt hatte, trat der Professor, der die Rede zu halten hatte, hervor, stellte sich dem Herzog; an der Fronte der Zöglinge gegenüber und begann zu sprechen. Nach beendigter Rede begab sich der Herzog an das eine Ende der Tafel, ihm zur Seite der Intendant der Akademie, und an das andere der Sekretär der Akademie. Dieser las die Namen der Zöglinge, denen Preise zuerkannt worden, der Reihe nach[50] ab, der Intendant nahm den bestimmten Preis von der Tafel, übergab ihn dem Herzog und der Herzog dem auf den Aufruf hervortretenden Zögling, welcher nach Empfang desselben dem Herzog den Rock küßte und sich dann an seinen Platz zurückbegab. Die Preise bestanden in silbernen Medaillen mit dem Bildnis des Herzogs auf der einen und einem passenden Emblem auf der andern Seite, etwa fünf Gulden am Wert, und lagen in einer Kapsel von rotem Saffian, auf dem Deckel mit einem verschlungenen doppelten goldenen C verziert. Der akademische Orden war ein goldenes, braun emailliertes Kreuz, auf welchem wiederum ein doppeltes goldenes C eingeschmelzt war. Um mit dem Orden dekoriert zu werden, mußte de Zögling in demselben Jahre acht Preise erhalten haben, und bekam er im folgenden Jahre wieder so viele, so durfte er das Ordenskreuz am Halse tragen und erhielt zugleich einen ebenfalls mit dem doppelten C gezierten, auf der linken Seite der Brust aufgenähten silbernen Stern. Auch wurden die Ordensritter dadurch ausgezeichnet, daß sie beim Speisen an einer eigenen Tafel saßen und einen eigenen Schlafsaal hatten. Den Schluß der Feierlichkeit machte eine glänzende Tafel in dem akademischen Speisesaal, an welcher auch die anwesenden Väter der Zöglinge teilnahmen, während andere Personen teils die Tische umgaben, teils von der Galerie aus sich des rührenden Anblicks des Herzogs, des Vaters seiner Zöglinge, erfreuten.

Mit dieser Feier des Stiftungstages wurden auch die auf fünf Jahre festgesetzten Lehrkurse bei den Fakultäten geschlossen. Die Zöglinge, welche dieselben vollendet hatten, wurden aus der Akademie entlassen, die Fremden kehrten in ihr Vaterland zurück, die Einheimischen wurden entweder sogleich im Staatsdienst oder als Offiziere angestellt, oder wenn in dem Augenblick keine Stellen für sie offen waren, einstweilen unter der Versicherung einer baldigen Anstellung, ja selbst mit einer kleinen Pension begnadigt, ihren Familien zurückgegeben. So wurden mehrere Zöglinge gleich nach ihrem Austritt aus der Akademie zu Sekretären bei der Regierung oder der Finanzkammer und andern Behörden, ja einige sogar als Regierungs-und Finanzräte angestellt, was bei ihrem jugendlichen Alter[51] allerdings befremdend war und insbesondere den Landleuten, welche bei der Regierung oder der Finanzkammer etwas nachsuchten, dergestalt auffiel, daß einmal ein Bauer, wie er zwei solche junge Regierungsräte durch das Sekretariatszimmer in den Sitzungssaal gehen sah, einen der Sekretäre fragte, wer denn die beiden jungen Herren seien, und auf die Antwort, es seien Regierungsräte, erwiderte, in dem Sessionssaal würden doch wohl an den Fenstern eiserne Stäbe angebracht sein, damit die jungen Herren, wenn sie hinaussähen, nicht hinausfallen.

Nach der Entlassung aus der Akademie war es Sitte, daß die Zöglinge ihre Aufwartung bei dem Herzog machten, um ihm für die ihnen während ihres Aufenthalts in derselben genossenen Wohltaten zu danken. Sie wurden alle sehr gnädig von dem Herzog aufgenommen, und selten versäumte er, ihnen einzeln die väterlichen Lehren zu wiederholen, welche er ihnen oft in der Akademie öffentlich gegeben hatte. Besonders erfreute er sich der Dankbarkeit der Ausländer, und wie gerührt er war, wenn er sah, daß der Dank ihnen aus dem Herzen kam, mag folgende Anekdote beweisen. Unter mehreren Schweizern, welche in der Akademie studierten, war auch einer namens de Bons. Er war einer der gutmütigsten und fleißigsten seiner Landsleute, und wie er nach seinem Austritt aus der Akademie dem Herzog dankte, ergriff er seine Hand, und anstatt sie zu küssen, drückte er sie ihm derb auf echte Schweizerart. An der Abendtafel sagte der Herzog seinen Tischgenossen, daß ihm am heutigen Morgen etwas begegnet sei, was ihm eine Freude gemacht habe, wie er selten eine gehabt habe, die Gesellschaft sollte raten, welche. Die Gäste schwiegen, und nun sagte der Herzog, einer seiner Zöglinge aus der Schweiz habe die Akademie verlassen und heute früh beim Abschied habe er ihm die Hand so derb gedrückt, daß er es mehrere Stunden lang gespürt habe, nur der herzlichste Dank könne sich gegen einen Fürsten auf eine solche Art aussprechen, und daher rechne er diese Dankbezeugung seines Zöglings zu den angenehmsten Vorfällen in seinem Leben.

Ich habe schon erwähnt, daß die medizinische Fakultät später[52] als die andern errichtet worden. Vor ihrer Errichtung studierte ich wie mein Bruder und die meisten Zöglinge, welche sich dem gelehrten Stand gewidmet hatten, Jurisprudenz, und ich hatte schon bereits das Naturrecht, die Rechtsgeschichte und einen Teil des römischen Rechts gehört, als die Zöglinge gefragt wurden, welche von ihnen Lust zum Studium der Medizin hätten. Unter denen, die sich dazu meldeten, war auch ich und Schiller, welcher sich ebenfalls dem Studium der Jurisprudenz gewidmet hatte, und noch fünf andere. Die Beweggründe zu dieser Veränderung des Studiums waren nicht bei allen dieselben. Nur drei, mein noch lebender bewährter Freund, der Medizinalrat Plieninger in Stuttgart, und noch zwei andere meldeten sich aus wahrer Lust zum Studium der Medizin, die zwei übrigen meldeten sich, weil ihre Väter Ärzte und sie gleichsam Erbärzte waren; bei Schiller und mir war der Beweggrund nicht sowohl Widerwillen gegen das Studium der Jurisprudenz und Vorliebe für das Studium der Medizin als unsere Neigung zur Dichtkunst, der wir schon damals, Schiller durch lyrische und dramatische Versuche, ich durch Lieder, Balladen und Romane, zu genügen anfingen. Natürlich raubten uns diese Versuche einen großen Teil der Zeit, welche wir dem Studium der juridischen Wissenschaften hätten widmen sollen. In den Vorlesungen dachten wir mehr an unsere dichterischen Plane als an das, was wir vom Katheder herab hörten, wir blieben daher hinter unsern Kameraden zurück, und zwar dergestalt, daß es einem Professor nicht übelgenommen werden konnte, wenn er einen unserer Kameraden fragte, ob es uns an Gaben fehle oder ob es bloß Faulheit sei, daß wir nichts lernen. So zurückgeblieben in unsern juridischen Studien, konnten wir natürlicherweise das Versäumte nicht mehr leicht einbringen, wir entschlossen uns daher zum Studium der Medizin, mit dem Vorsatz, dieses neu gewählte Studium ernster zu treiben als das verlassene Studium der Jurisprudenz, und wir glaubten diesen Vorsatz um so eher ausführen zu können, da uns die Medizin mit der Dichtkunst viel näher verwandt zu sein schien als die trockene positive Jurisprudenz. Allein auch als Mediziner konnten wir das Dichten nicht lassen, nur die Anatomie trieben[53] wir mit Fleiß, weil hier der Unfleiß mehr in die Augen fiel, die übrigen Studien trieben wir nur mit halbem Interesse, und wir würden hier ebenso zurückgeblieben sein wie in unsern juristischen Studien, wenn uns nicht der Gedanke, daß das Studium einer sogenannten Brotwissenschaft doch die Hauptsache und abermals umzusatteln eine Schande sei, zu dem Entschlusse gebracht hätte, das Dichten bis nach Beendigung des medizinischen Studiums zur Nebensache in unsern müßigen Stunden zu machen. Bei Schiller wirkte zur Ausführung dieses Entschlusses sein fester Charakter, bei mir der Eindruck, welchen die uns vom Professor Cunsbruch mitgeteilten Hefte des vormaligen Professors Brendel in Göttingen, dessen Schüler er war, auf mich gemacht hatten. Das Lesen dieser Hefte machte mir das Studium der Medizin auf einmal lieb, und von nun an war es auch der einzige Gegenstand meiner Beschäftigung. Nicht nur hörte ich jetzt alle Vorlesungen mit der größten Aufmerksamkeit, sondern studierte auch für mich selbst mit großem Eifer Hallers »Physiologie«, Platners »Anthropologie«, Sydenhams und Friedrich Hoffmanns Werke, vorzüglich aber van Swietens Kommentarien über die Boerhaaveschen »Aphorismen« und noch mehrere andere Schriften, welche uns unsere Lehrer zum Selbststudium besonders empfohlen hatten. Dagegen wurde das Dichten beinahe ganz aufgegeben, nur zuweilen und bei ganz besondern Gelegenheiten verfertigte ich einige Kleinigkeiten, z.B. eine Ode auf die Wiedergenesung unseres Intendanten von einer gefährlichen Krankheit, welche auch gedruckt wurde. Erst in dem letzten Studienjahr, wo wir weniger Vorlesungen zu besuchen hatten und unsere meiste Zeit auf den Krankenzimmern zubrachten, benutzte ich diese Muße wieder mehr zu poetischen Arbeiten und insbesondere zur Fortsetzung eines mir am meisten am Herzen liegenden Romans bis zwei Monate vor den öffentlichen Prüfungen, zu welchen ich mich unter gänzlicher Hintansetzung aller poetischen Arbeiten vorbereitete. Wirklich bestand ich in allen Prüfungen ganz gut, und bei der Preisausteilung am Stiftungstag ging auch ich nicht leer aus, zur großen Freude meiner Eltern, welche auf diese Auszeichnung einen größern Wert legten als ich selbst.[54]

Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß unsere Lehrer insgesamt dem damals herrschenden Boerhaaveschen System huldigten oder sogenannte Humoralpathologen waren. Natürlich ging es uns wie allen Anfängern die, ehe sie nicht selbst denken und prüfen, in verba magistri schwören und alles, was ihnen die Lehrer vorsagen, für heilige Wahrheit halten. Indessen hatten mich – denn ich spreche jetzt bloß von mir – schon die Brendelschen Hefte auf die Einseitigkeit und die Mängel der Boerhaaveschen Lehre aufmerksam gemacht, und wie ich weiterhin die Lehren Stahls und Cullens kennenlernte, war ich nahe daran, ein Abtrünniger oder gar ein Gegner des Boerhaaveschen Systems zu werden, wenn nicht einerseits die Achtung vor meinen Lehrern und andererseits das Glück ihrer Praxis mich davon abgehalten hätten. Gleichwohl konnte ich ihnen meine Zweifel nicht verhehlen, und wo ich Gelegenheit hatte, meine Überzeugung, daß die Nerven, wenn nicht eine größere, doch gewiß eine ebenso große Rolle in den Krankheiten spielen als die Säfte, auszusprechen, tat ich es, und da ich sah, daß meine Ansichten besonders von Cunsbruch wohlwollend und selbst beifällig aufgenommen wurden, so ging ich immer weiter, ich sprach sie auch schriftlich in einer Abhandlung »De causis morborum« aus, wo ich nicht bloß die Nerven, sondern auch die Seele eine Rolle in den Krankheiten spielen ließ. Am Schlusse der zwei letzten Studienjahre mußte nämlich von den Zöglingen eine sogenannte Probeschrift vorgelegt werden, die, wenn sie den Beifall der Lehrer erhalten hatte, gedruckt wurde. Begreiflich er hielt meine Schrift den Beifall der Lehrer nicht, sie fanden in derselben Stahlsche Grundsätze, hielten sie nicht für würdig, gedruckt zu werden, sie wurde mir daher durch den Oberaufseher zurückgegeben, und zu meiner desto größern Beschämung mußte ich von ihm vernehmen, die Schrift sei zwar recht schön und zierlich geschrieben, aber so ganz gut müsse sie doch nicht sein, weil sonst Seine Herzogliche Durchlaucht erlaubt haben würde, daß sie ebenfalls gedruckt werde wie mehrere andere. – Wie ich hierauf von den Lehren der Humoralpathologie immer weiter abgegangen, wie ich sofort ein Nervenpatholog und dann ein Brownianer geworden, welchen Einfluß[55] die Naturphilosophie auf meine Ansichten und Grundsätze gehabt hat und wie ich mir zuletzt mein eigenes, bis jetzt beibehaltenes und in meiner Praxis befolgtes System gebildet habe, werde ich in der Folge anzugeben Gelegenheit finden. Ich verlasse daher diesen Gegenstand und gehe zu der Darstellung der Verhältnisse der Zöglinge zu ihren Vorgesetzten und Lehrern und zueinander selbst über.

Anlangend das Verhältnis der Zöglinge zu ihren Vorgesetzten und Lehrern, so war es eine Hauptmaxime des Herzogs, sie auf alle Weise liberal zu behandeln. Das Muster dieser Behandlung gab der Herzog selbst. Wie er die Zöglinge stets seine Söhne nannte, so behandelte er sie auch als ein wahrer Vater; auch wenn er sie strafte, ja sogar wenn sie sich Ungebührlichkeiten gegen ihn selbst erlaubten, vergaß er den Fürsten und Herrn und ahndete die gegen ihn begangenen minder als die gegen andere Personen. Um zum Beweis dessen nur einige Beispiele anzuführen, so war ich, als er einst unvermutet in den Schlafsaal trat, nicht sogleich von meinem Schreibtisch aufgestanden. Wohlverdientermaßen erhielt ich für diese Ungezogenheit von ihm eine Maulschelle, aber er sagte, wie er sie mir gab: »Diese Maulschelle empfängt Er, weil ich der Herzog bin; hätte Er die Ungezogenheit gegen einen meiner Generale oder Geheimräte begangen, dann hätte Er sehen sollen, was geschehen wäre.« Diesem Beispiel füge ich noch ein zweites, mich ebenfalls betreffendes bei. Der Herzog hatte zunächst an dem gemeinschaftlichen Speisesaal auch für sich ein Speisezimmer einrichten lassen, in welchem er fast täglich Abendtafel hielt. Zu dieser Abendtafel wurden nebst einem paar Generalen und Geheimräten abwechselungsweise einige unserer Vorgesetzten und Professoren eingeladen. Aber neben der herzoglichen Tafel war auch eine Tafel für akademische Zöglinge gedeckt, die vor dem Abmarsch aus dem Rangiersaal in den Speisesaal von dem Herzog genannt wurden und deren gewöhnlich acht waren. Nachdem abgespeist war, wurden die Zöglinge zu einem wissenschaftlichen Diskurs von dem Herzog aufgefordert, an welchem gewöhnlich auch er selbst Anteil nahm. So war auch ich einst von den acht, und als auf die Aufforderung[56] des Herzogs, daß wir einen Diskurs anfangen sollten, keiner von uns den Anfang machen wollte, stellte ich an den Zögling Bregenzer die Frage, ob Bregenzer nach der zweiten oder dritten Deklination dekliniert werde und im Genitiv Bregenzeri oder Bregenzeris habe. Diese närrische Frage mißfiel natürlich dem Herzog. »Was sollen diese Narrenpossen?« rief er gegen unsere Tafel herüber, »einen andern gescheitern Diskurs!« Allein dabei hatte es sein Verbleiben, und es wurde ein anderer Diskurs angefangen. – Eine noch größere und sehr auffallende Ungezogenheit beging ein anderer Zögling. Es war in der Akademie eingeführt, alle Jahre zweimal an einem bestimmten Sonntag zu kommunizieren. Wie seine Kameraden ging auch der erwähnte Zögling am Sonntag in die Kirche zur Beichte und ebenso auch am Sonntag darauf in die Predigt. Aber nach der Predigt, wo er in der Nähe seiner Kameraden zum Empfang des Abendmahls an den Altar treten sollte, blieb er an seinem Platz sitzen, ungeachtet er von einem der Vorgesetzten zweimal an seine Schuldigkeit erinnert worden. Natürlich wurde dieser Vorgang dem Herzog gemeldet, und als ihn dieser darüber zu Rede stellte, gab er zur Antwort, über solche Dinge habe der Mensch nur Gott Rechenschaft zu geben, nicht andern Menschen, und zur Begehung heiliger Handlungen, zu denen man gehörig vorbereitet sein müsse, könne nicht geboten werden. Der Herzog, frappiert von dieser Antwort und von ihrer Wahrheit getroffen, erwiderte ihm bloß, er sei ein Mensch ohne Religion, der durch sich selbst gestraft genug sei, und ging, ohne ihm eine Strafe zu diktieren, weiter. Solche Beispiele von väterlicher Schonung könnte ich noch mehrere anführen; aber ich glaube, die angeführten werden hinreichen, um begreiflich zu machen, daß sowohl Vorgesetzte als Lehrer sich dieses erlauchte Beispiel zum Muster nahmen. Vorzüglich tat dies der Intendant der Akademie, und seinem Beispiel folgten auch mehr oder weniger die andern vorgesetzten Offiziere. Ein Gleiches geschah auch von den Lehrern, von welchen ohnehin ein liberales Betragen gegen ihre Schüler zu erwarten war. Indessen gab es doch einige sowohl unter den Lehrern, zumal den Unterlehrern, als auch unter den vorgesetzten[57] Offizieren und Aufsehern, welche die Zöglinge zwar nicht brutal, aber doch grob, leidenschaftlich, inkonsequent und mitunter auch ungerecht behandelten, so wie es auch nicht an solchen fehlte, die sich durch übertriebene Liberalität, Dünkel, Pedanterei, Gemeinheit und allerlei wunderliche Eigenheiten verächtlich und lächerlich bei den Zöglingen machten. Die Jugend ist scharfsichtig und lernt die Vorzüge und Mängel ihrer Vorgesetzten nur zu bald kennen; sie ist aber auch tapfer und mutwillig, und so wie sie die gebildeten, verständigen, wohlwollenden und gerechten ihrer Vorgesetzten und Lehrer mit Liebe umfaßt, ihnen mit Freuden gehorcht, ihren Vorzügen die größte Hochachtung erweist und ihnen für ihr Wohlwollen von Herzen dankbar ist, so weiß sie auch ebensogut, wie sie sich gegen die ungerechten, unverständigen und abgeschmackten zu benehmen hat. Mit dem Ungerechten läßt sie sich entweder in einen offenen Kampf ein, oder sie sinnt auf Mittel, ihm heimlich zu schaden. Dem Groben vergilt sie entweder Gleiches mit Gleichem, oder sie beträgt sich, um ihn zu beschämen, desto höflicher gegen ihn. Den Leidenschaftlichen läßt sie austoben, oder sie bringt ihn durch ein desto ruhigeres Verhalten zur Besinnung. Den Unwissenden bemitleidet, den Eingebildeten persifliert sie, den Schwachen hat sie zum besteh, und dem Lächerlichen macht sie seine Eigenheiten nach. Alle diese Fälle kamen wie in jeder öffentlichen Erziehungsanstalt auch in der Akademie häufig genug vor, und auch hiervon will ich einige Beispiele anführen. So wurde vorzüglich der Intendant der Akademie von allen Zöglingen hochverehrt, und besonders sprach sich diese Verehrung durch die allgemeine Teilnahme der Zöglinge an einer Krankheit aus, an welcher er gefährlich darniederlag, und durch ihren lauten Jubel über seine Wiedergenesung. Eine gleiche Verehrung bezeigten sie auch mehreren andern der vorgesetzten Offiziere sowie den meisten Professoren. Dagegen aber entging keiner von den Vorgesetzten, Aufsehern und Lehrern, der sich ihnen verhaßt oder lächerlich gemacht hatte, ihrer Rache und ihrem Spott. So wurde unter anderem einem der vorgesetzten Offiziere, der einem der ältern Zöglinge nicht hold war und ihn bei mehreren Gelegenheiten beleidigt hatte, von diesem[58] Zögling an die Türe seines Zimmers eine Karikatur, einen Reiter auf einem Esel vorstellend, dessen Schweif mit dem Kopf des Reiters zusammengebunden war, angeheftet. Der Offizier hatte nämlich ein sehr langes und dickes Haar, auf welches er sich sehr viel einbildete, und weil er eben keiner von den Gescheiten war, so war die Karikatur leicht verständlich. Der Offizier, beim Anblick derselben außer sich wußte nicht, was er tun sollte, da kam ein anderer Offizier und fragte ihn, was er da so anstarre. »Da sieh her, Herr Bruder«, erwiderte er, »das hat gewiß der impertinente Eleve B ... getan, aber ich werde ihn zu finden wissen.« – »Stecke das Ding in die Tasche«, entgegnete ihm der andere, »denn erfährst du auch den Täter, so gewinnst du nichts, als daß er gestraft wird du aber wirst ausgelacht, und du tust daher am besteh, wenn du das Ding in die Tasche steckst und dich stellst, als wenn nichts geschehe wäre.« Allerdings wäre diese Satire den Zögling teuer zu stehen gekommen, wenn nicht der Offizier dem Rat seines Freundes gefolgt wäre. Aber wie diese größern blieben auch die kleinern Neckereien, Mystifikationen und Persiflagen meistens ungestraft. Teils wurden sie nicht bekannt, teils merkten es manche nicht, daß der Spaß ihnen galt, und die es merkten, lachten darüber. So wurde einer der Lieutenants, die bei den Zöglingen schlafen mußten, einst mystifiziert, indem man ihm weismachte, der Zögling N .... müsse entwichen sein, weil sein Bett leer stehe. Erschrocken besah der Lieutenant das leere Bett, aber es fiel ihm nicht ein, ob der Vermißte sich nicht, um ihn in Angst zu setzen, in das leere Bett eines auf dem Krankenzimmer befindlichen Kameraden gelegt habe, wie dies auch wirklich der Fall war. Nun konnte der Lieutenant nicht genug eilen, die Flucht des Zöglings dem Hauptmann zu melden, aber kaum hatte er den Schlafsaal verlassen, so begab sich der Vermißte wieder in sein gewöhnliches Bett, der Lieutenant kam, von dem Hauptmann begleitet, in den Schlafsaal zurück, der Vermißte lag wie in tiefem Schlafe in seinem Bett, er wurde geweckt, versicherte, daß er nicht aus dem Bette gekommen, mehrere seiner Kameraden bezeugten seine Aussage, und der Lieutenant, der sich auf eine unbegreifliche Art getäuscht zu haben glaubte, bekam[59] von dem Hauptmann eine tüchtige Nase. Ich könnte noch eine Menge solcher Späße erzählen, aber ich will nur noch zwei anführen, welche dem Oberaufseher gespielt wurden. Dieser hatte in seiner Jugend das Schneiderhandwerk erlernt, und weil er sich etwas darauf zugut tat, daß er nun Offizier und Oberaufseher in der Akademie sei, so verbarg er, gleich andern Parvenus, nicht nur seinen frühern Stand nicht, sondern er sprach auch gern davon, weil er dabei Gelegenheit hatte, sich zu rühmen, daß er der beste Hosenmacher seiner Zeit gewesen sei. Man brachte ihn daher öfters, wenn er guter Laune war, auf dieses Kapitel, bedauerte, daß er diese Kunst nicht mehr ausüben könne, und brachte ihn durch vieles Zureden endlich dahin, daß er versprach, in seinem Zimmer ein Paar Hosen zuzuschneiden, und wirklich auch zuschnitt.

Den andern Spaß, den er aber übelnahm, machte sich der Eleve Haug, der nachmalig rühmlich bekannte Epigrammatist, mit ihm. Er erzählte eines Morgens im Schlafsaal beim Ankleiden seinen Kameraden, daß es ihm in der vergangenen Nacht geträumt habe, der Jüngste Tag sei erschienen, die vom Himmel herabgekommenen Engel hätten angefangen zu posaunen, die Toten angefangen zu erwachen. Aber es habe mit dem Auferstehen nicht recht vorwärtsgehen wollen, die Engel hätten daher immer stärker posaunt, hierauf seien zwar mehr Tote als zuvor auferstanden, allein es sei den Engeln nicht genug gewesen. »Es müssen hier weit mehr Tote begraben liegen«, sagten sie, »was sollen wir nun, um sie zu erwecken, anfangen, da all unser Posaunen nichts hilft?« Dies habe ein eben auferstandener ehemaliger Akademist gehört und zu den verlegenen Engeln gesagt, er wüßte wohl Rat zu schaffen, wenn unter den Auferstandenen der vormalige Oberaufseher der Akademie wäre, denn dieser dürfte sich nur auf eine Anhöhe stellen und mit seiner bei Lebzeiten gehabten gewaltigen Stimme wie sonst in der Akademie: Zum Gebet! jetzt kommandieren: Zum Gericht! Man habe sich daher ungesäumt nach dem auferstandenen Oberaufseher umgesehen, er sei glücklich gefunden worden, auf Befehl der Engel habe er sich auf eine Anhöhe gestellt, zum Gericht! kommandiert, und weil seine Stimme nach[60] seiner Auferstehung viel stärker und sonorer geworden, so habe es alsbald von Auferstandenen dergestalt gewimmelt, daß die Engel vollkommen zufrieden aufgeflogen, um dem Herrn Christus zu melden, daß nunmehr alles zum Gericht bereit sei. – Natürlich erregte dieser vorgebliche Traum allgemeines Lachen; der Traum wurde weitererzählt und kam endlich auch dem Oberaufseher zu Ohren. Dieser lachte zwar auch, aber er ärgerte sich desto mehr heimlich, und als ihm Haug bald darauf begegnete, sagte er ihm in einem halb ernsten, halb scherzhaften Ton: »Apropos, Herr Haug, wenn es Ihnen künftig wieder träumen sollte, so muß ich Sie bitten, mich ein für allemal dabei aus dem Spiel zu lassen.« – Überhaupt war Haug Meister in dergleichen Neckereien, weil er aber ein ebenso guter Mensch als witziger Kopf war, so ließ man sie ihm nicht nur hingehen, sondern auch diejenigen, denen es galt, lachten, wenn auch verstellterweise, ebenso darüber als diejenigen, die sich daran belustigten. Dasselbe war auch der Fall mit den Neckereien anderer Zöglinge. Man sah sie an für das, was sie waren, für Ausbrüche jugendlichen Mutwillens, nur boshafte und beleidigende, wenn sie nicht von denen, die sie trafen, absichtlich ignoriert wurden, wurden nach Umständen bestraft. – Doch ich sehe, daß ich mich bereits zu lange bei diesen Geschichten aufgehalten habe. Ich gehe daher zu dem zweiten Punkt, zu der Schilderung der Verhältnisse der Zöglinge unter sich selbst, über.

Da die Zöglinge der Akademie von allem Verkehr mit dem Publikum abgeschnitten waren und nur am Sonntag von ihren Eltern, Verwandten und Freunden Besuche annehmen durften, so ist leicht zu erachten, daß sie sich um so fester aneinander selbst angeschlossen haben werden, und dies war denn auch wirklich der Fall. Denn obschon die Verschiedenheit der Länder, aus welchen ein großer Teil der Zöglinge hergekommen war, die Verschiedenheit des Standes, welchem sie angehörten, die Verschiedenheit des Alters, in welchem sie standen, endlich die Verschiedenheit des Studiums, welches sie ergriffen hatten, Anlaß zu ebenso vielen Trennungen hätten geben können, so geschah dies doch keineswegs. Zwar befanden sich, schon ehe die Akademie als Universität ihren Kulminationspunkt erreicht[61] hatte, Spanien und Portugal ausgenommen, aus allen christlichen Ländern, aus Deutschland, Frankreich, Italien, der Schweiz, den Niederlanden, aus Dänemark, Schweden, Rußland, England, ja selbst aus Ostindien und Amerika, Zöglinge in derselben, aber nie bildeten sich wie auf andern Universitäten Landsmannschaften, die wie auf jenen zusammengehalten hätten. Ebensowenig veranlaßte auch die Verschiedenheit des Standes, des Alters, der Studien Trennungen der Zöglinge. Adelige hielten sich nicht bloß Zu Adeligen, Bürgerliche zu Bürgerlichen, Ältere zu Ältern, Jüngere zu Jüngern, Juristen zu Juristen, Mediziner zu Medizinern, Künstler zu Künstlern. Schon das beständige Zusammensein der Zöglinge in den Schlafsälen, in dem Speisesaal, auf ihren Spaziergängen, in dem akademischen Garten, bei ihren Spielen erhielt sie in einer beständigen Berührung miteinander; aber nicht minder, ja noch mehr hielt sie die Einrichtung der Akademie selbst und mehr als alles der Geist des Herzogs zusammen, der überall in derselben waltete. Die Zöglinge waren alle seine Söhne, er machte keinen Unterschied zwischen ihnen, der Adelige galt ihm soviel als der Bürgerliche, der Jüngere soviel als der Ältere, der Kunstbeflissene soviel als der Studierende; nur die Vorzüglichern zog er vor, nur die Ritter des akademischen Ordens hatten einen eigenen Schlafsaal und speisten an einem eigenen Tisch, und der einzige Vorzug der Fürstensöhne war, daß sie am Tisch der Chevaliers speisten, von denen die meisten Söhne bürgerlicher Eltern waren. So erhielt sich eine beständige Gleichheit unter den Zöglingen; sie waren gleich liebe Söhne eines Vaters, des Herzogs.

Indessen gab es doch, dieser Einigkeit ungeachtet, Verbindungen besonderer Art, Verbindungen, welche das Herz und die Gleichheit der Neigungen und Bestrebungen stiftete und welche ebendarum die innigsten und festesten waren. Schwerlich fand sich in der Akademie ein Zögling, der nicht in einer solchen Verbindung stand, jeder hatte Freunde, an welche er sich auf das innigste anschloß, welche er auch nach der längsten Trennung von ihnen und nach ihrem Tode nicht vergaß und deren stete Erinnerung ihm auch das Andenken an die Akademie[62] selbst und ihren väterlichen Stifter so teuer machte, wovon die am eilften Februar 1828 begangene Säkularfeier seines Geburtstages und die bei derselben beschlossene alljährliche Feier dieses Tages einen so rührenden Beweis gibt.

In solchen innigen Verbindungen stand auch ich, und ich kann nicht umhin, etwas ausführlicher davon zu sprechen. Zuerst tritt mir hier mein Bruder entge gen. Er war zwei Jahre jünger als ich, ein Jüngling von ausgezeichneten Gaben und von dem besten Herzen. Er studierte Jurisprudenz, war äußerst fleißig und gehörte unter die geschicktesten seiner Kameraden. Er hatte das ruhige Temperament unserer Mutter, ich das lebhaftere unseres Vaters. Gleichwohl betrugen wir uns gegeneinander stets brüderlich, nur die Verschiedenheit unserer Neigungen und Bestrebungen hielt uns etwas auseinander. Er war Jurist mit ganzer Seele, ohne Sinn für die Dichtkunst, ich Mediziner aus Pflicht, nicht mit dem Interesse für meine Wissenschaft wie er für die seinige, denn ich teilte es mit dem für die Dichtkunst. Indessen achtete ich seine Liebe für die Jurisprudenz darum nicht weniger, ich sah mit Vergnügen die großen Fortschritte, die er in seinen Studien machte, und freute mich ebensosehr als er selbst der vielen Preise, die ihm alle Jahre zuteil wurden. Wirklich erhielt keiner seiner Kameraden dieser Preise mehr als er; aber in ebendem Jahre, wo er zuverlässig auch den akademischen Orden erhalten haben würde, starb er, ein achtzehnjähriger Jüngling. Wie nahe sein früher Tod mir, unsern Eltern und Geschwistern, seinen Lehrern und Vorgesetzten und seinen vielen akademischen Freunden ging, brauche ich nicht zu sagen. Selbst der Herzog, auf dessen Befehl alle seine Leibärzte während seiner Krankheit zugezogen worden, beklagte seinen Tod und bezeigte mir und meinen Eltern auf eine ebenso herablassende als rührende Art seine Teilnahme an unserem Verlust. Diese Teilnahme des Herzogs und ein Brief von Schiller an meinen Vater, worin er ihn bat, die Pflichten eines Sohnes gegen ihn übernehmen zu dürfen, und das schöne Gedicht, welches er bei dieser Veranlassung dichtete, trugen das meiste zur Beruhigung meiner Eltern bei. Aber das webmütige Andenken an den hoffnungsvollen Sohn erlosch erst mit ihrem Leben. Auch[63] ich gedenke des guten Bruders noch immer mit Rührung und werde seiner so gedenken, solange ich lebe.

Von meinem Bruder wende ich mich zu meinem ältesten, von mir wie ein Bruder geliebten und bis zu seinem Tode mir treu gebliebenen Freund Schiller. Wir waren von gleichem Alter, beide Offizierssöhne, frequentierten als Knaben zusammen die lateinische Schule in Ludwigsburg, wollten beide Theologie studieren, ja wir wohnten zuletzt in dem nämlichen Haus, in der damaligen Cottaschen Buchdruckerei in Ludwigsburg. Da unsern Vätern alles daran gelegen war, daß wir etwas Rechtes in der Welt werden sollten, so wurden wir streng zum Lernen angehalten, und um hierzu keine Zeit zu versäumen, wurde uns außer der Schule wenig Umgang mit unsern Kameraden gestattet. Um so fester schlossen wir uns daher aneinander selbst an, spielten miteinander in unsern müßigen Stunden und übten allerlei Mutwillen, wie z.B. an dem Setzer in der Druckerei, welchem wir fast täglich einen neuen Streich spielten. So lebten wir in der innigsten Verbindung zusammen bis zu meiner Aufnahme in die militärische Pflanzschule auf der Solitude. Aber ehe zwei Jahre verflossen waren, trat auch Schiller als Zögling in die Pflanzschule, und man kann sich denken, wie glücklich es uns machte, uns wieder miteinander vereint zu sehen. Das Band der Freundschaft war durch unsere Trennung nicht gelöst worden, es wurde durch dieselbe nur um so fester. Was uns aber noch mehr miteinander verband, war unsere gemeinschaftliche Neigung zur Dichtkunst. Bei Schiller hatte sich diese Neigung schon in Ludwigsburg deutlich ausgesprochen. Nicht nur übertraf er alle seine Mitschüler in der Emsigkeit, lateinische Distichen zu machen, sondern er versuchte sich auch in eigenen lateinischen und bald darauf auch in deutschen Versen, wovon, soviel ich mich erinnere, der erste Versuch ein bei seiner Konfirmation verfertigtes Lied an sich selbst war, in welchem er die Gefühle, welche diese heilige Handlung in ihm erregte, aussprach. Schon vor seinem Eintritt in die militärische Pflanzschule hatte sich auch bei mir die Neigung zur Dichtkunst bereits geregt. Ich hatte Gellerts Fabeln und Lieder, Geßners Idyllen, Kleists Gedichte, Gleims Kriegslieder usw. gelesen;[64] jedoch hatte ich mich noch an keine eigenen poetischen Versuche gewagt. Dazu wurde ich erst später von Schiller angeregt, der mich, nachdem ich ihm an einigen von den seinigen ein besonderes Wohlgefallen bezeigt hatte, zu ähnlichen Produktionen aufforderte. Was mich aber noch mehr bestimmte, seiner Aufforderung zu folgen, war der Beifall, welchen zwei seiner in dem von dem Professor Haug damals herausgegebenen »Schwäbischen Magazin« abgedruckten Gedichte »Der Eroberer« und »Der Abend« von dem Herausgeber des Magazins erhielten, indem er von denselben sagte, daß sie die ersten Proben eines Jünglings seien, von welchem vorauszusetzen sei, er werde einst ein os magna sonaturum werden. Außer Gellert, Geßner, Kleist und Gleim hatte ich bereits auch noch andere deutsche Dichter, Uz, Hagedorn, Hölty und später auch Klopstock, kennengelernt; doch zogen mich vorzüglich die von Ursinus herausgegebene Sammlung von Balladen und einige Romane, die ich zufällig zu lesen bekommen hatte, wie »Der Dorfprediger von Wakefield«, Wielands »Agathon« usw., an, während dagegen Schiller sich für Klopstock und Shakespeare, den wir zuerst durch die Wielandsche Übersetzung kennenlernten, auf das entschiedenste erklärte. So versuchte ich mich zuerst in lyrischen Gedichten, in Liedern, wo mir vorzüglich Kleist, und in Oden, wo mir Klopstock zu Mustern dienten, in Balladen und Romanzen und nach der Erscheinung »Werthers« von Goethe vorzüglich in Romanen, deren ich mehrere angefangen, jedoch nur einen ganz fertiggebracht hatte. Schiller hingegen, dessen großes Muster Shakespeare und weiterhin Goethe in seinem »Götz von Berlichingen« war, übte sich vorzüglich im Dramatischen, schrieb nach mehreren vorhergegangenen andern Versuchen seine »Räuber«, wozu ihm den Stoff eine in dem obenerwähnten »Schwäbischen Magazin« befindliche Erzählung gab, und ehe er die Akademie verließ, hatte er das Stück größtenteils vollendet. Daß er diesen Stoff wählte, war eigentlich ich die Ursache. Ich hatte ihn auf die Erzählung als ein zu einem Drama trefflich geeignetes Sujet aufmerksam gemacht, und meine Idee war darzustellen, wie das Schicksal zur Erreichung guter Zwecke auch auf den schlimmsten Wegen führe, Schiller aber machte[65] die Räuber zum Hauptgegenstand oder, um mich seiner eigenen Worte zu bedienen, zur Parole des Stücks, was ihm bekanntlich von vielen Seiten her übelgenommen worden und was ihm auch selbst in der Folge leid getan zu haben scheint.

Indessen waren wir beide nicht die einzigen Zöglinge in der Akademie, welche sich in dichterischen Versuchen übten, es schlossen sich an uns noch einige andere an, zuerst Petersen, nachmals Bibliothekar in Stuttgart, Verfasser der mit Beifall aufgenommenen Geschichte der Nationalneigung der Deutschen zum Trunk, der Literatur der Staatslehre unter dem Namen Placidus und einer prosaischen Übersetzung Ossians, der sich vorzüglich im Epischen übte und zuletzt sich an ein größeres episches Gedicht »Konradin von Schwaben« wagte, welches aber, obschon größtenteils fertig, nie öffentlich bekannt wurde – dann Haug, nachmaliger herzoglicher Kabinettssekretär, dessen Epigramme schon damals den künftigen ausgezeichneten Epigrammatisten verrieten – endlich Schubart, nachmaliger preußischer Legationssekretär, der Sohn des als Dichter und Staatsgefangener auf der Festung Hohen-Aschberg berühmten Schubarts. Er hatte sich vorzüglich in metrischen Erzählungen geübt, und ohne Zweifel würde er etwas Bedeutendes in diesem Fach geleistet haben, wenn er nicht zu frühe gestorben wäre.

Da der Herzog kein Freund der Dichtkunst war, sondern allein einen Wert auf andere Künste und auf wissenschaftliche Studien legte, so mußten wir natürlich unser dichterisches Treiben geheimhalten. Wir dichteten also im stillen, arbeiteten jeder in dem gewählten Fach, sooft wir Zeit und Gelegenheit dazu fanden, teilten unsere Arbeiten uns gegenseitig mit, kritisierten sie gegenseitig, tadelten und lobten einander, natürlich das letzte mehr als das erste. So brachten wir nach und nach eine ziemlich ansehnliche Sammlung von poetischen Produktionen zusammen, und da wir glaubten, daß sie wohl gedruckt zu werden verdiene, so beschlossen wir, sie dem Druck wirklich zu übergeben; es kam nur darauf an, einen Verleger dazu zu finden, und dies war mir aufgetragen. Ich schrieb daher an einen Buchhändler in Tübingen, von welchem wir gehört hatten,[66] daß er auch anonyme Schriften, denn natürlicherweise durften wir uns als Zöglinge der Akademie nicht nennen, in Verlag nehme, und schickte auf geheimem Wege einen Brief an ihn ab. Aber der Brief blieb unbeantwortet. Ich schrieb wieder, und es kam wieder keine Antwort. Endlich erfuhren wir, daß der Buchhändler schon vor einigen Jahren – gestorben war. So blieb also unsere Sammlung ungedruckt, und wir mußten uns, um nicht mit einem andern Buchhändler in einen ähnlichen Fall zu kommen, begnügen, unsere Produktionen einzeln in andere damals existierende Sammlungen, wie in die von Schwan in Mannheim redigierte »Schreibtafel«, in die damaligen Musenalmanache usw., und diejenigen, welche wir nach unserm Austritt aus der Akademie noch des Drucks werthielten, teils in den Stäudlinischen »Schwäbischen Musenalmanach«, teils in die von Schiller herausgegebene Anthologie einrücken zu lassen. Indessen haben wir die meisten, weil unser reiferes Urteil die Vorliebe für unsere Arbeiten immer mehr schwächte, unterdrückt, und was die meinigen betrifft, so habe ich sie nach meinem Austritt aus der Akademie größtenteils dem Feuer übergeben.

Ich habe schon gesagt, daß Schiller und ich in den letzten Jahren unserer akademischen Studien das Dichten größtenteils aufgegeben und uns desto mehr dem Studium der Medizin gewidmet hatten. Dadurch hörte zwar unsere Verbindung mit unsern dichterischen Freunden nicht auf; aber so wie wir fleißigere Mediziner wurden, kamen wir auch in eine um so nähere Berührung mit unsern medizinischen Kameraden, und unter diesen vorzüglich mit Plieninger, meinem schon obengenannten geliebten Freund, mit Elwert, dem Sohn eines angesehenen Arztes in Stuttgart, mit Jacobi, dem Sohne eines ebenso angesehenen Wundarztes daselbst, und mit Liesching, dem Sohn eines wackern Landphysikus, der bald nach seiner Entlassung aus der Akademie als Arzt mit dem Regiment, welches der Herzog in holländische Subsidien gab, auf das Vorgebirge der Guten Hoffnung abgegangen und, soviel ich weiß, daselbst noch und in großem Wohlstand lebt. Als fleißigere Studenten waren alle diese vier uns beiden voraus; aber wir holten sie bald ein, und mit Dank erkannten wir, daß wir durch unsere wissenschaftlichen[67] Unterhaltungen mit ihnen dabei nicht wenig gefördert worden. Elwert und Jacobi sind längst tot, nur Liesching und Plieninger leben noch. Letzterer ist ein paar Jahre älter als ich und erfreut sich gleich mir, eines glücklichen Alters. Er hat seine Stelle als Stadtphysikus in Stuttgart schon vor einigen Jahren niedergelegt; aber bei der vor kurzem begangenen Feier seines fünfzigjährigen Jubiläums erhielt er von dem König den Charakter eines Medizinalrats als Beweis, daß wie das Publikum auch der König seine Verdienste anerkenne.

Außer den genannten poetischen und medizinischen Freunden standen wir auch noch mit vielen andern Zöglingen der Akademie, sowohl studierenden als kunstbeflissenen, in näheren Verbindungen; doch waren die Verbindungen Schillers und die meinigen nicht ganz dieselben. Mit Dannecker und Zumsteeg, wovon der erstere als einer der ersten Bildhauer unserer Zeit, der andere als ein vorzüglicher Musiker und Komponist anerkannt ist, standen wir auf einem gleich freundschaftlichen Fuß. Ebendies war auch der Fall mit Scharffenstein, der, ob er schon sich mehr mit Zeichnen und Malen abgab, doch auch mehrere Gedichte verfertigte, welche bewiesen, daß es ihm ebenso wenig an dichterischem als an Kunsttalent fehle. Er starb als württenbergischer General in Heilbronn am Neckar, gleich geachtet wegen seines biedern, festen Charakters als wegen seiner Verdienste als Soldat. Diejenigen, an welche sich vorzüglich Schiller hielt, weiß ich nicht mehr alle zu nennen und erwähne nur der Brüder von Wolzogen als zwei seiner vertrautesten. Unter denen, an welche ich mich vorzüglich anschloß, nenne ich vor allem den als K. Bayerischen Staatsminister verstorbenen Grafen von Thürheim, von welchem ich in der Folge mehr zu sprechen Gelegenheit haben werde, die Grafen von Normann und von Mandelslohe, beide in der Folge württenbergische Minister, zwei Freiherrn von Phull, von denen der ältere, noch lebende württenbergischer General der Infanterie ist, der jüngere, verstorbene Polizeiminister war, drei Brüder von Marschall, wovon der älteste frühzeitig in Wien starb, einer der besten Menschen und ausgezeichnetsten Köpfe, zwei Brüder von Massenbach, den durch sein Schicksal berühmt gewordenen[68] preußischen Oberst und seinen Bruder, gewesenen Finanzrat in Berlin, zwei Grafen von Bernstorff aus Hannover, ferner die Zöglinge Schmidlin, Wächter, Seubert, vorzüglich aber den Zögling Schott, den besten Freund meines verstorbenen Bruders, der als württenbergischer Legationsrat noch gegenwärtig in Stuttgart lebt, aber seit mehreren Jahren wegen andauernder Kränklichkeit unfähig zum Dienst ist. Wieviel ich in dem mehrjährigen Umgang mit so vielen an Stand, Talenten und Charakter verschiedenen Freunden für meine sowohl sittliche als literarische Bildung gewonnen habe, würde ich vergebens suchen anzugeben. Ich kann nur im allgemeinen sagen, daß ich ihnen allen sehr viel schuldig geworden bin und daß mir das Andenken an sie sowie an die Akademie selbst, in welcher mir so viel Gutes und Erfreuliches zuteil geworden, immer teuer bleiben wird.

Man kann sich leicht vorstellen, daß es einer in ihrer Art so einzigen, so berühmt gewordenen und von Zöglingen aus den meisten europäischen Ländern besetzten Anstalt nicht an Besuchen von Fremden aller Art, Fürsten, hohen Staats- und Militärpersonen, ausgezeichneten Gelehrten und Künstlern, fehlen konnte. Allein es würde mich zu weit führen, wenn ich alle Fremde, die ich während meines Aufenthalts in derselben gesehen habe, nennen wollte. Ich erwähne daher bloß einiger der merkwürdigsten, und hier steht nun der Kaiser Joseph der Zweite obenan. Er besuchte die Akademie im Jahre 1777 auf einer Reise nach Paris, welche er unter dem Namen eines Grafen von Falkenstein machte. Er wollte nur einen Tag in Stuttgart verweilen, allein die Akademie interessierte ihn so sehr, daß er seinen Aufenthalt um zwei Tage verlängerte. Er besah alles auf das genaueste, erkundigte sich nach der Einrichtung der Anstalt, nach ihren kleinsten Details, wohnte mehreren Vorlesungen mit größter Aufmerksamkeit bei und bezeigte dem Herzog unter vielen Lobeserhebungen sein Wohlgefallen an der Anstalt. Neben unserem stattlichen Herzog stellte der Kaiser nicht sonderlich viel vor; aber seine Einfachheit, die fern von aller Affektation war, seine Herablassung und Leutseligkeit, die er gegen jeden, mit dem er sprach, bewies, und sein Verstand,[69] der aus allem, was er äußerte, hervorleuchtete, zogen um so mehr an und machten uns Zöglingen seinen Besuch in der Akademie unvergeßlich.

Mit diesem kaiserlichen Besuch stand ein anderer, noch in dem nämlichen Jahr erfolgter in Verbindung, der Besuch des durch seine Schrift über die Erziehung rühmlichst bekannt gewordenen und überhaupt als Gelehrter hochgeachteten österreichischen Generals Grafen von Kinsky. Ohne Zweifel besuchte er die Akademie aus Auftrag des Kaisers, und er kam in Stuttgart an, als eben die jährlichen Prüfungen ihren Anfang nahmen. Er besuchte die Akademie alle Tage, erkundigte sich wie der Kaiser Joseph auf das genaueste nach ihrer Einrichtung, wohnte den meisten Prüfungen bei, stellte bei mehreren selbst Fragen an die Zöglinge, ja ein paarmal machte er sogar bei Disputationen den Opponenten. Nach Beendigung der Prüfungen besuchte er die wieder begonnenen Vorlesungen der Lehrer und erbat sich von jedem eine schriftliche Darstellung seiner Lehrmethode. Wie günstig für die Akademie der Bericht, welchen er dem Kaiser nach seiner Rückkehr erstattete, gewesen sein muß, ergibt sich daraus, daß der Kaiser bald darauf seinem Theresianum in Wien eine andere Einrichtung gab, wobei vieles von den Einrichtungen in der Akademie benutzt worden. Auch ist es außer Zweifel, daß, obschon zu der im Jahre 1781 erfolgten Erhebung der Akademie zur Universität die Empfehlung des Großfürsten und nachmaligen Kaisers Paul während seiner Anwesenheit in Wien viel beigetragen, doch auch der günstige Bericht des Grafen von Kinsky bedeutend mitgewirkt hat.

Ein anderer Fürst, welcher die Akademie mit seinem Besuch beehrte, war der damalige König Ferdinand von Neapel, ein großer stattlicher Mann. Auch ihm gefiel die Anstalt ganz wohl, doch interessierte er sich mehr für die Jagden, welche ihm der Herzog gab, als für unsere literarische Anstalt. Indessen machte ihn uns doch ein Zug, welchen wir nachher von ihm erfuhren, achtungswert, nämlich, daß er erst von seiner Gemahlin fertig schreiben gelernt habe und ihr dafür als für eine große Wohltat stets dankbar geblieben sei.[70]

Unter den Gelehrten, welche die Akademie besuchten, erregte vorzüglich Lavater unsere Aufmerksamkeit. Er war eben in vollem Eifer mit seiner Physiognomik beschäftigt, und der Hauptzweck seines Besuchs war ohne Zweifel die Musterung so vieler jungen Leute zum Behuf seiner physiognomischen Beobachtungen. Wirklich benutzte er auch diese Gelegenheit auf alle Weise. Nicht nur sah er uns zu wieder holten Malen scharf ins Gesicht, sondern er erkundigte sich auch, wenn ihm eine Physiognomie besonders auffiel, sorgfältig nach den Talenten und nach dem Charakter des Individuums. Diese Beobachtung unserer Physiognomien machte einen sonderbaren Eindruck auf uns, wir freuten uns ihrer und fürchteten sie zugleich, denn wir glaubten an die Realität dieser Wissenschaft. Allein wir überzeugten uns bald von dem Gegenteil, da Lavater in der Physiognomie eines von uns allen als ein sehr guter Mensch gekannten Zöglings etwas Heimtückisches zu bemerken glaubte. Von mehreren Zöglingen, deren Physiognomie ihm besonders auffiel, hatte er sich Silhouette ausgebeten, und einer unserer Aufseher, ein wegen seiner hohen Einbildung von sich oft von uns belachter Mann, der mehr als wir alle auf diese Auszeichnung, aber vergebens, gewartet hatte, tröstete sich damit, daß ihn Lavater mehrmals besonders scharf angesehen habe, weil er darin den Beweis gefunden zu haben glaubte, daß ihm seine Physiognomie besonders merkwürdig vorgekommen sei, wie er denn auch nichts gewisser erwartete, als daß im nächsten Band der Physiognomik auch seine Physiognomie als eine der interessantesten für den großen Physiognomen erwähnt werden würde.

Von den Ärzten, welche die Akademie zu meiner Zeit besuchten, war Tissot der berühmteste, ein ansehnlicher, hübscher Mann, aber was uns an ihm besonders auffiel, war seine äußerst zarte Stimme, welche beinahe wie die Stimme eines Mädchens klang. Er unterhielt sich mit unsern Lehrern und auch mit uns auf das freundlichste, und in seinem Benehmen zeigte sich keine Spur von Anmaßung und Stolz auf seine Zelebrität. Er besuchte alle unsere Hörsäle, auch die Anatomie, doch ging er nicht in das Sezierzimmer, sondern blieb, als ob er sich vor[71] dem Anblick der verstümmelten Kadaver fürchtete oder ekelte, in dem Vorgemache stehen.

Weit der interessanteste und besonders für uns angehende Dichter höchst erfreuliche Besuch war der Besuch Goethes, der sich im Gefolge des über Stuttgart reisenden Herzogs von Weimar befand. War uns schon der Herzog von Weimar als hochverehrter Liebhaber und Kenner der Wissenschaften und Künste und besonders der Dichtkunst interessant, so war es noch weit mehr Goethe, da wir eben von seinem »Götz von Berlichingen« und seinem »Werther« auf das höchste enthusiasmiert waren. Der Besuch des Herzogs fiel in die Zeit, wo die öffentlichen Prüfungen eben geendigt waren und er und Goethe denselben nicht mehr beiwohnen konnten. Jedoch kamen sie noch zur rechten Zeit zu der Rede, welche unser Herzog jedesmal nach dem Schlusse der Prüfungen in dem Speisesaal nach dem Abendessen zu halten pflegte. Die Rede war immer von dem Herzog selbst verfaßt, und sie war lange fertig, ehe er sie hielt. So war es auch der Fall mit der, welcher der Herzog von Weimar und Goethe beiwohnten. Allein da er hörte, daß er diese zu Zuhörern haben würde, begab er sich noch vor dem Abendessen der Zöglinge in ein Nebenzimmer, um einiges für seine Rede abzuändern, was ihm wegen der Anwesenheit dieser Gäste notwendig schien. Der Herzog von Weimar und Goethe waren mit der Rede sowie überhaupt mit der ganzen Feierlichkeit wohl zufrieden, und mit Vergnügen folgten sie der Einladung zu der akademischen Hauptfeierlichkeit, zur Feier des Stiftungstages der Akademie. Am Morgen dieses Tages wohnte Goethe, ob auch der Herzog von Weimar weiß ich nicht mehr, der von den herzoglichen Oberhofprediger gehaltenen Predigt in der Akademiekirche bei, und es hieß, daß sie ihm wohl gefallen habe, ob sie gleich da und dort getadelt wurde. Am Mittag speiste er mit dem Herzog von Weimar an der herzoglichen Tafel, und am Abend fanden sich beide in dem Saale ein, wo die Austeilung der Preise an die Zöglinge vorgehen sollte. Vor der Austeilung der Preise wurde eine Rede von einem der Professoren gehalten, und die Reihe war diesmal an dem Professor der Medizin Cunsbruch. Was der Gegenstand der Rede war,[72] weiß ich nicht mehr, aber um so deutlicher erinnere ich mich, wie bei einer darin vorgekommenen Stelle aus dem »Werther« Goethe sichtbar errötete und die Augen niederschlug. Während der Preisausteilung stand er zur linken Seite des Herzogs wie der Herzog von Weimar zu seiner rechten, und es war hoch erfreulich für uns zu sehen, wie sehr ihn der Herzog distinguierte. Hätte Goethe geahnt, daß unter den Zöglingen, die ihn mit Bewunderung ansahen, sich auch der befand, welcher in der Folge als dramatischer Dichter sein würdiger Rival und als Mensch einer seiner vertrautesten Freunde werden würde, gewiß würde er, um ihn auszufinden, jeden von uns mit ebendem Interesse betrachtet haben wie früher Lavater zum Behuf seiner Physiognomik.

Es ist leicht zu erachten, daß unsere Akademie bei allem, was sie leistete, bei dem großen Ruf, den sie sich auch im Ausland erworben hatte, bei dem günstigen Urteil der Fremden, von denen sie besucht wurde, gleichwohl viele Widersacher gehabt hat. Nicht nur wurde ihr vorgeworfen, daß sie zu viel koste, daß sie der Landesuniversität Tübingen Eintrag tue, daß sie viele junge Leute, die sonst nicht studiert oder sich den Künsten gewidmet haben würden, zum Studieren und zur Erlernung der Künste verleite, sondern es wurde auch ihre militärische Einrichtung getadelt als eine Einrichtung, die sich mit den wissenschaftlichen und künstlerischen Studien keineswegs vertrage. Allein so viel Gewicht auch diese Vorwürfe auf den er sten Anblick haben mögen, so erscheinen sie doch bei näherer Prüfung durchaus ungegründet. Denn was erstlich die Kosten der Anstalt betrifft, so waren sie allerdings sehr groß; allein teils wurden sie nicht von dem Lande, sondern von dem Herzog bestritten, der sich zugunsten der Akademie in andern Ausgaben beschränkte, teils wurden sie durch die Kostgelder gedeckt, welche vorzüglich von ausländischen Zöglingen bezahlt werden mußten und deren gewöhnlicher Betrag jährlich achthundert Gulden war.

Nicht minder ungegründet erscheint auch der Vorwurf, daß die Universität Tübingen durch die Akademie beeinträchtigt worden. Denn auch abgesehen, daß von den akademischen Studien[73] das Studium der Theologie ausgeschlossen war, daß neben der juridischen, medizinischen und philosophischen Fakultät auch noch eine militärische bestand und auf der Universität Tübingen keine Künstler gebildet wurden und keine Trivialschulen vorhanden waren wie in der Akademie, so belief sich auch die Gesamtzahl der Zöglinge nie über dreihundert, und es ist daher offenbar, daß der Verlust der Universität Tübingen keineswegs so hoch angeschlagen werden darf, als ihn die Professoren der Universität und die Widersacher der Akademie anschlugen, sowie eben dadurch auch der andere Vorwurf, daß zu viele junge Leute zum Studieren und zur Erlernung der Künste verleitet worden, wegfällt.

Ungleich gegründeter als die eben beseitigten Vorwürfe erscheint der, daß die militärische Einrichtung der Akademie als einer Studien- und Lehranstalt nichts getaugt habe. Allerdings verträgt sich mit den wissenschaftlichen und künstlerischen Studien kein Zwang; allein die militärische Verfassung der Akademie erstreckte sich bloß auf die äußere Form derselben, keineswegs aber auch auf den Unterricht. Den Lehrern wurde nicht vorgeschrieben, wie sie das, wozu sie angestellt waren, lehren sollten. Es war ihnen nicht, wie man jetzt da und dort sieht, ein beschränkender Studienplan als Norm vorgelegt, die Lehrer waren in ihren Vorträgen vollkommen frei, es kam bloß darauf an, daß jeder seine Schuldigkeit tat, und die jährlichen Prüfungen müssen ausweisen, ob er sie getan habe. Der Tadel trifft daher bloß die eingeführte äußere militärische Form, die Uniformierung der Zöglinge, die militärische Disziplin in den Schlafsälen, das Aufmarschieren in den Speisesaal, das militärische Kommando zum Gebet usw. Allein was schadet denn diese militärische Einrichtung den Studien? Ist es nicht besser, die Studenten tragen eine von obenher vorgeschriebene Uniform, als daß sie sich durch ihre abenteuerlichen Burschen- und Landsmannschaftstrachten auszeichnen? Ist es nicht besser, die Studenten kommen zur bestimmten Stunde alle zumal in ihre Hörsäle als einzeln, der eine früher, der andere später? Ist es nicht besser, sie werden zum Besuch der Vorlesungen gezwungen, als daß es ihnen freisteht, sie bald zu besuchen, bald wegzubleiben?[74] Ist es nicht besser, sie werden durch die militärische Disziplin, welcher sie unterworfen sind, und durch ihre Abgeschlossenheit von dem Publikum genötigt, ihre Zeit ausschließend den Studien zu widmen und, um der Langeweile zu entgehen, fleißig zu sein, als daß sie die sogenannte akademische Freiheit zu zeitraubenden unanständigen Gelagen, zu mutwilligen Streichen oder gar zu demagogischen Umtrieben benutzen? Man klagt jetzt allgemein über das Unwesen auf den Universitäten und fürchtet die Studenten als kühne und freche Menschen, die auf nichts Geringeres als auf den Umsturz der bestehenden Regierungen umgehen. Aber solche Umtriebe waren auf der Akademie in Stuttgart eben wegen ihrer militärischen Verfassung unmöglich und würden, wenn sie noch bestände, es auch jetzt nicht sein, und welcher Fürst, der jetzt in den Studenten seine gefährlichsten Feinde sieht und sie als solche mit Argusaugen bewachen läßt, würde nicht froh sein, wenn er seine Landesuniversitäten in militärische Akademien wie die vormalige Karls-Akademie in Stuttgart umwandeln könnte? Übrigens war der Vorwurf, welcher der Karls-Akademie wegen ihrer militärischen Verfassung gemacht worden, nur zur Zeit ihres Bestehens passend, wo nur das Militär uniformiert war. Jetzt, wo auch die Staatsbeamten aller Klassen Uniformen tragen und bei feierlichen Gelegenheiten, den Soldaten gleich, in Reihe und Glied in die Kirche ziehen, dürfte wohl die militärische Verfassung der Karls-Akademie, wo doch wenigstens nur die Zöglinge und ihre vorgesetzten Offiziere, keineswegs aber auch die Professoren Uniformen tragen mußten3, weniger ungereimt scheinen, zumal da trotz dieser Verfassung[75] so viele vorzügliche Menschen aus ihr ausgegangen sind, wovon ich mehrere schon oben genannt habe.

Das einzige, was man mit einigem Grund gegen die militärische Verfassung der Karls-Akademie und die überhaupt in derselben eingeführte strenge Disziplin sagen könnte, ist, daß die Zöglinge zu wenig für die Welt gebildet worden und nicht nur unmittelbar nach ihrem Austritt, sondern auch in der Folge sich nicht auf die Art, wie es das öffentliche Leben fordert, zu benehmen gewußt haben. Allein das ist mehr ein voreiliger Schluß als eine wirkliche Tatsache; die Erfahrung hat vielmehr das Gegenteil gezeigt. Nur diejenigen, denen es von Natur an Gewandtheit und an der Fähigkeit, sich in die Verhältnisse zu schicken, fehlte, blieben unbeholfen und linkisch nach ihrem Austritt aus der Akademie, und deren waren nur wenige. Die meisten fanden sich in kurzem in die neuen Verhältnisse, ja viele konnten sogar als Muster eines gewandten, weltklugen und feinen Betragens aufgestellt werden, wie z.B. die Grafen von Thürheim und von Mandelslohe, der württenbergische Minister Freiherr von Phull und noch ungleich mehrere, die sich dem Militärstand gewidmet hatten und die zu nennen überflüssig wäre.

Allein es handelt sich hier nicht bloß von dem äußerlichen Betragen der Zöglinge der Akademie nach ihrem Abgang von derselben. Ungleich wichtiger ist die Geistesstimmung, welche sie aus der Akademie in das gesellige Leben mitbrachten. Unbekannt mit der Verschiedenheit der Stände, unbekannt mit den Vorzügen, welche man den Adeligen vor den Bürgerlichen, dem Gelehrtenstand vor dem Künstlerstand damals einzuräumen pflegte, hatten sie keine Idee von privilegierten Ständen, von Prärogativen des Adels vor dem gemeinen Volk, des Militärs vor dem Bürgerstande, der Gelehrten vor den Künstlern. Sie waren zu Weltbürgern erzogen, sie betrugen sich als solche, und man kann mit Recht sagen, daß ihr Eintritt in das gesellschaftliche Leben nicht nur in Württenberg, sondern auch im Ausland Epoche gemacht hat. Wo die Zöglinge der Akademie hinkamen, haben sie zur Vertilgung des damals herrschenden Kastengeistes beigetragen, und so wie sie überall zu den bedeutendsten[76] Stellen wegen ihrer ausgezeichneten Kenntnisse gelangt sind, so haben sie auch überall ihre weltbürgerlichen Grundsätze geltend gemacht. Sie standen wie der Stifter der Akademie über ihrem Zeitalter.

So verdient die Karls-Akademie auch von dieser Seite keinen Tadel. Wie sie eine der vorzüglichsten Unterrichtsanstalten ihrer Zeit war, so war sie auch eine nicht minder vorzügliche Anstalt zur sittlichen Bildung ihrer Zöglinge, auch was das äußerliche Betragen betrifft. Nur von wenigen Zöglingen weiß man, daß sie nach ihrem Austritt aus der Akademie ein unsittliches, lasterhaftes Leben geführt; weit die meisten galten allgemein für ebenso rechtschaffene als geschickte Leute, und wenn es auch hie und da einen Sonderling unter ihnen gab, so war es nicht die Akademie, die ihn dazu machte, sondern sein Vorsatz, es zu sein oder zu scheinen.

Fußnoten

1 Außer Generalen und Geheimenräten nannte der Herzog jedermann Er.


2 Der Herzog hob die Akademie auf, ohne sie zuvor ein einziges Mal besucht zu haben.


3 Bloß bei feierlichen Gelegenheiten mußten die Professoren überein gekleidet sein. Im Sommer bestand die Kleidung in einem Rock von schwarzem Gros de Tours mit weißem seidenen Unterfutter, einer weißen seidenen mit Gold gestickten Weste, schwarzen seidenen Beinkleidern und weißen seidenen Strümpfen; im Winter in einem Rock von schwarzem Samt und einem Unterfutter von weißem Atlas, einer mit Gold gestickten Weste von weißem Atlas, Beinkleidern von schwarzem Atlas und weißen seidenen Strümpfen wie im Sommer, unter dem Arm einen Chapeau-bas und einen Galanteriedegen an der Seite.


Quelle:
Hoven, Friedrich Wilhelm von: Lebenserinnerungen. Berlin 1984, S. 77.
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