Akademische Studien 1780–1783
Jena

[53] Der liebe Vater hatte es sehr gut berechnet. Meine älteste Schwester war an den herrlichen Professor Weber aus Rostock verheiratet, ein Mann wie ein Engel; da konnte ich zwar nicht wohnen, aber sie sollten Aufsicht über mich haben. Dann waren Loder, Stark Freunde unseres Hauses. – Aber was helfen alle Berechnungen und Aufsichten bei einem jungen Menschen von 18 Jahren, der zum ersten Male in die Freiheit kommt. Der Ton unter den Studierenden in Jena war damals über alle Maßen roh, liederlich und ausgelassen, der echte alte Komment in voller Herrschaft;[53] Landsmannschaften, Kommerse, Sanfgelage, Schlägereien an der Tagesordnung. Und gerade der Schwager Eichhorns, an dessen Haus ich besonders empfohlen, war einer der ärgsten Renommisten. So kam ich allerdings in solche Verbindungen. Aber mein guter Engel und Gottes Gnade haben mich dennoch auch hier bewahrt, daß ich nicht vom Wege der Tugend abgewichen und in grobe Ausschweifungen verfallen bin. Da habe ich recht, trotz alles bösen Beispiels und aller Versuchungen, die Kraft einer frommen religiösen Erziehung erfahren. Nur der Ernst des Studiums, der Fleiß, das beständige Denken an dic cur hic litten unter dieser Umgebung, wozu noch die herrliche Natur, die mehr hinaus als herein ins Haus lockte, das ihrige beitrug.

Das einzige, was ich wirklich in Jena gelernt habe und was ich noch ewig dem werten Loder verdanke, ist Anatomie, und ich kann sagen, daß ich alles, was ich davon weiß, ihm zu danken habe; denn er war einzig als Lehrer dieser schweren Wissenschaft und hatte eine Gabe des Vortrags, seinen Gegenstand lebendig und deutlich zu machen, wie ich sie nachher nie wieder gefunden habe. Dieser Lehrer zeigte recht, daß es nicht von der Menge der Kadaver, sondern von der Methode[54] und Bemühung des Lehrers abhängt, wenn man etwas lernt; denn mit zwei Kadavern – mehr hatten wir den ganzen Winter hindurch nicht – hat er uns vortrefflich und hinreichend unterrichtet.

Außer den oben Genannten waren meine Freunde Kotzebue, Schulz und ein gewisser Schweickert, ein stiller, fleißiger Mensch, der mit mir in einem Hause wohnte.


Göttingen

Mein teurer Vater merkte wohl, daß ich in Jena nicht so viel lernte, als ich sollte, und zu viel Geschmack an den Vergnügungen bekam. Auch bin ich überzeugt, daß, wenn ich in Jena geblieben wäre, es mit meiner wissenschaftlichen Bildung ziemlich mittelmäßig ausgesehen haben würde. Es wurde also beschlossen, mich Ostern 1781 nach Göttingen zu schicken, einer Universität, die damals, besonders in der Medizin, allen anderen vorstand. Männer wie Richter, Murray, Baldinger, Wrisberg, Blumenbach, Gmelin machten die medizinische Fakultät aus; außerdem Schlözer, Lichtenberg, Kastner, [55] Gatterer, Heyne, Spittler, lauter Heroen der gelehrten Welt. Ich reiste in Gesellschaft des Stud. Grellmann, eines mehrere Jahre älteren, gesetzten, ernsten, streng sittlichen Menschen, der auch seine Studien in Göttingen vollenden wollte, der mit mir in ein Haus zog und, wie ich nachher erst anzunehmen Ursache hatte, im stillen vom Vater beauftragt war, mein beratender Freund und Beobachter zu sein, ohne daß ich es je bemerkt habe.

Ich kann nicht leugnen, daß mit der Versetzung nach Göttingen eine totale Veränderung in meinem ganzen Wesen vorging. War es der Einfluß der Göttinger Luft oder des dort herrschenden Geistes, der auch unter den Studierenden mehr Fleiß, Anständigkeit und Selbständigkeit hervorrief, oder die ernste gänzliche Abgeschiedenheit vom elterlichen Hause, das Gefühl der Fremde – wahrscheinlich alles vereint; genug, es ward stille in mir, und ich fand kein größeres Vergnügen, als meine Kollegia zu hören und dann auf meiner Stube zu studieren. Ich muß Göttingen den Dank zollen, daß es den Grund zu meiner ganzen Wissenschaftlichkeit gelegt hat. Dazu gesellte sich noch ein großer Grad von Schwermut, die überhaupt immer in der Tiefe meines Charakters lag, sowie zwei mein Herz tief betrübende[56] Ereignisse, erst der Tod meines lieben Schwagers Weber in Jena, dann der Tod meiner geliebten Mutter; sie starb plötzlich am Nervenschlage 1782. Mein Lieblingsgedanke war das Sterben und mein Lieblingslied:


Meines Lebens Zeit verstreicht,

Stündlich eil' ich zu dem Grabe.


Besonders gegenwärtig war mir immer der Vers:


Schein' ich von dir verlassen,

So will ich mich doch fassen

Und deiner Hilfe trau'n,

Und wenn ich auf dieser Erde

Nicht groß, nicht glücklich werde,

Voll Glaubens in die Zukunft schau'n.


Von großem Nutzen war mir der nahe Umgang mit Lichtenberg und Osann, zu dem ich in den letzten anderthalb Jahren ins Haus zog, und der mir durch die Liebenswürdigkeit seines Charakters, seine Wissenschaft und praktische Geschicklichkeit als Freund, Muster und Lehrer von großem Werte war und unvergeßlich bleibt. Groschke und Neufville waren meine[57] einzigen näheren akademischen Freunde. Richter, Blumenbach und Lichtenberg haben den stärksten Einfluß auf meine Bildung gehabt. Dem trefflichen Richter verdanke ich die vorwaltende praktische Richtung in der Wissenschaft, die mir durch mein ganzes Leben treu geblieben ist.

In dem heißen trocknen Sommer des Jahres 1783, wo nach dem Erdbeben in Kalabrien ein trockner Höherauch die ganze Luft erfüllte, promovierte ich den 24. Juli mit der Dissertation de usu vis electricae in Asphyxia (Opponentibus Hufeland, Girtanner, Groschke) und reiste den folgenden Tag nach Weimar ab.

Quelle:
Hufeland. Leibarzt und Volkserzieher. Selbstbiographie von Christoph Wilhelm Hufeland. Stuttgart 1937, S. 53-58.
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