Das Schwabenkorps

[66] In den ersten Wochen des Semesters lebte ich ausschließlich meinem Studium, saß untertags in den Hörsälen oder dem anatomischen Präpariersaal und abends auf meiner Bude hinter den Büchern – kurz gesagt, ich war, was der flotte Bursch ein richtiges Kamel nannte. Auf die Dauer jedoch war ich zum Einsiedler nicht geschaffen.

Einer meiner früheren Schulkameraden redete mir eines Abends zu, ihn auf die Schwabenkneipe zu begleiten; er war Mitkneipant des Korps geworden. Die Korps gewährten unbescholtenen Studenten die Gunst, gegen einen mäßigen Beitrag ihre Kneipe und ihren Fechtboden zu besuchen, sich auf diesem im Schlagen zu üben, sicherten ihnen außerdem Schutz und bei etwaigen Ehrenhändeln Waffen und Sekundanten zu. Besondere Verpflichtungen übernahm der Mitkneipant nicht. Ich folgte der Einladung, um mir die Gesellschaft anzusehen; wenn sie mir nicht gefiel, so brauchte ich nicht wiederzukommen.

Die Suevia war das älteste Korps in Heidelberg, das seit 1810 bestand. Auch hatte es seit einer langen Reihe von Jahren dieselbe Kneipe in Miete, ein großes Lokal in bester Lage der Stadt an der Hauptstraße, gegenüber der Winterschen Buchhandlung, in der nunmehr eingegangenen Brauerei zur alten Pfalz, zwischen Hauptstraße und Ludwigsplatz. Die Kneipe war, wie alle Korpskneipen jener Zeit, sehr einfach eingerichtet, sie hatte nur Tische, die in Hufeisenform aneinandergereiht standen, und ungefähr 40 Holzstühle. Die Wände waren mit Bildern behangen, teils mit, teils ohne Rahmen, meist Lithographien: Porträts alter Schwaben oder Aufnahmen des ganzen Korps, auch Darstellungen des Burschenlebens und mancherlei Scherze anderer Art. Eigene Klubhäuser, wie sie die Verbindungen heute besitzen, gab es nicht.

Die Kneipe war an diesem Abend stark besucht, die Gesellschaft sehr aufgeräumt, und ich unterhielt mich gut. Namentlich gefiel mir mein Nachbar, der stud. jur. Karl Wieland aus Karlsruhe. Er stand schon im vorletzten Semester und war nur[67] noch »passives« Mitglied der Verbindung; er sprudelte geradezu von neckischen und witzigen, mitunter bizarren Einfällen, seine Augen blitzten von munterem Feuer, auf der linken Wange trug er eine kurze, aber tiefe Hiebnarbe. Wir wurden gute Freunde. Ein Jahr nachher machte er sein Staatsexamen und brachte es im Laufe der Jahre bis zum Senatspräsidenten am Oberlandesgericht in Karlsruhe, wo der liebenswürdige und geistreiche Mann 1884 starb.

Da es mir bei diesem Besuche in der Suevia wohlgefallen hatte, ließ ich mich als Mitkneipant ein schreiben und kam an den drei oder vier vorgeschriebenen Kneipabenden in der Woche regelmäßig als Gast. Die Mitglieder der Verbindung waren fast lauter badische Landsleute, die meisten hatten das Karlsruher Lyzeum absolviert. Auch gehörten ihr einige Westfalen und preußische Rheinländer an, weil die Suevia mit dem Korps der Westfalen in Bonn ein Kartell eingegangen hatte.

Die neuen Freunde, die ich in der alten Pfalz gewann, rieten mir, in die Verbindung einzutreten. Mein Bedenken, es reiche mein Taschengeld nicht dazu aus, wußten sie zu zerstreuen. In der Tat war das Korpsleben noch billig, auch bei geringen Mitteln konnte man seine Freuden genießen. Bier und Tabak kosteten wenig. Die besseren bayerischen Biere waren freilich teuer, aber sie wurden nur ausnahmsweise getrunken, man fing überhaupt erst an, sie in einzelnen Restaurationen auszuschenken; der Transport aus den Bezugsorten München, Erlangen und Kulmbach war bei den wenigen fertigen Eisenbahnen noch allzu schwierig und kostspielig. Wein wurde nur bei Ausflügen und beim Stiftungsfest getrunken. Stutzerhafte Kleidung wurde verhöhnt. Der Haarkräusler verdiente bei den Musensöhnen noch wenig, nur ausnahmsweise, an Ballabenden, machte er bessere Geschäfte; der Student ordnete sein Haar mit eigener Hand, und viele trugen es lang. Man hatte noch keine besonderen Kneipröcke und saß am liebsten, wenn es die Wärme im Sommer oder der Ofen im Winter zuließ, zwanglos in Hemdsärmeln, viele mit dem bunten Zerevismützchen auf dem Haupt, die Korpsburschen mit dem Band um die Brust. Die Mitkneipanten mußten sich mit der einfachen schwarzen Mütze begnügen,[68] die Renoncen oder Korpsfüchse hatten das Anrecht auf die Farben Schwarz und Gelb an Mütze und Pfeifenquasten, nur der Korpsbursch war berechtigt, in stolzer Würde das Band mit den drei Farben Schwarz-Gelb-Weiß zu tragen. Die später bevorzugte gelbe Mütze kam erst in den letzten Jahren meiner Studienzeit auf. – Um elf Uhr trat der Pedell, Pudel genannt, in die Kneipe und gebot Feierabend. Er nahm keine Notiz von den farbigen Abzeichen, denn die Korps waren, obwohl verboten, von den Behörden geduldet; auch bei öffentlichen Aufzügen prangten die Korps in ihren Farben.

So wagte ich es denn, noch vor Abschluß des Jahres 1840 um Aufnahme in die Verbindung einzukommen. Senior war der nachmalige badische Minister Rudolf von Freydorf; er nahm mich unter die Renoncen des Korps auf, und man erwartete, daß ich als braves Schwabenfüchsle möglichst bald die Mensurprobe ablegen werde. Ich übte mich fleißig auf dem Fechtboden, dessen Besuch Füchsen und Burschen zur heiligen Pflicht gemacht war. In kurzer Zeit war ich mit der Führung des Schlägers hinreichend vertraut, lernte auch etwas Säbel schlagen. Nachdem ich meine Tapferkeit an den Tag gelegt, wurde ich im Sommer 1841 unter die Burschen aufgenommen. Jetzt gehörte ich zu der studentischen Ritterschaft, worin Prinzen und Barone, Beamten- und Bauernsöhne einander als freie und gleiche Burschen ehrten; auf die »obskuren Kamele«, die sich kein farbiges Band im Turnier erstritten, sahen wir mitleidig, viele mit Verachtung herab.

Das Schlägerschlagen kräftigt den Arm, der die Waffe führt, aber die Muskeln des übrigen Leibes haben wenig Nutzen davon. An den drei Universitäten Jena, Erlangen und Würzburg hatte noch vor kurzem der Stoßkomment gegolten, die Mensuren wurden mit dem Stoßdegen, Pariser genannt, ausgefochten, man hatte sich deshalb dort auf dem Fechtboden mit Stoßrapieren eingeübt. Diese Übungen im Florett- und Stoßfechten nehmen weit mehr die gesamte Muskulatur in Anspruch als die mit dem Schlägerrapier und machen den Leib gewandter, aber die Mensur auf Pariser ist weit gefährlicher als die auf Schläger. Die spitze Klinge des Parisers drang leicht in die Lungen,[69] der Verletzte warf Blut aus und wurde nur zu oft siech und schwindsüchtig, wenn er nicht gar tot auf dem Platze blieb. Die Regierungen hatten lange vergeblich versucht, diese gefährlichen Paukereien aus der Welt zu schaffen; sie waren glücklich, als die Studenten endlich selbst den Stoßkomment mit dem minder bedenklichen Hiebkomment vertauschten.

Auf dem Fechtboden wurden die Füchse streng ermahnt, nicht bloß hauen, sondern auch parieren zu lernen. Geholzt sei nicht gefochten. Die Aufgabe eines guten Schlägers sei die, den Gegner zu zeichnen, aber man solle sich nicht zeichnen lassen. Es sei eine Schmach, wenn das Paukbuch, worin das Korps die sämtlichen von ihm ausgeteilten und empfangenen »Schmisse«, d.i. Wunden, eintrug, am Ende des Semesters eine Unterbilanz zeige und die Suevia vielleicht sogar eine Reihe von »Abfuhren« erlitten habe. »Abgeführt« war der Paukant dann, wenn er infolge der Verwundung den Kampf aufgeben mußte. – In dem besseren Parieren, vielleicht auch in der damals üblichen verhängten Auslage, die das Parieren leichter machte, mag die Ursache zu suchen sein, daß die greulichen Verunzierungen des Gesichtes, wie sie später so häufig waren, damals seltener vorkamen.

Neben dem Pauken spielte das Kommersieren eine wichtige Rolle im Leben der Korpsstudenten. Die Verbindung kommersierte unter sich oder bei dem Antritts- und Abschiedskommers der Korps mit allen andern zusammen, lud auch wohl befreundete ein oder wurde von diesen eingeladen. Das höchste Fest der Verbindung war der jährliche Stiftungskommers, der auswärts abgehalten wurde. Ein »solenner« Schmaus leitete ihn ein, und das edle Getränk des Bacchus floß in Strömen. Ehe die Feier begann, sorgten erfahrene Männer für die unentbehrliche Totenkammer, ein abgelegenes, mit gutem Stroh belegtes Asyl für die Abgefallenen. Es galt für ungehörig, sich vor dem Landesvater seiner vollen Burschenwürde zu begeben, aber nachher weder für schimpflich noch für unerläßlich. Den Preis errangen die starken Zecher, die bis zum Morgengrauen fortpokulierten und das nächtliche Werk mit tollem Unfug krönten.

Quelle:
Kussmaul, Adolf: Jugenderinnerungen eines alten Arztes. München 1960, S. 66-70.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Jugenderinnerungen eines alten Arztes
Jugenderinnerungen Eines Alten Arztes (German Edition)
Jugenderinnerungen Eines Alten Arztes. Mit Dem Bildnis Des Verfassers Nach Einem Gemalde Von Franz Lenbach, 2 Jugendbildnissen Und Einer Abbildung Der
Jugenderinnerungen eines alten Arztes. Mit dem Bildnis des Verfassers nach einem Gemälde von Franz Lenbach, 2 Jugendbildnissen und einer Abbildung der Denkmalbüste von B. Volz (German Edition)

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Napoleon oder Die hundert Tage. Ein Drama in fünf Aufzügen

Napoleon oder Die hundert Tage. Ein Drama in fünf Aufzügen

In die Zeit zwischen dem ersten März 1815, als Napoleon aus Elba zurückkehrt, und der Schlacht bei Waterloo am 18. Juni desselben Jahres konzentriert Grabbe das komplexe Wechselspiel zwischen Umbruch und Wiederherstellung, zwischen historischen Bedingungen und Konsequenzen. »Mit Napoleons Ende ward es mit der Welt, als wäre sie ein ausgelesenes Buch.« C.D.G.

138 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon