Zweites Buch

[77] Der medizinische Lehrkurs war in der Akademie auf fünf Jahre festgesetzt, die fünf Jahre waren im Dezember 1780 vorüber, alle, die wir miteinander studiert hatten, wurden, nachdem wir die öffentlichen Prüfungen erstanden und der Stiftungsfeier zum letzten Mal als Zöglinge beigewohnt hatten, aus derselben entlassen, und in den letzten Tagen des Dezembers kehrte ich in das väterliche Haus in Ludwigsburg zurück. Mein Vater war damals Intendant eines ein paar Jahre zuvor von dem Herzog gestifteten militärischen Waisenhauses, von welchem ich in dem von Schiller herausgegebenen »Wirtembergischen Repertorium« eine ausführliche Beschreibung geliefert habe. Er hatte seine Wohnung in dem Waisenhausgebäude, und auch ich quartierte mich in dasselbe ein. Die Freude meiner Eltern und meiner vier Schwestern, mich wieder mit ihnen vereint zu sehen, war groß, nicht minder groß war auch die meinige, welche auch noch dadurch erhöht wurde, daß ich mich wieder in einer Anstalt befand, welche mit der militärischen Pflanzschule auf der Solitude, wohin ich als Knabe aufgenommen worden, so viele Ähnlichkeit hatte, und daß ich mit dem Herzog, welcher das Waisenhaus gewöhnlich alle Wochen einmal besuchte, in einer nähern Verbindung blieb als alle, welche mit mir die Akademie verlassen hatten. So wie mir selbst, war dieses Verhältnis auch meinem Vater sehr erwünscht, denn er hoffte, daß, weil der Herzog bei seinen Besuchen des Waisenhauses jederzeit auch mich sah, dieses öftere Wiedersehen seines ehemaligen akademischen Zöglings mir auch zu einer desto frühern Anstellung dienen würde. Ob mein Vater darin recht hatte, will ich nicht entscheiden, ich glaubte es aber kaum. Nur solange wir Zöglinge der Akademie waren, zeigte sich der Herzog als unser Vater. Nach unserem Austritt aus derselben behandelte[78] er uns als unser Herr, obschon er nicht vergaß, daß er uns als Zöglinge der Akademie seine Söhne nannte.

Gleich nach meiner Ankunft in Ludwigsburg machte ich mit meinem Vater bei seinen Freunden und Bekannten die gewöhnlichen Höflichkeitsbesuche. Ich wurde überall gut aufgenommen, doch hatten diese Besuche etwas Peinliches für mich, nicht allein weil ich noch immer in meiner akademischen Welt lebte, sondern auch weil ich fühlte, wie schwer es mir werden würde, als Arzt die Gunst so vieler, mir ganz fremder Menschen zu gewinnen. Zum Glück war die Zeit, wo ich mich um die Gunst des Publikums zu bewerben hatte, noch nicht so nahe. Da ich noch nicht promoviert hatte, so durfte ich auch noch nicht praktizieren, und noch viel weniger konnte ich mich auch um Anstellung als Physikus bewerben. Mein erstes und einziges Geschäft nach meiner Ankunft in Ludwigsburg war daher, mich zu dem Universitätsexamen vorzubereiten und meine Inauguraldissertation zu schreiben, um zum Doktor kreiert zu werden. Da die Akademie in Stuttgart damals noch nicht zur Universität erhoben war, so mußte dies auf der Landesuniversität zu Tübingen geschehen; allein ich war eben mit meinen Vorbereitungen zum Examen und meiner Dissertation pro gradu so weit fertig, daß ich mich bei der medizinischen Fakultät um Zulassung zur Promotion melden konnte, als ich aus Stuttgart die erfreuliche Nachricht erhielt, die Akademie sei von dem Kaiser Joseph zur Universität mit allen Rechten und Befugnissen anderer Universitäten erhoben worden. So durfte ich denn zu meiner großen Freude nicht nach Tübingen gehen, ich konnte nun in Stuttgart promovieren, und sobald die nötigen Vorkehrungen getroffen waren und ich mit meiner Inauguraldissertation fertig geworden, säumte ich nicht, mich bei dem Dekan der medizinischen Fakultät, meinem Lehrer und Freund Cunsbruch, als Doktorand zu melden. Als einem ehemaligen Zögling der Akademie wurde mir mein Gesuch mit Vergnügen bewilligt; ich ließ daher meine Dissertation »De origine puris« in der akademischen Druckerei unverzüglich drucken, und auf die Anzeige, daß der Druck vollendet sei, wurde mir als bald auch die Zeit bestimmt, wann ich in Stuttgart[79] erscheinen sollte. Ich traf zur bestimmten Zeit ein, bestand bei der Fakultät das herkömmliche Examen, das Tentamen und Rigorosum, zur Zufriedenheit der Examinatoren, verteidigte meine Dissertation sine praeside in Gegenwart einer zahlreichen Versammlung, selbst von Hofleuten, mit Beifall und wurde sofort feierlich zum Doktor kreiert.

Aber nun hatte ich noch ein anderes Examen zu erstehen, das sogenannte praktische. Dieses wurde von dem Collegium archiatrale, das aus den drei Leibärzten und dem Leibchirurg des Herzogs bestand, vorgenommen und galt nicht allein in Rücksicht auf die Erlaubnis zur ärztlichen Praxis, sondern auch in Rücksicht auf die Qualifikation zum Staatsdienst. Vergleiche ich dieses Examen mit der jetzigen Art zu examinieren, so darf ich wohl sagen, daß sich zwischen beiden ein himmelweiter Unterschied findet. Jetzt heißen die Examina Konkursprüfungen, weil alle, die sich dazu melden, zu einer von der Regierung bestimmten Zeit zusammenkommen müssen, und diese Konkursprüfungen selbst bestehen in einer schriftlichen Beantwortung mehrerer den Kandidaten vorgelegter Fragen aus allen Fächern der Medizin, die wiederum in mehrere zerfallen, und diese Fragen müssen die Kandidaten, in ein Zimmer zusammengesperrt, unter der Aufsicht eines Mitgliedes der Regierung beantworten und so lange eingesperrt bleiben, bis sie mit der Beantwortung fertig sind. Sind die Antworten, wozu gewöhnlich mehrere Tage verwendet werden, fertig, so werden sie gesammelt, dem Obermedizinalkollegium zur Beurteilung vorgelegt und von diesem dann ihr Wert auf mathematische Art berechnet. Das war nun, wie schon bemerkt, zu der Zeit, wo ich geprüft wurde, ganz anders. Damals war von keinem Konkurs die Rede. Wer geprüft zu werden verlangte, konnte sich zu jeder Zeit melden, und er hatte nichts weiter zu tun, als sich an dem Tage und um die Stunde, welche ihm dazu bestimmt worden, vor dem Collegium medicum einzufinden, welches ihn nicht in dem Amtslokal des Kollegiums, sondern in der Wohnung des ersten herzoglichen Leibarztes erwartete. Das Examen selbst bestand nicht in der schriftlichen Beantwortung dem Kandidaten schriftlich vorgelegter Fragen, sondern in einem[80] freien medizinischen Diskurs, in welchen sich die Examinatoren mit demselben einließen und welcher sich zwanglos über alle Gegenstände des medizinischen Wissens verbreitete. Offenbar sahen auf diese Art die Examinatoren weit besser, was an dem Kandidaten sei, als die Aufgeber der Fragen bei den jetzigen Konkursprüfungen, welche, wenn sie die Fragen gehörig beantworten sollten, vielleicht in eine ebenso große Verlegenheit kommen würden als die Konkurrenten und gleichwohl keinen Anstand nehmen, die Qualifikation derselben nach Ausarbeitungen zu beurteilen, die sie in der Angst ihres Herzens und im Schweiß ihres Angesichts niedergeschrieben haben. Was aber der vormaligen Prüfungsart einen weitern Vorzug vor den jetzt beliebten Konkursprüfungen gibt, ist die Liberalität, mit welcher die Kandidaten behandelt wurden. Bestand der Kandidat bei der Prüfung nicht gut, so wurde ihm von den Examinatoren bemerklich gemacht, in welchen Fächern er zurück sei. Es wurde ihm ein Viertel- und nach Befinden ein halbes Jahr Zeit gegeben, das Mangelnde nachzuholen. Das Examen wurde, um den Ruf des Kandidaten zu schonen, als nicht geschehen betrachtet, und erst, wenn er zum dritten Mal nicht gut bestanden, wurde er nicht mit der Note mittelmäßig oder schlecht bezeichnet und etwa nur bei Beförderungen zurückgesetzt, sondern, wie es sich gebührt, geradezu abgewiesen. Bestand er hingegen gut, so bekam er ein versiegeltes Zeugnis, welches er an die Regierung abzugeben hatte. Auf den Grund dieses Zeugnisses wurde er sofort von derselben verpflichtet und durfte nun nicht nur als selbständiger praktischer Arzt auftreten, sondern er konnte auch ohne weitere Prüfung als Physikus oder Gerichtsarzt angestellt werden.

Nicht lange nachdem ich promoviert hatte, meldete ich mich auch zu diesem praktischen Examen, und wie bei dem Universitätsexamen war ich auch bei diesem gut bestanden, und ich darf hier nicht unbemerkt lassen, daß mir das Zeugnis, welches den Kandidaten in der Regel versiegelt zugestellt wurde, unversiegelt mit der Bemerkung übergeben worden, daß ich wohl lesen dürfe, was darin von mir gesagt sei. Wie ich mich über diese Äußerung gefreut habe, läßt sich denken.[81] Gleichsam im Triumph gab ich schon am folgenden Tag das Zeugnis an die Regierung ab, erhielt von derselben die Erlaubnis zu praktizieren und wurde als praktischer Arzt verpflichtet.

So konnte ich nun in Ludwigsburg oder wo ich sonst wollte meine praktische Laufbahn ungehindert antreten; aber es fehlte an der Hauptsache, an Kranken, an welchen ich meine Kunst üben sollte. Zwar waren damals nur zwei Ärzte in Ludwigsburg, die zwei Physici, Hofmedikus Fraas und Hofmedikus Mörike; aber diese beiden hatten bereits die ganze Praxis sowohl in der Stadt als in der Umgegend unter sich geteilt, und dem Anfänger blieb nichts übrig als die Armen, welche die Ärzte bloß mit ihren Lobeserhebungen bezahlen, und die von anderen Ärzten aufgegebenen Kranken, welche in der Verzweiflung sich an den nächsten, den besten Arzt wenden, er mag jung oder alt sein. So bekam ich bald mehrere solche Kranke in die Kur, aber den beiden Physicis konnte ich keineswegs etwas abgewinnen. Den einen, ob er schon ein ziemlich bejahrter Mann war, wollten seine Kunden aus Dankbarkeit für seine vieljährigen Bemühungen um ihre Familien nicht aufgeben, und der andere war viel zu beliebt bei dem Publikum und besonders bei dem auch hier den Ton angebenden weiblichen Geschlecht, als daß ich ein Rival von ihm hätte werden können. Ich blieb daher lediglich auf meine Armenpraxis eingeschränkt, und auch diese nahm nicht sonderlich zu, da mir gleich der erste Kranke, den ich in die Kur bekommen und der an einem schweren typhösen Fieber litt, und bald darauf noch einige andere gestorben waren. Indessen tröstete ich mich mit dem bekannten Sprichwort, daß aller Anfang schwer sei und daß sich die Sache nach und nach schon geben werde, und benutzte die Muße, die mir meine beschränkte Praxis gestattete, teils zu wissenschaftlichen Studien, teils zu schriftstellerischen Arbeiten, und namentlich zu meinem im Jahre 1789 erschienenen Versuch über die Wechselfieber, zu welchen mir die damals in Ludwigsburg sehr häufigen und von mir vielfältig beobachteten Wechselfieber die nächste Veranlassung gaben. Überhaupt widmete ich mich den medizinischen Studien mit ganzer Seele,[82] und ein so großer Freund ich sonst von der Dichtkunst war, so enthielt ich mich doch aller dichterischen Arbeiten, nicht weil ich nicht auch Muße dazu gehabt hätte, sondern weil ich fühlte, daß ich so vielen andern ausgezeichneten Dichtern gegenüber nicht als Dichter auftreten könne, und immer an den Ausspruch des Horaz dachte:


Mediocribus esse poetis

Non Di, non homines, non concessere columnae.


In dieser einerseits widrigen, andrerseits angenehmen Lage blieb ich, bis ich im Jahre 1785 nach dem Tode des Hofmedikus Fraas als zweiter Physikus in Ludwigsburg angestellt wurde. Allein ehe ich zu dieser Epoche komme und die Erzählung von meinem ärztlichen Leben fortsetze, muß ich erst einiges von meinem geselligen erzählen, und hier erwähne ich zuvörderst einer Reise, welche ich mit meiner ältesten Schwester nach Teinach und Zavelstein machte. Meine Schwester sollte das Bad in Teinach gebrauchen; allein wir quartierten uns nicht da, sondern in Zavelstein ein, wo meine Großmutter noch als Witwe lebte und mein jüngerer Oheim die Stelle seines schon im Jahre 1775 verstorbenen Vaters bekleidete. Ehe wir uns nach Zavelstein begaben, brachten wir ein paar Tage in Calw zu. Die Veranlassung dazu war die Verheuratung der Schwägerin meines Oheims, zu deren Mitfeier wir eingeladen waren. Das Hochzeitessen wurde am ersten Tage in einem Gasthof gehalten, am zweiten wurde im Hause der Eltern gespeist. An beiden Orten wurde weidlich geschmaust und an bei den Tagen bis tief in die Nacht getanzt. Ich schlief in dem elterlichen Hause der Braut und wußte nicht, daß das Haus an einen Berg angebaut war. Aber ich erinnerte mich noch wohl, wie ich in der ersten Nacht zu Bette ging, daß ich zwei Treppen hoch gestiegen war. Ich hatte die ganze Nacht geschlafen, stand frühzeitig auf, und wie ich aus dem Fenster sah, fand ich mein Zimmer parterre. Ich konnte, als ich zu Bette ging, nicht sehen, daß das Haus an den Berg gebaut war und daß mir ein hinteres Zimmer zum Schlafzimmer angewiesen worden. Aber da eben damals die Prophezeiung des Abtes Ziehen, daß ein Teil[83] von Deutschland versinken werde, so viel Aufsehen machte, dachte ich im ersten Augenblick an die Erfüllung dieser Prophezeiung, so unglaublich und lächerlich sie mir auch zuvor geschienen hatte.

Aber die Hochzeitfeier war nun vorbei, wir hatten keinen Grund mehr, in Calw zu verweilen, und begaben uns nach Zavelstein. Von der Freude der Großmutter über unsern Besuch etwas zu sagen, wäre überflüssig, ebenso auch, daß wir von unserem Oheim auf das liebreichste aufgenommen und bewirtet worden. Aber unaussprechlich sind die Gefühle, welche das Wiedersehen der guten alten Frau nach einer Trennung von so vielen Jahren und die Erinnerung an die schönen Tage, welche ich als Kind und Knabe in dem großelterlichen Haus durchlebte, das Herumwandeln in dem Dorf, in den Gärten, in den Wäldern, wo ich so oft meinen Großvater begleitete, das Hinabspazieren von Zavelstein nach Teinach auf den so oft von mir betretenen Fußweg und noch so vieles andere in mir erregten. Ich befand mich wieder ganz in meiner so froh durchlebten Kinderwelt, und wie ich die Knaben, die ehemals mit mir spielten, nun als Männer, die Mädchen als Frauen und Ernestinen als Mutter zweier ihr ähnlicher Kinder sah und wie sich alle meiner noch ebenso lebhaft erinnerten wie ich mich ihrer, so waren dies Empfindungen, die zu den erfreulichsten meines Lebens gehören. Denn wie manches Angenehme mir auch in Teinach, wohin ich täglich ging, widerfahren ist, wie viele interessante Menschen ich unter den Badegästen kennengelernt und wie viele frohe Stunden ich auch in ihrem Umgang zugebracht habe, immer kehrte ich gleich wieder vergnügt in mein liebes Zavelstein zurück, und mit welchen wehmütigen Gefühlen ich zuletzt von ihm schied, kann nur der mitfühlen, der seine Kinderjahre an einem ähnlichen Ort und unter denselben Verhältnissen durchlebt hat wie ich.

Indessen kann ich doch nicht umhin, einiger interessantern Bekanntschaften zu gedenken, welche ich unter den Badegästen zu Teinach gemacht habe. Ich rechne dahin vorzüglich die Bekanntschaft mit dem Regierungspräsidenten von Gemmingen und seinem Freund, dem Regierungsrat Huber aus Stuttgart.[84] Der erste, einer der damaligen vorzüglichsten höhern Staatsbeamten Württenbergs, lud mich oft zu sich, und mein Umgang mit ihm war für mich ebenso lehrreich als ehrenvoll und angenehm. Der andere, wegen seiner Freimütigkeit einst Staatsgefangener auf der Festung Hohen-Aschberg, aber auf das ehrenvollste in Freiheit gesetzt und durch eine reichliche Pension entschädigt, ist ebenso rühmlich als Dichter bekannt. Er ist der Verfasser der allgemein gepriesenen Versuche in Reden mit Gott, die unter die besten Gedichte der damaligen Zeit gehören, und noch einiger anderer Schriften wie der Schrift über die Pflichten eines Oberamtmanns. Er interessierte mich besonders wegen seines heitern jovialischen Wesens, seines gesunden Witzes, seiner trefflichen Darstellungsgabe und seiner vielseitigen Kenntnisse. Ich fand an ihm einen der Männer, mit denen man sogleich bekannt ist und die man immer lieber gewinnt, je näher man sie kennenlernt. Ich sah ihn beinahe täglich, und die Stunden, die ich in seiner Gesellschaft zubrachte, zähle ich zu den angenehmsten meines Lebens.

Eine andere, nicht minder interessante Bekanntschaft habe ich mit einem Bankier aus Straßburg und seiner Familie gemacht, wo mich besonders seine ältere Tochter, ein Mädchen von achtzehn Jahren, anzog. Das Mädchen war ebenso liebenswürdig als schön, und sooft ich nach Teinach hinunterkam, war es immer mein erstes, sie aufzusuchen. So wurde ich immer näher mit ihr bekannt, und weil ich auch von den Eltern wohl gelitten war, so wurde ich gewöhnlich auch zur Teilnahme an den Partien in der Umgegend von ihnen eingeladen. Bei den Bergpartien fuhren die Damen auf Leiterwagen mit Ochsen bespannt, die Herren ritten auf Eseln, und wie ich die erste Partie mitmachte, ließ auch ich mir einen Esel satteln. Ich bestieg den Esel im Angesicht der Damen, die schon auf ihrem Leiterwagen saßen; aber ich hatte mich im Sattel zu weit vorwärts gesetzt, der Esel bog seinen Kopf nieder zur Erde, schlug hinten aus und warf mich vorn herunter. Das Gelächter der Damen über den ungeschickten Eselsritter kann man sich denken; aber besonders laut lachte das schöne Mädchen, und ich kann nicht leugnen, daß ich mich darüber viel mehr freute als[85] ärgerte, weil ich eitel genug war, darin einen Beweis zu finden, daß ich ihr nicht gleichgültig sei. Die Familie reiste um dieselbe Zeit von Teinach weg als ich mit meiner Schwester von Zavelstein, und ich habe in der Folge leider nichts mehr von ihr gehört.

Schon vor meiner Reise nach Teinach hatte ich in Ludwigsburg mancherlei Bekanntschaften mit Personen sowohl männlichen als weiblichen Geschlechts gemacht; nach meiner Zurückkunft von der Reise vermehrten sich dieselben je länger, je mehr. Unter den Personen männlichen Geschlechts waren außer den beiden Ärzten, denen ich mich gleich nach meiner Ankunft empfohlen hatte und die wenigstens äußerlich wohlwollend gegen mich gestimmt schienen, und einigen Offizieren, mit welchen mein Vater auf einem besonders freundschaftlichen Fuß stand, für mich die interessantesten: der Hofmaler Holzhey, in dessen Gesellschaft ich nach meinem Austritt aus der Akademie auf der Diligence nach Ludwigsburg fuhr, der damals noch lebende Spezial Zilling, der als Pfarrer in Zavelstein mich schon als Knaben so liebgewonnen hatte, dann noch ein junger Geistlicher namens Christmann, den ich etwas später kennenlernte und durch den ich in das Haus des Bürgermeisters Bunz, wo er wegen seines angenehmen Umgangs und seines musikalischen Talents sowie auch in andern Häusern sehr beliebt war, eingeführt wurde, dann noch zwei andere junge Geistliche Stoll und Pauly, die Hofmeisterstellen in Ludwigsburg bekleideten und mich vorzüglich wegen der wissenschaftlichen Unterhaltungen mit ihnen anzogen, und endlich den Konditor B., der mich durch seine wunderliche Theosophie und namentlich durch seine Meinungen von dem Durchgang des Menschen durch die vier Elemente und seiner Vollendung durch seine Erweckung ins Licht, von dem Sitz Gottes in der Sonne und seiner Vermählung mit den Planeten, die er die Vielweiberei Gottes nannte, von den Sternen als den künftigen Sitzen der ins Licht erweckten Menschen, ihnen von Christus vermöge seines Generalquartiermeisteramts angewiesen, usw. belustigte und den ich daher öfter und immer mit Vergnügen besuchte. Da ich damals noch wenig Praxis hatte, so konnte ich dem Umgang[86] mit diesen Männern desto mehr Zeit widmen, und je öfter ich sie besuchte, desto mehr befestigte sich das freundschaftliche Verhältnis, in welches ich mit ihnen getreten war. Die meiste Zeit indessen widmete ich meinem wunderlichen Konditor, welcher mir vortrefflich zu einer Hauptperson in einem Roman zu taugen schien und mich wirklich auch bestimmte, ihm zulieb einen solchen zu schreiben.

Ungleich weniger Umgang als mit Personen männlichen hatte ich mit Personen weiblichen Geschlechts. Anfangs lernte ich zwar einige Freundinnen meiner Schwestern kennen, welche zuweilen bei ihnen auf Besuch kamen; aber ich sah sie bloß, ohne in eine nähere Bekanntschaft mit ihnen zu treten. Als ein Neuling in der Welt, der eben erst von der Akademie kam, war ich überhaupt schüchtern, und mit Frauenzimmern umzugehen, verstand ich vollends gar nicht, da wir in der Akademie von dem Umgang mit Frauenzimmern gänzlich abgeschnitten waren. Indessen zogen mich unter den Freundinnen meiner Schwestern bald drei Fräulein von Löwenstern etwas mehr an, drei ebenso liebenswürdige als schöne Mädchen. Anfangs war meine Unterhaltung mit ihnen ziemlich einsilbig, ich beobachtete sie mehr, als ich mich mit ihnen unterhielt. Aber je öfter ich sie sah, desto mehr gefielen sie mir wegen ihres unbefangenen, sittsamen, von jeder Art der Koketterie entfernten Betragens, und bald bildete sich zwischen ihnen und mir ein näheres Verhältnis. Unsere gegenseitigen Unterhaltungen wurden lebhafter, vertraulicher, und wie ich mich zuvor begnügte, sie bei meinen Schwestern bloß zufällig zu sehen, so suchte ich jetzt absichtlich mit ihnen zusammenzukommen, indem ich meine Schwestern bat, mich jedesmal rufen zu lassen, wenn sie bei ihnen waren. So bildete sich allmählich ein engeres Verhältnis zwischen uns, und bald war es uns nicht mehr genug, uns bei meinen Schwestern zusammenzufinden, wir gingen auch in Gesellschaft der letztern zusammen spazieren, und nachdem ich endlich auch die Erlaubnis erhalten hatte, sie zu Hause zu sehen, so war ich auch ebensooft bei ihnen als sie bei meinen Schwestern. Wie von ihnen war ich auch von ihrer Mutter – der Vater war bereits gestorben – jederzeit auf das beste aufgenommen,[87] und der Umgang mit dieser wackern und verständigen Frau erhöhte nicht wenig das Vergnügen, welches ich in dem Umgang mit ihren drei Töchtern, die ich nur die drei Grazien zu nennen pflegte, fand.

Allmählich fand ich immer mehr Zutritt in gebildete Familien, welche teils für immer in Ludwigsburg wohnten, teils nur auf kürzere Zeit diese Stadt zu ihrem Aufenthalt gewählt hatten, machte höchst interessante Bekanntschaften mit liebenswürdigen, zum Teil geistreichen Töchtern dieser Häuser und zählte unter dem männlichen Geschlecht viele Freunde, die mir wohlwollten und mit denen ich mich manche Stunde auf das angenehmste unterhielt. – Meine Bedürfnisse rücksichtlich des Umgangs waren daher vollkommen befriedigt; aber um so weniger waren es meine literarischen. Zwar hatte ich an meinen zwei Freunden Pauly und Stoll Männer, deren Umgang mir auch vorzüglich in literarischer Beziehung unschätzbar war, aber unsere gegenseitige Unterhaltung bezog sich bloß auf Philologie, Philosophie und Geschichte; um mein Bedürfnis, die Erweiterung meiner medizinischen Kenntnisse, zu befriedigen, hatte ich niemand. Ich kam zwar mit meinen beiden Kollegen Fraas und Mörike öfter zusammen, und der erstere nahm mich auch zuweilen bei seinen Besuchen wichtigerer Kranken mit sich; aber er war bereits zu alt und zu wenig mit der neuern medizinischen Literatur bekannt – seine Bibliothek ging nur bis zum Jahre 1750 –, als daß seine Unterhaltung sonderlich instruktiv für mich hätte sein können, und dem andern war es mehr um die Besorgung seiner ausgebreiteten Praxis als um das Fortschreiten in der Wissenschaft zu tun. Kurz, ich war in dieser Beziehung eigentlich verwaist, und gleichwohl fühlte ich tief, wie nötig es nicht nur einem jüngern, sondern auch ältern Ärzten ist, sich über ihre Wissenschaft gegenseitig zu unterhalten. Ein Arzt mag so reich an Kenntnissen sein, als er will, er mag so fleißig fortstudieren, als er will, er mag durch sein Nachdenken auf so viele neue Ideen gekommen sein, als er will, wenn er bloß für sich studiert und sich nicht auch mit den Ideen anderer durch persönliche Unterhaltung mit ihnen bekannt macht, so wird er nicht nur ein Idiot, sondern er bleibt[88] auch, selbst wenn er der beste Kopf ist, in seiner Wissenschaft zurück. Dies ist schon der Fall bei ältern Ärzten, er ist es noch vielmehr bei jüngern, und da ich in Ludwigsburg niemand hatte, mit dem ich mich über wissenschaftliche medizinische Gegenstände hätte unterhalten und meine Ideen austauschen können, so blieb mir zur Befriedigung meines Bedürfnisses nichts übrig, als mich an meine ehemaligen Lehrer zu wenden und, sooft es sein konnte, zu ihnen nach Stuttgart zu reisen. Ich wurde jederzeit auf das beste von ihnen aufgenommen, und besonders von Cunsbruch, der mich gewöhnlich zu Tische lud und nach Tisch sich stundenlang auf das lehrreichste mit mir unterhielt. Aber wer mich noch mehr als Cunsbruch und meine andern Lehrer nach Stuttgart zog, war der erste herzogliche Leibarzt Hopfengärtner. Ich hatte ihn öfter in Stuttgart gesehen, aber außer bei dem praktischen Examen, wobei er den Vorsitz hatte, nie das Glück gehabt, mit ihm zu sprechen. Näher lernte ich ihn zufällig in Ludwigsburg kennen, und da es mir schien, daß er sich für mich interessiere, so bat ich ihn um die Erlaubnis, ihn zuweilen in Stuttgart besuchen zu dürfen. Er gab mir diese Erlaubnis gern, und ich säumte nicht, gleich bei meinem nächsten Besuch in Stuttgart von derselben Gebrauch zu machen. Schon zuvor hatte ich ihn durch Cunsbruch als einen der vorzüglichsten Ärzte der Stadt kennengelernt, aber was mir Cunsbruch von ihm sagte, war viel zu wenig für das, was er war und was ich an ihm fand. Der vorzüglichen Ärzte gibt es viele, und auch meine Lehrer gehörten darunter. Aber so selbstdenkende, an originellen Ideen so reiche, ihrem Zeitalter in ihren Ansichten so weit vorausgehende Männer wie er sind eine große Seltenheit, und ich zähle meine nähere Bekanntschaft mit ihm zu den glücklichsten Ereignissen meines Lebens. In wenigen Stunden habe ich von ihm mehr gelernt als von meinen Lehrern in Tagen und Wochen, und, was noch mehr ist, ich bin durch ihn mehr als durch sonst jemand zum Selbstdenken angeregt worden. Auch kann ich nicht unterlassen, hier schon vorläufig zu bemerken, daß ich es vorzüglich ihm zu danken hatte, daß ich früher, als sonst wohl geschehen sein würde, zu einer ausgebreiteteren Praxis in Ludwigsburg gelangt bin.[89]

Unter diesen Umständen wäre es mir freilich am liebsten gewesen, wenn ich in Stuttgart, wo ich diesen vortrefflichen Arzt in der Nähe hatte, angestellt worden wäre. Allein das Schicksal hatte es anders beschlossen. Im Jahr 1785 starb der ältere Physikus in Ludwigsburg, der Hofmedikus Fraas. Der Ordnung gemäß rückte der zweite Physikus, der Hofmedikus Mörike, in die erste Stelle vor, und ich erhielt die durch dessen Vorrücken erledigte zweite Physikatsstelle. Es war damals eingeführt, daß jeder Angestellte dem Herzog in der Audienz, welche er gewöhnlich am Freitag vormittags gab, persönlich für seine Anstellung danken mußte. Auch ich tat es, und um so mehr, da ich als ein ehemaliger Zögling der Akademie besonders dazu verpflichtet war. Der Herzog nahm meinen Dank gnädig auf und sagte mir, daß, weil ich ein noch so junger und der Leitung eines Ältern bedürftiger Arzt sei, ich mich deshalb vorzüglich an seinen Leibarzt Jäger halten solle. Dieser Weisung zufolge begab ich mich ungesäumt zu Jäger, ihm zu sagen, wozu mich der Herzog angewiesen, und ihn um seinen Beistand zu bitten. Jäger war davon schon von dem Herzog selbst unterrichtet und erbot sich mit Vergnügen, mich bei jeder Gelegenheit mit seinem Rat zu unterstützen. Wirklich machte ich auch von diesem Anerbieten in mehreren Fällen Gebrauch; aber so gefällig und freundlich Jäger sich auch gegen mich bezeigte, so war und blieb doch der ernste und finstere Hopfengärtner der Mann, an den ich mich wandte. Ich schätzte zwar den Leibarzt Jäger wegen seiner großen Gelehrsamkeit sehr hoch – er war ein weit gelehrterer Arzt als Hopfengärtner –, aber Hopfengärtner war nicht nur ein ungleich besserer Kopf, sondern er war auch ein Mann von dem edelsten Charakter. Um wohlwollend zu handeln, bedurfte er keiner fürstlichen Empfehlung. Alles Gute und Edle, was er tat, ging aus ihm selbst hervor, und überall zeigte er sich als einen ebenso braven und rechtschaffenen als geistreichen und einsichtsvollen Mann. Zum Beweis hiervon will ich nur einen einzigen Fall anführen. Unter andern Funktionen hatte das Collegium archiatrale auch die, die Apotheken im Lande zu visitieren. Bei der Visitation der Hofapotheke in Ludwigsburg, deren Besitzer nach dem[90] Tode seines Vaters mein hernachmaliger Schwager war, kam dieser mit Hopfengärtner wegen eines pharmazeutischen Präparats in Streit. Der Streit wurde hartnäckig. Hopfengärtner behauptete seine Meinung, und der Apotheker mußte schweigen. Allein als nach Beendigung der Visitationen, wo die Visitatoren auf dem Rathaus im Beisein des Oberamtmanns, der beiden Bürgermeister und mehrerer Ratsglieder den vorgeladenen Apothekern ihre Bemerkungen mitteilten, sagte Hopfengärtner meinem Schwager, daß er ihm in betreff ihres Streites während der Visitation nicht habe recht geben können, daß er es aber jetzt in Gegenwart der Stadtvorsteher tue und daß er hoffe, er werde mit dieser öffentlichen Genugtuung zufrieden sein. Solch ein Mann war Hopfengärtner auch als Mensch.

Durch den Tod des Hofmedikus Fraas war ich jetzt nicht nur Physikus, sondern ich hatte jetzt auch als praktischer Arzt nur mit einem einzigen Kollegen zu konkurrieren und durfte hoffen, daß sich nun auch meine Praxis bedeutend vermehren würde. Allein es geschah nicht so, wie ich erwartete. Ich wurde zwar Arzt in mehreren Häusern, wo es Fraas gewesen war, aber die meisten fielen doch dem Hofmedikus Mörike zu, nicht allein weil überhaupt das Publikum mehr Zutrauen zu ältern Ärzten hat als zu jüngern, sondern auch weil die äußern Umstände mir weniger günstig waren als hundert andern angehenden Ärzten. Auch der kenntnisreichste angehende Arzt, wenn er bald zu einer bedeutenden Praxis gelangen will, muß durch äußere Umstände begünstigt werden. Entweder muß er einen angesehenen und beliebten Arzt zum Vater haben, der ihn frühzeitig zu seinem Stellvertreter macht, oder er muß in Verbindung mit bedeutenden Familien stehen oder in eine solche heuraten, oder er muß vornehme und einflußreiche Personen, beliebte Geistliche usw. zu Gönnern haben, oder er muß an seinen ältern Kollegen Freunde finden, deren Empfehlung bei dem Publikum natürlich mehr gilt als das Lob der Laien. Dies alles war bei mir nicht der Fall. Mein Vater war Offizier, kein Arzt. Er stand in keiner bedeutenden Familienverbindung in Ludwigsburg, welche mir zu meinem Fortkommen hätte förderlich sein können. Der Geistliche, der mich als Knaben seinen[91] Sohn nannte, war selbst zu wenig beliebt in der Stadt, als daß mir seine Empfehlung von großem Nutzen sein konnte. Der Hofmedikus Fraas hatte in den letzten Jahren seines Lebens selbst keine bedeutende Praxis mehr gehabt, und ich konnte daher eine solche nicht von ihm erben. Der Hofmedikus Mörike endlich, obschon er sich bei jeder Gelegenheit äußerlich wohlwollend gegen mich bezeigte, fürchtete doch einen Rival an mir, und anstatt mich da oder dort zu empfehlen, suchte er vielmehr sich selbst immer mehr geltend zu machen, wobei es ihm um so weniger fehlen konnte, da er in der für den Arzt so wichtigen Kunst, sich die Gunst der Weiber zu erwerben, Meister war. So stand ich auch als Physikus rücksichtlich meiner Praxis ganz auf mir selbst, und nur ein ganz besonderes glückliches Ereignis konnte mich in derselben fördern. Dies Ereignis trat wirklich ein. Ein vornehmer und reicher Herr in Ludwigsburg wurde krank. Dieser hatte keinen Arzt in der Stadt zum Hausarzt, sondern wenn jemand in seiner Familie erkrankte, ließ er den obengenannten herzoglichen Leibarzt von Stuttgart rufen. Dies geschah auch diesmal wieder. Hopfengärtner kam, kam zum zweiten und dritten Mal, und wie er beim dritten Besuch den Kranken ganz außer Gefahr fand, erklärte er, daß er nun keinen Besuch von seiner Seite mehr nötig finde, daß aber ein junger Arzt in der Stadt sei, den wolle er über das, was etwa noch zu tun sei, instruieren, es sei ein junger Arzt, aus welchem etwas werden könne, und schon jetzt könne er ihn, wenigstens für leichtere Fälle, aus voller Überzeugung empfehlen, man möge ihn also gleich zum Hausarzt annehmen. »Aber«, entgegnete der Genesende, »er ist doch noch gar zu jung, und zudem ist er nicht einmal auf Reisen gewesen.« – »Der junge Mann«, antwortete der Leibarzt, »wird älter werden, und das andere ist desto besser, so ist er wenigstens nicht verdorben worden.« Hopfengärtner hatte mich nicht vergebens empfohlen; ich wurde wirklich der Hausarzt dieser Familie, und ich erkannte bald an der Zunahme meiner Praxis, was die Empfehlung eines auch in Ludwigsburg so hochgeschätzten Arztes für mich gewirkt hatte.

Nicht lange nach diesem glücklichen Ereignis trat ein anderes,[92] wenigstens dem Augenschein nach nicht minder glückliches für mich ein. Mein Kollege Mörike wurde von einem typhösen Fieber befallen, welches gleich vom Anfang an gefährlich zu werden schien. Die Familie hatte den Leibarzt Jäger von Stuttgart zu ihm rufen lassen. Dieser nahm ihn zwar in Behandlung, aber da er den Kranken nicht alle Tage besuchen konnte, so mußte er einen Substituten haben, und dieser war ich. Ich besuchte den Kranken täglich mehrere Male, schrieb, um dem Leibarzt gehörig referieren zu können, alles, was ich bemerkte, genau auf und leistete überhaupt dem Kranken unterdessen alle und jede Hülfe, die ich ihm leisten konnte. Allein aller Bemühungen des Leibarztes und aller meiner Beihülfe ungeachtet, starb der Kranke zum größten Bedauern des Publikums, zugleich aber auch zu meinem Vorteil, nicht sowohl weil ich nun in die erste Physikatsstelle vorzurücken hoffen konnte als vielmehr der Achtung wegen, in welche ich mich durch meine dem Verstorbenen während seines Krankenlagers geleisteten guten Dienste und die freundschaftliche Teilnahme, die ich ihm dabei bewiesen, bei dem Publikum gesetzt hatte. Beides wurde mir von der Familie und den vielen Freunden des Verstorbenen hoch angerechnet, und man kann leicht erachten, daß mir ein bedeutender Teil seiner Praxis, ehe der neue Physikus ernannt wurde, zufiel.

Von dieser Seite war der Tod Mörikes für mich allerdings sehr vorteilhaft; aber um so weniger war er es von der andern, ich meine in betreff meines Vorrückens aus der zweiten in die erste Physikatsstelle. Nach der Ordnung sollte ich allerdings vorrücken; allein dagegen sprach erstlich, daß ich erst vor zwei Jahren als Physikus angestellt worden, und zweitens der Wunsch des Publikums, daß ein älterer Arzt als erster Physikus angestellt werden möge, dessen Erfüllung um so gewisser vorauszusehen war, da derselbe auch von den Vorstehern der Stadt in einer deshalb an den Herzog eingegebenen Vorstellung nachdrücklich ausgesprochen wurde. Als ein Mann von fünfundzwanzig Jahren konnte ich den Vorstehern der Stadt diesen Schritt gegen mich nicht verdenken. Ich sah selbst sehr gut ein, daß Mörike einige Jahre zu früh für mich gestorben, und es[93] war Gewinn genug für mich, daß ich einen nicht unbedeutenden Teil seiner Praxis geerbt hatte, von dem ich nicht fürchtete, daß ich ihn an den neuen Physikus verlieren würde. Auch war, da mich das Glück einmal zu begünstigen angefangen hatte, der Gedanke sehr natürlich, daß der neue Physikus, wahrscheinlich ein schon betagter Mann, mich nicht lange an meinem Vorrücken in die erste Physikatsstelle hindern würde. Das einzige, was ich fürchtete, war, daß der neue Physikus ein Mann sein könnte, der, eifersüchtig auf meine bereits gewonnene Praxis, sie auf irgendeine Weise an sich zu ziehen suchen und mir überhaupt meine Existenz in Ludwigsburg unangenehm machen möchte. Daß diese Furcht nicht ungegründet war, zeigte sich bald. Der an Mörikes Statt angestellte erste Physikus war der früher als außerordentlicher Professor in Tübingen angestellt gewesene Physikus in Urach, D. Seubert, ein Mann von ausgezeichneten Kenntnissen und ein anerkannt vorzüglicher praktischer Arzt. Wäre er auch als Mensch gewesen, was er als Arzt war, so hätte ich mich glücklich geschätzt, sein Kollege zu sein. Allein bei aller Freundlichkeit, die er äußerlich gegen mich bewies, war er doch heimlich nichts weniger als mein Freund. Er beneidete mir nicht nur meine Praxis, sondern er suchte sie auch an sich zu ziehen, nicht indem er geringschätzig von mir sprach, sondern vielmehr indem er mir bei jeder Gelegenheit das zweideutige Lob eines jungen Mannes gab, der viel gelernt habe, dem es aber, um auch ein tüchtiger praktischer Arzt zu werden, nur noch an einer längern Erfahrung fehle. Indessen erreichte er seinen Zweck nicht so, wie er gehofft hatte. Nur diejenigen Familien, welche nach dem Tode Mörikes noch keinen Hausarzt gewählt hatten, wählten ihn dazu; nur wenige von denen, die mich bereits zum Hausarzt angenommen hatten, gingen zu ihm über, und die Praxis, sowohl in der Stadt als auf dem Lande, war zwischen uns beiden ziemlich gleich geteilt bis zu seinem Tode, der schon ein paar Jahre nach seiner Anstellung erfolgte. Er starb an einer Darmentzündung, welche er sich durch eine Erkältung zugezogen hatte.

Durch den Tod Seuberts wurde nun die erste Physikatsstelle[94] abermals erledigt, und da ich schon einmal übergangen worden war, so konnte ich um so eher hoffen, in dieselbe vorzurücken; allein meine Hoffnung betrog mich auch diesmal wieder. Wäre wiederum ein älterer Arzt als erster Physikus angestellt worden, so hätte ich mich zum zweiten Mal damit trösten können, daß auch Seubert um einige Jahre zu frühe für mich gestorben. Allein der Arzt, welcher das erste Physikat erhielt, war ohngefähr gleiches Alters mit mir, und der Vorzug, den er vor mir erhielt, würde eine Beschimpfung für mich gewesen sein, wenn er ihn seinen größern Verdiensten zu danken gehabt hätte. Bilhuber, so hieß dieser Vorgezogene, war Physikus in Vaihingen, einer an der Ems gelegenen Landstadt, und als ein geschickter Arzt und braver Mann daselbst sehr beliebt. Dessenungeachtet würde er schwerlich das erste Physikat in Ludwigsburg erhalten haben, wenn er nicht, wie mir versichert wurde, zweihundert Louisdor an den Herzog dafür bezahlt hätte. Der Herzog brauchte nämlich zu seinen vielen und kostspieligen Bauten in Hohenheim viel Geld, und um dieses aufzubringen, bediente er sich neben andern Mitteln, wie bekanntlich damals auch einige andere deutsche Fürsten, des Diensthandels. Dies war allerdings eine sehr schlimme Seite des Herzogs, und man könnte sich wundern, daß er sich auch gegen mich, als einen ehemaligen Zögling seiner Akademie, von dieser Seite gezeigt hat. Aber der Herzog war nur der Vater der Zöglinge, solange sie in der Akademie waren, denn sein Kind war eigentlich die Akademie; nach ihrer Entlassung aus derselben war er ihr Fürst und Herr wie gegen alle seine Diener und Untertanen. – Übrigens soll zur Beförderung Bilhubers die Empfehlung des damals in Ludwigsburg residierenden Prinzen Friederich Wilhelm, eines Neffen des Herzogs, welche derselbe auf das Vorwort des damaligen, bei dem Prinzen vielgeltenden Spezials Pfleiderer bei dem Herzog einlegte, viel mitgewirkt haben, was ich um so lieber glaubte, da der Prinz aus weiter unten anzuführenden Gründen nicht günstig gegen mich gesinnt war. – Doch dem sei, wie ihm wolle, ich war in jedem Falle unbilligerweise zurückgesetzt, und diese Zurücksetzung würde noch ungleich kränkender für mich gewesen sein, wenn ich nicht an[95] Bilhuber einen Kollegen erhalten hätte, welchen ich ebensosehr seines Charakters als seiner Kenntnisse wegen zu schätzen Ursache hatte und mit welchem ich daher auch bald in ein wahrhaft freundschaftliches Verhältnis getreten war.

Aber auch Bilhuber bekleidete die erste Physikatsstelle nicht lange. Er war noch nicht zwei Jahre lang in Ludwigsburg, so verlor er seine Frau, und nach Verfluß der Trauerzeit hatte er beschlossen, sich wieder zu verheuraten. Er hatte sich zur Braut ein schönes junges Mädchen ausgesucht, er hatte sich mit ihr verlobt, bereits Brautvisiten mit ihr gemacht, und der Tag der Hochzeit war bereits bestimmt, als er aus dem ekstatischen Zustand, in welchen ihn sein Bräutigamstand versetzt hatte, in ein typhöses Fieber verfiel, an welchem er starb.

So war nun, seit ich zweiter Physikus geworden, das erste Physikat zum dritten Mal erledigt, und die Frage war jetzt, ob ich abermal zurückgesetzt zu werden fürchten müsse. Allerdings mußte ich dies. Die Vorgänge hatten mich geschreckt, und die Sage ging, daß die Zahl der Bewerber um die offene Stelle sehr groß und daß unter ihnen mehrere seien, welche bedeutende Summen aufwenden würden. Fest entschlossen, nie eine Stelle zu kaufen, mußte ich einen andern Weg einschlagen als den bisherigen einfachen und geraden Weg der Meldung. Ich begab mich daher nach Stuttgart, um mich mit meinen dortigen Freunden über die Sache zu besprechen, und erfuhr von ihnen, daß, wenn ich den Geheimenrat Fischer auf meine Seite bekommen könnte, ich ohne Zweifel reussieren würde. Nun kannte ich weder den Geheimenrat Fischer noch er mich; dennoch entschloß ich mich, zu ihm zu gehen, und da mir meine Freunde gesagt hatten, daß es ein gutes Zeichen sei, wenn er mich vor sich lasse, so nahm ich mir vor, den Zutritt zu ihm, wenn er ihn nicht freiwillig gestatte, zu erzwingen. Richtig wurde ich, wie meine Freunde vermutet hatten, durch den Kammerdiener, der mich bei ihm meldete, mit der Bemerkung abgewiesen, daß Seine Exzellenz nicht zu sprechen seien, weil Sie im Bade sitzen. »Das macht mir nichts«, erwiderte ich, »ich bin ein Arzt, vor dem man sich weder im Bade noch in jedem andern Fall zu genieren braucht, und überdies kann ich meiner[96] Geschäfte wegen nicht lange in Stuttgart verweilen, gehen Sie also noch einmal hinein zu dem Herrn Geheimenrat, und sagen Sie ihm das.« Der Kammerdiener zögerte, und ich fuhr fort: »Bedenken Sie sich nicht, noch einmal zu dem Herrn Geheimenrat hineinzugehen, sonst gehe ich selbst hinein.« Dies setzte den Kammerdiener in Bewegung, er tat, was ich verlangt hatte, und siehe da! der Geheimerat trat in das Vorzimmer, wo ich wartete, angekleidet heraus, grüßte mich freundlich und sagte: »Ich weiß wohl, weswegen Sie mich sprechen wollen, Sie suchen das erledigte erste Physikat in Ludwigsburg.« – »Ja, Euer Exzellenz«, erwiderte ich, »und ich weiß, daß ich es erhalten werde.« – »Wieso?« fragte er. »Weil Sie«, antwortete ich, »Minister sind; wären Sie es früher gewesen, so würde ich schon das erste Mal nicht zurückgesetzt worden sein, jetzt muß alles den geraden Weg gehen, und darum bin ich gewiß, daß es mir diesmal nicht fehlen wird.« – »Sie haben es getroffen«, erwiderte er, nachdem er sich einige Augenblicke besonnen hatte, »hier gebe ich Ihnen meine Hand, Sie sind der Stelle würdig, und ich werde bei dem Herzog für Sie tun, was ich vermag.« So bestätigte sich die treffliche Maxime Goethes, daß man die Menschen, bei denen man etwas gegen ihre Absicht durchsetzen will, nehmen müsse, wie sie sein sollen, nicht wie sie sind, auch bei mir. Wider seinen Willen wurde der Geheimerat für mich gestimmt. Wenige Tage nach dieser Audienz erhielt ich das Anstellungsdekret als erster Physikus in Ludwigsburg, und an meine Stelle trat der von einer andern Seite her begünstigte und empfohlene Sohn des verstorbenen Hofmedikus Mörike, wodurch der Geheimerat ohne Zweifel noch mehr zu meinen Gunsten gestimmt worden war.

Schon als zweiter Physikus war ich bereits verheuratet, und meine Verheuratung fiel gerade in die Zeit, wo Seubert zum ersten Physikus ernannt worden. Wäre ich noch unverheuratet gewesen, so hätte ich wohl sehr klug gehandelt, wenn ich mich um die Hand seiner ältesten Tochter, eines schönen und geistreichen Mädchens, beworben hätte. Allein ich wollte keine Frau, welcher ich mehr als sie mir zu danken gehabt hätte, und eben darum wählte ich mir auch kein Mädchen aus den einflußreichen[97] Familien der Stadt, ungeachtet ich hier ebensowenig einen Korb hätte fürchten müssen als von der Tochter Seuberts. Das Mädchen, welches ich mir zur Braut wählte, war die Tochter des Hofapothekers Bischoff in Ludwigsburg, ohne großes Vermögen, ganz einfach erzogen, aber ein Mädchen von Geist, ebenso liebenswürdig als schön. Sie war erst siebenzehn Jahr alt, als ich sie heuratete, und wer mich vorzüglich auf ihre vielseitigen Vorzüge aufmerksam machte, war mein Freund Pauly, welcher sich selbst bereits um sie bewarb, allein weil er keine Aussicht auf eine baldige Anstellung als Geistlicher hatte, seine Bewerbung freiwillig aufgab und um so weniger scheel dazusah, daß ich an seine Stelle trat, da er ihr Herz für sich zu gewinnen wenig Hoffnung hatte. So aufmerksam auf sie gemacht, suchte ich nun näher mit ihr bekannt zu werden, kam öfter, um sie zu sehen, in die Apotheke, wurde bald bekannter und vertrauter mit ihr, das Wohlgefallen an ihr ging in Liebe über, und nachdem ich an ihrer Gegenliebe nicht mehr zweifeln konnte, bat ich sie um ihre Hand, die Eltern um ihre Einwilligung, und nach Verfluß weniger Wochen nach der Verlobung traten wir an den Altar.

War meine schöne junge Frau schon als Mädchen geistreich und liebenswürdig, so entwickelte sich ihr Geist und ihr schöner Charakter immer mehr. Als Hausfrau trieb sie ihr Hauswesen mit ebensoviel Fleiß und Ernst als Klugheit und Verstand. Ohne geizig zu sein, war sie sparsam, wohltätig, ohne zu verschwenden, in allen ihren Handlungen besonnen, einfach in ihrem Betragen wie in ihrem Anzug, wohlwollend und dienstfertig gegen jedermann, versöhnlich, wenn sie beleidigt wurde, und stets bereit, Frieden zu stiften, wenn sich unter ihren Bekannten Mißhelligkeiten entsponnen hatten, eine echte Freundin ihrer Freundinnen, eine treue und liebevolle Gattin, eine zärtliche sorgsame Mutter ihrer Kinder bis zu ihrem Tode. Da zur damaligen Zeit die Töchter bürgerlicher Familien, der wahren Bestimmung des weiblichen Geschlechts gemäß, bloß zu tüchtigen Hausfrauen und sorgsamen Müttern, nicht zu Kunststickerinnen, Malerinnen, Musikantinnen oder gar zu gelehrten Weibern erzogen wurden, so war dies auch der Fall mit meiner[98] Frau. Sie hatte nichts als Lesen, Schreiben, Rechnen und einen korrekten Brief schreiben gelernt, aber sie verstand das Kochen, Backen, das Waschen, das Bügeln, das Stricken und Nähen und überhaupt alle weiblichen Arbeiten vollkommen. Indessen begnügte sie sich damit nicht; sie wollte auch geistig beschäftigt sein, sie wollte ihren Geist durch Lesen guter, für ihr Geschlecht tauglicher Bücher ausbilden, sie wollte auch Französisch lernen usw. Ich half ihr dazu, soviel ich vermochte, aber das Hauptverdienst um sie hatte in dieser Beziehung mein Freund Stoll. Nicht nur war er ihr Lehrer im Französischen, sondern als vieljähriger Erzieher auch weiblicher Personen war er ihr auch zu ihrer geistigen Ausbildung überhaupt auf alle Weise förderlich. So wurde sie, wie sie eine vorzügliche Hausfrau war, auch eine im hohen Grade geistig gebildete Frau, und um dieses doppelten Vorzugs willen war sie auch von jedermann, der sie näher kennenlernte, selbst von Männern wie Schiller, ebenso verehrt als wegen ihres edeln und liebenswürdigen Charakters geschätzt und geliebt. – Als Zögling der Akademie mußte ich zu meiner Verheuratung die Erlaubnis von dem Herzog nachsuchen. Mit der erteilten Erlaubnis erhielt ich auch zugleich den Charakter als herzoglicher Hofmedikus, gleichsam zum Hochzeitgeschenk, und das nächste Mal, als der Herzog das militärische Waisenhaus besuchte, wurde ihm und der Frau Herzogin auf ihr Verlangen meine Frau von mir vorgestellt und von beiden auf das gnädigste behandelt.

Nach dieser Schilderung meiner Frau muß ich zunächst auch ihrer Eltern und Geschwister und ihrer nächsten Anverwandten erwähnen. Ihr Vater war, wie schon bemerkt, Hofapotheker in Ludwigsburg, ebenso allgemein anerkannt als einer der bravsten Männer in der Stadt als ein geschickter und fleißiger Apotheker. Ihre Mutter, die Tochter des Bürgermeisters und Kaufmanns Burk in Leonberg, galt allgemein für eine der verständigsten und wackersten Hausfrauen in Ludwigsburg. Von ihren damals lebenden Geschwistern übernahm der ältere Bruder das Geschäft des Vaters – die Apotheke –, der jüngere wurde als Oberamtsarzt in Ludwigsburg angestellt. Die älteste Schwester ist an den Hofprediger Harpprecht daselbst verheuratet,[99] die zweite war die Gattin des verstorbenen Oberfinanzrats Moser in Stuttgart, die jüngste lebt als Witwe des Stallmeisters Leuze in Ludwigsburg. Harpprecht kannte ich schon vor seiner Verheuratung als einen hochgeschätzten Geistlichen. Er war zuerst Garnisonsprediger auf der Festung Hohen-Aschberg, wurde dann Pfarrer in dem an dem Fuß der Festung gelegenen Marktflecken Aschberg, bald darauf Garnisonsprediger in Ludwigsburg. Von hieraus wurde er zum Kaplan an der Hofkapelle in Stuttgart befördert, verließ aber diese Stelle nach dem Tode des Königs Friedrich, indem er seiner Witwe, der Königin Mathilde, als ihr Hofprediger und Beichtvater nach Ludwigsburg, ihrem Witwensitz, folgte und zugleich wieder in seine früher bekleidete Garnisonspredigerstelle daselbst eintrat. Er ist einer der ausgezeichnetsten Geistlichen, die ich kenne, ein vorzüglicher Prediger und ein ebenso braver und rechtschaffener Mann. Zu den Anverwandten meiner Frau gehört vorzüglich ihr Oheim, der Schwager ihrer Mutter, der Kammerrat Cleß, ein Mann von vielen Eigenheiten und Wunderlichkeiten, aber von dem besten Charakter, wohlwollend, wie es wenige Menschen gibt, der redlichste und gewissenhafteste Berater der Familie und besonders gewogen meiner Frau, welche sein Liebling unter ihren Geschwistern war. Er wurde in der Folge Kameralverwalter auf der Festung Hohen-Aschberg, wo ich ihn öfters besuchte und manche heitere Stunde mit ihm und seiner braven Frau durchlebte.

Soviel von meinem häuslichen und geselligen Leben; ich komme nun zu meinem ärztlichen. Hatte sich schon bei Lebzeiten meiner Vorfahren Seubert und Bilhuber meine Praxis bedeutend vermehrt, so nahm sie jetzt noch mehr zu, obschon mein Kollege Mörike, als der Sohn seines bei dem Publikum so beliebt gewesenen Vaters und zugleich als Glied einer der einflußreichsten Familien in Ludwigsburg, in welche er sich verheuratet hatte, nicht viel hinter mir zurückblieb. Außer den vielen bürgerlichen Familien, deren Hausarzt ich war, hatte ich auch die meisten adeligen zu besorgen, namentlich die Familien des Obersten von Dedell, der Generale von Nicolai und von Maucler, die Familie des Reichshofrats von Moser, der nach[100] seinem Zurücktritt aus seinen Staatsdiensten in Ludwigsburg privatisierte. Die erste dieser Familien, deren Hausarzt ich geworden, war die von Dedellsche, dieselbe, welcher ich als ein noch ganz junger Arzt von Hopfengärtner empfohlen worden. Bei der von Nicolaischen Familie wurde ich schon nach dem Tode des Hofmedikus Mörike Hausarzt, bei der von Mauclerschen erst nach dem Tode Seuberts und bei der von Moserschen nach dem Tode Bilhubers. Alle diese Familien achteten mich nicht nur als ihren Arzt, sondern sie beehrten mich auch mit ihrer Freundschaft. Ich besuchte sie daher auch sehr oft bloß als Hausfreund, und nie verließ ich sie, ohne etwas von dem feinen und gewandten Obersten von Dedell für mein freieres Betragen in der Gesellschaft, von dem geistreichen und vielfältig unterrichteten General von Nicolai für meine Einsicht, von dem hofklugen und fürstenkundigen Prinzenerzieher General von Maucler für mein Benehmen gegen die Großen, von dem gelehrten, witzigen und welterfahrenen Reichshofrat von Moser, trotz seiner mancherlei Wunderlichkeiten, für meine Welt- und Menschenkenntnis und von ihren Gemahlinnen, besonders der Frau Generalin von Maucler, für meine sittliche Bildung gewonnen zu haben.

So war ich nun der Hausarzt der vornehmsten Familien in der Stadt, nur der damals in Ludwigsburg privatisierende Prinz Friederich Wilhelm beehrte mich nach dem Tode Bilhubers nicht mit seinem Zutrauen, sondern wählte zu seinem Hausarzt den nicht lange zuvor nach Ludwigsburg gekommenen ganz jungen Arzt, D. Hardegg. Zwar wandt' sich der Prinz in wichtigern Fällen an den Leibarzt Hopfengärtner in Stuttgart; aber Hardegg war mir doch vorgezogen, und obschon ich ihn selbst wegen seines trefflichen Kopfs und seiner vielseitigen Kenntnisse, und besonders wegen seiner Geschicklichkeit in der Chirurgie, hochschätzte und bereits in freundschaftlicher Verbindung mit ihm stand, so würde mich dennoch der Vorzug, den ihm der Prinz vor mir gab, gekränkt haben, wenn ich nicht gewußt hätte, daß es nicht Mißtrauen gegen mich, sondern Zorn über mich war, warum er Hardegg, nicht mich zu seinem Hausarzt wählte. Die Sache verhielt sich nämlich so. Ich hatte auf Veranlassung[101] einer nahe drohenden Blatternepidemie schon im Januar einige adelige Kinder geimpft, und der Prinz wollte, daß auch die Kinder seines Kammerherrn und Jugendfreundes, des Grafen von Zeppelin, doch erst im Mai als der bessern Jahreszeit, geimpft werden sollten. Vermutlich hatte man ihm nicht gesagt, daß eine Blatternepidemie nahe sei und daß es zu spät sein möchte, die Zeppelinschen Kinder erst im Mai zu impfen. Er hieß daher mein frühzeitiges Impfen übereilt und gesetzwidrig, nannte mich einen medizinischen Despoten, beschuldigte mich, daß ich eine Blatternepidemie in die Stadt bringe, drohte, mich bei dem Herzog zu verklagen, ja sogar auf meine Kassation anzutragen, doch wollte er zuvor das Collegium archiatrale um seine Meinung über die Sache fragen. Auf seine Zuschrift an dasselbe wurde ihm geantwortet, daß ich durchaus gegen kein Gesetz gehandelt, daß ich vielmehr recht getan, vor dem Ausbruch der Epidemie zu impfen, und daß ich vielmehr Lob als Strafe verdient hätte. Auf diese Belehrung unterließ er nicht nur seine Klage gegen mich, sondern er ließ auch die Zeppelinschen Kinder bald darauf in Stuttgart durch den Leibarzt Hopfengärtner impfen. Aber seine Gunst hatte ich einmal verloren, und weil ich nicht einsah, wie ich dieselbe würde wieder gewinnen können, ließ ich die Sache vorderhand gut sein und erwartete das Beste von der Zeit. Ich wußte, daß der Prinz, wenn er glaubte, jemanden unrecht getan zu haben, es nicht nur bereue, sondern auch auf alle Weise wieder gutzumachen suche, und dies war denn auch bei mir der Fall. Der Herzog Karl, der Oheim des Prinzen, war im Oktober 1793 gestorben, der Prinz nahm Kondolenz an, und da der Adel, das Militär, die Geistlichkeit, der Magistrat und die Staatsbeamten aller Klassen sich in dieser Absicht partienweise in das Palais des Prinzen begaben, so konnte ich natürlicherweise nicht zurückbleiben. Ich schloß mich daher auch an eine Partie an, und zwar an eine solche, wo ich den Sprecher machen konnte. Im Vorzimmer trafen wir den Grafen von Zeppelin, der sich mit mir besonders freundlich unterhielt, bis die Türen geöffnet und wir vor den zwischen seinen zwei Söhnen stehenden Prinzen gelassen wurden. Der Prinz empfing uns sehr gnädig, hörte, was ich[102] zum Lobe des verstorbenen Herzogs sagte, wohlgefällig an, bestätigte es mit Zusätzen und entließ uns dann ebenso gnädig, als er uns empfangen hatte. Am folgenden Morgen machte ich einen Besuch in dem von Mauclerschen Hause. »Sie sind ja gestern bei dem Prinzen gewesen«, rief mir bei dem Eintritt die Frau Generalin entgegen, »er war gestern abend bei uns, Ihr Besuch hat ihn sehr gefreut, er hat gesagt, Ihr Erscheinen bei ihm sei ein Beweis, daß Sie ihm wieder gut seien.« Von dem edeln Charakter des Prinzen konnte ich nichts anderes erwarten als eine solche Äußerung, und wie sehr ich mich durch meine Aufwartung bei ihm in Gunst gesetzt, beweist das Zutrauen, welches er fortan gegen mich als Arzt bewiesen, indem er mich bei bedeutenden Kranken aus seiner Dienerschaft gewöhnlich zuziehen ließ und mit meinen Ratschlägen sich immer zufrieden bezeigte. Hätte sich jener Vorfall mit der Blatternimpfung nicht ereignet und wäre ich nicht früher, wie wahrscheinlich geschehen, von jemand bei ihm angeschwärzt worden, so wäre vielleicht mein ganzes künftiges Schicksal anders geworden. Er hätte mich als regierender Herr vermutlich zu seinem Leibarzt berufen, ob zu meinem Glück, weiß ich nicht; aber ich weiß, daß er auch als regierender Herr stets gnädig gegen mich gesinnt geblieben und es sehr ungern gesehen hat, daß ich das Vaterland verlassen habe.

Dieses temporäre Mißverhältnis mit dem Prinzen hatte auf mein Verhältnis zu dem Publikum gar keinen Einfluß. Ich hatte mich bei demselben zu fest in Kredit gesetzt, als daß mir meine Hintansetzung von dem Prinzen irgend etwas hätte schaden können. Im Gegenteil nahm mein Kredit bei dem Publikum vielmehr zu, da es sah, wie sehr ich mich durch meinen Eifer in meinem Beruf, in dessen Erfüllung ich den Hauptzweck meines Lebens setzte, seines Vertrauens würdig zu machen strebe. Dies wurde mir auch gar nicht schwer. Schon von der Akademie aus überall an die strengste Ordnung und an eine stete Beschäftigung gewöhnt, trieb ich auch meine Praxis auf die gewohnte Weise. Im Sommer begann ich meine Krankenbesuche früh um sieben, im Winter um acht Uhr. Nach Tisch gab ich Audienz zu Hause, studierte dann bis gegen Abend, wo ich alle wichtigern Kranke zum zweitenmal besuchte, und wenn ich keine solchen[103] zu besorgen hatte, ging ich mit meiner Frau und einigen Freunden und Freundinnen spazieren auf das Land. Abends um neun Uhr legte ich mich in der Regel zu Bette, und wenn ich in der Nacht zu einem Kranken gerufen wurde, war ich stets bereit, dem Ruf zu folgen. Über alle meine Kranken führte ich ein genaues Tagebuch, in meinen jüngern Jahren am Krankenbette selbst, weil ich mich dadurch den Kranken als einen sorgsamen Arzt zu empfehlen glaubte, in meinen spätern, wo sich meine Praxis bedeutend vermehrt hatte, zu Hause. Als erster Physikus hatte ich auch das Waisenhaus, das Zucht- und Arbeitshaus und die Irrenanstalt zu besorgen, und man kann sich leicht vorstellen, daß ich, obgleich die Physici zu der damaligen Zeit halb soviel zu schreiben hatten als jetzt, bei meiner bedeutenden Praxis, ohne das eine oder das andere jener Geschäfte zu vernachlässigen, wenig Muße zum Studieren und zu schriftstellerischen Arbeiten hatte. Indessen suchte ich mit dem Fortschreiten der Wissenschaft immer gleichen Schritt zu halten, schaffte mir alle wichtigern neuen Schriften an, schrieb beim Lesen derselben meine eigenen Gedanken nieder, und selten besuchte ich einen bedeutenden Kranken, ohne daß ich zuvor meine alten bewährten Praktiker über die Krankheit nachgeschlagen hätte. So kam ich immer tiefer in das praktische Leben hinein, meine Erfahrung wurde täglich reicher, das Praktizieren wurde mir immer leichter, und wie so viele hundert Ärzte würde auch ich zuletzt in einen heillosen Schlendrian verfallen sein, wenn nicht mein guter Genius mich davor bewahrt hätte. Die Lust zu wissenschaftlichen Studien erwachte von Zeit zu Zeit immer wieder aufs neue bei mir, nur hatte ich außer Hardegg niemand, mit dem ich meine Ideen austauschen konnte, und weil ich nicht mehr so oft nach Stuttgart zu Hopfengärtner, meinen Lehrern und meinen ehemaligen Mitschülern reisen konnte, unterhielt ich mich um so öfter mit ihm. Er war ein vortrefflicher, an Kenntnissen reicher Kopf, und dankbar gestehe ich, daß ich durch ihn in meinen Studien weit mehr gefördert worden als durch das Lesen und Studieren selbst der besten neuern Schriften.

Freilich halfen mir meine theoretischen Studien zu einer desto bessern Betreibung meiner Praxis nicht so viel, als ich davon[104] erwartete. Ich fand bald, daß es etwas ganz anderes um die Praxis ist als um die Theorie. In der Praxis kann nur nach praktischen, unmittelbar aus der Erfahrung geschöpften Grundsätzen gehandelt werden, und die einzig wahre, d.h. am Krankenbette brauchbare Theorie ist die, welche die Erfahrung zur Grundlage hat. Von der Beobachtung der Natur ist die Heilkunde ausgegangen, durch die fortgesetzte Beobachtung der Natur muß sie auch vervollkommnet werden. Die Gesetze der Natur sind ewig und unveränderlich, und die Erscheinungen, durch welche sich das gesunde und kranke Leben des Organismus ausspricht, erfolgen bei all ihrem unendlichen Wechsel nach diesen ewigen und unveränderlichen Gesetzen. Auch in den Erscheinungen ist also Wahrheit und Unveränderlichkeit, und wo wir daher eine eigene Verbindung und Aufeinanderfolge krankhafter Erscheinungen oder, in der Sprache der Schule zu reden, eine bestimmte Form der Krankheit wahrnehmen, da dürfen und müssen wir auch auf einen ebenso bestimmten innern Krankheitszustand des Organismus als Ursache derselben schließen. Freilich gelangen wir mittelst dieser Schlüsse bloß zur Erkenntnis des Daseins der mancherlei Krankheitszustände; ihr inneres Wesen, ihre eigentliche Beschaffenheit lernen wir dadurch keineswegs kennen. Dazu können uns nur Anatomie, Physik, Chemie führen. Allein alle diese Wissenschaften sind selbst erst noch im Werden, und es ist die Frage, ob wir es je soweit bringen, eine Physiologie des Organismus im wahren Sinne des Worts darauf gründen zu können. Ins Innere der Natur dringt kein erschaffener Geist, sagt einer unserer größten Naturforscher, und besonders gilt dieser Ausspruch von der organischen Natur. Aber glücklicherweise bedürfen wir als praktische Ärzte dieser tiefern Kenntnis des Organismus und seiner manchfaltigen Krankheitszustände nicht. Wir können auch ohne sie sehr gute praktische Ärzte sein, wenn wir durch Erfahrung so gute Semiotiker, Artiologen und Heilmittelkundige geworden sind, um bei jedem zu behandelnden Kranken aus der Beschaffenheit der Erscheinungen auf den ihnen zugrunde liegenden bestimmten Krankheitszustand richtig zu schließen, die nähern und entferntern Ursachen desselben aufzufinden und zu[105] ihrer Beseitigung diejenigen Mittel zu wählen, deren Wirksamkeit durch sichere Erfahrungen bewährt ist. Freilich verfahren wir solchergestalt bloß empirisch; allein unser Verfahren ist darum nicht weniger rationell, als es sein würde, wenn wir unsere Indikationen von dem Wesen der Krankheit hernehmen und von der Wirkungsart unserer Heilmittel, von denen wir, wie Lichtenberg sagt, bloß wissen, wie sie auf der ersten Station wirken, vollkommen Auskunft geben könnten. Aber dieses empirisch-rationelle Verfahren immer mehr zu vervollkommnen, d.h. zu einer immer größern Gewißheit und Sicherheit darin zu gelangen, gibt es nur ein Mittel, die unermüdet fortgesetzte, treue und unbefangene Beobachtung der Natur. Die Natur ist das große Buch, das wir immer lesen, immer studieren müssen, wenn wir in unserer Kunst immer weiterkommen wollen. Und was wir nächst dem Buch der Natur lesen und studieren müssen, sind nicht die voreilig aufgestellten theoretischen Systeme, zu deren Lob man höchstens sagen kann, was Terenz von seinen Komödien sagt:


Poeta cumprimum animum ad scribendum appulit,

Id sibi negoti credidit solum dari,

Populo ut placerent quas fecisset fabulas,


sondern die Schriften der treuen Beobachter der Natur und besonders der Alten. Auch der emsigste und aufmerksamste Beobachter sieht für sich allein nur wenig, er muß also auch das benutzen, was andere gesehen haben. Nur so lernt er die Natur von allen Seiten sehen. Aber sie nicht falsch durch andere sehen zu lernen, muß er sich einzig und allein an die Schriften solcher Männer halten, welche sie treu, nicht durch das trübe Medium eines Systems beobachtet haben. Es ist unglaublich, wie viel man sieht, wenn man die Natur treu und unbefangen beobachtet, und wie sehr durch ein solches fortgesetztes Beobachten der Beobachtungsgeist selbst geschärft wird. Von beidem haben wir das belehrendste Muster an den Alten. Was für einen Schatz von Beobachtungen enthalten nur allein die Schriften des Hippokrates und was für ein hoher Grad von Beobachtungsgeist gehört nicht dazu, um alles das wieder zu sehen, was er schon[106] gesehen hat! Aber auch unter den neueren Ärzten gibt es treue und unbefangene Beobachter der Natur, und diese sind es auch, die ihren Beobachtungsgeist durch seine stete Übung so geschärft haben, daß ihnen an dem Krankenbette selten etwas entgeht, was auf die richtige Erkenntnis und Behandlung der Krankheiten von Einfluß ist. Nur solche Beobachter können, wenn sie ihre Beobachtungen bekanntmachen, die allgemeine medizinische Erfahrung wahrhaft bereichern, und sie sind es auch, welche die wichtigsten Entdeckungen machen – Entdeckungen, die nicht nur zur fortschreitenden Ausbildung des echt praktischen Systems der Heilkunde, sondern auch zur Bereicherung des Heilmittelapparats mit neuen und zur richtigern Erkenntnis der Kräfte der alten dienen. Überhaupt ist alles, was die Heilkunde wahrhaft Schätzbares besitzt, durch diese treuen, unbefangenen und geübten Beobachter der Natur entdeckt worden. So lernten wir eines unserer größten Heilmittel, die Chinarinde, so die große antiphlogistische Kraft des Quecksilbers, so die Wirksamkeit der Alkaloiden kennen. So kamen wir zur Errichtung der Quarantäneanstalten gegen die Pest. So entdeckte der unsterbliche Jenner die schützende Kraft der Kuhpocken gegen die Menschenpocken. Kurz, das Studium der Natur und das fleißige Lesen der Schriften treuer und unbefangener Beobachter sind die Mittel, wodurch sich der praktische Arzt bildet, sowie sie auch der einzig wahre und sichere Weg sind, zu einem für die Praxis brauchbaren System der Heilkunde zu gelangen. Zu meinem Glück habe ich diesen Weg schon beim Beginn meiner praktischen Laufbahn betreten, allein ich bin dadurch den theoretischen Studien keineswegs abhold geworden. Wie die Schriften der guten Praktiker las ich auch die Schriften der Theoretiker, und ihre verschiedenen Ansichten haben auch die meinigen auf eine ebenso verschiedene Art verändert. So war ich zuerst, dem Beispiel meiner Lehrer folgend, ein Humoralpatholog. So war ich, angeregt durch Cullen und andere, ein Nervenpatholog. So war ich weiterhin, vorzüglich angeregt durch Weikard, den ich während seines Aufenthalts in Heilbronn persönlich kennenlernte, ein Brownianer, so durch das Studium der Röschlaubschen Schriften ein Erregungstheoretiker[107] geworden. Aber wenn ich mich frage, ob ich am Krankenbette ein Humoralpatholog, ein Nervenpatholog, ein Brownianer, ein Erregungstheoretiker war, so muß ich mir die Frage mit nein beantworten. Zum Leitfaden bei meinem Verfahren am Krankenbette diente mir einzig und allein das empirisch-rationelle System, das ich mir gleich beim Beginn meiner Praxis zu bilden angefangen hatte. Ich wollte nichts weiter, als mich zum praktischen Arzt ausbilden, und wenn ich von dem einen zum andern jener Systeme überging, so geschah es, weil ich von jedem etwas für die Praxis zu gewinnen hoffte und von dem neu aufgestellten natürlich mehr erwartete als von den vorhergegangenen. Aber keines von allen hat mir zur Vervollkommnung meines empirisch-rationellen Systems so viel geleistet als das Krankenbette. Nur am Krankenbette bildet sich der praktische Arzt, nicht durch das Studium theoretischer Systeme, die zwar dem Scharfsinn ihrer Urheber Ehre machen, aber am Krankenbette um so weniger taugen, je spekulativer sie sind. Auch die scharfsinnigsten Theorien haben die Praxis wenig oder nicht gefördert, und wer diese Behauptung bestreiten will, der soll mir sagen, ob unter der Herrschaft der Nervenpathologie, des Brownianismus und selbst des naturphilosophischen Systems mehr Kranke genesen sind als unter der Herrschaft der ehemaligen Humoralpathologie. Genesen und Sterben war unter der Herrschaft aller bisher aufgekommenen Systeme ziemlich gleich, und die glücklichsten Ärzte sind von jeher die gewesen, die am Krankenbette richtig beobachtet, sich aus ihren Beobachtungen Erfahrungen gebildet und daraus die Grundsätze und Maximen ihres Handelns gezogen haben. Nur solche Ärzte stehen am Krankenbette an ihrem Platz, die Theoretiker gehören auf ihren Katheder, hier ist ihre Stelle, am Krankenbette spielen sie, wie die Erfahrung lehrt, gewöhnlich eine undankbare, ja sogar oft eine lächerliche Rolle. Indessen will ich damit keineswegs gesagt haben, daß der Arzt alles Theoretisieren beiseite legen und bloß auf stete Vermehrung seines Schatzes von Erfahrung bedacht sein soll. Erfahrung ohne Theorie ist blind, nichts ist wahrer als dies. Aber es ist ebenso wahr, daß die Theorie ohne Erfahrung mehr als blind, daß sie tot ist. Erfahrung[108] ohne Theorie macht den Arzt zum Routinier; nur die nach allgemeinen Grundsätzen verarbeitete Erfahrung macht den Arzt zu dem, was er sein soll, zum rationellen Arzt.

Ein solcher rationeller Arzt zu werden, war vom Beginn meiner praktischen Laufbahn an mein stetes Bestreben, und dankbar erkenne ich, daß mir schon meine Lehrer, und besonders Cunsbruch, mit ihrem Beispiel vorangegangen sind. Freilich bin ich weit hinter dem mir vorgesteckten Ziele zurückgeblieben, aber ich darf doch sagen, daß ich demselben immer näher zu kommen gesucht habe. Bin ich kein Arzt geworden wie Boerhaave, Gaub, Richter, Vogel, Keil etc., so ist daran nicht Mangel an Streben, sondern Mangel an Kraft schuld, und vielleicht darf ich noch hinzusetzen, auch Mangel an Gelegenheit, in Gesellschaft fähigerer Menschen als ich dem hohen Ziele schnellern und sicherern Schrittes entgegenzugehen.

Zwar habe ich während der achtzehn Jahre, welche ich in Ludwigsburg zubrachte, mehrere treffliche Ärzte kennengelernt, aber nur von Person wie Peter Frank und den ältern Richter, mit welchen ich bloß einige Worte gewechselt; nur mit wenigen bin ich in nähere Verhältnisse gekommen, und hier stehen Hopfengärtner, Weikard und mein Freund Gmelin in Heilbronn obenan. Was ich Hopfengärtner zu danken hatte, habe ich bereits oben erwähnt. Weikard, den ich in Heilbronn so wie er mich in Ludwigsburg mehrmals besuchte, danke ich vorzüglich, daß er es war, der mich zuerst zum Studium des Brownschen Systems anregte, denn ob ich gleich den Wert dieses Systems am Krankenbette bald zu würdigen wußte, so studierte ich es doch als das Werk eines wahrhaft philosophischen Geistes und als das erste System, von dem man sagen kann, daß es ein echt wissenschaftliches, d.h. aus einem höchsten, obgleich falschen Prinzip hergeleitet war.

Weit wichtiger und lehrreicher als die Bekanntschaft mit Weikard war die Bekanntschaft mit Gmelin für mich. Zwar kannte ich ihn lange zuvor als einen der vorzüglichsten Ärzte Schwabens; aber persönlich lernte ich ihn zufällig in Egolsheim, einem eine halbe Stunde von Ludwigsburg entfernten Dorf, kennen. Ich wußte nicht, wer er sei, aber sein klares schwarzes Auge[109] und der aus ihm hervorleuchtende Blick kündigten mir sogleich einen Mann von Geist an, und wie mir der Wirt auf die Frage, wer der Fremde sei, sagte, es sei der Herr Doktor Gmelin von Heilbronn, so pries ich mich glücklich, meinen Wunsch, ihn persönlich kennenzulernen, so unerwartet erfüllt zu sehen. Ich trat ihm sogleich näher, sagte ihm, wer ich sei, und wenn meine Freude über seine Bekanntschaft groß war, so war es die seinige nicht minder. Wir gerieten alsbald miteinander in ein Gespräch, zuerst über wissenschaftliche Gegenstände überhaupt, bald aber auf sein ehemaliges Lieblingsthema, den sogenannten tierischen Magnetismus. Wie so vieles andere hatte ich auch seine Schrift über diesen Gegenstand gelesen. Ich bezeigte ihm über die Art, wie er denselben behandelt hatte, meinen Beifall, aber ich verhehlte ihm auch zugleich mein Bedenken nicht, ob hinter den wunderbaren Erscheinungen nicht ein Betrug stecke oder ob er sich nicht etwa selbst täusche. »Das ist bald gesagt«, erwiderte er, »aber welcher vernünftige Mensch kann wohl über eine Sache absprechen, ohne sich von ihrer Wahrheit oder Unwahrheit durch selbsteigene Beobachtung überzeugt zu haben? Kommen Sie zu mir nach Heilbronn, und Sie werden bald anders sprechen.« Ich versprach zu kommen, sobald es mir möglich sein würde, und ehe drei Wochen vergangen waren, hatte ich mich bei ihm eingefunden. Er hatte eben eine Patientin in der Kur, welche er für eine der interessantesten hielt, die er bisher manipuliert hatte. Zu dieser führte er mich, weil sich eben die von ihr bestimmte Stunde nahe, wo sie wieder manipuliert werden sollte. Die Patientin schien dem Ansehen nach ganz gesund; aber Gmelin hatte nicht lange manipuliert und die magnetischen Erscheinungen traten alle ein, wie er sie in seinem Buche beschrieben hat. Ich hatte diese Erscheinungen zum erstenmal gesehen, und man kann sich denken, wie erstaunt ich darüber war. »Nun, Freund?« fragte er mich, nachdem wir die Patientin verlassen hatten, »sind Sie noch der ungläubige Thomas? Aber warten Sie nur, bis wir zu Hause sind, und wir werden weiter von der Sache sprechen.« Wir gingen von der Patientin gerade nach Hause, und er hatte sich's kaum bequem gemacht und wie gewöhnlich sein grünes samtnes Käppchen aufgesetzt,[110] so fragte er mich nun ernstlich, was ich, nachdem ich die Erscheinungen nun selbst gesehen, von der Sache halte. »Die Sache ist allerdings sehr merkwürdig«, erwiderte ich, »und ich sehe wohl, daß hier keine Täuschung von Ihrer Seite stattfindet, aber«, wollte ich fortfahren – »Nichts von aber«, entgegnete er, »der Magnetismus ist kein Unding, Sie haben sich davon selbst überzeugt, und nun die Lehre!« Er nahm sein grünes samtnes Käppchen vom Kopf, klopfte mich auf die Schultern und sagte mit der ihm eigenen ironischen Miene:


»Drum rechn Er sich's zur Lehre,

Und werd Er einmal klug.«


Bei Tisch sprachen wir noch viel über die Sache, und das Resultat war, daß ich die Erscheinungen zwar nicht leugne, daß ich aber nicht glauben könne, es liege ihnen eine bis jetzt unbekannte Kraft zum Grunde, sondern vielmehr vermute, das Wunderbare bei der Sache sei bloß eine durch das Manipulieren eigen gerichtete krankhafte Tätigkeit des sympathischen Nervensystems, welche von andern krankhaften Tätigkeiten desselben dem Wesen nach nicht verschieden sei. Dies schien ihm aber zur Erklärung der magnetischen Erscheinungen nicht hinlänglich, und ich reiste nach Ludwigsburg zurück, auf dem ganzen Weg der Sache nachdenkend, aber ohne von den Ansichten meines Freundes überzeugt worden zu sein. Wir kamen in der Folge noch oft zusammen, sowohl in Heilbronn als in Ludwigsburg, und obschon meistens auch von dem tierischen Magnetismus zwischen uns die Rede war, so unterhielten wir uns doch mit ebendem, wo nicht größerem Interesse über andere wissenschaftliche Gegenstände, und überall zeigte er sich mir als einen der denkendsten Köpfe, welche mir in meinem Leben vorgekommen. Was mich aber besonders freute, war, daß ich an ihm einen ebenso großen Verehrer Hopfengärtners fand, als ich einer war. Hopfengärtner, sagte er, sei nächst Gaubius, seinem Lehrer, der größte Arzt, den er kenne, sein Porträt hänge daher auch vor seinem Schreibtisch, und selten versäume er, den Hut vor ihm abzuziehen, wenn er nach Hause komme und in das Zimmer trete.[111]

So schätzbar mir Gmelin als Arzt war, so schätzbar war er mir auch als Mensch wegen seiner Redlichkeit, Offenheit und besonders wegen seines jovialischen Wesens. Auch am Krankenbette konnte er dieses jovialische Wesen nicht verleugnen. Nur bei dem Krankenexamen und bei seinen Ordinationen war er ernst, außerdem folgte er ganz seiner Laune. So wurde er, um nur ein einziges Beispiel anzuführen, einst zu einem reichen Gutsbesitzer auf dem Lande gerufen, dessen Frau gefährlich krank war. Der Gutsbesitzer wußte, daß Gmelin ein Liebhaber von einem guten Glas Wein war, und hatte sich deswegen mit einem Fäßchen vorzüglich guten Weines versehen. Allein Gmelin verschmähte denselben. »Ich trinke ein wenig viel«, sagte er, »und zum Vieltrinken ist dieser Wein zu gut, wir wollen ihn aufsparen, bis die Kranke wieder gesund ist.« Die Frau des Hofrats war wirklich gefährlich krank, und Gmelin selbst zweifelte an ihrem Aufkommen. Als sie ihn über ihren Zustand fragte und zu wissen verlangte, ob derselbe bedenklich sei, weil sie vor ihrem Tod noch manches zu verfügen hätte, so antwortete er: Das sei eine sonderbare Frage, er sehe sie jetzt zum erstenmal, und sie stelle eine Frage an ihn, die er unmöglich beantworten könne, und was die Verfügungen betreffe, welche sie noch zu machen habe, so hätte sie solche längst machen können, damit müsse man nicht warten, bis einem der Tod auf der Zunge sitze, er stehe als ein ganz gesunder Mann vor ihr und habe sein Testament schon vor fünf Jahren gemacht. Jedoch tröstete er sie zugleich mit der Versicherung, daß ihr Tod nicht so nahe sei, und ihrem Mann sagte er, daß er hoffe, die Zeit zum Trinken des guten Weins werde eintreten, ehe er sich's versehe. Bei dem zweiten Besuch fand Gmelin die Kranke schon bedeutend besser und beim dritten außer aller Gefahr. »Nun, Herr Hofrat«, sagte er, »die Zeit ist da, wo wir auf die Gesundheit Ihrer Frau anstoßen wollen, richten Sie nur so viele Gläser her, als Sie im Hause haben, was weiter geschehen soll, werden Sie schon hören.« Dies gesagt, verließ Gmelin das Zimmer, begab sich in die Gärten und auf die Ackerfelder, rief die Arbeiter und Arbeiterinnen zusammen und befahl ihnen, ihm zu folgen. In dieser zahlreichen Begleitung trat er nun zur Verwunderung[112] des Hofrats in das Zimmer. »Wieviel unserer hier sind«, rief er dem Hofrat entgegen, »alle müssen auf die Gesundheit der Frau Hofrätin trinken.« Auf sein Verlangen wurde das Fäßchen auf den Tisch gestellt, die Gläser gefüllt, ausgetrunken und wieder gefüllt, bis das Fäßchen beinahe leer war. Die Arbeiter und Arbeiterinnen gingen hochvergnügt an ihre Geschäfte, der Hofrat und seine Frau erfreuten sich des unvermuteten Spaßes, und der mit Lob und Dank überhäufte Arzt setzte sich in seinen Wagen und fuhr nach Hause.

Eine andere, für mich höchst interessante, aber minder lehrreiche Bekanntschaft machte ich an dem berühmten Ernst Platner, Professor in Leipzig. Ich wußte nichts von seiner Anwesenheit in Stuttgart und las eben seine Abhandlung über die Ansteckung, eine der Abhandlungen, welche er der von ihm besorgten deutschen Übersetzung der de Harnschen Heilungsmethode in dem allgemeinen Krankenhause in Wien angehängt hat. Ich hatte diese Abhandlungen mit dem größten Vergnügen gelesen und war dergestalt von ihnen angezogen, daß ich nichts sehnlicher wünschte, als den Verfasser persönlich kennenzulernen, um mit ihm über seine medizinischen Ansichten überhaupt zu sprechen. Dieser Wunsch war auch jetzt wieder lebendig in mir geworden, und siehe da! in demselben Augenblick ward mir ein Brief von meinem ehemaligen Lehrer, Professor Abel in Stuttgart, gebracht, welcher mir ankündigte, der Überlieferer des Briefes sei der Professor Ernst Platner aus Leipzig, und ich möchte mir ihn während seiner Anwesenheit in Ludwigsburg auf das beste empfohlen sein lassen. Wie schnell ich in den Gasthof eilte, in welchem er abgestiegen war, wie glücklich ich mich schätzte, meinen schon so lange gehegten Wunsch so unverhofft erfüllt zu sehen, kann man sich denken. Beim Eintritt in das Zimmer, in welchem er mich empfing, sah ich einen wohlgewachsenen, schönen Mann mit großen, schwarzen, geistreichen Augen, feiner Nase und überhaupt von einer ausdrucksvollen Miene. Aber im ganzen machte sein Anblick nicht den Eindruck auf mich, den ich erwartet hatte. Sei es, daß ich mir von seiner Gestalt eine andere Vorstellung gemacht hatte, denn ich hatte mir ihn ganz anders vorgestellt, als wie ich ihn fand, oder[113] daß er mich nicht so freundlich empfing, wie ich gehofft hatte, kurz, der Eindruck, den er auf mich machte, hatte nichts Anziehendes für mich. Er schien mir stolz, anmaßend, überhaupt zu eingenommen von sich, um auch andere etwas gelten zu lassen. Indessen suchte ich ihm seine Anwesenheit in Ludwigsburg so angenehm zu machen als möglich, führte ihn überall hin, wo etwas Interessantes für ihn zu sehen war, in das herzogliche Residenzschloß, welches er dem Schlosse in Versailles sehr ähnlich fand, jedoch mit der Bemerkung, daß es viel kleiner sei, in die Porzellanfabrik, in das Zeughaus, in das Irrenhaus usw. Überall machte er mehr tadelnde als lobende Bemerkungen, und am wenigsten schien er mit dem Irrenhaus zufrieden zu sein. Er ließ sich fast alle besetzten Zellen öffnen, nur eine wollte ich nicht öffnen lassen, weil die darin befindliche Wahnsinnige fürchterlich schimpfte. »Lassen Sie immerhin öffnen«, sagte Platner, »ich bekümmere mich nichts um die nicht eingesteckten, viel weniger um die eingesteckten Narren.« Natürlich bekam auch er eine volle Ladung von Schimpfnamen, und es schien doch, es wäre ihm lieber gewesen, die Zelle wäre nicht geöffnet worden. Er verweilte nur einen Tag in Ludwigsburg, und den ganzen Tag brachte ich in seiner Gesellschaft zu, am folgenden Tag reiste er nach Stuttgart zurück. Ehe er sich in den Wagen setzte, zankte er sich mit dem Postillion, und nachdem er abgefahren war, hörte ich einen Kellner des Gasthofes sagen, der Reisende sei ein Arzt, aber um keinen Preis möchte er sich ihm in die Kur geben. – Ich kann nicht sagen, daß er es an Höflichkeit gegen mich hätte fehlen lassen, aber es inkommodierte mich doch, daß er mich bei jeder Gelegenheit merken ließ, daß ich ihm gegenüber ein kleines Licht sei. Ich hatte schon so manchen bedeutenden Mann in dem von Moserschen Hause in Ludwigsburg, wie den Fürsten Primas, den Konsistorialrat Niemeyer usw., kennengelernt, die sich ganz anders gegen mich benommen hatten. Überhaupt bin ich der Meinung, daß einen großen und berühmten Mann nichts mehr ziere als Bescheidenheit, und so groß auch die Verdienste sein mögen, welche sich Platner als Philosoph und als Arzt erworben, so haben doch gewiß auch der prächtige Hörsaal, in welchem er las, und seine Kathederberedsamkeit[114] nicht wenig zu seiner Zelebrität beigetragen, wenigstens scheint dies die Äußerung meines ehemaligen Lehrers Klein, welcher auf einer Reise mit dem Herzog nach Sachsen einer seiner Vorlesungen beiwohnte, vollkommen zu bestätigen. Die Vorlesung handelte von den Temperamenten, und Platner sprach darüber so schön und beredt, daß Klein, wie er sich ausdrückte, Maul und Nase aufsperrte, sowie er aber wieder hinaus in die frische Luft gekommen, es ihm vorgekommen sei, als habe er alles, was Platner auf seinem Katheder vorgetragen, schon vorher gewußt. Soviel ich sonst von dem berühmten Mann gehört hatte, war ihm das vornehme Wesen, welches er bei seiner Anwesenheit in Ludwigsburg zeigte, nicht eigen. Es scheint bloß temporär gewesen und daher gekommen zu sein, daß ihn der Herzog, der ihn gern als Kanzler seiner Karls-Universität gesehen hätte, auf eine solche Art auszeichnete, daß auch der bescheidenste Gelehrte hätte stolz werden müssen. Er lud ihn, was schon an sich eine außerordentliche Auszeichnung war, nach Hohenheim ein; aber diese Auszeichnung wurde noch dadurch erhöht, daß er nicht nur Professoren der Universität, sondern auch zwei Geheimeräte zu seiner Begleitung dahin aufforderte. Die Gelehrten sind überhaupt eitel auf Fürstengunst, und wer will es Platner verdenken, wenn er es auch war.

Später als Platner kam Hufeland auf einer Rückreise von Frankfurt, wo er seine dort verheuratete Tochter besucht hatte, nach Ludwigsburg, aber ich hatte nicht das Glück, ihn persönlich kennenzulernen. Ich war auf einige Tage mit Schelling und Madame Schlegel, seiner nachmaligen Frau, nach Kloster Murrhardt gereist, wo er seinen Vater, den Prälaten daselbst, besuchte. Gerade zu dieser Zeit war Hufeland in Ludwigsburg, und so konnte ich mich seines Besuches nicht erfreuen. Dagegen verweilte er lange bei meiner Frau, welche mir nach meiner Zurückkunft eine solche Schilderung von ihm machte, daß ich es doppelt bereuen mußte, diesen an Geist und Herz gleich ausgezeichneten Mann nicht gesehen zu haben.

Außer den genannten Männern bin ich auch noch mit mehrerern andern bekannt geworden, die mehr oder weniger zu meiner ärztlichen Ausbildung beigetragen haben. Allein das meiste[115] dazu mußte ich selbst tun, und ich weiß nicht, ob es nicht ein Glück für mich war. Ich war dadurch mehr an das Krankenbette gewiesen, ich mußte mehr selbst beobachten, mehr selbst denken, und ich bin gewiß, daß ich nur auf diesem Wege zu der Überzeugung von der großen Wahrheit gelangt bin, daß nicht der Arzt, sondern die Natur die Krankheiten heile, daß der Arzt nicht der Herr, sondern der Diener der Natur sei, und daß sein ganzes Geschäft darin bestehe, sie in ihren Bestrebungen gehörig zu unterstützen und zu leiten. Vorzüglich habe ich mich von dieser Wahrheit bei Epidemien unter dem Landvolk überzeugt, deren ich als Physikus mehrere behandelt habe. Auch die gefährlichsten Kranken habe ich ohne alle Arzeneien und selbst bei der mangelhaftesten, ja verkehrtesten Pflege genesen sehen, und wenn ich diese Erfahrung bei chronischen Krankheiten seltener machte, so liegt es in der Natur dieser Krankheiten, daß sie seltener als die akuten geheilt werden, weil die Naturkraft in ihnen weniger tätig ist und mehr Unterstützung von Seite der Kunst verlangt, welche ihr diese leider in so vielen Fällen nicht zu gewähren vermag. Kurz, derjenige Arzt ist nach meiner Überzeugung am Krankenbette der glücklichste, der bei Behandlung seiner Kranken den Winken der Natur folgt, sie frei walten läßt, wenn er sieht, daß sie auf dem rechten Wege ist, und nur dann tätig einschreitet, wenn sie dieses Einschreitens bedarf. Das war die Hauptmaxime, zu deren unverrückter Befolgung mir vorzüglich Hopfengärtner das Muster gab, und wenn ich vielen Kranken ihrer Meinung nach zu wenig Arzeneien verschrieb und keinen Apotheker reich machte, so schadete mir doch diese Sparsamkeit und die Ungunst der Apotheker bei dem verständigen Publikum nichts. Es hielt sich nicht an die Größe der jährlichen Apothekerrechnungen, wornach nur unverständige Menschen die Geschicklichkeit des Arztes zu beurteilen pflegen, sondern an den Erfolg meiner Kuren, von denen weit die meisten glücklich ausfielen, und ich darf wohl sagen, daß meine Praxis im ganzen ungleich glücklicher war als die Praxis so vieler, ja der meisten Ärzte, die, anstatt auf die Heilung der Krankheit auszugehen, gegen ihre Symptome zu Felde ziehen, für jedes Symptom ein bewährtes Mittel[116] in Bereitschaft haben und ein Quodlibet verschreiben, woraus man zwar ersieht, was der Kranke geklagt hat, aber nicht, was ihm fehlte. Ungescheut kann ich mich hiebei auf das Zeugnis der Orte berufen, in welchen ich praktiziert habe, und es würde überflüssig sein, einzelne Fälle als Beweise dafür aus meinen Tagebüchern anzuführen. Nenne man mich einen Arzt, der per expectationem kuriere, so habe ich nichts dagegen. Die größten Ärzte aller Zeiten haben nicht anders kuriert als ich, und wenn sie anfangs ihrer Praxis die Kranken mit Arzeneien bestürmten, so sind sie doch am Ende derselben


per varios casus et tot discrimina rerum


eben dahin gekommen, wohin ich glücklicherweise früher gekommen bin.

Dieses Glück meiner Praxis machte mir natürlicherweise mein praktisches Leben selbst immer angenehmer, und ich ertrug die mit demselben verknüpften mancherlei Unannehmlichkeiten gern, ob ich schon dieselben früh genug hatte kennenlernen. Allerdings ist der Beruf des praktischen Arztes ein beschwerlicher und mühseliger Beruf, um so beschwerlicher und mühseliger, je geschätzter und gesuchter er ist. Vom Morgen bis zum Abend beschäftigt, kann er selten auf ein paar müßige Stunden rechnen, die er sich selbst, seiner Erholung, seinem Vergnügen widmen kann. Täglich zu neuen Kranken gerufen und keine Stunde sicher, ob er nicht beschickt wird, kann er auch in den angenehmsten Gesellschaften nie ganz vergnügt sein. Selbst in der Nacht, wo er von den Geschäften des Tages ausruhen sollte, wird er sehr oft in seiner Ruhe gestört, und es ist nichts Seltenes, daß er gar nicht zu Bette kommt. In jeder Jahreszeit, bei jeder Witterung, zu jeder Stunde des Tages muß er fort, und nichts entschuldigt ihn, selbst eigenes Übelbefinden nicht immer, wenn er zu Hause bleibt, kurz, er ist im eigentlichen Sinn der Sklave seiner Patienten. Und doch ist dies noch nicht die schlimmste Seite seines Berufs. Der ärztliche Beruf ist auch an sich selbst ein beschwerlicher Beruf. Keiner fordert mehr Nachdenken, keiner mehr fortwährendes Studium, keiner ist mit so viel Sorgen verknüpft, keiner legt wichtigere[117] Pflichten auf, keiner verursacht mehr Unannehmlichkeiten und Verdruß, keiner setzt mehr Tadel, Vorwürfen und Beleidigungen aus, keiner wird so oft mit Undank belohnt, und, was das schlimmste ist, bei dem besten Willen, bei der regsten Tätigkeit, bei der strengsten Gewissenhaftigkeit kann der Arzt die Sachen nicht anders machen. Zum Lesen und Studieren lassen ihm seine praktischen Geschäfte keine Zeit, er muß es entweder unterlassen, oder er muß einen Teil der Nacht dazu verwenden. Die Sorgen um seine Kranken, wenn er nicht ein gefühlloser, bloß um den Lohn dienender Arzt ist, gehen mit ihm zu Bette und stehen am Morgen wieder mit ihm auf. Um seinen Patienten zu dienen, muß er sich selbst vergessen, und indem er andern das Leben zu erhalten bemüht ist, muß er oft sein eigenes wagen. Jedermann maßt sich an, über seine Geschicklichkeit zu urteilen, aber den Wert seiner Kuren können nur Sachverständige richtig schätzen, die Laien urteilen darüber bloß nach dem Erfolg, und während er wegen der gelingenden oft zu hoch gepriesen wird, wird er noch öfter wegen der mißlingenden getadelt, durch Vorwürfe gekränkt oder gar verlästert. – Aber von dieser Schattenseite des ärztlichen Berufs wandte ich mich immer wieder zu seiner Lichtseite, und hier erschien mir alles ganz anders. Die beständige Bewegung und Tätigkeit, worin der praktische Arzt lebt, entschädigt ihn für seine körperlichen Anstrengungen durch eine dauerhaftere, selten gestörte Gesundheit, und die Gewohnheit sichert ihn vor Ansteckung. Die beständige Abwechselung der Gegenstände seiner Tätigkeit, die immer sich ändernden Gestalten der Krankheiten erhalten stets seine Aufmerksamkeit rege, liefern ihm täglich und stündlich neuen Stoff zum Nachdenken und machen, daß wie sein Körper auch sein Geist lebendiger und gesunder bleibt als bei andern Geschäftsmännern, die gleich Gefangenen in ihren Büros sitzen und an den Schreibtisch angeschmiedet sind wie Prometheus an den Felsen. Statt vom Morgen bis zum Abend in toten Akten wie der Rechtsgelehrte zu lesen, liest er den ganzen Tag in dem lebendigen Buch der Natur, sieht und findet in den stets wechselnden Gestalten der Erscheinungen die einfachen ewigen Gesetze der Natur, und während andere Geschäftsmänner[118] sich gewöhnen, ihre Geschäfte je länger, desto mechanischer zu treiben, wird er durch eine jede neue Beobachtung und Erfahrung, die er macht, auf die Spur hoch weiterer geführt. Sein Beobachtungsgeist wird jeden Augenblick auf eine andere Art angeregt und eben durch diese stete Übung immer mehr geschärft. Sein Schatz an Erfahrung wird mit jedem Tage größer, und obschon er in der Kunst, die er treibt, nie auslernt, so nähert er sich doch immer mehr der Meisterschaft in ihr. In seinem Beruf nicht an politische Gesetze und Verordnungen gebunden, bloß den Gesetzen der Natur gehorchend, ist er ein freier Mann, er darf frei denken, frei handeln, frei schreiben. Nur Gott und der Natur ist er von seinem Denken und Handeln Rechenschaft schuldig, und er hat keine Kontrolle als sein Gewissen. – Aber dies sind bloß die Vorteile und Annehmlichkeiten, die ihm seine Wissenschaft gewährt, nicht geringere gewährt ihm seine Kunst. Ihm ist das größte Gut seiner Mitmenschen, ihr Leben, anvertraut. Welcher Beruf kann wichtiger sein als der seinige! Und welche Selbstzufriedenheit, welches frohe Gefühl, welcher reine Genuß von Glückseligkeit, wenn er sich bewußt ist, ihn treu und gewissenhaft erfüllt zu haben! Mag er auch, wenn ihm eine wichtige Kur mißlingt, getadelt, mit Vorwürfen gekränkt, verlästert werden, das Bewußtsein, dabei nichts versehen und zur Erhaltung des Kranken alles getan zu haben, was er nach dem Maß seiner Kräfte vermochte, läßt ihn ruhig bei diesen Kränkungen. Und was sind einige mißlingende Kuren gegen die ungleich größere Zahl der gelingenden, deren sich jeder geschickte und fleißige Arzt zu erfreuen hat? Das Lob, das er für die letztern einerntet, das vermehrte Zutrauen, welches er durch jede neue glückliche Kur gewinnt, der Dank, welchen ihm die Genesenen darbringen, die Freudentränen, welche ihm fließen – welche reiche Entschädigung für den Tadel und die Vorwürfe, welche ihn in unglücklichen Fällen treffen! So ist das praktische Leben des Arztes: des Beschwerlichen, Verdrüßlichen, Kränkenden viel, aber ebenso viel auch des Ermunternden, Erfreulichen, Belohnenden.

Alles dieses habe auch ich in meinem praktischen Leben zur Genüge erfahren, und ich gestehe, daß ich sehr oft in dem Fall[119] war, es zu verwünschen. Aber jede glückliche Kur ließ mich seine Unannehmlichkeiten vergessen und machte mir dasselbe wieder aufs neue lieb. Das Gefühl, Eltern ihre Kinder, Kindern ihre Eltern, Freunde ihren Freunden wiedergegeben zu haben, übertrifft alle angenehmen Gefühle. Aber dieses Gefühl muß auch schadlos halten für das schmerzende Gefühl, welches der leider so häufige unglückliche Erfolg der Kuren, wenn auch gleich ohne Schuld des Arztes, in ihm erregt. Denn wie könnte er es sonst ertragen, daß ihm so oft Kranke sterben, zu deren Rettung ihm kein Opfer zu groß gewesen wäre? Um nur einen Fall dieser Art anzuführen, so kam einst eine Spitzenhändlerin aus Johanngeorgenstadt mit zwei wunderschönen Töchtern nach Ludwigsburg. Sie hatten sich in dem Gasthof »Zum Bären« einquartiert und waren dem Ansehen nach vollkommen gesund angekommen. Aber in einem Landstädtchen, wo sie den Tag zuvor übernachtet hatten, lag in dem Wirtshaus ein kleines Kind tödlich krank an der Ruhr, und ein älteres war zuvor an derselben Krankheit gestorben. Die jüngere Tochter der Spitzenhändlerin, ein Mädchen von achtzehn Jahren, ließ sich nicht abhalten, das kranke Kind zu pflegen. Sie wurde angesteckt, und schon am dritten Tage nach ihrer Ankunft in Ludwigsburg brach bei ihr dieselbe bösartige Ruhr aus und zeigte gleich in den ersten paar Tagen ihren bösartigen Charakter. Ich tat alles mögliche, sie zu retten, aber der schnell eintretende Brand machte alle Hülfe fruchtlos. Schon der Gedanke, daß dieses schöne, in voller Jugend blühende Mädchen sterben soll, hatte mich auf das tiefste ergriffen, aber wie mich die dem Tode nahe Kranke mit ihren eiskalten Armen umklammerte, mich zu sich niederzog, in dieser Lage mehrere Minuten lang festhielt und mit brechendem Blick und matter Stimme mich um Rettung bat, nie werde ich vergessen, welche Qual ich da ausgestanden, und wie könnte ich es vergessen? Aber das war noch nicht alles. Ein Kind des Wirts, mit welchem die Wärterin desselben in dem Augenblick des Verscheidens des Mädchens in die Türe des Zimmers trat, wurde sogleich angesteckt und starb schon am folgenden Tag. Ebenso wurde auch die Schwester der Verstorbenen angesteckt, und noch ehe die jüngere begraben war,[120] lag auch sie schon gefährlich krank, und alle Hoffnung zu ihrer Rettung war verschwunden. Bloß die Mutter war noch gesund, und sie vor dem gleichen Schicksal zu sichern, wußte ich kein anderes Mittel, als sie so viel Burgunderwein trinken zu lassen, daß sie in einem beständigen Taumel blieb, bis auch die ältere Tochter begraben war. Ob ich recht getan habe, will ich nicht entscheiden; aber der Erfolg entsprach meiner Erwartung, die Mutter blieb unangesteckt und reiste gesund von Ludwigsburg ab. Nach zwei Jahren kam sie mit einer dritten ebenso schönen Tochter wieder nach Ludwigsburg. Sie besuchte mich mit derselben gleich nach dem Tag ihrer Ankunft und erzählte mir, daß ihre verstorbene jüngere Tochter beim Hereinfahren in die Stadt ausgerufen habe: Welche schöne Stadt, hier möchte ich sterben! Auch sagte sie mir, daß sich ein Tagebuch von ebendieser Tochter vorgefunden, in welchem mehrere ernste Betrachtungen über den Tod gestanden, deren einer die Bemerkung beigefügt gewesen, daß sie zu Gott hoffe, er werde sie in der Unschuld ihrer Jugend sterben lassen. – Ich könnte noch mehr solche Fälle anführen, aber es mag an diesem einzigen genug sein, zu beweisen, wie wenig sich der Arzt des Glückes seiner Praxis freuen darf, da es ihm so oft durch solche schauderhafte Fälle getrübt wird.

Außer dem Geistlichen kommt niemand in eine so nahe Berührung mit dem Publikum als der Arzt, und auch darin sind beide einander gleich, daß ihnen alles daran gelegen sein muß, auch Freunde der Familien zu sein, die sich ihnen anvertrauen, und als solche von ihnen erkannt zu werden. Dem Arzt ist dieses leicht, denn jeden, den er glücklich geheilt hat, hat er sich dadurch zum Freund gemacht, und es kommt nur darauf an, daß er sich wirklich als einen Freund der Familie beträgt, um ihr Vertrauen in ebendem Grad zu erwerben, als wenn er selbst ein Glied derselben wäre. Wieviel dies zum Glück der Praxis beiträgt, ist leicht einzusehen. Wo Vertrauen zu dem Mann ist, da ist auch Vertrauen zu dem Arzt, und welcher Arzt weiß nicht, daß das Vertrauen, das die Kranken in ihn setzen, oft weit mehr zu ihrer Genesung wirkt als alle Arzeneien, die er ihnen verordnet. Aber dieses Vertrauen äußert sich auch bei[121] allen wichtigen Familienangelegenheiten, worüber man den ärztlichen Freund ebenso zu Rat zieht als den Beichtvater, ja er darf sogar seinen Rat ungebeten erteilen, und wenn es auch die wichtigsten Angelegenheiten sind, über welche beraten werden soll. Auch hierüber habe ich Erfahrungen genug gemacht, und ich weiß wenig Fälle, wo mein Rat nicht dankbar anerkannt worden und unbefolgt geblieben wäre. Ich habe Irrungen gehoben, die nicht zu heben schienen, Mißverständnisse ausgeglichen, die in Feindschaften auszuarten drohten, Streitigkeiten vermittelt, die die ernsthaftesten Händel fürchten ließen. Ich habe Verbindungen aufgelöst, welche ich, obschon sie zum schönsten Glück zu führen schienen, für unheilbringend hielt. Zum Beweis hiervon will ich nur einen einzigen Fall anführen. Einer noch nicht lange verheurateten jungen Dame war ihr Mann, ein Offizier, beim Auswechseln von Kriegsgefangenen im Rhein ertrunken. Sie war zum erstenmal schwanger und ihrer Entbindung nahe, und ich ward von ihren Schwiegereltern, bei welchen sie wohnte, beauftragt, ihr die Nachricht von dem Todesfall beizubringen. Ich übernahm den Auftrag mit schwerem Herzen, doch gelang es mir, ihn ohne nachteilige Folgen für die Dame zu erfüllen. Sie wurde bald darauf entbunden von einem Mädchen, aber das Kind lebte nur ein paar Monate. Sie war also wieder frei und konnte nach vollendeter Trauerzeit wieder heuraten. Da die junge Witwe, deren Vater als Offizier im Felde stand und die Mutter nicht mehr lebte, nicht in ihr elterliches Haus zurückkehren konnte, so mußte sie bei den Schwiegereltern bleiben und da ihr weiteres Schicksal erwarten. Nun begaben sich die Armeen in ihre Winterquartiere, ein österreichisches Regiment quartierte sich in der Umgegend von Ludwigsburg ein, und der Oberst des Regiments nahm sein Quartier in einem eine Stunde von Ludwigsburg entfernten Marktflecken. Er kam gewöhnlich alle Nachmittage in die Stadt, machte Bekanntschaft mit den Offizieren der dortigen Garnison und so auch mit dem Schwiegervater der jungen Witwe, einem württenbergischen Oberstlieutenant. Hier sah er nun die schöne junge Witwe, kam ihr zulieb öfter ins Haus, bei jedem Besuch gefiel sie ihm besser,[122] endlich verliebte er sich förmlich in sie und machte ihr Anträge zu einer Heurat. Der Oberst war ein geborner ungarischer Graf und ein sehr reicher Mann. Niemand war daher froher über den Antrag des Obersten als die Schwiegereltern der Witwe. Sie brachten die Schwiegertochter, deren Verbindung mit ihnen durch den Tod des Kindes gelöst worden, nicht nur aus dem Haus, sondern sie sahen sie auch auf das beste versorgt. Aber aus der Heurat wurde nichts, und schuld daran war ich. Der Oberst wurde von einem Gallenfieber befallen und ich zu ihm gerufen. Er war ziemlich krank, doch genas er bald, und das erste nach seiner Wiedergenesung war, die schöne junge Witwe in Ludwigsburg zu besuchen. Aber ich hatte den Obersten während seiner Krankheit näher kennengelernt, ich hatte mich überzeugt, daß er ein roher, brutaler, hartherziger, grausamer Mensch sei, und ich war fest entschlossen, ihn als einen solchen der jungen Witwe zu schildern und ihr zur schleunigen Auflösung ihres Verhältnisses mit ihm zu raten. Dies mußte sobald wie möglich geschehen, und ich säumte daher nicht, bei der nächsten Gelegenheit, die sich mir darbieten würde, mit ihr über die Sache zu sprechen. Glücklicherweise traf ich sie einmal ganz allein, und ich hatte mich kaum neben sie auf den Sofa gesetzt, so fing ich das Gespräch mit der Frage an, ob sie mit dem österreichischen Oberst bereits in einem nähern Verhältnis stehe. Errötend bejahte sie die Frage und vertraute mir, daß er ihr bereits ernstliche Heuratsanträge gemacht habe. »Und Sie wollen diesen Oberst wirklich heuraten?« fragte ich weiter. Sie antwortete nicht, und ich fuhr fort: »Diesen Oberst heuraten? Nein! das sollen und können Sie nimmermehr tun.« Sie war in der größten Verlegenheit; aber ruhig hörte sie meine Schilderung von dem Oberst an, dankte mir für meine gute Gesinnung gegen sie, versprach, dem Oberst nichts von meiner Schilderung von ihm zu sagen, ebenso auch nichts ihren Schwiegereltern, die Sache sei für sie von der größten Wichtigkeit, und sie wolle sie wohl überlegen, als unvermutet der Oberst in das Zimmer trat. »Da ist der Mann, gnädige Frau«, rief er aus, »der kennt mich am besten, und der soll Ihnen sagen, wie ich bin.« – »Es ist schon geschehen«, erwiderte ich, nahm meinen[123] Hut und Stock und ging fort. Meine Schilderung von dem Oberst hatte ihre Wirkung bei der jungen Witwe nicht verfehlt. Sie brach ihr Verhältnis mit demselben gänzlich ab, und niemand konnte begreifen, warum. Denn sie war verständig und edel genug, mich nicht zu verraten. Wie ergrimmt der Oberst und wie ärgerlich die Schwiegereltern waren, läßt sich leicht denken. Aber was geschah? Um den Vorwürfen der Schwiegereltern zu entgehen, reiste die junge Witwe zu ihrer Schwester nach Pforzheim, lernte dort einen badischen Forstmeister kennen und gefiel diesem so, daß er sie um ihre Hand bat und bald darauf heuratete. Niemand war darüber mehr erfreut als ich, denn ich hatte eigentlich diese Heurat gestiftet. Die Ehe war die glücklichste, die man sich denken konnte, und die Frucht derselben waren zwei schöne liebenswürdige Knaben, von denen der jüngere schon drei Jahre alt war, als die Frau mit ihrem Gemahl ihre Schwiegereltern in Ludwigsburg besuchte. Ich wußte nichts von den Gästen, als ich bei einem zufälligen Besuch bei den Schwiegereltern sie ganz unvermutet antraf. Beim Eintritt in das Zimmer erkannte mich die Frau sogleich, eilte mit offenen Armen auf mich zu, umarmte mich, küßte mich, ja bedeckte mich mit Küssen. Die Schwiegereltern stutzten, dem Gemahl war das Betragen seiner Gemahlin ein Rätsel. Aber bald ward ihm das Rätsel gelöst. »Hier, lieber Mann«, sagte sie, von mir sich zu ihm wendend, »hier stelle ich dir einen meiner besten Freunde, ja meinen größten Wohltäter vor, es ist der Mann, dem ich dich und unsere lieben Kinder zu danken habe, umarme und küsse auch du ihn.« Es geschah, herzlich umarmte und küßte mich der edle Mann, und nun erzählte sie ihren Schwiegereltern, wie sie auf meinen Rat ihr vormaliges Verhältnis mit dem österreichischen Oberst abgebrochen habe und wie sie mir für meinen Rat nicht genug danken könne. Aber ich bedurfte keines Danks, mein schönster Lohn war die gute Tat und ihr glücklicher Erfolg, und die Erinnerung daran rechne ich zu den schönsten Erinnerungen meines ganzen Lebens.

Diese Geschichte führt mich wieder in mein geselliges und häusliches Leben zurück; ich fahre daher in der Schilderung[124] desselben weiter fort und spreche billig zuerst von meinem häuslichen Leben. Meine Frau war zum erstenmal guter Hoffnung und ihrer Entbindung nahe. Sie erfolgte im Julius 1787, und das Kind, das sie gebar, war ein gesundes, wohlgebildetes, munteres Mädchen. Wie groß unsere Freude über unser erstgeborenes Kind, wie groß die Freude unserer beiderseitigen Eltern über ihren ersten Enkel war, läßt sich denken. Aber die größte Freude bezeigte sichtbar der Vater meiner Frau, indem er bei der Nachricht von der glücklichen Entbindung seiner Tochter ausrief: »Nun, Gott sei Dank, so gehen mir doch die Kinder, die schönste Freude meines Lebens, nicht aus!« Meine Frau konnte das Kind, aller gemachten Versuche ungeachtet, nicht selbst stillen, aber die unermüdete sorgsame Pflege der Mutter ersetzte den Mangel der mütterlichen Nahrung. Das Kind gedieh vortrefflich, und nach Verfluß von anderthalb Jahren war meine Frau abermals guter Hoffnung. Aber ihr Vater erlebte die Geburt seines zweiten Enkels, eines Sohnes, nicht mehr. Vom Schlag getroffen, starb der brave Mann in seinem siebenundvierzigsten Jahr, bedauert von der ganzen Stadt und nie vergessen von den Seinigen. Auch der im September 1790 geborene Sohn konnte von der Mutter nicht gestillt werden, aber er gedieh nicht weniger als seine Schwester bei der künstlichen Ernährung. Nach der Geburt dieses Knaben blieb unsere Ehe ohne weitere Frucht. Was aus beiden Kindern geworden, werde ich in der Folge sagen, jetzt wende ich mich von meinem häuslichen Leben zu meinen geselligen Verhältnissen.

Mit der Vermehrung meiner ärztlichen Praxis erweiterte sich natürlich auch der Kreis meiner Bekanntschaften und ebenso auch der Bekanntschaften meiner Frau. Schon unverheuratet hatte sie mehrere vertraute Freundinnen, die es auch nach ihrer Verheuratung blieben. Verheuratet gewann sie ihrer noch mehrere, deren Männer auch meine Freunde waren. Zu diesen neuen Freundinnen gehörten vorzüglich die Frau des Fabrikdirektors Weisser in Ludwigsburg, auch von mir wegen ihres Verstandes und ihres sanften einnehmenden Betragens hochgeschätzt –, die Frau von Notter geborene von Naso, die[125] ich schon als Kind wegen ihres sanften Charakters sehr lieb hatte und die mir auch als Frau wegen ihrer mir nie in einem solchen Grade vorgekommenen Weiblichkeit stets eine meiner liebsten Freundinnen blieb –, die Frau des Freiherrlich von Kniestädtischen Konsulenten Mader, ein kleines, unansehnliches, beim ersten Anblick nicht viel versprechendes Weibchen, aber um so interessanter, wenn man sie näher kannte, weil sie wirklich eine ebenso gebildete als herzensgute Frau war –, die Frau des Pfarrers Christmann, meines schon früher genannten Freundes, eine ebenfalls durch Geist und Herz wie durch ihre schöne Figur und angenehme Gestalt sich auszeichnende Frau –, die Frau des Oberamtmannes Eisenbach in Bietigheim, einer zwei Stunden von Ludwigsburg entfernten Landstadt, eine in jeder Beziehung vorzügliche Frau und die intimste Freundin der meinigen bis zu ihrem Tod.

Von meinen zu dieser Zeit gewonnenen neuen Freunden nenne ich vorzüglich den oben erwähnten Konsulenten Mader in Heutingsheim, den Oberamtmann Eisenbach in Bietigheim, den Doktor Bunz und den Diakonus Conz in Ludwigsburg. Mit Mader und Eisenbach wurde ich zufällig bekannt, aber unsere Bekanntschaft verwandelte sich bald in Freundschaft, und ich darf wohl sagen, daß ich diese beiden zu meinen geliebtesten Freunden zähle, die ich in meinem Vaterland gehabt habe. Mader besuchte ich alle Wochen wenigstens einmal und meistens mit meinem Freund Bunz, seltener mit meiner Frau, weil sie nicht so oft von Hause abwesend sein konnte, als sie mit ihrer Freundin Mader zusammenzukommen wünschte. Mit Eisenbach kam ich zwar wegen der größern Entfernung Bietigheims von Ludwigsburg weniger oft zusammen als mit Mader, zu welchem ich nur eine kleine Stunde zu gehen hatte, aber die Besuche bei ihm waren mir noch interessanter als bei Mader, nicht allein weil ich ihn seltener sah, sondern auch weil er ein sehr guter Kopf und ein vielseitiger ausgebildeter, ja ein eigentlich gelehrter Mann war, von dem ich nie wegging, ohne etwas gelernt zu haben.

Mit Doktor Bunz und Diakonus Conz kam ich sehr oft zusammen, nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Lande,[126] indem auf meinen Spaziergängen gewöhnlich einer von ihnen mein Begleiter war, Bunz nach Heutingsheim zu unserem gemeinschaftlichen Freund Mader, Conz nach einem Brückenhaus am Neckar bei Neckarweihingen, meinem liebsten Ort in der Umgegend. Bunz war ein sehr guter Kopf, reich an Kenntnissen überhaupt und besonders an juridischen, und was mir seinen Umgang besonders wert machte, war die Übereinstimmung seiner politischen Ansichten mit den meinigen. – Als Gelehrter und Dichter ist Conz allgemein bekannt, ich sage daher von ihm nur, daß er auch als Mensch wegen seiner Herzensgüte und wegen seines wahrhaft kindlichen Sinnes wenig seinesgleichen hatte. Solche kindliche Menschen leben gewöhnlich ganz in ihrer Gedankenwelt und wissen nicht, was in der wirklichen vorgeht. So auch Conz, und zum Beweis desselben mag folgende Anekdote dienen. Als er als Diakonus nach Ludwigsburg kam, hatte er nur ein einziges Kind, einen Knaben von fünf bis sechs Jahren. Diesen Knaben zu einem vollkommen vorurteilslosen Menschen zu erziehen, war sein Hauptaugenmerk, und seine größte Sorge war, daß ihm über keinen Gegenstand falsche Begriffe beigebracht werden sollen, und besonders sollte er nie von dem Teufel etwas hören. Ich sagte ihm, daß dies unmöglich sei und was insbesondere den Teufel betreffe, so dürfe er den Knaben nie aus dem Hause lassen, weil es täglich geschehen könne, daß er auf der Straße den einen zu dem andern sagen höre, der Teufel solle ihn holen. Conz beharrte auf seinem Grundsatz, und als wir eines Tages wieder über dieses Thema sprachen, sprang der Knabe in das Zimmer und rief: »Vater, ich habe den Teufel gesehen.« – »Was? Wo?« rief ihm der Vater entgegen. »In einem Buch«, erwiderte der Knabe, »aber der hat Hörner, größer als ein Bock, und einen Schwanz, länger als eine Kuh.« Der Vater war so erstaunt, als ob der Knabe den Teufel leibhaftig gesehen hätte. Ich konnte das Lachen nicht halten und sagte: »Da sehen Sie, Freund, was das Behüten und Bewahren hilft, jetzt hat Ihr Eduard den wahren Begriff von dem Teufel.« Conz war nur in seiner literarischen Welt zu Hause, in der gemeinen war er ein Fremdling, und weil er glaubte, alle Menschen seien so gut und kindlich wie er, so verging[127] selten ein Tag, wo er sich nicht in seiner guten Meinung von den Menschen betrog. – Conz und alle jene genannten Freunde leben nicht mehr, aber unvergeßlich bleiben sie mir, solange ich lebe.

Bei dieser Gelegenheit muß ich noch eine Bekanntschaft erwähnen, welche zwar nicht zu einem eigentlichen freundschaftlichen Verhältnis ausgebildet, aber in anderer Rücksicht sehr interessant für mich war. Es war die Bekanntschaft mit dem damaligen Kommandanten der Festung Hohen-Aschberg, dem wegen seines schrecklichen Schicksals nicht allein in Württenberg, sondern auch im Ausland berühmt gewordenen General von Rieger. Es ist derselbe, dessen Geschichte Schillern zu dem interessanten Aufsatz in seinen kleinen prosaischen Schriften »Spiel des Schicksals« den Stoff gegeben hat. Ich hatte diesen nicht allein wegen seines Schicksals, sondern auch wegen seines Charakters merkwürdigen Mann schon früher einigemal in der Akademie in Stuttgart gesehen, aber nie gesprochen. Näher bekannt mit ihm wurde ich erst später aus Gelegenheit einer Komödie, welche er auf der Festung Hohen-Aschberg aufführen ließ. Er hatte nämlich teils aus Langerweile, teils aus Eitelkeit daselbst unter der Direktion des damals noch gefangensitzenden Schubarts ein Theater einrichten lassen, auf welchem teils andere Gefangene, teils Soldaten von der dortigen Garnison spielen mußten. Sooft gespielt wurde, lud der General nicht allein von Ludwigsburg, sondern auch von Stuttgart mehrere Personen ein, die aus Gefälligkeit gegen ihn gewöhnlich der Einladung folgten. Nun fügte es der Zufall, daß ich an einem solchen Komödientag eben in dem am Fuß der Festung gelegenen Dorf Aschberg Kranke zu besuchen hatte, und als ich den Wirt, bei dem ich abgestiegen, um die Ursache fragte, warum so viele Equipagen auf die Festung führen, so erfuhr ich, daß der Geburtstag des Generals sei und daß zur Feier desselben auch Komödie gespielt werde. Schon früher begierig, einmal eine solche Komödie zu sehen, begab ich mich auf die Festung, wurde ohne Schwierigkeit in das Theater eingelassen und kam zufällig in die Nähe des Generals zu sitzen. Dieser kannte mich nicht, und er schien auch weiter keine Notiz[128] von mir zu nehmen. Allein nun rollte der Vorhang auf, und heraus trat einer der Schauspieler als Prologus, der ein von Schubart verfaßtes Gedicht, worin dem General zu seinem Geburtstag Glück gewünscht wurde, hersprach. Das Gedicht begann mit der Anrede an den General: Edler Rieger! Schon bei dieser Anrede klatschte nicht nur der General, sondern er rief auch: Da capo!, und die Worte: Edler Rieger! wurden wiederholt. Bei der Aufführung des Stücks selbst klatschte der General mehrmal bei jeder Szene, nicht den Schauspielern, sondern sich selbst, als dem Schöpfer des Theaters, und es ist natürlich, daß, um seiner Eitelkeit zu schmeicheln, alle Zuschauer ihm nachklatschten. Auch ich klatschte mit, ja ich überbot die andern, mehr um sie zu beschämen, als der Eitelkeit des Generals zu schmeicheln. Indessen erregte mein übermäßiges Klatschen die Aufmerksamkeit desselben so, daß er einen neben ihm sitzenden Herrn fragte, wer ich sei. Dieser kannte mich, und hatte mich der General schon vorher öfter angesehen, so tat er es jetzt, nachdem er meinen Namen erfahren hatte, noch viel öfter; ich aber, um nicht von ihm angeredet zu werden, schlich mich weg, sobald die Komödie zu Ende war. Aber dies half mir nichts. Gleich am Morgen des folgenden Tages erhielt ich von dem General einen Brief, in welchem er mir für meinen Besuch seines Theaters dankte, sich glücklich pries, daß ein Mann von so feinem Geschmack sein Theater eines Besuchs gewürdiget habe, und mich einlud, auch ihn selbst, um näher mit mir bekannt zu werden, öfter zu besuchen. So ungern ich es tat, so konnte ich doch nicht umhin, dieser Einladung zu folgen, zumal da ich öfter in dem Dorf Aschberg Geschäfte hatte. So wurde ich nun bald näher mit ihm bekannt, und sooft ich ihn besuchte, lud er mich nicht nur wieder aufs neue ein, sondern er bat mich auch, von meinen Freunden mitzubringen, welche ich wollte, besonders aber wünschte er Schillern, den Verfasser der »Räuber«, von welchem er wußte, daß er mich öfters von Stuttgart aus besuche, persönlich kennenzulernen. Ich versprach, daß dies gleich bei seinem nächsten Besuch geschehen solle, und der General, um sich den Besuch Schillers zu einem Fest zu machen, forderte Schubart, der Schillern auch noch nicht persönlich[129] kannte, zu einer Rezension der »Räuber« auf, welche er ihm, als einem Fremden, vorlesen sollte. Schubart war mit seiner Rezension fertig, Schiller kam, wir begaben uns auf die Festung, der General, hocherfreut über den Besuch Schillers, überhäufte ihn mit Höflichkeiten, und nun wurden wir zu Schubart geführt. Abgeredetermaßen wurde diesem Schiller unter dem Namen eines Doktor Fischer vorgestellt und, sobald die erste Begrüßung vorbei war, von dem General das Gespräch auf die »Räuber« geführt. Der angebliche Doktor Fischer sagte, daß er den Verfasser genau kenne und sehr wünschte, das Urteil Schubarts über das Stück zu hören. Da fiel der General plötzlich ein: »Sie haben ja«, sagte er, sich zu Schubart wendend, »eine Rezension der ›Räuber‹ verfaßt; wollen Sie nicht die Gefälligkeit haben, sie dem Herrn Doktor vorzulesen?« Schubart holte sein Manuskript, las, ohne zu ahnen, daß der Verfasser der »Räuber« vor ihm stehe, die Rezension vor, und als er am Schlusse der Rezension den Wunsch äußerte, daß er den großen Dichter persönlich kennen möchte, sagte ihm Rieger, indem er ihn auf die Schulter klopfte: »Ihr Wunsch ist erfüllt, hier steht er vor Ihnen.« – »Ist es möglich?« rief Schubart frohlockend aus, »das ist also der Verfasser der ›Räuber‹!« Dies gesagt, fiel er Schillern um den Hals, küßte ihn, und Freudentränen glänzten in seinen Augen. Rieger war hocherfreut über das Gelingen der Überraschung, welche er Schubart bereitet hatte. Schiller und ich verließen vergnügt die Festung und gedachten in der Folge noch oft dieser Szene.


Unter den vielen Fremden, welche ich von Zeit zu Zeit in Ludwigsburg kennenlernte, erwähne ich vorzüglich des gelehrten und berühmten Buchhändlers Friederich Nicolai aus Berlin, des unter dem Namen Stilling bekannten Augenarztes Jung, der Tochter des holländischen Gouverneurs van de Graaf auf dem Vorgebirge der Guten Hoffnung, eines neapolitanischen Grafen Luchesi, eines Engländers namens Derolles, einer Gräfin Lubinska aus Wien und eines Fräuleins von Gemmingen aus Rappenau, einem in der Gegend von Heilbronn gelegenen adeligen Gute.

Von dem Buchhändler Nicolai hatte ich schon als Zögling[130] der Akademie in Stuttgart einen hohen Begriff, weil ich, was man sonst nicht leicht von Buchhändlern hört, gar viel von seiner großen Gelehrsamkeit sprechen hörte; aber dieser hohe Begriff wurde noch mehr gesteigert durch meine Freunde Pauly und Stoll, die mich besonders auf die Verdienste aufmerksam machten, welche er sich um die Theologie erworben, indem seine »Allgemeine deutsche Bibliothek« den Hauptanstoß zu der nachmals so rasch fortschreitenden Aufklärung in derselben gegeben habe. Ich war noch unverheuratet, als er nach Ludwigsburg kam, und weil ich als praktischer Arzt damals noch wenig zu tun hatte, so konnte ich fast den ganzen Tag um ihn sein. Ich begleitete ihn daher nebst einigen an dern Freunden überallhin, wo es etwas Interessantes für ihn zu sehen gab, und da ihn alles, auch manches, was andere Reisende nicht interessiert hätte, interessierte, so wollte er überallhin geführt sein; damit er aber auch nichts von dem Gesehenen und Gehörten vergesse, schrieb er alles, was ihm merkwürdig schien, teils sogleich an Ort und Stelle, teils auf der Straße, gehend und stillstehend, auf. Dieses Benehmen, welches ihm mehr das Ansehen eines mit Konsignierung der Einwohnerschaft oder sonst mit etwas dergleichen beauftragten Polizeibeamten als eines Reisenden gab, fiel natürlich jedermann auf, und auch uns, die wir ihn zunächst begleiteten, würde es nicht minder aufgefallen sein, wenn wir nicht gemerkt hätten, worauf es mit dem Aufschreiben abgesehen sei. Wir vermuteten, der gelehrte Buchhändler sammle Materialien zu einer Reisebeschreibung; wir hatten richtig vermutet, die Reisebeschreibung erschien wirklich, und wie klug der Verfasser getan habe, einen so großen Vorrat von Materialien dazu zu sammeln, zeigt das Voluminöse derselben, wodurch er einen doppelten Zweck erreichte, den einen als Gelehrter, indem er seinen literarischen Ruf vermehrte, den andern als Buchhändler, indem ihm von dem Publikum seine Reisekosten doppelt und dreifach vergütet wurden. Er war ein langer hagerer Mann, von ernstem, finsterem Angesicht, den man nicht liebgewinnen, sondern bloß wegen seiner Gelehrsamkeit, als einer bei Buchhändlern seltenen Erscheinung, achten konnte.[131]

Die Bekanntschaft mit Stilling machte ich in dem von Moserschen Hause, wo ich ihn von ungefähr antraf. Gleich sein erster Anblick machte einen angenehmen Eindruck auf mich, und wie ich ihn am folgenden Tag bei dem würdigen Schullehrer Hartmann, dem Vater des in Mitau zu frühe verstorbenen Professors Hartmann, länger sah, gewann ich ihn wirklich lieb. Ich unterhielt mich lange mit ihm über Augenheilkunde und über seine Staroperationen, und weil die Gesellschaft, die ihm zu Ehren eingeladen worden, größtenteils aus Frommen bestand, so betraf die Unterhaltung vorzüglich religiöse Gegenstände. Natürlich sprach ich auch mit, und weil ich zu einer Gesellschaft von Frommen geladen war, so hielt mich Stilling auch für einen Frommen, und wie die wirklich Frommen bekam auch ich beim Abschied den Bruderkuß, und zwar hinter das rechte Ohr, von ihm.

Die Tochter des holländischen Gouverneurs van de Graaf kam bloß auf einer Durchreise nach Ludwigsburg und befand sich bei ihrer Ankunft unpäßlich. Als Arzt in dem Gasthof, in welchem sie abgestiegen, wurde ich zu ihr gerufen und fand eine junge, sehr schöne und freundliche Dame. Ihre Unpäßlichkeit war von keiner Bedeutung, und sie konnte nach zwei Tagen wieder weiterreisen. Vor ihrer Abreise erhielt ich einige Flaschen des besten Constantiaweins von ihr zum Geschenk, und ich erwähne dieses Geschenkes deswegen, weil ich den köstlichen Wein mit Schiller, dessen Besuch in Ludwigsburg mich im folgenden Jahr erfreute, zusammen trank.

Der Graf Luchesi, ein schon ältlicher Mann, wurde ebenfalls auf einer Durchreise in Ludwigsburg krank. Ich wurde zu ihm gerufen, und weil ich mir viele Mühe mit ihm gab und ihn bald wiederherstellte, faßte er eine so hohe Meinung von meiner Kunst, daß er mich zum Leibarzt der Königin von Neapel, bei welcher er sehr viel zu gelten schien, empfehlen wollte.

Der Engländer Derolles hatte sich mehrere Jahre in der Schweiz aufgehalten, wo er in Lausanne mit Gibbon, dem berühmten Verfasser der »Geschichte des Verfalls und Untergangs des Römischen Reiches«, lange in genauer Verbindung gelebt hatte. Er zog nach Ludwigsburg aus Furcht vor den Franzosen, welche in die Schweiz einzudringen droheten. Seine[132] Frau, eine geborene Schweizerin, war eine große, schöne, liebenswürdige Dame, er aber finster, leidenschaftlich und in seinem Betragen ein wahrer Engländer. Er hatte nur ein einziges Kind, einen Knaben von fünf bis sechs Jahren, der von Geburt an ziemlich krumme Beine hatte. Der Knabe hatte die Blattern noch nicht gehabt und sollte von mir geimpft werden. Es geschah, die Impfung hatte den besten Erfolg, der Knabe hatte zwar sehr viele Blattern bekommen, und weil er ziemlich krank war, so hatten die Eltern große Sorge um ihn, die um so größer war, da sie sich außerordentlich vor dieser Krankheit gefürchtet hatten. Aber die Krankheit ging glücklich vorüber, und die Eltern konnten ihre Freude über die Genesung ihres einzigen Kindes nicht genug ausdrücken. Allein um so mehr bedauerten sie jetzt, daß der Knabe krumme Beine habe, und auf die Frage, ob nicht auch diesem Übel abgeholfen werden könne, empfahl ich ihnen einen ausgewanderten Franzosen namens Philippe, einen sehr geschickten Mechaniker, der durch seine zweckmäßigen Maschinen schon viel in solchen Fällen geleistet hätte. Sogleich entschlossen sie sich, den Mechaniker kommen zu lassen. Der Mechaniker besah und maß die Beine des Knaben, verfertigte seine Bandagen, legte sie an, und es waren noch nicht vier Wochen vorüber, als die Beine schon merklich gerader geworden waren. Endlich waren sie beinahe ganz gerade, die Bandagen konnten weggelassen werden, und Derolles verlangte nun von dem Mechaniker den Konto. Seine Forderung von zehn Karolin schien dem reichen Engländer viel zu groß. Er schrieb ihm daher einen äußerst groben Brief, und kaum hatte Philippe den Brief erhalten, als er mit brennendem Gesicht zu mir gelaufen kam und fragte, was er auf diesen impertinenten Brief antworten solle. »Gar nichts«, erwiderte ich, »ich nehme die Sache auf mich, und ich stehe Ihnen dafür, daß Sie die zehn Karolin erhalten, nur müssen Sie mir Zeit lassen.« Seit dem Abgang des Briefs an Philippe war ich öfters bei Derolles gewesen, allein nie hatte er denselben mit einer Silbe erwähnt. Ich wartete acht, ich wartete zehn Tage, aber Derolles beobachtete dasselbe Stillschweigen. Endlich ward mir die Zeit zu lange, und nach Tisch, als der Knabe auf seinen[133] geraden Beinen in das Zimmer trat, fragte ich Derolles, ob es ihn nicht herzlich freue, seinen Knaben jetzt mit so graden Beinen einherschreiten zu sehen. »Apropos«, erwiderte er, »wissen Sie wohl, wieviel der Franzose für seine Bandagen gefordert hat? Können Sie es glauben, zehn Karolin für das Paar lederne Riemen und das Paar stählerne Schnallen?« – »Das ist wohl viel«, entgegnete ich, »aber nur dem Anschein nach. Setzen Sie den Fall, die Beine des Knaben seien noch so krumm wie vorher, Sie wüßten aber aus Erfahrung, der Franzose könne krumme Beine gradmachen, Sie hätten ihn rufen lassen, allein er hätte erklärt, daß er die Kur nicht unternehme, wenn Sie ihm nicht dreißig Karolin vorausbezahlten, hätten Sie ihm diese dreißig Karolin nicht mit Vergnügen vorausbezahlt?« Der Engländer stutzte, besann sich einige Augenblicke und sagte dann: »Sie haben recht, ich hätte es getan, und der Franzose soll statt zehn dreißig Karolin erhalten.« Der Engländer hielt Wort, statt der verlangten zehn erhielt Philippe dreißig Karolin, statt des frühern groben Briefes erhielt er einen äußerst höflichen, ja er wurde überdies zu Tisch geladen und mit Höflichkeiten überhäuft. So war dieser Engländer ein wahrer Repräsentant seiner Nation. Indessen war mir doch der Umgang mit ihm sehr angenehm, weil ich vieles von England von ihm erfuhr, was ich zuvor nicht wußte, besonders aber weil er mir mancherlei von seinem Freund Gibbon erzählte, was mich sehr interessierte. Seine Eigenheiten konnte ich leicht übersehen, da mir das Unangenehme derselben durch meine Unterhaltungen mit seiner schönen und liebenswürdigen Gemahlin reichlich vergütet wurde. Die Familie blieb über ein halbes Jahr in Ludwigsburg, und lange vermißte ich sie nach ihrem Abzug.

Der Besuch der Gräfin Lubinska in Ludwigsburg galt einer mit ihr befreundeten Dame daselbst, einer Frau von Richthof, und dauerte mehrere Wochen. Sie war nicht im Gasthof, sondern bei ihrer Freundin abgestiegen, und weil ich diese und ihre drei Töchter öfter besuchte, so wurde ich auch gleich in den ersten Tagen mit der Gräfin bekannt. Sie hatte eine Tochter von zwölf bis dreizehn Jahren und ein Gesellschaftsfräulein, ein Fräulein von Keller, bei sich. Gleich bei meiner ersten[134] Unterhaltung mit ihr fand ich eine heitere und lebenslustige Dame, wie sie sich auch wirklich während ihres ganzen Aufenthalts in Ludwigsburg zeigte. Sie wollte immer Gesellschaft um sich haben, und weil sie sehr reich war, so gab sie Diners, Soupers, Teegesellschaften, ja sogar Bälle. Auch ich, als Hausarzt und Hausfreund der von Richthofschen Familie, wurde gewöhnlich dazu eingeladen, und weil ich selbst noch ein junger, lebenslustiger Mann war, folgte ich der Einladung gern. Ungeachtet dieses flotten Lebens blieb alles im Hause gesund; nur ein einziges Mal wurde ich als Arzt gerufen, und zwar zum Gesellschaftsfräulein der Gräfin, welches eine Stecknadel verschluckt zu haben glaubte. Bei der Untersuchung schien mir die Sache nicht glaublich; ich ließ sie jedoch Mehlbrei und andere dickliche Speisen essen, um ihr aber alle Furcht vor der Gefahr zu benehmen, in welcher sie zu schweben glaubte und welcher sie nicht losgeworden sein würde, solange die Stecknadel nicht abgegangen war, befahl ich einer Magd des Hauses, auf deren Verschwiegenheit ich zählen konnte, am folgenden Morgen dem Fräulein eine Stecknadel vorzuzeigen, welche sie in dem Leibstuhl gefunden hätte. Natürlich war nun alle Furcht verschwunden, und ich erhielt für diese glückliche Kur von der Gräfin eine Remuneration von acht Dukaten. Das Fräulein hatte wirklich keine Stecknadel verschluckt, aber ich mußte die Belohnung meiner Lüge annehmen, weil ich, ohne das Fräulein aufs neue in Furcht zu setzen, niemand von meinem gespielten Betrug etwas sagen durfte. Daß meine verschwiegene Gehülfin ein gutes Trinkgeld von mir bekommen, versteht sich von selbst.

Fräulein von Gemmingen war mir schon, ehe ich sie persönlich kennenlernte, von meinem Freund Stoll, der Hofmeister im Haus ihres Bruders gewesen war, als ein in jeder Beziehung vorzügliches Frauenzimmer geschildert worden. Sie war kränklich und kam in der Absicht nach Ludwigsburg, sich hier zu erholen. Sogleich nach ihrer Ankunft führte mich Stoll bei ihr ein. Ich erschrak über ihre Mißgestalt, denn sie hatte eine auffallende Krümmung des Rückgrats und war überhaupt übelgestaltet. Aber ich hatte kaum eine halbe Stunde mit ihr gesprochen, so vergaß ich ihre Mißgestalt über der Vortrefflichkeit[135] ihres Innern, das sich in allem, was sie sagte, auf das herrlichste aussprach. Stoll hatte mir viel zu wenig von ihr gesagt, denn ich muß gestehen, daß ich nie zuvor ein Frauenzimmer von so viel Geist und einer so hohen geistigen und sittlichen Bildung gesehen hatte. Sie sprach nicht nur alle lebende Sprachen, sondern sie schrieb sie auch ebenso gut, als sie sie sprach. Ich habe Briefe von ihr gesehen, in welchen eine Periode deutsch, eine andere französisch, eine dritte italienisch oder englisch war, je nachdem sie glaubte, sich in der einen besser als in der andern ausdrücken zu können. Ebenso sah ich auch ein Heft von ihr, welches Bemerkungen über Villaumes Werk über den »Ursprung und die Absichten des Übels« enthielt, welche einem Philosophen von Profession Ehre gemacht hätten. Aber der Hauptgegenstand, mit welchem sie sich beschäftigte, war die Erziehung. Sie war die eigentliche Erzieherin der Kinder ihres Bruders, sowohl der männlichen als der weiblichen, und was für eine Meisterin sie in der Erziehungskunst war, beweist die Vorzüglichkeit dieser Kinder, die selbst von Dalberg, der sie in Erfurt, wohin sie mit den Gemmingenschen Kindern vor den Franzosen geflüchtet war, kennenlernte, anerkannt wurde, indem er nach beendigter Unterhaltung mit einem der Fräulein sagte, es sei nicht recht, daß so viel Vorzügliches in einem einzigen Menschen vereinigt sei. – Aber so vollkommen ausgebildet der Geist des Fräuleins von Gemmingen war, so vortrefflich war auch ihr Herz. Zum Beweis hiervon will ich nur ein paar Züge anführen. Sie hatte ein armes Mädchen zu sich genommen, um sich dasselbe zu ihrer Dienerin zu erziehen. Sie hatte das Mädchen mit sich nach Ludwigsburg gebracht, und es war damals etwa achtzehn Jahre alt. Es wurde in Ludwigsburg mit einem Soldaten bekannt, der es heuraten wollte. Das Fräulein hatte nichts dagegen, weil der Liebhaber der Sohn braver Eltern in Tübingen und er selbst ein wackerer junger Mensch war, und sie hatte es bereits durch ihre Verbindungen dahin gebracht, daß derselbe früher aus dem Militär entlassen werden sollte. Auch war die Ausstattung des Mädchens auf Kosten des Fräuleins beinahe fertig, und außer der reichlichen Ausstattung sollte dasselbe von ihr auch noch ein Kapital von einigen hundert[136] Gulden erhalten. Das Mädchen wußte das alles, aber was geschieht? Der Bräutigam war aus dem Militär entlassen, der Tag der Verlobung war bestimmt, und bald darauf sollte auch die Hochzeit folgen, und das Fräulein entdeckt, daß sie von dem Mädchen bestohlen worden. Ich wußte von dem Diebstahl noch nichts; aber wie ich den Tag darauf das Fräulein besuchte, traf ich sie in einem Zustand, der an Verzweifelung zu grenzen schien. Ich fragte sie, was ihr sei. »Ach!« erwiderte sie, »ich habe die traurige Erfahrung gemacht, daß man die Menschen nicht glücklich machen kann.« Sie erzählte mir nun den Vorgang, und auf die Frage, wozu sie entschlossen sei, antwortete sie, daß sie nicht zugeben werde, daß der brave junge Mensch eine undankbare Diebin zur Frau bekomme. Auf ihre Veranlassung gab der junge Mensch die Verbindung mit dem Mädchen auf, und das Mädchen wurde mit der Ausstattung und dem Kapital nach Hause zu ihren Eltern geschickt. – Der andere Fall war folgender. Es war in dem Hause ihres Bruders etwas vorgefallen, worüber derselbe sehr entrüstet war. Die Schuld an dem Vorfall hatte die Frau von Gemmingen, aber der Herr von Gemmingen maß sie der Schwester bei. Um das gute Verhältnis zwischen dem Bruder und der Schwägerin nicht zu stören, ertrug das Fräulein die immer erneuerten Vorwürfe des Bruders geduldig und schweigend. Allein nun starb die Frau von Gemmingen, und die Frage war, ob sie den Bruder über den Vorgang ins klare setzen solle. Sie tat es nicht. Lieber wollte sie fortdulden und schweigen, als dem Bruder über seine Frau auch nach ihrem Tode etwas sagen, was ihm das Andenken an sie hätte weniger teuer machen können. – Das Fräulein verweilte nur zwei Monate in Ludwigsburg. Nach ihrer Zurückkunft nach Rappenau wurde sie kränker, und etwa zwei Jahre darauf starb sie, ohne sich zuvor bei ihrem Bruder gerechtfertigt zu haben. Sie hatte die große Aufgabe ihres Lebens gelöst, die Gemmingenschen Kinder waren alle vortrefflich gezogen, und die edle Dulderin ging mit dem Bewußtsein erfüllter Pflicht, dem einzigen dieser schönen Seele würdigen Lohn, aus der Welt. Lange schon Zeuge ihrer geistigen und sittlichen Vortrefflichkeit, fragte ich sie einmal, wie sie zu dieser[137] hohen geistigen und sittlichen Ausbildung gekommen sei. Sie antwortete: »Das können Sie mir ansehen, es ist meine Gestalt, der ich es verdanke, sie hat mich bestimmt, nach etwas Höherem zu streben, mehr kann ich Ihnen nicht sagen, denn Sie verstehen mich.«

So lebte ich nun mit diesen und andern Freunden vergnügt und vertraulich zusammen, bis im Jahr 1789 die Französische Revolution ausbrach. Gewohnt des vielfältigen Guten, welches Deutschland seit dem Hubertusburger Frieden zuteil geworden, wußten wir Deutsche dasselbe nicht mehr gehörig zu schätzen, und so wie der Mensch stets bestrebt ist, seinen Zustand zu verbessern und schon bloße Veränderungen desselben für Verbesserungen anzusehen pflegt, so war dies auch der Fall bei mir und bei den meisten meiner jüngern Freunde. Auch wir wurden durch diese große Weltrevolution mächtig aufgeregt. Wie so viele tausend Deutsche versprachen auch wir uns von einer Revolution, welche wie die französische alle alte Vorurteile zerstören, alle Ungleichheit unter den Menschen aufheben und allein die natürlichen Menschenrechte geltend machen sollte, die heilbringendsten Folgen für die Menschheit. Die Französische Revolution wurde daher bald das Tagesgespräch unter uns. Freilich hatten wir sie noch nicht in der Nähe gesehen, der Krieg, den sie veranlaßte, war noch nicht ausgebrochen, es waren noch keine französischen Armeen zu uns gekommen, die uns plünderten und brandschatzten, wir hatten den Druck und die Kosten der Einquartierungen noch nicht gefühlt, und so unerfreulich auch die Aspekten waren, welche die Vorgänge in der Nationalversammlung, der gesetzgebenden Versammlung und dem Nationalkonvent zeigten, so hielt uns doch das nicht ab, die gute Sache der Franzosen in Schutz zu nehmen. Wir sahen die Gewaltschritte des französischen Gouvernements als notwendige Anstalten zur Gegenwehr wider das mit Recht zu befürchtende Einmischen der fremden, von den Ausgewanderten aufgeregten Mächte an und maßen die Schuld nicht sowohl dem französischen Gouvernement als vielmehr den Drohungen des deutschen Kaisers und des Königs von Preußen und namentlich dem übermütigen Manifest des Herzogs[138] von Braunschweig bei, von dem wir gleich nach seiner Erscheinung voraussagten, daß es nicht nur einen Krieg auf Leben und Tod, sondern auch die gänzliche Auflösung des Königtums, die Absetzung des Königs, wenn nicht gar seine Hinrichtung zur traurigen Folge haben könne.

Aber bald wurde das Interesse, welches ich an der Französischen Revolution nahm, durch ein anderes, näheres Interesse bei mir verdrängt. Es war die Nachricht von der nahe bevorstehenden Ankunft Schillers, meines ältesten und geliebtesten Jugendfreundes, in Ludwigsburg. Schon waren bereits zehn Jahre vorüber, seit ich ihn nicht mehr gesehen hatte, und man kann sich leicht vorstellen, welche unaussprechliche Freude mir jene Nachricht verursachte. Ich dachte nicht mehr an die Französische Revolution, ich dachte nur an meinen Freund, und mit Sehnsucht sah ich den schönen Tagen entgegen, welche ich nach so langer Zeit wieder mit ihm zu durchleben hoffen durfte. Schiller hatte den Entschluß, seine Familie und seine alten Freunde wiederzusehen, schon lange gefaßt, und der Entschluß wurde nun ausgeführt. Da er als Flüchtling nicht wagen durfte, sein Vaterland geradezu zu betreten, so begab er sich zuerst nach der damals noch freien Reichsstadt Heilbronn, um dort zu hören, wie die Nachricht von seinem vorhabenden Besuch in Stuttgart und Ludwigsburg und auf der Solitude, wo sein Vater Major und Aufseher über die herzoglichen Gärten war, von dem Herzog aufgenommen werden würde. Er schrieb daher von Heilbronn aus selbst an den Herzog. Natürlich erhielt er von diesem unmittelbar keine Antwort, aber durch seine Bekannten erfuhr er, daß der Herzog sich öffentlich geäußert habe, Schiller befinde sich in Heilbronn und werde auch nach Stuttgart kommen, er werde aber von seinem Aufenthalt keine Notiz nehmen. Auf diese Nachricht verließ Schiller sogleich Heilbronn und kam zuerst nach Ludwigsburg zu mir, seinem ältesten und vertrautesten Jugendfreunde. Sein Aufenthalt im Vaterland sollte ein halbes Jahr dauern, sein fixer Aufenthalt sollte in Ludwigsburg sein, seine Frau sollte hier ihr erstes Wochenbette halten, und erst am Schlusse seines Aufenthalts im Vaterland wollte er einige Wochen in Stuttgart[139] zubringen. Von meinen Empfindungen bei unserem Wiedersehen sage ich nichts, ich sage nur, wie ich ihn nach einer Trennung von so vielen Jahren gefunden habe. Er war ein ganz anderer Mann geworden; sein jugendliches Feuer war gemildert, er hatte weit mehr Anstand in seinem Betragen, an die Stelle seiner vormaligen Nachlässigkeit in seinem Anzuge war eine anständige Eleganz getreten, und seine hagere Gestalt, sein blasses kränkliches Aussehen vollendeten das Interesse seines Anblicks bei mir und allen, die ihn vorher näher gekannt hatten. Leider war der Genuß seines Umgangs sehr oft durch seine Kränklichkeit, heftige Brustkrämpfe, gestört; aber in den Tagen des Besserbefindens, in welcher Fülle ergoß sich der Reichtum seines Geistes, wie liebevoll zeigte sich sein weiches teilnehmendes Herz, wie sichtbar drückte sich in allen seinen Reden und Handlungen sein edler Charakter aus, wie anständig war jetzt seine sonst etwas ausgelassene Jovialität, wie würdig waren selbst seine Scherze! Kurz, er war ein vollendeter Mann geworden. – Da er nur selten ganz frei von Brustkrämpfen war, so konnte er nicht viel und anhaltend arbeiten, indessen schrieb er doch fast täglich, meistens in der Nacht, einige Stunden an seinem »Wallenstein«, welcher damals der Hauptgegenstand seiner Beschäftigung war, und die Stunden, in denen er sich dazu weniger aufgelegt fühlte, widmete er seinen Briefen an den Prinzen von Augustenburg, welche hernach in einer etwas veränderten Gestalt unter dem Titel »Über die ästhetische Erziehung« zuerst in den »Horen« und dann in der Sammlung seiner kleinen prosaischen Schriften erschienen sind. Von »Wallenstein«, von welchem er mir verschiedene eben fertig gewordene Szenen zu lesen gab, bemerke ich, daß er anfangs in Prosa geschrieben war. Ich äußerte, daß ich ihn lieber wie den »Don Karlos« in Jamben geschrieben sähe, und ich weiß nicht, ob diese Äußerung dazu beigetragen hat, daß er in Jamben erschienen ist. Von dem ersten Teil des Gedichts »Wallensteins Lager« war damals noch keine Rede. – Um dieselbe Zeit machte er auch den Plan zu einer neuen Zeitschrift, welche an die Stelle seiner »Thalia« treten sollte, und die Bekanntschaft mit dem Buchhändler Cotta, dem ich in Ludwigsburg[140] zu einem Besuch bei ihm verhalf, beschleunigte hauptsächlich die Ausführung dieses Plans; bald nach seiner Zurückkunft nach Jena erschienen »Die Horen«. Gedichte hat er, während er sich in Ludwigsburg befand, keine geschrieben, bloß »Die Götter Griechenlands« hat er in dieser Zeit umgearbeitet, aber so, wie er mir das Gedicht vorgelesen, hat er es nicht drucken lassen. Von seinen »Räubern« und überhaupt von seinen ältern dramatischen Produktionen hörte er nicht gern sprechen, ja es schien mir öfters, als wünschte er, daß sie nicht gedruckt wären. Von Goethes »Iphigenie« äußerte er eines Tages auf einem Spaziergang, daß dies das einzige deutsche dramatische Produkt sei, welches er beneide, weil er fühle, daß er kein ähnliches hervorbringen könne. Von Voß war er ein großer Verehrer. Seine Übersetzung Homers, die damals erschienen war und die er in meiner Gegenwart erhielt, machte ihm große Freude. Beinahe alle Abende las er daraus vor und pries wechselsweise das Original und die Übersetzung. An Bürger rühmte er das dichterische Talent, aber seine Gedichte schätzte er weniger. Von Gerstenberg bedauerte er, daß er nicht mehr Trauerspiele wie seinen »Ugolino« geschrieben habe. Die Bekanntschaft mit Matthisson, welchen er zuerst in Ludwigsburg sah, erfreute ihn sehr, und es war ihm angenehm, daß er gerade damals mit einer Rezension seiner Gedichte für die Jenaer Literaturzeitung beauftragt war. Ein großes Interesse zeigte er für die bildenden Künste, besonders für die Bildhauerei, was sonst nicht der Fall war, und den Umgang mit dem genialen Dannecker, dem Verfertiger der herrlichen Büste Schillers, zählte er zu den angenehmsten Stunden, welche er in Stuttgart zubrachte. Übrigens sah er sowohl in Stuttgart als in Ludwigsburg außer seinen nähern Bekannten und Freunden nicht gern jemand bei sich und machte ebensowenig Besuche bei Personen, wo er sich genieren mußte. Die Ursache war natürlich seine Kränklichkeit. Wer ihn nicht näher kannte, hat es für Stolz gehalten. Aber Schiller war nicht stolz, er hatte nur das äußere Ansehen des Stolzes, was ihm seine lange Figur und seine aufrechte, etwas steife Haltung gaben. Dieses Ansehen hatte er schon als Zögling der Akademie, und ich erinnere[141] mich noch wohl, daß einst eine Frau, welche dort ihren Sohn besuchte, wie sie Schillern den Schlafsaal hinunterschreiten sah, sagte: »Sieh doch, der dort bildet sich wohl mehr ein als der Herzog von Württenberg.« Ebensowenig gegründet als der Vorwurf des Stolzes war auch die so oft gehörte Sage, daß Schiller sich durch Opium begeistert habe. Er konnte geistige Getränke in keinem großen Maße vertragen, und jene Sage kommt bloß daher, daß er meistens nachts arbeitete, was er nicht getan haben würde, wenn seine Brustkrämpfe ihm nicht bei Nacht mehr Ruhe gelassen hätten als bei Tage.

Während Schillers Anwesenheit in Ludwigsburg starb der Herzog Karl. Als einem Fremden, der mit dem Herzog in gar keiner Verbindung mehr stand, hätte Schillern dieser Todesfall ziemlich gleichgültig sein können. Aber Dankbarkeit gegen seinen Erzieher und Achtung für einen durch so viele große Eigenschaften sich auszeichnenden Fürsten erregte seine wärmste Teilnahme an diesem für sein Vaterland so wichtigen Ereignis. Ich sah ihn bei der Nachricht, daß der Herzog krank und seine Krankheit lebensgefährlich sei, erblassen, hörte ihn den Verlust, welchen das Vaterland durch dessen Tod erleiden würde, in den rührendsten Ausdrücken beklagen, und die Nachricht von dem wirklich erfolgten Tod des Herzogs erfüllte ihn mit einer Trauer, als wenn er die Nachricht von dem Tod eines Freundes erhalten hätte. Der Nachfolger des Herzogs Karl war dessen älterer Bruder Ludwig Eugen, ein Prinz, von welchem man sich wegen seiner Herzensgüte und wegen des Eifers, mit welchem er sich bei jeder Gelegenheit der Landesverfassung gegen die Anmaßungen seines Bruders angenommen hatte, das Goldene Zeitalter für Württenberg versprach. Aber dieses günstige Vorurteil für den neuen Regenten hatte auf Schiller keine Wirkung; er pries nur seinen Vorfahr und konnte, ungeachtet aller Vorstellungen seines Vaters, welchem an der Gunst des neuen Herzogs natürlich viel gelegen war, nicht dahin gebracht werden, dem Herzog zu seinem Regierungsantritt Glück zu wünschen. Indessen war Schiller nichts weniger als ein blinder Verehrer des Herzogs Karl. Er kannte alle seine Fehler sehr gut, aber er sah ein, daß seiner guten und[142] großen Eigenschaften weit mehr waren, und nie vergesse ich, was er mir auf einem Spaziergang, wo wir an die fürstliche Gruft hinsehen konnten, über den Hingeschiedenen gesagt hat. »Da ruht er also (dies waren seine eigenen Worte), dieser rastlos tätig gewesene Mann! Er hatte große Fehler als Regent, größere als Mensch; aber die erstern wurden von seinen großen Eigenschaften weit überwogen, und das Andenken an die letztern muß mit dem Toten begraben werden, darum sage ich dir, wenn du, da er nun dort liegt, jetzt noch nachteilig von ihm sprechen hörst, traue diesem Menschen nicht, er ist kein guter, wenigstens kein edler Mensch.« Sooft Schiller wohl war, gingen wir zusammen spazieren, wozu uns die schönen Alleen in und um Ludwigsburg die erwünschteste Gelegenheit gaben. Nur ein einziges Mal, an einem besonders schönen Tage, machten wir einen weitern Spaziergang zu meinem Freund, dem Konsulenten Mader in Heutingsheim, eine Stunde von Ludwigsburg. Der Weg dahin führt durch einen schönen herzoglichen Park, und wir kamen sehr gut in Heutingsheim an. Die Hauptursache, warum Schiller Lust zu diesem Spaziergang hatte, war, weil er einige historische Schriften zu haben wünschte, von denen ich wußte, daß sie sich in Maders Bibliothek befänden. Schiller durchsah die Bibliothek mit Vergnügen und fand alle die Werke, die er gewünscht hatte, und noch mehrere. Aber er verweilte sich zu lange dabei; die Sonne nahete sich ihrem Untergang, es fing an kühl zu werden, Schiller fühlte das, und wir begaben uns ungesäumt auf den Rückweg. Aber als wir in den Wald gekommen waren, bekam Schiller einen solchen Anfall von Brustkrampf, daß, weil ich niemand zu Hülfe rufen konnte, mir angst und bange war, wie ich ihn nach Hause bringen sollte. Wir hatten noch eine kleine halbe Stunde nach Ludwigsburg, und er konnte vor Beklemmung kaum gehen. Doch die Not gab mir Kraft, ihn mehr tragend als führend, brachte ich ihn endlich nach Hause. Er begab sich sogleich zu Bette, und nach dem Genuß von einigen Tassen Tee hörten die Krämpfe zu meiner großen Freude allmählich auf.

Glücklicher als dieser Spaziergang nach Heutingsheim liefen[143] unsere Reisen nach Stuttgart ab, die wir einigemal miteinander machten. Gewöhnlich stiegen wir in der geistlichen Herberge, einem der besten damaligen Gasthöfe in Stuttgart, ab und luden meistens unsere gemeinschaftlichen Freunde Haug und Petersen zu Tisch. Wir waren höchst vergnügt untereinander, nur ein einziges Mal nahm unser fröhliches Beisammensein ein unerfreuliches Ende. Schiller hatte sich vorgenommen, Petersen, der ein großer Liebhaber des Weins war, betrunken zu machen. Wir tranken ihm daher fleißig zu, wer aber betrunken wurde, war nicht Petersen, sondern Schiller, der zwar glücklicherweise frei von seinen Brustkrämpfen blieb, aber so ausgelassen lustig wurde, daß er sich auf den Tisch legte und sich darauf herumwälzte. So kamen wir spät am Abend zurück nach Ludwigsburg, und als ich ihn am andern Morgen an das Geschehene erinnerte, antwortete er lachend, er wisse es wohl, aber der Spaß hätte gar wohl unterbleiben können, und es sei gut, daß dergleichen Absenzen nicht oft vorkommen.

Die weiteste Reise, welche ich mit Schiller machte, war eine Reise nach Tübingen zu unserem alten Lehrer und Freund, dem Professor Abel, welcher nach Aufhebung der Akademie in Stuttgart dahin versetzt worden. Auf unserem Wege dahin hielten wir Mittag in Waldenbuch, einem von Stuttgart und Tübingen ungefähr gleich weit entfernten Dorf. Das Mittagessen war ziemlich gut, aber desto weniger zufrieden waren wir mit dem Wirt. Um seine Gäste recht nach Stand und Würden zu bedienen, wich er, seine Serviette über dem Arm, nicht von der Stelle, und was noch auffallender war, stand er da, ohne ein Wort zu sprechen. Wir ärgerten uns beide über den beschwerlichen Gesellschafter, aber wir wußten nicht, wie wir ihn, ohne unhöflich gegen ihn zu sein, wegbringen konnten. Endlich tat er doch seinen Mund auf und sagte ganz gleichgültig, heute früh sei seine alte Mutter begraben worden. »Und das sagen Sie so kalt, Herr Wirt«, entgegnete ihm Schiller, »genieren Sie sich doch ja nicht vor uns, wir nehmen teil an Ihrem Verlust und fühlen, wie nahe er Ihnen geht, darum begeben Sie sich sogleich in Ihr Kämmerlein und weinen Sie sich aus,[144] wir werden mit dem Essen schon selber zurechtkommen.« Der Wirt nahm es für Ernst und entfernte sich, mit seiner Serviette über dem Arm, ohne sich wieder sehen zu lassen.

In Tübingen angekommen, schickten wir aus dem Gasthof, wo wir abgestiegen, sogleich zu Abel, ließen ihm sagen, daß wir angekommen seien, und fragen, ob er zu Hause sei und ob wir ihn diesen Abend noch besuchen dürfen. Sein Besuch kam dem unserigen zuvor. Er traf uns im Auspacken begriffen, aber er beharrte darauf, daß wir wieder einpacken sollten, weil wir schlechterdings bei ihm logieren müßten. Wir packten daher wieder ein, ließen unsern Koffer zu ihm bringen und begaben uns alsbald mit ihm in seine Wohnung. Er wohnte in der sogenannten Bursch, einem großen Gebäude, wo mehrere Studenten freie Wohnung und freien Tisch hatten, über welche er die Aufsicht führte und mit welchen er auch nebst seiner Familie zusammen speiste. Ehe wir selbst zu Tische gingen, wohnten wir dem Abendessen der theologischen Stipendiaten bei und trafen da den als Orientalisten berühmten Professor und Ephorus Schnurrer. Der Anblick der Stipendiaten hatte viel Interessantes für uns, und mit Schnurrer unterhielten wir uns auf eine sehr angenehme Weise. Nun gingen wir selbst zu Tisch und saßen da mitten unter den Studenten, vor uns eine ungeheuer große Schüssel, aus welcher für alle die Suppe geschöpft wurde, und alle weitern gemeinschaftlichen Schüsseln von derselben Größe. Die Studenten ließen sich's schmecken, und keiner sprach ein Wort; nur einer, der am Ende der langen Tafel saß, führte das Wort um so lauter, und wir fingen eben an ärgerlich darüber zu werden, als wir erfuhren, daß es der Schwager Abels, der Doktor Schmid, sei. Am folgenden Mittag speisten wir wieder so mit den Studenten zusammen, und es ist leicht zu erachten, daß uns dies eben nicht das angenehmste war. Aber wir wurden für die dadurch erlittene Verkürzung durch unsere Unterhaltung mit unserm Freund reichlich entschädigt, da wir die ganze übrige Zeit der paar Tage, welche wir in Tübingen zubringen wollten, mit ihm allein waren, außer einer Morgenstunde, wo wir den berühmten Professor der Medizin Ploucquet, den Sohn des schon früher[145] erwähnten Philosophen, besuchten. Bis spät in die Nacht dauerte unsere gegenseitige Unterhaltung, ja Abel begleitete uns selbst in unser Schlafzimmer und verließ es, das Licht in der Hand und immer im Begriff, es zu verlassen, nicht eher, als bis ich ihm sagte, Schiller sei längst eingeschlafen, was auch wirklich der Fall war. – Erst am dritten Tag verließen wir Tübingen, kamen am Abend wohlbehalten in Stuttgart an, und am andern Morgen reiseten wir nach Ludwigsburg zurück.

Schiller wohnte in Ludwigsburg nicht bei mir im Hause, ich hatte zu wenig Raum, um ihn zu beherbergen. Denn er hatte nicht nur seine Frau bei sich, sondern auch seine Schwägerin, damals Frau von Beulwitz und nachher Frau von Wolzogen, und die Schwester ihres Mannes, ein Fräulein von Beulwitz. Aber wir kamen täglich zusammen, speisten öfters miteinander zu Mittag und Abend, und jede Stunde, welche ich meinen Geschäften abgewinnen konnte, war ihm gewidmet. Gewöhnlich war Schiller ernst, und so betraf auch unsere Unterhaltung meistens ernste Gegenstände. Aber er konnte auch, besonders wenn er sich ganz wohl befand, heiter, lustig, ja selbst kindisch sein. Er war schon im Herbst in Ludwigsburg angekommen, und seine Frau hatte noch lange bis zu ihrer Entbindung. Aber er freute sich auf Weihnachten, als ob er schon ein Kind hätte, welchem er den heiligen Christ bescheren lassen könne. Am Weihnachtsabend kam ich zu ihm, und was sah ich da? Einen mächtig großen, von einer Menge kleiner Wachskerzen beleuchteten und mit vergoldeten Nüssen, Pfefferküchlein und allerlei kleinem Zuckerwerk aufgeputzten Weihnachtsbaum. Vor ihm saß Schiller ganz allein, den Baum mit heiter lächelnder Miene anschauend und von seinen Früchten herunternaschend. Verwundert über den unerwarteten Anblick, fragte ich ihn, was er da mache. »Ich erinnere mich meiner Kindheit«, erwiderte er, »und freue mich, die Freude meines künftigen Sohnes zu antizipieren. Der Mensch ist nur einmal in seinem Leben Kind, und er muß es bleiben, bis er seine Kindheit auf ein anderes fortgeerbt hat.« – So kindlich, ja kindisch war der hohe, ernste Mann in den Stunden seines Wohlbefindens, und es ist nichts wahrer, als was Goethe von ihm gesagt hat:
[146]

Wie bequem gesellig

Den hohen Mann der gute Tag gezeigt,

Wie bald sein Ernst anschließend, wohlgefällig,

Zur Wechselrede heiter sich geneigt,

Bald rasch gewandt, geistreich und sicherstellig

Der Lebensplane tiefen Sinn erzeugt,

Und fruchtbar sich in Rat und Tat ergossen,

Das haben wir erfahren und genossen.


So liebenswürdig Schiller in solchen guten Stunden war, so ernst und fruchtbar belehrend war er zu jeder andern Zeit. Schwerlich gibt es irgendeinen Gegenstand, worüber wir uns nicht unterhielten, besonders aber sprach er gern mit mir über Medizin, ob er sie schon längst aufgegeben hatte, und forderte mich mehrmals auf, wieder etwas zu schreiben, weil er wünschte, daß ich mich nicht zu lange dem praktischen Leben widmen, sondern trachten solle, zum Professor an irgendeiner Universität berufen zu werden. Ich konnte nicht umhin, seinen Gründen Beifall zu geben, und dies war auch die Veranlassung zu der im Jahr 1795 erschienenen Schrift: Geschichte eines epidemischen Fiebers, welches in den Jahren 1792 bis 1793 in dem Marktflecken Aschberg geherrscht hat. – Daß ich der Poesie gänzlich entsagt habe, wollte er nicht billigen. Er meinte, ich sollte wenigstens einen Roman schreiben, und als ich ihm eines Tages von meinem wunderlichen Freund Bächler erzählte, forderte er mich auf, sogleich Hand an das Werk zu legen. Auch er hielt diesen Theosophen für eine herrliche Figur in einem Roman, und als ich endlich herausrückte und ihm sagte, daß ich den Roman wirklich schon zu schreiben angefangen, und ihm einige fertige Kapitel daraus vorlas, rief er: »Und du konntest mir so lange ein Geheimnis aus der Sache machen? Das ist gar nicht schön von dir, und damit ich nicht böse auf dich werde, so setze die Arbeit ungesäumt fort, schicke mir den Roman, wenn er fertig ist, sogleich zu, und für einen tüchtigen Verleger will ich dann schon sorgen.« Wirklich setzte ich nach seiner Abreise den angefangenen Roman fort, aber meine Geschäfte machten mir seine Vollendung unmöglich.[147]

Schiller hatte damals auch einen Plan für sein eigenes künftiges Leben, durch dessen Realisierung wir leicht wieder miteinander hätten zusammenkommen können. Dalberg, damals Statthalter in Erfurt und Koadjutor von Konstanz und Mainz, hatte ihm nämlich Hoffnung gemacht, sobald er entweder Bischof von Konstanz oder Erzbischof von Mainz werden würde, ihn in seine Dienste zu nehmen. Schiller sprach darüber öfters mit mir, und immer war dabei auch von mir die Rede, indem er mit Zuverlässigkeit darauf rechnen zu können glaubte, daß ich als Leibarzt Dalbergs oder als Professor in Mainz angestellt werden würde. Bei diesen schönen Aussichten war es natürlich, daß er täglich auf die Nachricht von dem Tod des einen oder des andern dieser geistlichen Herren wartete. »Sie sind beide steinalt«, sagte er, »aber keiner denkt an das Sterben.« Besonders fatal aber war ihm das lange Leben des Bischofs von Konstanz. Dieser sollte seiner Meinung nach längst fort sein. »Aber das große Übel bei diesen Herren«, sagte er, »ist, daß sie nichts denken; käme nur eine einzige Idee in den Kopf des betagten Bischofs, so würde es die Organisation seines Gehirns nicht aushalten, er müßte plötzlich an einem Schlagfluß dahinfahren.«

Von dem französischen Freiheitswesen, für welches ich mich so sehr interessierte, war Schiller kein Freund. Die schönen Aussichten in eine glücklichere Zukunft fand er nicht. Er hielt die Französische Revolution lediglich für die natürliche Folge der schlechten französischen Regierung, der Üppigkeit des Hofes und der Großen, der Demoralisation des französischen Volks und für das Werk unzufriedener, ehrgeiziger und leidenschaftlicher Menschen, welche die Lage der Dinge zur Erreichung ihrer egoistischen Zwecke benutzten, nicht für ein Werk der Weisheit. Er gab zwar zu, daß viele wahre und große Ideen, welche sich zuvor nur in Büchern und in den Köpfen hell denkender Menschen befunden, zur öffentlichen Sprache gekommen; aber um eine wahrhaft beglückende Verfassung einzuführen, sei das bei weitem nicht genug. Erstlich seien die Prinzipien selbst, die einer solchen Verfassung zum Grunde gelegt werden müssen, noch keineswegs hinlänglich entwickelt, denn[148] bis jetzt, sagte er, indem er auf Kants »Kritik der Vernunft«, die eben auf dem Tische lag, hinwies, sind sie es bloß noch hier; und zweitens, was die Hauptsache sei, müsse auch das Volk für eine solche Verfassung reif sein, und dazu fehle noch sehr viel, ja alles. Daher sei er fest überzeugt, die französische Republik werde ebenso schnell wieder aufhören, als sie entstanden sei, die republikanische Verfassung werde früher oder später in Anarchie übergehen und das einzige Heil der Nation werde sein, daß ein kräftiger Mann erscheine, er möge herkommen, woher er wolle, der den Sturm beschwöre, wieder Ordnung einführe und den Zügel der Regierung fest in der Hand halte, auch wenn er sich zum unumschränkten Herrn nicht nur von Frankreich, sondern auch von einem Teil von dem übrigen Europa machen sollte.

Eine der größten Angelegenheiten Schillers während seiner Anwesenheit im Vaterland war die nahe bevorstehende Entbindung seiner Frau. Diese erfolgte in Ludwigsburg zu der bestimmten Zeit. Sie war schwer und dauerte lange. Schiller zweifelte an einem glücklichen Ausgang. Er suchte seine Besorgnisse zu verbergen, aber seine Angst blickte sichtbar aus seinem Betragen hervor. Am meisten beruhigte ihn die Zusprache meiner Frau, welche die Kreißende keinen Augenblick verließ und ihr allen möglichen Beistand leistete. Schiller hatte sich zu Bette begeben, die Entbindung verzögerte sich tief in die Nacht, aber sie ging glücklich vorüber. Meine Frau brachte Schillern das Kind vor das Bette, er schlief noch, aber das Geräusch erweckte ihn. Sein erster Anblick, wie er die Augen aufgeschlagen hatte, war der ihm geborene Sohn. Seine Freude war unaussprechlich; es war die Freude des gefühlvollen, edeln Mannes über die Rettung einer zärtlich geliebten Gattin, es war die Freude des Vaters über seinen erstgebornen Sohn.

Schon während der Anwesenheit Schillers in Ludwigsburg hatten sich daselbst mehrere französische Emigranten eingefunden, und bald folgten ihnen noch mehrere. Sie fanden an dem Herzog Ludwig, dessen Anhänglichkeit an den französischen Hof allgemein bekannt war, einen großen Gönner, und auch der damals in Ludwigsburg privatisierende Prinz Friederich[149] Wilhelm bezeigte sich sehr wohlwollend gegen sie. Schon deswegen gefielen sie sich in Ludwigsburg sehr wohl, und weil sie sich zugleich in der Nähe ihres verlassenen Vaterlandes befanden, wohin sie unter günstigen Umständen alsbald zurückkehren konnten, so glaubten sie, keinen bessern Ort zu ihrem einstweiligen Aufenthalt gefunden zu haben als Ludwigsburg. Sie mieteten sich Wohnungen, suchten Bekanntschaften, besonders unter dem Adel, besuchten und gaben Gesellschaften, kurz, sie befanden sich in jeder Beziehung so wohl, als es in ihrer Lage sein konnte. Da ich der einzige Arzt in Ludwigsburg war, der französisch sprach, so ward ich auch der Arzt aller Ausgewanderten. Ich hatte viel mit ihnen zu tun und lernte sie genau kennen. Sie hatten alle großes Vertrauen zu mir, sprachen mit mir offen über ihre frühere und ihre gegenwärtige Lage, über die Ursachen der Revolution, ihren Ausbruch, ihr furchtbares Weiterschreiten und ihre Hoffnungen für die Zukunft. Ich mußte sie wegen dieser Offenheit achten und liebgewinnen, und was besonders einige Familien betrifft, so tat es mir wirklich leid, als sie Ludwigsburg verlassen mußten. Dies geschah noch unter der Regierung des Herzogs Ludwig, nachdem er von dem französischen Gouvernement aufgefordert worden, alle französische Ausgewanderte unverzüglich aus seinem Lande zu weisen. Diese Weisung erging sogleich an die Ausgewanderten; sie sollten längstens binnen drei Tagen die Stadt und binnen acht Tagen das Land verlassen, nur diejenigen, die sich als krank ausweisen könnten, sollten bis zu ihrer Genesung in Ludwigsburg bleiben dürfen. Ich hatte einigen wirklich kranken Individuen darüber die erforderlichen Zeugnisse ausgestellt; aber ein solches Zeugnis verlangte auch eine nicht lange zuvor angekommene Gräfin von mir, ohne daß sie krank war, und dieses Verlangen war um so befremdender, da ich sie nie vorher gesprochen hatte. Indessen stellte ich ihr doch das verlangte Zeugnis aus, teils aus Mitleiden, teils weil sie nur vierzehn Tage Aufschub ihrer Abreise wünschte, sagte ihr aber, um nicht kompromittiert zu werden, daß sie sich wenigstens zwei oder drei Tage zu Hause halten möchte. Sie versprach es, aber noch am nämlichen und auch am folgenden[150] Tag ging sie aus wie sonst. Ich beklagte mich darüber bei einer andern Familie, mit welcher sie täglich zusammenkam. Die Gräfin erfuhr meine Beschwerde beim Abschied von dieser Familie, die ihr selbst den Vorwurf machte, daß es nicht schön von ihr sei, mich so zu kompromittieren. Aber statt ihr Unrecht zu bereuen, fuhr sie nicht nur nach wie vor auszugehen fort, sondern machte sich vielmehr groß damit, indem sie irgendwo sagte, daß sie nicht einsehe, was dieser deutsche Arzt sich einbilde und wie er einer Dame von ihrem Stand gegenüber von Kompromittiertwerden sprechen könne. Natürlich ließ ich ihr diese Impertinenz nicht hingehen. Ich begab mich zum Oberamtmann und zeigte ihm an, daß die französische Gräfin, welcher ich vor drei Tagen das ihm bewußte Zeugnis ausgestellt, nun wieder vollkommen gesund sei und ohne Anstand abreisen könne. Sogleich erhielt sie von dem Oberamtmann die Weisung zur Abreise, und ohne von dem unbedeutenden deutschen Arzt Abschied zu nehmen, setzte sie sich in ihren Wagen und fuhr von Ludwigsburg ab.

Ganz anders benahm sich eine andere vornehme Dame, welche sich nebst einigen andern Ausgewanderten, welche von mir Zeugnisse erhielten, über die festgesetzte Zeit in Ludwigsburg aufgehalten hatte und noch da war, als den Ausgewanderten von dem damaligen französischen Gouvernement die Rückkehr nach Frankreich erlaubt worden. Alle andern hatten sogleich Gebrauch von dieser Erlaubnis gemacht; nur jene Dame, welche der Zusage des selbst noch nicht ganz befestigten Gouvernements nicht traute, blieb in Ludwigsburg zurück und wollte erst hören, wie es den Zurückkehrenden in Frankreich ergangen. Aber sie hatte indessen die günstige Zeit zur Rückkehr versäumt und wußte nun nicht, was sie tun sollte. Mit tränenden Augen kam sie zu mir, um sich bei mir Rats zu erholen. Ich konnte ihr keinen Rat geben, doch fiel mir ein, zu versuchen, ob der Zweck nicht durch List zu erreichen sei. Ich riet ihr daher, sich unmittelbar an das Direktorium, insbesondere an den Direktor Rewbel, zu wenden und ihrer Bittschrift ein ärztliches Zeugnis von mir beizulegen, des Inhalts, daß sie zu der Zeit, wo sie nach Frankreich hätte zurückkehren sollen,[151] tödlich krank gewesen und sich zu ihrer Erholung auf das Land begeben habe und daß sie in der Einsamkeit, in welcher sie sich dort befunden, nichts von dem den Ausgewanderten günstigen Dekret des Direktoriums erfahren habe. Der Dame gefiel mein Vorschlag, das Zeugnis ward von mir aufgesetzt, mein schlechtes Französisch von einem französischen Sprachmeister korrigiert, von mir ins reine geschrieben und der Bittschrift der Dame beigelegt. Nach Verfluß einiger Wochen erhielt sie von Paris die Antwort, daß ihr auf den Grund des ihrer Bittschrift beigelegten ärztlichen Zeugnisses die Rückkehr nach Frankreich bewilligt sei, und wenige Tage darauf reiste die Dame von Ludwigsburg ab, nachdem sie mir für die gelungene List herzlich gedankt hatte. – Überhaupt machte mir es Freude, diesen Landesflüchtigen, wo ich konnte, etwas Gutes und Angenehmes zu erweisen, und ich tat es um so lieber, da es alle, außer jener übermütigen Gräfin, dankbar erkannten. Insbesondere muß ich dieses von den Familien Serçeau und Boiclaireau aus der Normandie rühmen. Diese beiden Familien kehrten nicht in ihr Vaterland zurück, sondern begaben sich nach Nordamerika, kauften sich dort Güter von dem nicht unbedeutenden Vermögen, was sie aus Frankreich gerettet hatten, und sooft sie an ihre Freunde in Ludwigsburg schrieben, vergaßen sie nie, ihren Arzt in ihrem Namen grüßen zu lassen.

Die Bekanntschaft mit den französischen Ausgewanderten hat für mich nicht nur viel Angenehmes gehabt, sondern sie ist mir auch in mancher Beziehung nützlich gewesen. Erstlich habe ich in meinem täglichen Umgang mit ihnen mich im Französischsprechen geübt, so daß ich darin immer fertiger wurde. Zweitens habe ich auch manches zur Erweiterung meiner ärztlichen Kenntnisse gewonnen, indem ich z.B. die Erscheinungen der Hysterie nie in dem Grad und in der Manchfaltigkeit sah wie bei einigen Französinnen sowie ich auch die Erfahrung gemacht habe, daß die Franzosen in ihren Krankheiten überhaupt anders behandelt werden müssen als die Deutschen – eine Erfahrung, die sich mir auch in der Folge in den französischen Militärlazaretten auf vielfache Weise bewährt hat. Endlich[152] habe ich auch gelernt, wie man mit Dienstboten umgehen muß, wenn sie die Anhänglichkeit an ihre Herrschaften haben sollen, welche ihren Diensten erst ihren wahren Wert gibt. Auch hier muß ich wieder der Familien Serçeau und Boiclaireau rühmlich erwähnen. Beide Familien wohnten beisammen und hatten zwei gemeinschaftliche Bediente. Diese beiden Bedienten leisteten mehr als vier Deutsche. Sie reinigten die Zimmer, frisierten die Damen, kleideten die Herren an, gingen mit ihren Körben am Arm auf den Markt, um Lebensmittel einzukaufen, kochten alle Speisen, deckten den Tisch, servierten beim Speisen, reinigten nach dem Essen die dabei gebrauchten Geschirre, kurz, sie verrichteten alle männliche und weibliche Domestikendienste; dafür waren sie aber auch geachtet wie die Glieder der Familie, ja die Herrschaften erhielten nicht einmal Briefe aus Frankreich, aus deren Inhalt sie ihnen ein Geheimnis machten, so wie ihnen auch alle französische Zeitungen, mit welchen der Prinz Friederich Wilhelm die Ausgewanderten zu versehen pflegte, mitgeteilt oder vorgelesen wurden.

Schon im Jahr 1770 hatte der Herzog Karl seine Residenz beständig in Stuttgart gehabt; sein Nachfolger, Herzog Ludwig, wechselte zwischen Stuttgart und Ludwigsburg, dort residierte er in den Winter-, hier in den Sommermonaten. Dies geschah schon in dem ersten Jahr seiner Regierung. Bei seinem Einzug in Ludwigsburg begleitete ihn ein großer Teil des Hofes, darunter die ersten Familien des Landes. Von den meisten wurde ich zum Hausarzt genommen, und auch dadurch bekam meine Existenz einen bedeutenden Zuwachs von Annehmlichkeit. Ich wurde von allen auf das freundlichste behandelt, und besonders von der gräflich Pücklerschen, der freiherrlich Schenkschen und Senftschen Familie. Der Herzog hatte keinen seiner Leibärzte bei sich; bedurfte er derselben, so ließ er sie von Stuttgart rufen, was, soviel ich mich erinnere, während seines erstmaligen Aufenthalts in Ludwigsburg nie geschah. Was mich aber mehr freute als alles andere, war, daß mein Freund Haug mit ihm nach Ludwigsburg kam. Er war Sekretär in dem geheimen Kabinett des Herzogs, und er und der geheime Referendar Schwab waren seine Hauptgehülfen[153] bei seinen Regierungsgeschäften. Alle Abende besuchte mich Haug, und wir hatten das vergnügteste Leben zusammen. Gewöhnlich waren auch mein Freund Stoll und noch einige andere meiner Ludwigsburger Freunde mit von der Gesellschaft. Haug war unstreitig einer der witzigsten Köpfe in Württenberg, aber wie er der gutmütigste Mensch war, so war auch sein Witz nie beißend, und auch diejenigen, die er traf, fanden sich nicht dadurch beleidigt. Er hatte eine bewundernswürdige Gabe, die Stimmen bekannter Personen nachzumachen, und es war jederzeit ein Fest für uns, wenn er es tat. Für den Herzog war er sehr eingenommen, und wenn wir behaupteten, daß er weit nicht das sei, was sein Vorfahr gewesen, indem seine Regierung eine höchst schwache Regierung sei, so entschuldigte er ihn jederzeit damit, daß er in den Regierungsangelegenheiten noch nicht vollkommen orientiert sei, dieses aber gewiß bald kommen werde. Aber der Herzog war bereits zu alt, um sich gehörig zu orientieren, und da auch Haug und Schwab bei allen ihren anderweitigen Verdiensten als Stubengelehrte die Männer nicht waren, die ihm dabei hätten behülflich sein können, so war in der Hauptsache die Regierung in den Händen des Geheimenrats, welches die Geheimenräte wohl wußten und daher auch öfters, wenn herzogliche Reskripte nach Stuttgart von Ludwigsburg kamen, sagten, da seien wieder Reskripte von den drei Magistern in Ludwigsburg. – Indessen ging der Sommer vorüber, der Herzog begab sich mit seinem Kabinett nach Stuttgart zurück, und mit Sehnsucht sahen wir dem nächsten Frühjahr entgegen. Das Frühjahr kam, schon im April auch der Herzog mit seinem Hof und Kabinett, und so kam ich denn auch wieder mit Haug zusammen. Gleich nach seiner Ankunft besuchte er mich, und meine erste Frage war, ob sich der Herzog während des Winters orientiert habe. Haug lachte, aber der brave Mann nahm die Partie des Herzogs wieder, und ich ließ ihn auf seinem Glauben gern und um so mehr, da ich dem Herzog wegen seines guten Willens und seiner sich in allen seinen Handlungen aussprechen den Herzensgüte selbst von Herzen gut war. Nun sah ich den Herzog von ungefähr auf einem Spazierritt und glaubte zu bemerken, daß er nicht so gut aussehe[154] als im vergangenen Sommer. Ich teilte Haug diese Bemerkung mit, auch einigen Hofkavalieren. Aber sie versicherten mir, daß der Herzog während des ganzen Winters gesund gewesen und sich auch jetzt vollkommen wohl befinde. Nun hatte ich aber gehört, der Herzog habe ein arthritisches Geschwür am Fuß gehabt, welches ihm seine Leibärzte nicht hätten heilen wollen, weil es ihn aber am Reiten, seiner Hauptbewegung, gehindert habe, so sei er auf der Heilung bestanden und habe von der Solitude, wo damals ein österreichisches Regiment sein Winterquartier hielt, den Regimentsarzt Butterweck rufen lassen, der ihm als ein besonders geschickter Wundarzt empfohlen worden sei. Butterweck nahm keinen Anstand, zu tun, was der Herzog verlangte. Da der Herzog vollkommen gesund sei, meinte er, so könne das Geschwür ohne Bedenken geheilt werden. Er begann also die Heilung sogleich, nach wenigen Wochen war sie vollendet, und so geheilt kam dann der Herzog nach Ludwigsburg. Aber schon im Monat Mai zeigte sich die schlimme Wirkung der voreiligen unzweckmäßigen Kur. An einem schwülen, gewitterdrohenden Morgen machte der Herzog seinen gewöhnlichen Spazierritt, und er war noch nicht vierhundert Schritte weit von dem Schloß in der Allee hinaufgeritten, als er auf dem Pferd zu wanken anfing, hinten vom Pferde heruntergleitete und sterbend am Boden lag. Er wurde sogleich von zwei in der Nähe gewesenen Bürgern in das Schloß getragen und in demselben Augenblick nach ärztlicher Hülfe ausgesandt. Haug schickte eilends einen Hofbedienten nach mir aus. Ich befand mich in der hintern Schloßgasse in dem von Lilienbergischen Hause, wo ich mit Schrecken den herbeieilenden Hofbedienten aus dem Fenster sah. »Der Herzog stirbt«, rief er, »kommen Sie doch um Gotteswillen.« Ich eilte, was ich konnte, nach dem Schlosse, nach dem Zimmer, wohin der Herzog gebracht worden. Aber ich fand ihn bereits tot, und alle Wiederbelebungsversuche, die ich machen ließ, waren fruchtlos. Auf die Nachricht, den Herzog habe der Schlag getroffen, waren sogleich von der Herzogin Eilboten nach der Solitude geschickt, um den Regimentsarzt Butterweck zu holen. Butterweck kam, verwunderte sich gewaltig,[155] den Herzog so unerwartet und plötzlich sterben zu sehen, und obschon der Herzog vor ein paar Stunden gestorben war, setzte er doch mit einer gewissen, dem Hofe sehr attachierten Gräfin namens Malchevska die Wiederbelebungsversuche zum großen Ärgernis der Umstehenden fort, bis ich ihm auf eine derbe Art sagte, daß hier nichts mehr für ihn zu tun sei und gutmachen das Geschehene könne er nicht mehr. Der Prinz Friederich Wilhelm war an diesem Tage gerade in Stuttgart, aber unmittelbar auf die erhaltene Nachricht eilte er nach Ludwigsburg und übernahm als nunmehriger Erbprinz im Namen seines Vaters, des Herzogs Friederich Eugen, des Bruders und Nachfolgers des Verstorbenen, die Regierung. Nach der Beisetzung des Herzogs Ludwig blieb seine Witwe vorderhand in Ludwigsburg, wo sie mich zu ihrem Arzt annahm und auch beibehielt, nachdem sie ihren Witwensitz in dem Schlosse Winnental genommen hatte.

Wie die Akademie in Stuttgart wurde auch das von dem Herzog Karl gestiftete militärische Waisenhaus in Ludwigsburg, über welches mein Vater die Oberaufsicht hatte, von dem Herzog Ludwig gleich nach dem Antritt seiner Regierung aufgehoben. Mein Vater trat wieder in seine früher bekleidete Hauptmannsstelle ein und kam in Garnison nach Stuttgart. Natürlich veranlaßte mich diese Versetzung, wieder öfter nach Stuttgart zu reisen, und dies geschah denn auch, sooft es meine Geschäfte erlaubten, aber am sechsten Mai, dem Geburtstag meines Vaters, war ich alle Jahre mit meiner ganzen Familie zur Feier dieses Tages bestimmt in Stuttgart. Zu meiner großen Freude traf ich meine Eltern und Geschwister bei diesen Besuchen immer gesund und zufrieden an, nur meine dritte Schwester hatte angefangen zu kränkeln. Sie magerte ab, hustete viel und trocken, und ich hatte alle Ursache, eine Lungenschwindsucht bei ihr zu fürchten. Leider erfolgte dieser Übergang bald, und alle Mühe, welche sich mein geschickter Freund Plieninger und ich selbst bei meinen jetzt viel häufigern Besuchen mit ihr gaben, war vergebens. Sie starb in der schönsten Blüte ihrer Jugend, und mit Jammer begleitete ich ihre Leiche.

Schon vor dem Feldzug im Jahr 1796 war mein Vater zum[156] Stabsoffizier befördert, und bei Eröffnung desselben zog er als Major eines Grenadierregiments mit den württenbergischen Truppen ins Feld. Wie er als ein noch ganz junger Mann im Siebenjährigen Kriege sich als einen tüchtigen Offizier erwiesen hatte, so zeigte er sich auch als ein bereits vierundsechzigjähriger Mann in dem Feldzuge gegen die Franzosen nicht minder tapfer, und nach Beendigung desselben wurde er zum Oberstlieutenant befördert. Aber mein Vater war nicht bloß ein tapferer Soldat, er war auch ein Mann von dem zartesten Ehrgefühl, von der strengsten Rechtlichkeit und mutig und unerschrocken, wenn es das Recht zu schützen galt. Zum Beweis hiervon will ich nur einen einzigen Fall anführen. Er kommandierte als Oberstlieutenant das Regiment »Prinz Paul«, als ein Lieutenant eines andern Regiments von einem Stabsoffizier, welcher bei dem Herzog, dem vormaligen Prinzen Friederich Wilhelm, sehr viel galt, in öffentlicher Gesellschaft etwas aussagte, was diesem nicht zur Ehre gereichte. Auf die Beschwerde des Stabsoffiziers bei dem Herzog verfügte dieser, ohne zuvor die Sache näher untersucht zu haben, die Kassation des Lieutenants. Empört von diesem willkürlichen Verfahren, verlangte der Lieutenant vor ein Kriegsgericht gestellt zu werden; allein anstatt ihm dieses geradezu, wie es gerechterweise hätte geschehen sollen, zu bewilligen, forderte der Herzog die Kommandeurs sämtlicher Regimenter zur Beantwortung der Frage auf, ob dem Lieutenant seine Bitte bewilligt werden solle oder nicht. Die Frage war so gestellt, daß die Kommandeurs und Offiziere der Regimenter, ohne sich die Ungnade des Herzogs zuzuziehen, nicht umhinzukönnen glaubten, gegen den Lieutenant zu stimmen, und so fielen denn auch wirklich die Stimmen aller Regimenter gegen ihn aus, ausgenommen des Regiments, welches mein Vater kommandierte und von welchem alle Offiziere auf den Antrag meines Vaters für ihn stimmten. Natürlich nahm dies der Herzog sehr ungnädig auf, und besonders aufgebracht war er über meinen Vater, dem er die Hauptschuld beimaß. Um jedoch allen Schein von Ungerechtigkeit zu vermeiden, bewilligte der Herzog gegen alle Erwartung dem Lieutenant das verlangte Kriegsgericht, und was noch auffallender[157] war, er ernannte meinen Vater zum Präsidenten desselben. Das Kriegsgericht trat zusammen, und das Resultat der Beratschlagung war, daß die Sache des Lieutenants näher untersucht, die Kassation desselben einstweilen aufgehoben und erst, wenn der Lieutenant wirklich schuldig befunden worden, die Kassation eintreten solle. Empört über dieses Urteil, setzte der Herzog das ganze Kriegsgericht auf die Festung Hohen-Aschberg. Dies geschah in den ersten Tagen des Dezembers. Aber im Lauf des Monats hätte sich die leidenschaftliche Hitze des Herzogs gelegt, und wie er immer geneigt war, was er in derselben getan hatte, zu bereuen und das in der Hitze begangene Unrecht wiedergutzumachen, so geschah dies auch jetzt. Die Untersuchung war günstig für den Lieutenant ausgefallen, die Kassation wurde stillschweigend zurückgenommen, das Kriegsgericht wurde am Ende des Monats aus der Gefangenschaft entlassen, und mein Vater, der als Oberstlieutenant auf die Festung gesetzt worden, wurde nicht lange nach seiner Rückkehr nach Stuttgart zum Oberst befördert. Überhaupt hatte der Herzog von dieser Zeit an eine sehr günstige Meinung von meinem Vater gefaßt, er bezeigte sich bei jeder Gelegenheit besonders gnädig gegen ihn, stellte ihn dem Kaiser Napoleon bei dessen Anwesenheit in Stuttgart als seinen ältesten und einen seiner verdientesten Offiziere vor, und selbst nachdem er bereits als Oberst pensioniert war, ließ er ihm die Intendantenstelle an der von ihm in Stuttgart gestifteten großen Invalidenanstalt anbieten, welche er auch, als einen besondern Beweis des Zutrauens des Herzogs gegen ihn, mit Vergnügen annahm und bis zur Versetzung der Anstalt nach Komburg bekleidete.

Daß ich bei den häufigern Besuchen, welche ich seit dem Aufenthalt meiner Eltern in Stuttgart daselbst machte, außer meinen Eltern und Geschwistern auch meine alten Jugendfreunde besuchte, versteht sich von selbst. Besonders aber versäumte ich nicht leicht, die öffentliche Bibliothek zu besuchen, weil ich gewiß war, einen meiner liebsten und vertrautesten Jugendfreunde, den Bibliothekar Petersen, daselbst anzutreffen. Blieb ich in Stuttgart über Nacht, so brachte ich die Abende gewöhnlich in geschlossener Gesellschaft in einem Gasthofe zu, wo ich[158] die meisten meiner alten Freunde beisammen fand. Hier war besonders Haug in seinem Element, nirgends zeigte sich sein Witz glänzender, und ein großer Teil seiner hundert Epigramme auf Bibus stammt aus dieser Gesellschaft her. Dieser Bibus war Petersen, und fast alle Abende verlangte er selbst ein Epigramm auf sich von Haug. Dieser war allzeit fertig dazu, und viele machte er aus dem Stegreif, wie folgendes:


Er hat zu seinem Symbolon

Das Wort sich aus der Passion:

Mich dürstet, ausersehn

Und hält nach eigenen Proben

Den Vers für unterschoben:

Laß diesen Kelch vorübergehn.


In diese Gesellschaft wurde auch Iffland während seiner Anwesenheit in Stuttgart eingeführt. Ich traf ihn nie in derselben, sondern sah ihn zum erstenmal bei Huber, dem Verfasser des rühmlich bekannten Trauerspiels »Das heimliche Gericht« und Redakteur der von Posselt begonnenen, allgemein gelesenen historischen Zeitschrift: allgemeine »Weltkunde«, bei einem Abendessen, welches er Iffland zu Ehren gab und zu welchem auch Conz und ich von ihm eingeladen worden. Wir trafen bei Huber ein, als die geladene Gesellschaft schon beisammen war. Die Gesellschaft war zahlreich, die Tafel herrlich gedeckt, die Speisen köstlich, es fehlte nicht an mancherlei ausgesuchten Weinen, besonders reichlich aber floß der Champagner, von welchem Iffland bekanntlich ein großer Liebhaber war. Bei Tisch war natürlich der Hauptgegenstand der Unterhaltung die dramatische Dichtkunst und die Mimik, denn wie hätte in Gegenwart eines so großen Meisters in beiden von etwas anderm mehr gesprochen werden können? Erst am Ende des Mahles wurde die Unterhaltung allgemeiner, und unter vielem andern kamen auch die neuesten Verhandlungen bei dem Konsistorium zur Sprache. Sekretär bei dem Konsistorium war Grüneisen, auch ein vormaliger Zögling der Akademie in Stuttgart, ein ebenso witziger Kopf als Haug, aber noch vorzüglicher als dieser in der Kunst, Stimmen nachzumachen. Iffland kannte[159] beide von dieser Seite noch nicht, aber er sollte nun eine Probe von ihrer Kunst hören. Die Einleitung dazu gab die an den Sekretär Grüneisen gestellte Frage, ob seit einigen Tagen nichts besonders Interessantes in dem Konsistorium verhandelt worden. Grüneisen wollte anfangs von nichts wissen; doch besann er sich einige Augenblicke und sagte dann, etwas sei doch vorgekommen, einer von den Konsistorialräten habe den Antrag gestellt, ob es nicht gut wäre, den Landesherrn zu bitten, einen in Stuttgart anwesenden fremden Schauspieler aus der Stadt zu weisen, der Mensch sei kein eigentlicher Schauspieler, sondern er habe einen Bund mit dem Teufel, vermöge dessen er sich in jede Person, welche er auf dem Theater zu spielen scheine, verwandele; es sei hierauf zur Abstimmung gekommen, der Antragsteller sei mit seinem Antrag durchgefallen, und besonders habe sich der Direktor des Konsistoriums des verdächtigen Schauspielers angenommen sowie bei dieser Gelegenheit des Theaters überhaupt, vorausgesetzt, daß immer moralische Stücke aufgeführt werden, wie z.E. »Die Zauberflöte«, wo ihm besonders Sarastro gefalle, von dem es nur schade sei, daß er ein Heide und kein protestantischer Geistlicher sei, als welcher er ohne Anstand zu einer Prälatur empfohlen werden könnte. – Hatte dieses Kompliment Iffland höchlich geschmeichelt, so wurde das Vergnügen des großen Mimikers noch höher dadurch gesteigert, daß Grüneisen bei seiner Relation die Stimmen der Konsistorialräte auf das täuschendste nachmachte. Iffland konnte sich über dieses Talent Grüneisens nicht genug verwundern, nur ein Ohrenzeuge, sagte er, könne an die Möglichkeit eines solchen Talents glauben. Dieser Ausspruch war die Losung, das ganze Konsistorium sprechen zu lassen, erst einzeln, dann zusammen, zuletzt singend, indem Grüneisen sämtliche Konsistorialräte, um einen Freiheitsbaum herumtanzend, ein Freiheitslied singen ließ, wobei sogar die einzelnen Stimmen deutlich zu unterscheiden waren. Das lustigste dabei war, daß auch einer der Konsistorialräte sich in der Gesellschaft befand, Grüneisen gerade gegenüber saß, wie die Stimmen seiner Kollegen, auch seine eigene, mit Wohlgefallen hörte, aber sich schlafend stellte, ohne dabei seine[160] lächelnde Miene in die ruhige eines Schlafenden umwandeln zu können. – Nach Grüneisen ließ Haug seine Kunst hören. Iffland bewunderte ihn nicht weniger als Grüneisen, und als zuletzt beide, bald diese, bald jene Stimme nachahmend, zusammen sprachen, so wollte das Beifallrufen und Lachen kein Ende nehmen. – Endlich wurde auch Iffland aufgefordert, eine Probe von seiner Kunst zu geben. Er tat es mit Vergnügen und gab uns einen Dialog zwischen zwei Juden, einem gebildeten und einem unwissenden, wo der erstere dem letztern die Geschichte des jüdischen Volks erzählte. Beide sprachen jüdisch-deutsch, aber jeder in einem ganz verschiedenen Dialekt, und ebenso verschieden war auch ihre Mimik, besonders aber der Ausdruck des Erstaunens, als der Unwissende hörte, daß die Juden einmal Könige gehabt hätten. Die Gesellschaft blieb beisammen bis spät in die Nacht, und ich darf wohl sagen, daß ich nie in einer Gesellschaft mehr gelacht habe und überhaupt vergnügter gewesen bin als in dieser. Ich habe nachher Iffland mehrmal sowohl in Stuttgart als in Ludwigsburg spielen sehen, und wie ich ihn als Schauspieler bewundert hatte, so lernte ich ihn auch als Dramaturgen schätzen, indem ich ein paarmal Gelegenheit hatte, ihn auch über die Kunst sprechen zu hören.

Ich habe oben von dem großen Interesse gesprochen, welches ich sowie die meisten meiner jungen Freunde an der Französischen Revolution genommen. Allerdings hat sich dieses Interesse um vieles vermindert, seit ich mit Schillers Ansicht der Revolution bekannt worden. Auch hatte ich indessen alle Greuel derselben in Frankreich und in Deutschland alle Schrecknisse und Abscheulichkeiten des Revolutionskrieges genugsam erkannt. Aber ich gab deswegen die Hoffnung eines endlichen bessern Erfolgs nicht auf. Ebensowenig taten dies auch meine Freunde, sowohl in Ludwigsburg als in Stuttgart. Bei allem Abscheu, den wir vor den Gewaltstreichen der Machthaber und den Scheußlichkeiten des Volks in Paris hatten, konnten wir doch nicht umhin, die Energie der französischen Nation, die ungeheure Kraft, die sie entwickelte, die Tapferkeit der französischen Heere, ihre beispiellosen Siege, und mehr als alles, die Taten des größten ihrer Helden, des[161] Generals Buonaparte, zu bewundern. Wir sprachen daher unsere Bewunderung bei allen Gelegenheiten unverhohlen aus, und auch mitten im Krieg selbst, wo wir alles Ungemach desselben erfuhren, verteidigten wir die Sache der Franzosen, so gut wir konnten, und behandelten die Soldaten und Offiziere, die bei uns einquartiert wurden oder sonst in nähere Berührung mit uns kamen, als unsere Freunde. So war es nicht nur in Ludwigsburg, so war es auch in Stuttgart, so war es überhaupt mehr oder weniger im ganzen Lande. Natürlich konnte diese Stimmung der Regierung nicht gleichgültig sein; aber was konnte sie dagegen tun, solange die Franzosen im Land waren? Sie mußte die Franzosenfreunde reden lassen und warten, bis sie gegen sie tätig einschreiten konnte. Die Gelegenheit dazu gab sich bald. Die französische Armee hatte das Land geräumt; aber es hielten sich in Stuttgart einzelne Franzosen auf, welche man für Emissäre hielt. Man gab genau acht, wer von Stuttgart, von Ludwigsburg oder sonst woher mit ihnen in Verbindung getreten war, und ehe man sich's versah, wurden die Verdächtigen festgenommen, selbst nachts aus dem Bette geholt und auf die Festung Hohen-Aschberg gesetzt, ohne ihnen zu sagen, warum. Unter den Gefangenen waren auch einige meiner Bekannten und Freunde, und weil auch ich einer von denen war, welche die Sache der Franzosen bei jeder Gelegenheit in Schutz genommen hatten, so fürchtete ich, daß bei den fortdauernden Gefangennehmungen der Franzosenfreunde früher oder später auch die Reihe an mich kommen würde. Meine Frau hatte daher meine Sachen schon zusammengepackt, weil sie alle Tage fürchtete, daß ich, wie mein Freund Bunz und andere, in der Nacht aus dem Bette geholt werden könne. Allein es handelte sich bei diesen Gefangennehmungen der Franzosenfreunde, wie mir der die Untersuchung führende Minister von Norrmann gesagt hatte, nicht davon, daß sie zugunsten der Franzosen gesprochen, sondern davon, daß sie zu ihren Gunsten gehandelt hätten. Das Letztere hatte ich nie getan; ich hatte weder einen der vermeintlichen französischen Emissäre gesehen noch viel weniger gesprochen, und ebensowenig hatte ich auch je einen Brief geschrieben, der mich bei[162] der Regierung hätte verdächtig machen können. Aber ich glaubte doch der Versicherung des Ministers nicht ganz, und noch weniger glaubte derselben meine Frau. Sie packte daher den Koffer nicht wieder aus, und auch ich war noch nicht außer aller Sorge, als ich auf einmal ganz unerwartet von aller Besorgnis befreit wurde. Ich war nämlich nach Stuttgart gereist, um in Schillers »Maria Stuart« Iffland als Graf Leicester spielen zu sehen. Meine Eltern waren, wie schon bemerkt, nicht mehr in Ludwigsburg, sondern in Stuttgart, und ich hatte mich eben mit ihnen zu Tisch gesetzt, als ich durch Estafette von Ludwigsburg einen Brief erhielt, worin mir von dem Herzog befohlen war, mich unverzüglich auf die Festung Hohen-Aschberg zu begeben, um den daselbst befindlichen Staatsgefangenen, gefährlich erkrankten Oberst von Wolff zu besuchen. Diesem unmittelbaren Befehl des Herzogs zufolge ließ ich sogleich einspannen, fuhr auf dem nächsten Weg nach Hohen-Aschberg, besuchte den kranken Oberst, und ehe ich selbst nach Ludwigsburg gekommen war, hatte der Herzog meinen Rapport von dem Befinden des Oberst bereits in Händen. Nach meiner Ankunft in Ludwigsburg erzählte mir meine Frau, gleich nach meiner Abreise nach Stuttgart sei ein Hofbedienter gekommen, der mir hätte sagen sollen, daß ich auf Befehl des Herzogs mich ungesäumt zu dem kranken Oberst von Wolff begeben soll, sie hätte dem Bedienten gesagt, daß ich nach Stuttgart gereist sei und vor Nacht nicht zurückkommen werde, wenn daher die Sache Eile habe, möge der Herzog einen andern Arzt zu dem Oberst von Wolff abschicken. Der Hofbediente meldete dies, der Herzog wurde davon in Kenntnis gesetzt, aber statt einen andern Arzt nach Hohen-Aschberg zu schicken, befahl er, mich durch Estafette dahin zu beordern, mit dem Beisatz, daß, wenn er einen andern Arzt als mich hätte haben wollen, er ihn schon zu finden gewußt hätte. So wurde ich nun, statt als Staatsgefangener auf die Festung gesetzt zu werden, Arzt der Staatsgefangenen, denn sooft ein solcher erkrankte, mußte ich auf Befehl des Herzogs von der Festungskommandantschaft zu demselben gerufen werden.

Nicht lange nach diesem Vorgang erhielt ich ganz unerwartet[163] einen für mich und meine Frau gleich erfreulichen Besuch von einer Dame, welche ich während der Anwesenheit meines Freundes Schiller in Ludwigsburg kennengelernt hatte. Es war die Frau Geheimerätin von Wolzogen, die Gemahlin eines andern lieben Jugendfreundes von mir, deren ich schon früher als einer Frau von Beulwitz erwähnt habe. Sie war begleitet von ihrem einzigen Sohn, einem Knaben von ungefähr sechs Jahren, dessen Hofmeister und einer Kammerjungfer. Ihr Besuch bei uns sollte einen vollen Monat dauern, und um uns gegenseitig nicht zu genieren, wurde ausgemacht, daß wir nur des Mittags bei Tisch und abends beim Tee und Abendessen zusammenkommen wollten, vormittags aber jedes seinen Geschäften nachgehen sollte. Dieses Gesetz wurde auf das pünktlichste befolgt, ja seine Befolgung sogar übertrieben, indem beide Frauen, wenn sie vormittags sich zufällig begegneten, sich nicht einmal begrüßten, sondern, als sähen sie sich nicht, aneinander vorübergingen. Die Verfasserin des schönen und geistreichen Romans »Agnes von Lilien« schrieb jetzt gerade an ihrem neuen Roman »Walter« und widmete demselben den größten Teil ihrer Vormittagsstunden, während meine Frau ihre Hausgeschäfte besorgte. Mittags bei Tisch kamen wir zusammen, nachmittags machten wir unsere Spaziergänge, besahen dieses oder jenes, machten da und dort Besuche, und am Abend beim Tee war unser gewöhnlicher Gesellschafter Diakonus Conz, welcher die Frau von Wolzogen schon früher kennengelernt hatte. Aus der literarischen Welt, in welcher Conz ganz lebte, hatte er jederzeit etwas zu referieren, wovon er glaubte, daß es interessant sein würde. So unterhielt er uns unter anderem auch einmal mit dem Roman »Der gehörnte Siegfried«, wobei auch seine Frau zugegen war. Sie saß der Frau von Wolzogen gerade gegenüber, die sich während des ganzen Referats des Lachens nicht enthalten konnte. Conz, in der Meinung, dieses Lachen gelte dem gehörnten Siegfried, fuhr um so eifriger in seinem Referat fort. Aber Frau von Wolzogen lachte nicht über den gehörnten Siegfried, sondern über die Balggeschwulst an der Stirne der ihr gegenübersitzenden Frau, welche ihr wie ein eben hervorsprossendes Horn vorkam.[164]

Solche Späße kamen fast alle Abende vor; aber noch öfter war unsere Unterhaltung ernsthafter Art, und weit der häufigste Gegenstand derselben war Schiller und seine Familie. Ich wollte alles, was ihr bekannt war, auf das genaueste wissen, und insbesondere interessierte mich sein Verhältnis mit Goethe, mit welchem er jetzt viel näher zusammengekommen war als früher. Sie gab mir über alles die befriedigendste Auskunft, sagte mir aber auch, wie sehr sich Schiller für mich interessiere, wie oft er von mir spreche, wie oft er seines im Jahr 1793 gemachten Besuchs in Ludwigsburg gedenke und wie sehr er wünsche, daß ich dem Rat, den er mir damals gegeben, mich um ein Professorat auf einer Universität zu bewerben, baldmöglichst folgen möge. Er glaubte, daß ich mein Augenmerk vorzüglich auf Jena richten solle, nicht allein weil ich da wieder mit ihm zusammenkäme, sondern auch weil ich, wenn mir das Universitätsleben nicht mehr gefallen sollte, nach dem Tod des Hofrats Starke leicht herzoglicher Leibarzt in Weimar werden könnte. Ich hatte die Gründe, aus welchen er mir diesen Rat gab, wohl überlegt, ich mußte ihnen meinen Beifall geben und hatte mich auch von jener Zeit an wieder mehr mit wissenschaftlichen Gegenständen beschäftigt; allein ich war meines praktischen Lebens bereits zu gewohnt geworden, als daß ich mich so leicht davon hätte losreißen können. Es mußten noch mehrere Motive zusammenkommen, um mich zu diesem Schritt zu bestimmen, und diese Motive fanden sich wirklich.

Ich habe schon erwähnt, daß mein Verhältnis zu dem Prinzen Friederich Wilhelm nach der Blatternimpfgeschichte sich um vieles besser gestaltet hatte, als es früher war. Ich sah ihn oft als damaligen Erbprinzen1 in dem von Mauclerschen Hause, und wie er sich als Erbprinz immer gnädig gegen mich bezeigt hatte, so tat er dies auch als regierender Herr2. Auch war ich gewiß, daß er von mir auch als Arzt eine günstige Meinung habe. Außer den guten Diensten, welche ich der von Mauclerschen[165] Familie geleistet hatte und von welchen er selbst Zeuge war, schien ich mich ihm vorzüglich durch eine Kur empfohlen zu haben, die ich an dem Schloßkastellan Burniz in Ludwigsburg gemacht hatte, welcher an einer schon weit fortgeschrittenen Luftröhrenschwindsucht litt. Die Ärzte, welche den Kastellan behandelten, zweifelten an seiner Rettung, die Besorgnisse der Ärzte verbreiteten sich am Hof, bald teilte sie auch der Herzog, und dieser hatte bereits seine Stelle einem andern zugesagt, als er erfuhr, es gehe mit dem Befinden des Kastellans wieder so gut, daß an seiner gänzlichen Wiederherstellung kein Zweifel mehr sei, welche auch wirklich bald darauf erfolgte. Es ist möglich, daß dem Herzog beigebracht worden, der Kastellan habe seine Heilung viel mehr seiner guten Konstitution als meiner Kunst zu danken, und was meiner Vermutung einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit gab, war, daß ich bei der bald darauf erfolgten Krankheit des Grafen von Zeppelin, seines Jugendfreundes und Lieblings, nicht beigezogen wurde. Der Arzt, der ihn behandelte, war Hopfengärtner, zwar der würdige Sohn seines großen Vaters, aber doch ein viel jüngerer Arzt als ich. Der Graf lag an einem typhösen Fieber darnieder, das anfangs nicht bedenklich schien, und Hopfengärtner behandelte ihn allein; erst als die Krankheit gefährlicher geworden, wurden noch andere Ärzte beigezogen, unter denen ich nicht war, obgleich die Gemahlin des Herzogs auch meinen Beirat wünschte, aber mit den Worten von ihm abgewiesen wurde, der Kranke sei verloren, er habe der Ärzte genug und noch einen beizuziehen wäre überflüssig. – Ich kann nicht leugnen, daß mich diese Hintansetzung verdroß. Bei der günstigen Meinung, welche der Herzog als Arzt von mir zu haben schien, war es natürlich, daß mir der Gedanke oft kam, ich könnte früher oder später Leibarzt des Herzogs werden, und was mich noch mehr bewog, diesem Gedanken Raum zu geben, war, daß ich in der Folge öfters auf Befehl des Kurfürsten3 Kranke aus seiner Umgebung mitbehandeln mußte, wie z.B. die damalige Verwalterin auf seiner[166] Meierei in Ludwigsburg, die an der Wassersucht litt und an deren Wiederherstellung dem Kurfürsten sehr viel gelegen war. Die Verwalterin war eine ledige Weibsperson, schon ziemlich bei Jahren, und die Ärzte, die sie behandelten, waren die Leibärzte des Kurfürsten Duvernoy und Hardegg. Die Meierei stand unter der Oberaufsicht des Gartenintendanten, Hofrats Döring, dessen Hausarzt ich war. Als ich ihn zufällig besuchte, hatte er eben aus Stuttgart ein Schreiben des Kurfürsten erhalten, in welchem ihm befohlen war, daß er mich unverzüglich auffordern solle, mich zu der kranken Meiereiverwalterin zu begeben, sie gemeinschaftlich mit den zwei andern Ärzten zu behandeln und ihm offen zu sagen, was ich von ihrem Zustand halte. Ich besuchte die Kranke sogleich, wollte aber für mich allein nichts vornehmen, und erst am folgenden Morgen kam ich mit den zwei genannten Ärzten zusammen. Ich erklärte die Kranke für unheilbar, die andern Ärzte erklärten dasselbe, wie sie aber hörten, mein Urteil solle von dem Hofrat Döring dem Kurfürsten, wie ich es ausgesprochen, berichtet werden, sagten sie, der Kurfürst wisse noch gar nichts von Gefahr, er hoffe noch immer das Beste und man müsse ihm die Gefahr erst von ferne zeigen. Damit könne ich nicht übereinstimmen, erwiderte ich, der Kurfürst verlange, daß ich mein Urteil geradezu aussprechen soll, das müsse und werde ich auch tun. Der Bericht des Hofrats war an den Kurfürsten abgegangen, unsere gemeinschaftliche Behandlung der Kranken hatte begonnen, und es waren kaum zehn Tage vorüber, so ging es auffallend mit ihr besser, ja die Besserung schritt dergestalt vorwärts, daß, wie der Kurfürst ein paar Wochen, darauf nach Ludwigsburg kam und die Meierei besuchte, die Verwalterin ihm beim Eintritt in das Haus, dem Ansehen nach völlig geheilt, entgegenkam. Der Kurfürst, erfreut darüber, sagte ihr scherzend, daß er, wenn er das nächste Mal wiederkomme, mit ihr tanzen werde. Teils zu ihrer Pflege, teils zur einstweiligen Besorgung ihrer Geschäfte hatte die Verwalterin ihre Schwester kommen lassen. Der Kurfürst fand in der Meierei alles in der besten Ordnung. Er speiste daselbst mit dem Oberstallmeister von Dillen zu Mittag, bezeigte gegen[167] diesen seine Freude über das Besserbefinden der Verwalterin, bemerkte aber, daß er demselben doch nicht ganz traue, da ich so bestimmt erklärt hätte, sie werde nicht davonkommen, und befahl dem Oberstallmeister, auf den Fall ihres Todes ihre Schwester, mit welcher er ganz zu frieden sei, vorläufig in Pflicht zu nehmen. Diese Verpflichtung wurde vorgenommen, die genesene Verwalterin blieb ein paar Wochen lang anscheinend ganz gesund, die Wassersucht hatte sich völlig verloren; aber auf einmal traf sie der Schlag, nach zwei Tagen starb sie, und meine Prognose war gerechtfertigt.


Es konnte nicht fehlen, dieses Eintreffen der Prognose mußte den Kurfürsten in seiner guten Meinung von mir um so mehr bestärken, da er an dieselbe schon vor ihrem Eintreffen geglaubt hatte. Aber bei der Besetzung einer bald hierauf erledigten Leibarztstelle war von mir keine Rede. Die erledigte Stelle erhielt Hopfengärtner, und als weiterhin wieder einer der Leibärzte starb, rief er mich wieder nicht, sondern den Sohn des früher verstorbenen Leibarzts Jäger. Daß der Kurfürst den Sohn Hopfengärtners zum Leibarzt gewählt, ist leicht erklärlich, da der Vater bei der ganzen fürstlichen Familie in einem Ansehen gestanden, in welchem vielleicht nie ein fürstlicher Leibarzt gestanden hat, und auch bei Jäger mag das Verdienst seines Vaters um die fürstliche Familie den Kurfürsten bei seiner Wahl vorzüglich bestimmt haben; genug, der Kurfürst dachte nicht daran, mich zu seinem Leibarzt zu berufen. Ich blieb wie zuvor Physikus, und obschon jene Hintansetzung an sich mich nicht sonderlich schmerzte, denn ich wußte zu wohl, was es für eine mißliche Stellung ist, Leibarzt eines Fürsten zu sein, und zumal eines Fürsten wie der Kurfürst, so gab es doch keinen Weg für mich weiterzukommen als die Berufung zu einer Leibarztstelle. Ich hatte zwar als erster Physikus in Ludwigsburg über nichts zu klagen, ich hatte eine bedeutende Praxis, ich war beliebt beim Publikum, in allen Familien, deren Hausarzt ich war, war ich auch Hausfreund, kurz, ich hatte alle Ursache, mit meiner Lage zufrieden zu sein. Aber ich war bereits dreiundvierzig Jahre alt, ich war einige Male[168] krank geworden, ich hatte ein typhöses Fieber überstanden, von welchem ich mich erst nach mehreren Wochen vollkommen erholte, ich mußte an die Herannäherung der Zeit denken, wo ich die Beschwerden des praktischen Lebens nicht mehr wie in meinen jüngern Jahren würde aushalten können, und nichts war daher natürlicher, als daß ich mich an den Rat Schillers erinnerte, mein Physikat mit einem Professorat auf einer Universität zu vertauschen, und den Entschluß faßte, bei der nächsten sich darbietenden Gelegenheit seinem Rat zu folgen.

Nun ist es freilich eine mißliche Sache, sich um ein Professorat auf einer Universität zu melden. Vokationen gelangen gewöhnlich nur an schon auf andern Universitäten angestellte Professoren, sehr selten an praktische Ärzte, es sei denn, daß sie sich auch als Schriftsteller einen bedeutenden Grad von Zelebrität erworben haben. Dies war nicht der Fall bei mir. Ich hatte zwar schon verschiedenes geschrieben, aber nichts, was mir einen großen Ruf hätte verschaffen können. Überdies hatte ich mich bereits als einen Anhänger des Brownianismus bekanntgemacht, und wenn dies wahrscheinlich ein Hauptgrund war, warum der Kurfürst mich nicht zu seinem Leibarzt berief, so mußte es auch meine Vokation an eine Universität erschweren, da sich nur die wenigsten Professoren auf unsern deutschen Universitäten zu dieser neuen Lehre bekannt hatten oder vielmehr entschiedene Widersacher derselben waren. – Indessen eröffnete sich mir ganz unerwartet eine Aussicht zu einem Professorat, und zwar auf einer der ersten Universitäten Deutschlands. Durch meine Freunde in Stuttgart war ich nämlich mit dem daselbst wohnenden und schon obengenannten Legationsrat Huber bekannt geworden. Ich lernte den an Geist und Herz gleich trefflichen Mann bald näher kennen und so auch seine geistreiche, vielseitig gebildete Frau. Wir kamen öfters in Stuttgart und in Ludwigsburg zusammen, es knüpfte sich ein engerer Freundschaftsbund unter uns, und bald wurde ich so vertraut mit dem braven Mann, daß ich kein Geheimnis mehr vor ihm hatte. So sprach ich denn unverhohlen auch meinen Wunsch gegen ihn aus, Professor auf einer Universität zu[169] wer den, sobald ich eine Gelegenheit dazu finden würde. Ich dachte nicht daran, als ich über die Sache mit ihm sprach, daß seine Frau eine Tochter des berühmten, einflußreichen Hofrats und Professors Heyne in Göttingen sei; aber er faßte das zu ihm gesprochene Wort auf, und ohne sich irgend darüber zu äußern, noch viel weniger sich mir zum Mittler anzubieten und deshalb an seinen Schwiegervater schreiben zu wollen, las er einige Wochen später mir einen Brief von demselben vor, des Inhalts, es sei eben ein medizinisches Professorat in Göttingen erledigt worden und er solle mich fragen, ob ich nicht Lust zu demselben hätte. Da die erledigte Stelle – es war dieselbe, welche nachher Himly erhielt – gerade für mich paßte, so erklärte ich mich bereit zur Annahme derselben, nur bemerkte ich, daß ich als ein erklärter Brownianer von der medizinischen Fakultät wahrscheinlich perhorresziert werden würde. Ich konnte dies mit Recht fürchten, da ich wußte, daß wenigstens die Mehrzahl der Professoren der Medizin daselbst aus altgläubigen Ärzten bestehe, welche es nicht zugeben würden, daß ein Brownianer in die Fakultät eintrete. Was ich gefürchtet hatte, geschah. Ich wurde wirklich perhorresziert, wenigstens erhielt Huber keinen Brief mehr wegen meiner von seinem Schwiegervater, und begreiflich tat auch ich von meiner Seite keinen Schritt weiter.

So war es also mit Göttingen nichts, Himly kam an die erledigte Stelle. Allein nun erhielt ich einen Brief von Schiller, der mir schrieb, es sei ein Professorat in Jena offen, das ganz für mich passe, auch habe er bereits da und dort Schritte für mich getan, Loder und noch mehrere Professoren seien mir günstig, auch Goethe und Wolzogen seien für mich gestimmt, und ich sollte mich nur bereithalten, denn meine Berufung werde nächstens folgen. Der Ruf erfolgte nicht, es waren die Herbstferien eingetreten, da erhielt ich unvermutet einen Besuch von meinem Landsmann Paulus. Dieser verhehlte mir nicht, daß er von der Universitätskuratel in Jena beauftragt sei, sich zu erkundigen, ob ich wohl der Mann sei, der die offene Stelle an der Universität ausfüllen werde. Er werde nun, fuhr er fort, an die Kuratel schreiben, doch rate er mir nicht zur[170] Annahme der Stelle, Jena sei nicht mehr, was es früher gewesen, er selbst sei gesonnen, Jena zu verlassen, ebenso auch Schelling und noch einige andere Professoren, dagegen rate er mir, mich um ein Professorat in Würzburg zu bewerben, was auch seine und Schellings Absicht sei und was ich um so gewisser mit Erfolg tun könne, da der Kurator der dortigen Universität mein Jugendfreund, der Graf von Thürheim, sei. Der Vorschlag leuchtete mir ein, und ich war um so geneigter, ihn zu befolgen, da mir Hardegg, der ein volles Jahr in Würzburg studiert hatte, die trefflichen Anstalten für die Medizin daselbst so oft geschildert hatte. Überdies kam auch bald nach Paulus Schelling zu mir, der mir den nämlichen Rat gab. Seine Vorstellungen brachten meinen Entschluß zur Reife, und als ich eben im Begriff war, an den Grafen von Thürheim zu schreiben, erhielt ich einen Brief von ihm, worin er mich fragte, ob ich nicht Lust zu einem Professorat in Würzburg hätte. Ich beantwortete die Frage ungesäumt mit ja, und einige Wochen darauf erhielt ich meine Berufung dahin. Natürlich wurde Schiller hiervon sogleich benachrichtigt. Er konnte mir nicht übelnehmen, daß ich ein Professorat in Würzburg einem in Jena vorgezogen, er billigte es vielmehr, obschon es ihm wie mir sehr leid tat, daß das Schicksal nicht gewollt, daß wir wieder zusammenkämen. Da ich den Ruf nach Jena noch nicht erhalten hatte, so brauchte ich ihn auch nicht abzulehnen. Die Sache blieb also auf sich beruhen, und ich hatte nun nichts zu tun, als meine Entlassung aus den württenbergschen Diensten bei meinem Landesherrn nachzusuchen. Die Entlassung wurde mir ungern von dem Kurfürsten bewilligt, und auch mir fiel es schwer, mein Vaterland, meine Familie und so viele Freunde, die ich mir als Arzt, und ich glaube auch als Mensch, erworben hatte, zu verlassen. Auch ihnen fiel meine Entfernung aus ihrer Mitte schwer. Wie ich von ihnen, nahmen sie auch von mir Abschied mit Wehmut, und am Vorabend meiner Abreise gaben sie mir noch ein Abschiedsmahl in einem Gasthof, von welchem auch die vornehmsten Personen der Stadt sich nicht ausschlossen.

Fußnoten

1 Er wurde Erbprinz im Jahr 1795, wo sein Vater Friederich Eugen die Regierung angetreten hatte.


2 Er trat die Regierung als Friederich der Zweite in dem Jahr 1797 an.


3 Der Herzog wurde Kurfürst im Jahr 1801.


Quelle:
Hoven, Friedrich Wilhelm von: Lebenserinnerungen. Berlin 1984, S. 171.
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