Bei Rokitansky

[229] Im hintersten Winkel des Areals, auf dem die Bauten des Allgemeinen Krankenhauses errichtet sind, lag das Leichenhaus, eine armselige Baracke. Hier verweilte ich mehr wie irgendwo sonst in Wien, jede neue Sektion verfolgte ich mit neuer Spannung.

Außer der Kammer zur Aufbewahrung der Leichen verfügte das kleine Haus über zwei ineinandergehende Lokale, ein größeres für die Sektionen der in den Anstalten Verstorbenen und ein kleineres für die gerichtlichen Sektionen, woran es in der großen Stadt fast niemals fehlte. Ein Privatzimmer oder ein besonderer Arbeitsraum für Rokitansky war nicht vorgesehen. Die Sektionen nahmen den ganzen Vormittag in Anspruch. Rokitansky machte die eigentlich klinischen und die gerichtlichen, alle übrigen, weit zahlreicheren, machten die Assistenten. Erster Assistent war Dr. Lautner, der später an die medizinische Schule in Kairo berufen wurde.

Die Leichenbefunde wurden ausnahmslos zu Protokoll diktiert. Rokitanskys Protokolle waren ungemein lehrreich; sie gaben das Wesentliche des Befundes in so gedrungener Kürze und doch so erschöpfend in plastischer Darstellung, daß ich sie[229] gleich in den ersten Tagen nachzuschreiben begann. Ich finde in meinen Heften 170 Protokolle und genaue Aufzeichnungen neben fast ebenso vielen kurzen Notizen, im ganzen habe ich nahezu 300 Sektionen im Laufe eines halben Jahres angewohnt. – Besonders nützlich erschienen mir Zeichnungen des Situs viscerum, d.h. der Lage der Eingeweide, namentlich in der Bauchhöhle; ich fertigte sie mir in großer Zahl an und kann dieses Verfahren angehenden Ärzten nicht genug empfehlen. Die Lage erleidet viele individuelle und durch Krankheit bedingte Abweichungen, deren Kenntnis für Diagnose und Behandlung gleich wichtig ist. Wer nur wenig Sektionen gesehen hat und diese Verschiedenheit nicht kennt, wird in der Behandlung der Unterleibskrankheiten nie Besonderes leisten.

Die Gesichtszüge Rokitanskys trugen den Stempel großer Herzensgüte und Zuverlässigkeit, jedermann verehrte ihn. Er war auffallend schweigsam. Im Leichenhause öffnete er den Mund nur, um Protokolle zu diktieren. Nachdem ich vier Monate lang Stammgast im Leichenhause gewesen war, geschah es an einem schönen Herbstmorgen, daß die Skalpelle kurze Zeit ruhten. Ich benützte die Pause, um vor die Tür zu treten und frische Luft zu schöpfen. Gleich nachher erschien auch Rokitansky und stellte sich nahe bei mir in die Sonne, die warme Luft des Hofes behagte ihm sichtlich. Mit einemmal wandte er sich gegen mich, nickte mir freundlich zu und bemerkte: »Heute ist schönes Wetter!« – Ich war überrascht. Wenn Jairi Töchterlein, plötzlich auferstanden, mit lautem Gruße aus dem Leichenhaus zu mir gewandelt wäre, hätte ich mich nicht mehr gewundert, doch nahm ich mich zusammen und erwiderte bestätigend: »Ja, es ist wirklich ein schöner Tag!« – Die Unterhaltung war damit zu Ende, es war die erste und einzige, die ich ihn führen hörte.

Wie wenig mitteilsam auch und trocken Rokitansky für gewöhnlich erschien, so wurde er doch plötzlich umgewandelt, wenn während der Sektionen Ungewöhnliches zutage kam. Dann fing er Feuer, man sah es am Leuchten seiner Augen; sein Blick bohrte sich sofort in den merkwürdigen Fund, er griff zu Skalpell und Schere, setzte sich an einen kleinen Tisch, den[230] einzigen, der zur Hand war, und vertiefte sich ganz, präparierend und sinnend zugleich, in das anatomische Rätsel, das vor ihm lag.

Mein Freund und ich hätten gern einen Kurs über pathologische Anatomie bei dem großen Meister genommen, er gab Privatissima, aber wir brachten die nötige Zahl von Teilnehmern nicht zusammen. Die Wiener trösteten uns: Wir verlören weniger, als wir meinten, Rokitansky sei ein großer Anatom, aber ein mittelmäßiger Lehrer. So ließen wir es denn bei einem Kurse von wenigen Stunden über Sektionstechnik bewenden, den uns ein früherer Assistent Rokitanskys, Dr. Gatscher, erteilte.

Zum Schlusse sei noch erwähnt, daß ich im Leichenhause mehrmals einem schlankgebauten jungen Manne begegnete, dessen feine Züge mir auffielen. Es war Ludwig Tuerck, später Leiter einer für ihn gegründeten Abteilung für Nervenkranke im Allgemeinen Krankenhause; er hat sich bekanntlich durch seine Verdienste um die Einführung des Kehlkopfspiegels und durch wichtige anatomische und klinische Untersuchungen in den schwierigen Gebieten des Nervensystems ein dauerndes Andenken gesichert.

Quelle:
Kussmaul, Adolf: Jugenderinnerungen eines alten Arztes. München 1960, S. 229-231.
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