[194] Den Weg von Heidelberg nach München legt man heute mit dem Schnellzug bequem in acht Stunden zurück. Damals war von der ganzen Strecke, die wir von Wiesloch nach München durchfahren mußten, nur der kleine Teil von Wiesloch[194] bis Bruchsal und der größere am Ende der Reise von Augsburg bis München mit Schienen belegt, durch ganz Württemberg und von Ulm bis Augsburg mußten wir den Eilwagen benützen. Wir kamen am ersten Tag abends nach Stuttgart, nachdem wir in Vaihingen an der Enz Mittag gemacht hatten, fuhren eng zusammengepfercht die Nacht hindurch bis Ulm, wo wir halb gerädert ankamen, wurden in Günzburg paßpolizeilich genau verhört und verbrachten die zweite Nacht zu Augsburg in den altberühmten »Drei Mohren«. Erst am dritten Tage erreichten wir München.
In den »Drei Mohren« zu Augsburg legte man uns das merkwürdige Fremdenbuch vor. Der berühmteste Gast, der in dem Hause Quartier genommen, war Napoleon nach den großen Tagen von Ulm. In dem Buch stand ausdrücklich, wie der siegreiche Korse den Magistrat der Freien Reichsstadt beim Einzug begrüßt hatte. Seine Worte lauteten, ich glaube mich ihrer zu erinnern, wie folgt: »Ihr habt ein heilloses Pflaster, es ist Zeit, daß ich euch einen Monarchen gebe, der für ein besseres sorge!« – Er hielt Wort, der Preßburger Friede vernichtete die alte Reichsfreiheit der schwäbischen Stadt und brachte sie an Bayern.
Nachdem wir Augsburg am Morgen des folgenden Tags besichtigt hatten, fuhren wir nachmittags nach München. Der Onkel rühmte den »Oberpollinger« als gut und billig. Wir stiegen dort ab. Über der Tür unsres Schlafzimmers glänzten in weißer Kreide die Buchstaben der Heiligen Drei Könige: † C.M.B. †. An dem Dreikönigstage kam alljährlich der Kapuziner mit Wedel und Weihwasser, besprengte das Haus und betete um himmlischen Schutz und Segen für Wirt und Gäste. In der Hut der drei Könige, der berühmtesten Reisenden der christlichen Welt, schliefen wir sicher und gut; außerhalb des Hauses, auf den Wanderungen durch die Straßen, vertrauten wir auf das Münchener Kindl und verweilten so, wohlbeschirmt, sieben schöne und lehrreiche Tage in der bayerischen Residenz.
Um nicht unvorbereitet Isarathen zu sehen, hatte ich in den letzten Wochen vor der Abreise versucht, Kuglers Kunstgeschichte[195] zu studieren, aber ohne rechten Nutzen, es fehlten mir die nötigen Anschauungen.
Sehr erwünscht war meinem Freunde und mir ein Empfehlungsbrief, den uns ein Oheim der beiden Landschaftsmaler Rottmann, der in Wiesloch als pensionierter Amtmann lebte, an seine Neffen mitgegeben hatte. Die Rottmann stammten aus der badischen Pfalz, aus Handschuhsheim bei Heidelberg, auch ihr Vater war Maler gewesen.
Wir machten gleich in den ersten Tagen Gebrauch von dem Briefe, aber leider war der ältere Bruder Karl, der berühmte Maler der italienischen Landschaften in den Arkaden und der griechischen in der Neuen Pinakothek, verreist, der jüngere, Leopold, empfing uns freundlich und erteilte uns einige nützliche Ratschläge.
Die vielen Profan- und Kirchenbauten, die König Ludwig errichten ließ, standen bereits zum großen Teile, wie die Alte Pinakothek und die Glyptothek, oder waren der Ausführung nahe, wie die Neue Pinakothek und die Basilika, die Propyläen waren in Aussicht genommen. Kunstschätze aller Art und aller Zeiten hatte der König mit wunderbarem Kennerblick und Geschick nach München gebracht und in herrlichen Palästen allgemein zugänglich aufgestellt. Die ersten Künstler Deutschlands schmückten die Räume seiner Residenz und die neuen Bauten mit zahllosen prächtigen Werken. Mochte man auch über die bayerische Feldherrnhalle mit dem einzigen Tilly spotten oder über den Obelisken zum Andenken an die 40000 Bayern, die »auch für des Vaterlandes Befreiung in Rußland starben«, jedenfalls waren die Denkmäler ein großer Schmuck der Stadt und halfen mit, sie zu einer der schönsten Deutschlands zu machen.
Die alte Mönchsstadt und Residenz der bayerischen Herzöge war 1806 Königssitz geworden. Das Münchner Kindl in der braunen Kutte konnte sich nicht aus vollem Herzen über die glänzende Wandlung der Stadt freuen. Graf Montgelas, des ersten bayerischen Königs Maximilian Josef gebietender Minister, war den Kutten nicht gewogen und ein rücksichtsloser Vertreter der Omnipotenz des Staates. Bessere[196] Zeiten kehrten für das Kindlein wieder, als mit dem Tode Max Josephs, 1825, Ludwig I. den Thron bestieg. Anfangs zwar schüttelte es den Kopf bedenklich, als mit den Mönchen und Nonnen die leicht geschürzten Musen aus Hellas auch in die Stadt einzogen, aber vergnügt sah es bald die Kunst mit der Kirche bei Bock und Salvator sich gut vertragen.
Die große Bedeutung König Ludwigs I. für die deutsche Kunst wird erst heute ganz begriffen; wie der Ritter in dem Märchen von Dornröschen, hat er sie aus totenähnlichem Schlummer erweckt. Aber die Jugend der vierziger Jahre sah in dem König lediglich einen Tyrannen nach mediceischem Vorbilde, der die Staatsmittel des armen Bayerns in Bauten und in den Launen seiner künstlerischen Neigungen verschwende. Daß die Millionen, die er mit methodischer Berechnung aufwandte, einst der Hauptstadt Bayerns und dem ganzen Lande, ja der deutschen Kunst reichen Zins tragen würden, ahnte kaum jemand, und vollen Dank erntete er während seiner Regierung nur bei den Künstlern, denen er eine große Stätte schuf.
Obwohl der König gut deutsch gesinnt war, hat er die Zuneigung der patriotischen, aber zugleich frei gesinnten deutschen Jugend nicht besessen, denn aufgewachsen in dem Glauben an die unbeschränkte Macht der Fürsten von Gottes Gnaden, wollte er kein Titelchen seines göttlichen Rechtes preisgeben und haßte die von seinem Vater dem Königreiche 1818 verliehene Verfassung. Er meinte, seines fürstlichen Amtes gerecht zu walten, wenn aber die Gerichtshöfe das Gesetz nicht nach seinem Gefallen auslegten, ließ er die Richter seine Ungnade fühlen. Vor dem Landtage 1831 hatte er feierlich erklärt, er möchte kein unbeschränkter Herrscher sein, aber auch loyalen Männern von liberaler Gesinnung ließ er bei der großen Demagogenhetze der dreißiger Jahre bös mitspielen. Wir jungen Mediziner beklagten mit tiefem Mitleid das herbe Los des Dr. Eisenmann, einer der besten Schüler Schoenleins. Die Gerichte hatten ihn aus nichtigen Gründen wegen Hochverrats zum Tode verurteilt, und der charakterfeste, zu Kerkerstrafe begnadigte Mann blieb 16 Jahre in der Fronfeste[197] eingesperrt, weil er sich unerschütterlich weigerte, vor dem Bilde des Königs die verlangte Abbitte zu tun. Erst das Jahr 1848 verschaffte dem Dulder die Freiheit.
Auch die deutsche Muttersprache versuchte der König unter sein absolutes Regiment zu beugen, aber sie spottete seiner. Staunend skandierten wir seine Distichen unter den Arkaden und stolperten vergnügt über die ungelenken Versfüße.
Wir waren den ganzen Tag unterwegs, es gab so unendlich viel zu sehen, und keine der Schöpfungen des kunstsinnigen Königs sollte uns entgehen. Eine einzige Stunde nur verwendeten wir auf das medizinische München.
Die beiden bedeutendsten Männer, die seit der Verlegung der Landshuter Universität 1826 nach München an der medizinischen Fakultät gewirkt hatten, waren Ignaz Döllinger, der 1841 starb, und Philipp von Walther. Man hatte Walther, den geistvollen und berühmten Chirurgen, der sich früher schon in Landshut als Physiologe und Chirurg eines großen Rufes erfreut hatte und 1818 nach Bonn berufen worden war, wo er als Lehrer wie als Praktiker eine außerordentliche Verehrung genoß, 1830 nach München geholt; bald aber bereute er bitter, dem Rufe nach Bayern gefolgt zu sein. Die Ränke der mächtigen Gegner im Schoße der Fakultät zwangen ihn 1836, seine Klinik an den heute vergessenen Professor Wilhelm abzutreten und nur noch Vorlesungen abzuhalten. Chelius und Pfeufer hatten des ausgezeichneten Mannes so oft in tiefer Verehrung gedacht, daß wir begierig waren, ihn zu sehen, und ihn im Hörsaal aufsuchten, aber wir trafen es schlecht. Zwar seine imponierende Persönlichkeit erfüllte uns mit Ehrfurcht, aber das Thema aus der Augenheilkunde, worüber er vortrug, war das denkbar unglücklichste. Er las über die Ophthalmia trichomatosa, zu deutsch: die Augenentzündung beim Weichselzopf. Dieser Zopf ist heute mit vielen andern Zöpfen aus der Medizin beseitigt. Damals galt er noch für ein endemisches, an klimatische Schädlichkeiten der Weichselländer gebundenes Leiden des Kopfhaars, in Wirklichkeit aber ist er ein Erzeugnis der Unreinlichkeit ihrer Bewohner, die zur unlösbaren Verfilzung der Haare führt, und weicht der Schere und[198] Seife. Walther beschrieb den Weichselzopf genau und sprach dreiviertel Stunden von dessen Erscheinungen und Folgen, möglichen Ursachen, Prognose und Behandlung; – wir verließen wenig erbaut den Hörsaal.
Auch Louis Stromeyer, der ausgezeichnete Chirurg, dessen Klinik mein Freund Bronner in Freiburg besucht hatte, war ein Jahr lang (1841/42) Mitglied der Münchner Fakultät gewesen, ehe er in Freiburg wirkte. Mein Kollege Prof. Josef Gerlach in Erlangen, der in München eine Zeitlang studiert hat, erzählte mir eine Geschichte, die mit dazu beitrug, Stromeyer den Aufenthalt in München zu verleiden und ihn bewog, einen Ruf nach Freiburg anzunehmen. Ringseis forderte eines Tages Stromeyer auf, einem Kranken der Inneren Klinik mittels Bauchstichs Wasser abzuzapfen. Stromeyer weigerte sich, nachdem er den Kranken untersucht hatte, die Operation vorzunehmen, weil kein Wasser im Bauche sei. Darauf machte Ringseis selbst den Stich, es kam nur Luft, der Kranke starb; die Schüler erzählten den Vorgang Stromeyer in der Klinik, und dieser bemerkte spitz: »Man nennt dies den trockenen Stich, so sticht man die Leute ab.« Ringseis wurde diese Äußerung hinterbracht, er verklagte Stromeyer bei der Fakultät, die den Widerruf der Beleidigung vor den Schülern verlangte. Stromeyer gehorchte mit den Worten: »Ich widerrufe, was ich gesagt: so sticht man die Leute nicht ab!«
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