[107] Die badische Studien- und Prüfungsordnung für Mediziner bestimmte genau eine große Zahl naturwissenschaftlicher Fächer, die wir belegen mußten. Fehlte dem Kandidaten bei der schriftlichen Meldung zum Staatsexamen auch nur eines der vorgeschriebenen Besuchszeugnisse, so wurde er zurückgewiesen und nicht eher zugelassen, bis er das Versäumte nachgeholt hatte. – Wir nannten solche Vorlesungen, die wir nach Vorschrift und nicht aus eigener Wahl belegten Zwangskollegia.
Diesem Zwang lag die richtige Idee zugrunde, daß der Arzt in den Naturwissenschaften bewandert sein solle. Natur- und[107] Heilkunde sind Geschwister. Physikus und Medikus waren ehemals gleichbedeutend. In Baden und in anderen deutschen Staaten hießen die Bezirksärzte noch immer Physikus und noch heute tragen in England die bestgebildeten inneren Ärzte den Namen »Physician«. Der praktische Erfolg des Kollegienzwangs blieb freilich hinter dem erstrebten Ziel beträchtlich zurück.
Vorgeschrieben waren Vorlesungen über Physik, Chemie, Zoologie, Botanik und Mineralogie, außerdem die naturwissenschaftlich-medizinischen über medizinische Botanik und pharmazeutische Chemie. Im Staatsexamen wurde der Kandidat in allen diesen Fächern bis auf eines der wichtigsten, die Physik, geprüft.
Physik und Chemie hörte ich im ersten Semester, die beschreibenden Naturwissenschaften unklugerweise erst in späteren Semestern, nachdem die Kliniken das Interesse dafür bereits abgeschwächt hatten.
Ordentlicher Professor der Physik war G.W. Muncke, weit besuchter aber als die Vorlesungen des Ordinarius, waren die des Extraordinarius Philipp Jolly. Er war der ältere Bruder meines Mannheimer Schulkameraden Julius Jolly, hatte sich aus eigenen Mitteln ein schönes Kabinett eingerichtet, trug glänzend vor, experimentierte elegant und sicher, und wurde nach Munckes Tod 1846 dessen Nachfolger.
Leopold Gmelin, einer der verdientesten Veteranen der Ruperto Carola, trug in einem Semester und einer Vorlesung anorganische und organische Chemie vor. – Unser verehrter Lehrer war in Göttingen 1788 geboren, stammte aber aus der schwäbischen Familie Gmelin, die seit Beginn des achtzehnten Jahrhunderts auffallend viele und ausgezeichnete Naturforscher hervorgebracht hat. Er dozierte in Heidelberg seit 1813, wurde 1817 ordentlicher Professor und starb 1853. In der Medizin hat er sich durch seine bereits erwähnten, mit Tiedemann herausgegebenen Versuche über Verdauung berühmt gemacht, die Gmelinsche Probe auf Gallenfarbstoff ist jedem Arzt geläufig. Sein Äußeres war ungemein einnehmend, der prächtige Kopf mit dem geistvollen, freundlichen Gesichte von üppig[108] gelocktem, schneeweißem Haar umwallt; seine Freunde verglichen ihn treffend mit einem blühenden Kirschbaum. Merkwürdigerweise schien Gmelin im Vortrag befangen, wie ein Anfänger, er brachte die Worte stockend und hastend hervor, die zahlreichen Versuche aber, womit er das Gesagte begleitete, mißlangen ihm nie. – Praktische Übungen der Mediziner im chemischen Laboratorium waren noch nicht eingeführt, sie kamen erst durch Liebig in Gießen allmählich zur Aufnahme.
Im Jahre 1840 ließ sich Hermann Delffs aus Kiel, ein Schüler Pfaffs, als Dozent für Chemie in Heidelberg nieder. Zwei Hamburger Mediziner, Buck und Sonntag, hatten seine Vorlesungen belegt und rühmten seinen klaren und bündigen Vortrag, was mich veranlaßte, organische Chemie bei ihm zu belegen. Er machte die Hörer mit Liebigs epochemachenden Entdeckungen und grundlegenden Anschauungen bekannt. Obwohl er sie mit manchen bedenklichen Wenn und Aber begleitete, regten mich seine Mitteilungen dermaßen an, daß ich mir die beiden berühmten Werke des genialen Reformators: »Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agrikultur und Physiologie«, 1840, und »Die Tierchemie oder organische Chemie in ihrer Anwendung auf Physiologie und Pathologie«, 1842, sofort anschaffte, in den Ferien auszog und die Hauptsachen auswendig lernte. Am liebsten wäre ich zu Liebig selbst nach Gießen gegangen, aber die Verhältnisse ließen dies leider nicht zu. Außerdem hörte ich bei Delffs pharmazeutische Chemie.
Nur kurz bemerke ich noch, daß ich die Zoologie bei Bronn belegte, die systematische Botanik bei Wilhelm Bischoff – der kleine Bischoff genannt zum Unterschied von dem großen, dem Anatomen Theodor Ludwig –, die pharmazeutische Botanik bei dem Dozenten Markus Aurelius Höfle, die Oryktognosie (Mineralogie) endlich bei Blum. Außer diesen »Zwangskollegien« nahm ich noch einen Kurs über Pflanzenbestimmen bei dem Botaniker Bischoff und hörte die ebenso belehrende als unterhaltende Vorlesung von Leonhard über Geologie.
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