Mein Vater

[13] Ein »selfmade man«, hat sich mein Vater vom armen Bauernjungen zum tüchtigen Arzte heraufgearbeitet. Je älter und einsichtiger ich geworden bin, desto besser lernte ich die Schwierigkeiten ermessen, die er dabei überwinden mußte, wobei ich freilich zugebe, daß es ihm mit den Mitteln, womit es damals gelang, heute nicht mehr gelingen könnte. – Was ich am meisten bewunderte, war, daß er sich, obwohl er unter der Dorfjugend aufgewachsen war und kein Gymnasium besucht[13] hatte, doch eine gute allgemeine Bildung verschaffte, eine gewählte Sprache und gewinnende Umgangsformen. Ein kenntnisreicher Mann von heiterem Gemüt, von Geist und Witz, war er ein angenehmer Gesellschafter, wenn sein schwerer Beruf ihm Zeit dazu ließ. Sein klarer Verstand hielt ihn frei von Aber- und Wunderglauben, ebenso von dem Unglauben, der in den vierziger Jahren bei den deutschen Ärzten einriß; er blieb fest im Glauben an die hippokratische Heilkunst.

Auch an Sonn- und Feiertagen war dem unermüdlichen Manne wenig Muße vergönnt. Neben seinem Amt als Physikus – so hießen damals die Bezirksärzte – besorgte er eine große Privatpraxis, meist zu Fuße. Er stand in der Regel schon vor der Sonne auf und marschierte oft sechs bis acht Stunden am Tage. In 29jährigem Staatsdienst nahm er nur einmal einen Urlaub von mehreren Wochen.

Seine ruhige und teilnehmende Art, mit den Kranken zu verkehren, gewann ihm überall, wo er sich niederließ, bald das Vertrauen der Leute. Niemals stieg er, um die Gunst der Menge buhlend, von der Höhe seiner Bildungsstufe herab, gegen Vornehm und Nieder bewahrte er die gleiche achtungsvolle Höflichkeit. Diese hält dem Arzte die Gemeinheit ferne und gewinnt ihm besser als rohe Manieren auch die Wertschätzung der Niedergestellten, die sich durch höfliches Benehmen der höher Gebildeten geehrt und gehoben fühlen.

So rastlos tätige Ärzte erreichen selten ein hohes Alter, am wenigsten in der Landpraxis. Sie sind, wie Soldaten im Feld, stets in Gefahr, alarmiert zu werden, oder im Gefecht. Das unregelmäßige Leben voller Verantwortung und ohne ausreichenden Schlaf und längere Erholung zehrt die Kraft des Körpers und namentlich die des Herzens vor der Zeit auf. Das wunderbare Pumpwerk, das den Leib Tag und Nacht ununterbrochen mit Blut versorgen muß, wenn nicht die ganze Maschine fast augenblicklich stillestehen soll, schlägt beim Erwachsenen im Jahre mehr als sechsunddreißigundeinhalb Millionen mal, beim Kinde noch öfter. Diese riesige Arbeit vermag es bei guter Leibesbeschaffenheit 70 Jahre und länger auszuführen, wenn nicht übermäßige Ansprüche die Leistungsfähigkeit des feinen Werkes[14] früher abnützen. Mein Vater brachte sein Leben nur auf 60 Jahre, obwohl er nüchtern und einfach lebte, nur wenig gewürzte Kost nahm und leichten Landwein mäßig trank. Dem Kaffee allein war er fast leidenschaftlich ergeben, er trank ihn viel und stark; ich bin überzeugt, er wirkte nachteilig auf sein Herz und half sein Leben verkürzen. Er kannte seine Schädlichkeit und beschwor mich, den Kaffee zu meiden, konnte selbst aber nicht davon lassen.

Weil ich meinen Vater der ärztlichen Praxis mit Liebe und Eifer nachgehen sah, bin auch ich seinem Vorbilde gefolgt und Arzt geworden. Er nahm mich schon als Kind oft mit zu den Kranken auswärts. Mir schien der Beruf des Landarztes der beste. War es doch wunderschön, unter freiem Himmel durch Flur und Feld, Wald und Wiese zu streifen! Bäuerin und Edelfrau empfingen meinen Vater mit herzlicher Verehrung, und ein Teil ihrer Wertschätzung fiel sogar auf sein Söhnchen ab. Ein Zoll ihrer Dankbarkeit in Gestalt von Obst und Backwerk füllte beim Abschied meine Taschen. Als Physikus war mein Vater überdies eine Respektsperson, nur vor dem Herrn Oberamtmann zogen Bürger und Bauer den Hut tiefer herab. Ich wollte Landarzt werden und schließlich Physikus, dies stand fest bei mir. Nur eine Zeitlang schwankte ich, ob ich nicht den Beruf eines Landgeistlichen vorziehen sollte, nachdem ich den köstlichen Frieden eines Landpfarrhauses gekostet, wo ich, wie das einzige Kind gehalten, zwei Jahre lang verweilt hatte, doch kehrte ich zu meinem ersten Vorsatz zurück, sobald ich wieder meinen Vater ärztlich wirken und walten sah.

Der Geburtsort meines Vaters, die Wiege unseres Geschlechts, war Soellingen, ein Dorf der alten Markgrafschaft Baden-Durlach in dem lieblichen Pfinztal an der Straße von Durlach nach Pforzheim. Er kam hier am 23. Dezember 1790 zur Welt. Mein Großvater, Johann Georg Kußmaul, wird in einer amtlichen Zuschrift, die ich bewahre, Chirurgus genannt. Mit diesem wohlklingenden Titel beehrte man die Feldscherer, doch besorgte er zweifelsohne die ganze ärztliche Praxis im Dorfe. Es war auf dem Lande noch nicht Brauch, studierte Ärzte aus den Städten zu Hilfe zu holen. Der Arzt aus der Amtsstadt[15] Durlach wurde, wie mir mein Vater erzählte, kaum zwei- bis dreimal im Jahr ins Dorf gerufen, und wenn er hereinfuhr, so liefen die Leute zusammen und fragten, wer denn sterben müsse. Denn nur, wenn es ans Sterben ging, ließ man den Doktor holen. – Mein Großvater starb schon mit 40 Jahren und ließ seine Witwe mit vier Kindern und wenig Mitteln zurück, doch meine Großmutter, obwohl nur auf den Betrieb einer kleinen Landwirtschaft angewiesen, schlug sich mit ihrer Familie tapfer durchs Leben und hatte noch die Freude, bei ihrem zum Arzte aufgestiegenen Sohne meine Taufe mitzufeiern.

Soellingen war lutherisch. Mein Vater besuchte bis zum 14. Jahre die Volksschule und half der Mutter in Haus und Feld. Im Herbst hütete er mit den andern Dorfkindern, wie es Brauch auf dem Land, das Vieh auf den Wiesen. Eines Tages ging der Pfarrer des Orts, ein gutmütiger Herr namens Jäger, spazieren und sah den Knaben, ein Buch in der Hand, bei den Kühen. Verwundert trat er zu ihm und besah das Buch, es war das lutherische Gesangbuch der baden-durlachschen Markgrafschaft. Sein Erstaunen wuchs, als er sich überzeugte, daß der junge Mensch, der eben aus der Schule entlassen war, sämtliche Lieder des Gesangbuchs auswendig hersagen konnte. Dieser ungewöhnliche Trieb zu lernen und das gute Gedächtnis des Knaben machten einen solchen Eindruck auf ihn, daß er sich seiner annahm, ihm lateinischen Unterricht erteilte und Lehrbücher schenkte. Nach einiger Zeit tat er noch mehr. Weil der Knabe Wundarzt zu werden wünschte, benahm er sich mit dem befreundeten Amtschirurgen in Durlach und interessierte ihn für seinen Günstling.

Der Amtschirurg hieß Kaercher und war der Vater des um das badische Schulwesen verdienten Philologen und Direktors des Karlsruher Lyzeums Ernst Friedrich Kaercher. Er war ebenso gutmütig wie der Soellinger Pfarrer, jovial und ein guter Wundarzt. Obwohl er viel beschäftigt war, versprach er, den jungen Menschen gleichfalls zu unterrichten. Mein Vater mußte an mehreren Wochentagen nach Durlach gehen, wo ihn Kaercher in der Knochenlehre und den Anfangsgründen der Anatomie überhaupt, auch in der Verbandlehre und Wundbehandlung,[16] unterwies und mitunter auf die Praxis mitnahm. Mit tiefer Rührung erzählte mir mein Vater: Bisweilen sei Kaercher morgens über Land gewesen und müde und hungrig heimgekommen; er hatte eben gespeist, sein Schöppchen Wein getrunken und zu einem Schläfchen sich ausgestreckt, wenn der Schüler in das Zimmer trat; sogleich raffte er sich auf und begann den Unterricht.

Seine weitere chirurgische Schulung erhielt mein Vater in Bruchsal, ehemals, bis 1803, die Residenz der Fürstbischöfe von Speier. Aus der bischöflichen Zeit befand sich noch in Bruchsal eine Schule für Hebammen und Chirurgen, die der berühmte Johann Peter Frank, der von 1772 bis 1784 als Leibarzt des Fürstbischofs dort verweilte, eingerichtet hatte. – Nachdem mein Vater 1814 das Staatsexamen für Wundärzte in Karlsruhe abgelegt, wurde er Militärwundarzt bei den badischen Truppen, machte die Belagerung von Kehl und Straßburg mit und kam bis Lothringen. Hier befiel ihn der Typhus, vermutlich der Flecktyphus, den die Franzosen aus Rußland mitgebracht hatten. Auch unter den Alliierten und schließlich in der bürgerlichen Bevölkerung wütete die Seuche. Mein Vater machte, und wie er meinte zu seinem Glück, den Typhus großenteils auf Stroh im offenen Wagen durch. Man hatte, wie ich zuerst von ihm erfuhr, nach der Völkerschlacht bei Leipzig die typhösen Soldaten, die in offenen Schuppen lagen, besser davonkommen sehen als die in den Hospitälern untergebrachten. Er lehrte mich die reine Luft bei der Behandlung der typhösen Krankheiten in ihrem großen Werte schätzen. Es ist unglaublich, welche verkehrten Anschauungen bei Laien und Ärzten bis tief in unser Jahrhundert herein auf diesem Gebiete der Heilkunst herrschten. Als ich in Kandern praktizierte, erzählte mir ein alter Bauer in Sitzenkirch, einem nahegelegenen Dörfchen, von der schlimmen Seuche, die während des Krieges von 1814 bis 1815 dort in den Höfen und Hütten herrschte. Man sperrte die Kranken von der äußeren Luft ab, hielt die Fenster geschlossen und verwehrte den Durstigen Wasser zu trinken. Glücklicherweise sei ein Militärarzt durch Sitzenkirch gekommen und habe sich der Unglücklichen erbarmt, die Leute belehrt, Luft in[17] die Stuben gelassen und die Kranken mit Wasser erquickt. Danach nahm die Sterblichkeit ab. Der alte Physikus B. in Kandern aber habe von dieser »neuen Methode, das Nervenfieber zu behandeln«, nichts wissen wollen, er scheute das Wasser noch mehr als die Luft. »Es hat ihm arg gruset vor dem Wasser«, so versicherte mir der Alte, »aber vom Wi hat er sölli viel ghalte.«

Nach beendigtem Kriege verschaffte sich mein Vater durch die chirurgische Praxis die nötigen Mittel, um sich zunächst in Privatstunden die Kenntnisse für die gymnasiale Reifeprüfung zu verschaffen. Er bestand sie glücklich. – Welche Anforderungen in Latein und Griechisch an den Kandidaten gestellt wurden, weiß ich nicht, nur so viel, daß er in beiden Sprachen geprüft wurde, im Lateinischen noch als Physikus etwas, im Griechischen nicht mehr bewandert war. Jedenfalls aber wog er als Lateiner bedeutend mehr als sein Physikatsvorgänger in Wiesloch, ein alter, in einer Klosterschule erzogener Herr, dessen Rezepte den Apotheker mitunter in große Verlegenheit brachten. Er verordnete eines Tages einem viel geblähten Amtsschreiber eine Unze »carponis animalis«, zu deutsch: Karpfen aus dem Tierreich. Der Apotheker lief zu meinem Vater und klagte: Er könne sich unmöglich zu seinem Blutegelteich auch noch einen Karpfenteich anlegen. – Mein Vater beruhigte ihn: Der alte Kollege meine sicherlich Knochenasche, »carbo animalis«, Karpfen beziehe man ja besser und billiger als aus der Apotheke aus dem Gasthof zu den drei Königen.

Sehr gut war mein Vater in der Botanik beschlagen. Ihm verdanke ich meine ersten Kenntnisse in dieser »scientia amabilis«, er lehrte mich Pflanzen suchen, bestimmen, sammeln und im Kräuterbuch geordnet einlegen. Die alten Ärzte schätzten die beschreibende Botanik in der Art, wie sie mein Vater mich betreiben lehrte, sehr hoch. In der Tat übt sie schon das Auge des Knaben für die künftigen ärztlichen Diagnosen.

Nach überstandener Maturitätsprüfung erhielt mein Vater die damals nötige Staatserlaubnis, an der Universität Medizin zu studieren. Er wandte sich zuerst nach Heidelberg und von da im Frühjahr 1819 nach Würzburg, wo gerade das leuchtende Gestirn Schoenleins aufgegangen war. Außer der Klinik Schoenleins[18] besuchte er noch die anatomischen Vorlesungen Hesselbachs und die physiologischen Doellingers. Er verweilte in Würzburg bis in den August 1820 und machte dann im Herbst das Karlsruher Staatsexamen in der inneren Medizin. Nunmehr besaß er die Lizenz in den drei Fächern der Heilkunde als »Arzt, Wundarzt und Hebarzt«, wie das Diplom lautete. Seine Ausdauer, sein Talent feierten den verdienten Triumph.

Gleich nach dem Staatsexamen erhielt mein Vater die Stelle eines Assistenzarztes bei dem Landamt Karlsruhe in dem Marktflecken Graben und den Titel eines großherzoglichen Stabsarztes. Er hatte in Durlach meine Mutter kennengelernt, Luise Böhringer, die jüngste Tochter des bereits verstorbenen, mit Kindern reich gesegneten Besitzers der Glasfabrik Buhlbach bei Freudenstadt in Württemberg, und führte sie 1821 heim. Ein Jahr nachher kam ich zur Welt. Die glücklichen Eltern begrüßten den Erstgeborenen zärtlichst, und mein Vater erwies mir die erdenklichsten medizinischen Aufmerksamkeiten, untersuchte mich überall sorglich und legte mich auf die Waage. Ich wog sechseinhalb Pfund, ward somit leicht befunden, doch schien meine übrige Beschaffenheit zu guten Erwartungen zu berechtigen. Im weiteren Verlauf der Ehe kamen noch sechs Geschwister.

Von Graben wurde mein Vater 1823 mit dem Titel eines Amtschirurgen nach Emmendingen im Breisgau versetzt, von da 1828 als Physikus nach Boxberg im Taubergrund, zuletzt, fünf Jahre später, nach Wiesloch bei Heidelberg.

Im Sommer 1850 raffte den teuern Mann ein Herzschlag mitten aus der Tätigkeit hinweg. Seit 30 Jahren litt er an aussetzendem Puls ohne objektive Symptome eines organischen Herzleidens. In den letzten Jahren war das Aussetzen häufiger geworden und hielt länger an. Er mußte unterwegs öfter stehenbleiben und wurde von Schwindel befallen mit Verdunkelung des Gesichts. Er hielt mir in solchen Fällen den Arm hin zum Befühlen des Pulses und prophezeite, er werde plötzlich auf der Straße sterben. Scherzend trug er mir auf, ihn zu sezieren. »Du glaubst nicht«, fügte er bei, »wie sehr dein Befund mich interessiert.« Es traf ein, wie er vorausgesagt hatte. Auf dem[19] Heimweg von der Praxis sank er beim Überschreiten eines Brückenstegs lautlos zusammen.

Ein meinem Vater befreundeter Kollege führte seinen Wunsch aus. Das Herzfleisch des mageren Mannes hatte sich in der rastlosen Arbeit aufgezehrt, es war wie blaßgelbes Wachs geworden. Andere Fehler zeigte das Organ nicht.

Quelle:
Kussmaul, Adolf: Jugenderinnerungen eines alten Arztes. München 1960, S. 13-20.
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