Neuntes Kapitel.
Die Brücke.

[286] Der Anfang. Als ich im Frühling 1911 aus Paris und Brüssel heimgekehrt war, ganz erfüllt von freudigen Zukunftsgedanken für den soeben gegründeten Verband der chemischen Gesellschaften und beglückt durch Ernest Solvays verständnisvolle Hilfe, dem mich die Verhandlungen um ein großes Stück freundschaftlich näher gebracht hatten, erhielt ich aus München eine Sendung, die mich alsbald lebhaft beschäftigte, obwohl Kopf und Herz voll von dem eben Erlebten waren. Sie enthielt eine Druckschrift von 177 Seiten und einen kurzen Begleitbrief, in welchem die Verfasser um eine persönliche Unterredung baten. Ihre Namen waren K.W. Bührer und Dr. Ad. Saager, beide mir völlig unbekannt. In der Vorrede war bemerkt, daß der Plan von Bührer herrührte, während Saager ihn zu Papier gebracht hatte. Der Titel war »Die Organisierung der geistigen Arbeit durch die Brücke«. Ich las die Schrift durch mit dem Erfolg, daß ich alsbald nach München die Nachricht schrieb, ich würde mich jederzeit freuen, die Herren bei mir zu begrüßen. Denn die entwickelten Gedanken entsprachen so sehr meinen eigenen Plänen und Wünschen und brachten insbesondere an manchen Punkten schon Lösungen, wo ich bisher nur Probleme gesehen hatte, daß ich es nicht glaubte[287] verantworten zu können, die ausgestreckte Hand zurückzuweisen. Der Besuch traf nach einigen Tagen ein und nach mehrstündiger Besprechung nahmen meine Gäste Abschied, nachdem ich ihnen gern meine Mitarbeit zugesagt hatte.

Ein Widerstreit. Als ich in den nächsten Tagen die neu übernommene Angelegenheit überdachte, konnte ich ein zwiespältiges Gefühl nicht überwinden. Der sachliche Inhalt der Schrift hatte vielfach überzeugend auf mich gewirkt. Es waren hier grundlegende neue Gedanken ausgesprochen, denen ich meine Kräfte gerne widmen wollte. Natürlich gab es einige Punkte, die ich für verbesserungsbedürftig hielt; sie schienen aber nicht von maßgebender Beschaffenheit und dienten eher als Ansatzpunkte zu weiterer fruchtbringender Entwicklung. Auch bestanden meine Gäste durchaus nicht eigensinnig auf ihnen, sondern waren zu entsprechenden Umstellungen bereit, da sie die Schrift nur als einen ersten Lösungsversuch der vorliegenden Aufgaben angesehen wissen wollten.

Mit dieser Beschaffenheit der Gedanken konnte ich aber durchaus nicht die Beschaffenheit ihres Schöpfers in Einklang bringen. Karl Wilhelm Bührer war ein gebürtiger Schweizer aus dem Grenzstrich zwischen dem Deutschen und dem Französischen Sprachgebiet; seine Muttersprache war Deutsch. Etwas über mittelgroß, mager, mit länglichem beweglichem Gesicht, braunem Haar, etwas fahrigen Bewegungen und einer eigentümlich unbestimmten Art in seinem Wesen und seinen Äußerungen glich er keinem der vielen ausgezeichneten Männer, die ich in den verschiedensten Ländern und Lebenslagen kennen gelernt hatte. Alle diese waren mit einem leicht erkennbaren seelischen Schwerpunkt versehen, der ihnen die Beständigkeit und Sicherheit gab, welche nötig ist, um ein Stück der Welt zu meistern.[288] Von dieser Eigenschaft konnte ich bei Bührer in der Art, wie er sich gab, nichts erkennen.

Die wunderliche Tatsache, daß er seine Gedanken nicht selbst schriftlich darzustellen gewußt hatte, sondern dazu der Hilfe eines »zufälligen Bekannten« (wie er selbst sein Verhältnis zu Saager gekennzeichnet hat) bedurfte, hatte mich gleichfalls stutzig gemacht. Doch hatte ich mich der eigentümlichen Tatsache erinnert, die mir schon früher aufgefallen war, daß nämlich den Deutschen Schweizern in seltsam hohem Grade die Gabe versagt ist, sich bequem der Deutschen Sprache zu bedienen, namentlich der schriftlichen. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß ihre eigentliche Muttersprache das »Schwyzerdütsch« ist, so daß sie das Schriftdeutsch wie eine Fremdsprache lernen müssen. Jedenfalls war mir die Tatsache bekannt, und ich war bereit, sie als Erklärung für jenes ungewöhnliche Verhältnis anzunehmen.

Im Gegensatz zu der Person bezeugte die Schrift in ganz zweifelloser Weise das Vorhandensein weitreichender gesunder Gedanken von sehr hohem organisatorischem Wert, bewies also das Vorhandensein eines Kopfes, der solche Gedanken hervorbringen konnte. Da bei diesem anscheinenden Widerspruch zwischen Person und Sache über den Wert dieser für mich gar kein Zweifel bestand, während die Beurteilung der Person auf sehr unsicheren Schätzungen beruhte, so ließ ich den ersten Umstand maßgebend sein und hielt das persönliche Urteil für irrig.

In der Folge habe ich mich indessen überzeugen müssen, daß auch das zweite Urteil richtig war und daß der klaffende Widerspruch zwischen beiden bestand. Noch heute ist für mich das Rätsel nicht ganz gelöst, doch glaube ich, daß die nachfolgende Erklärung nicht nur möglich, sondern auch richtig ist.[289]

Als unsere gemeinsame Tätigkeit begann, war Bührer rund 50 Jahre oder etwas darüber alt. Aus seinen gelegentlichen Mitteilungen ging hervor, daß er in der Schweiz eine ausgedehnte und vermutlich auch erfolgreiche Tätigkeit als Verleger, Herausgeber und Werbetechniker ausgeübt hatte, daß diese aber anscheinend ein plötzliches und für ihn nicht günstiges Ende genommen hatte, worauf er mit den Resten seiner Betriebe nach München übergesiedelt war. Dort hatte er sich eine Art Kaffeehausansehen in den Kreisen strebender Intellektueller erworben, auf die er als älterer Mann von starkem Selbstbewußtsein einen nicht geringen Eindruck machte, und zwar durch Eigenschaften, die bei mir eher im Gegensinne wirkten. Über die Art jener plötzlichen Wendung äußerte er sich nicht, wich auch unmittelbaren Fragen aus und hob hervor, er sei damals schuldlos arg verleumdet worden. Da er mit dem amtlichen Vertreter der Schweiz in München persönlichen Verkehr unterhielt, so durfte ich voraussetzen, daß es sich nicht um Dinge gehandelt haben konnte, welche ihn rechtlich oder gesellschaftlich blosgestellt hatten.

Vielmehr vermutete ich, daß er ähnlich wie ich durch Überarbeitung sich vorübergehend unfähig gemacht hatte, seine Geschäfte regelmäßig zu versehen. Aus seinem oft aufgeregten und ungleichförmigen Verhalten war weiter zu schließen, daß jener Zusammenbruch recht schwer gewesen war, vielleicht einen längeren Sanatoriumsaufenthalt bedingt hatte, und wegen seiner Schwere nicht vollständig ausgeheilt war. So hatte ich zwar den Mann vor mir, der in jungen Jahren jene schöpferischen Gedanken wirklich selbst hervorgebracht hatte, von dessen ursprünglicher Begabung aber durch den Zusammenbruch der bessere Teil zerstört worden war und der, wie sich später herausstellte, noch unter[290] periodischen Depressionen litt, in welchen jene Gedanken seltsam einseitige Formen annahmen.

Das Brückenbuch. Die oben erwähnte Schrift besteht aus zwei Teilen: 1. Allgemeine Grundlagen für die Organisierung der geistigen Arbeit und 2. die Mittel dazu. Den Inhalt des ersten Teils wird man mehr dem Mitarbeiter Saager zuschreiben dürfen, während der zweite die Bührer gehörenden Gedanken enthält. Der Gedankengang ist der folgende.

Es wird zunächst nachgewiesen, daß die frühere strenge Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Technik oder zwischen reiner und angewandter Wissenschaft nicht mehr begründet ist, da die Wissenschaft zunehmend technischer, die Technik zunehmend wissenschaftlicher wird und aus inneren oder Entwicklungsgründen notwendig werden muß. Daher verschwinden auch zunehmend die Verschiedenheiten des Denkens und Arbeitens in beiden Gebieten und das Ökonomieprinzip ist, wie schon Ernst Mach gesehen hatte, für die reine Wissenschaft nicht minder maßgebend, wie für die Technik, wenn es auch in beiden Fällen etwas anders gerichtet ist.

Nun wird der Grundsatz der Restlosigkeit aufgestellt, nach welchem jede einzelne Aufgabe der Wissenschaft und Technik bis zur völligen Erschöpfung des Problems bearbeitet werden soll und muß. Es war dies ein Punkt, bei dem ich stutzte und einen starken inneren Widerspruch empfand. Für mich besteht die Restlosigkeit der Wissenschaft darin, daß es nichts in unseren äußeren wie inneren Erlebnissen gibt, das der wissenschaftlichen Erforschung nicht zugänglich wäre. Die Verfasser des Brückenbuches faßten den Begriff aber wesentlich anders auf.

Sie sahen die Restlosigkeit darin, daß kein Ding gering für die Wissenschaft sei, da man niemals vorauswissen[291] kann, ob es nicht einmal künftig wichtig werden könne. Daraus wurde der praktische Schluß gezogen, daß man eben alles für den möglichen künftigen Gebrauch aufheben und ordnen müsse, und daß es ziemlich gleichviel wert sei, auf welchen Gegenstand man diesen Grundsatz praktisch anwendet. Wie man später sehen wird, war dies die Klippe, an welcher zuletzt das großartige und hoffnungsvolle Unternehmen scheiterte. Es ist deshalb der Mühe wert, die Frage etwas näher zu betrachten.

Nach meiner Kenntnis des Wissenschaftsbetriebes kann die Wissenschaft überhaupt nicht restlos arbeiten. Nie ist ein Problem so gelöst worden, daß nicht ein Nachfolger etwas hätte hinzufügen können und müssen. Bei meinen eigenen Arbeiten hatte ich umgekehrt besonderen Wert darauf gelegt, die Punkte zu kennzeichnen, an denen spätere Forscher einsetzen konnten. Und jeder, der die Meisterwerke der großen Forscher studiert, kann ihren unerledigten Resten eine Anzahl wertvollster Anregungen zu eigener Arbeit entnehmen.

Der Widerspruch ist keineswegs akademischer Natur, sondern hat sehr weitreichende praktische Folgen. Ist man sich darüber im klaren, daß es sich bei jeder Arbeit immer nur um einen kleinen oder großen Schritt auf einem an sich grenzenlosen Wege handeln kann, so wird man dafür Sorge tragen, zwar den getanen Schritt möglichst zu sichern, nicht aber bei sich und anderen die Vorstellung zu erwecken, als sei nun alles und jedes erledigt. Man wird Sorge tragen, mittels der verfügbaren Arbeitsmenge so viel Fortschritt und Sicherheit zu erzielen, als man kann. Man wird also diese Arbeit vorwiegend auf die wichtigsten Punkte richten und weniger auf Nebensachen. Man wird mit einem Worte das Ökonomieprinzip auch im Einzelnen bei der Durchführung der reinwissenschaftlichen Arbeit zur Anwendung bringen.[292]

In der philologischen Scholastik, welche nur ein beschränktes Material zur Bearbeitung vorfindet und deshalb beständig um einen Inhalt für ihre Betätigung verlegen ist, wird als eine Forderung von höchstem ethischen Wert die der Gründlichkeit angesehen, derzufolge jeder Autor gehalten ist, alles zu kennen, zu erwähnen und zu beurteilen, was alle früheren Autoren, auch die dümmsten, über die Frage geschrieben haben. Es ist ganz erklärlich, daß diese Forderung von den Führern mit Nachdruck vertreten wird, denn sie sichert jeder Leistung, sie sei noch so gering und überflüssig, die Beachtung wenigstens durch den Nachfolger, wenn auch auf Beachtung von irgendwelcher anderen Seite nicht gerechnet werden kann. Aber die Forderung, daß alles Vorhandene grundsätzlich Beachtung finden soll, bedeutet einen Verzicht auf die Bewertung jedes einzelnen Stückes und damit eine Nichtbeachtung des energetischen Imperativs, der jede Vergeudung von Energie verbietet. Das ist es ja eben, was uns so sehr gegen alle Scholastik aufbringt, daß sie vom energetischen Imperativ nichts weiß und ihm beständig entgegenhandelt. Was in der Wissenschaft die Scholastik ist, ist im praktischen Leben der Bürokratismus, dessen Kennzeichen gleichfalls das grobe Mißverhältnis zwischen Aufwand und Ergebnis, die Unkenntnis des energetischen Imperativs ist.

Da sich hernach erwies, daß das eigentlich Neue des Brückengedankens von diesem Irrtum unabhängig ist, ließ ich die Sache zunächst auf sich beruhen. Ich vermutete, daß Dr. Saager seine Ausbildung wesentlich auf philosophischem und philologischem Gebiet erhalten hatte und deshalb dem eben zurechtgestellten Irrtum besonders ausgesetzt war, während Bührer die rein wissenschaftliche Arbeit kaum vom Hörensagen kannte, und nahm daher an, daß es später nicht schwer sein würde, richtigere Ansichten über diese Fragen bei meinen[293] künftigen Mitarbeitern zu entwickeln. Leider erwies sich dies als eine optimistische Selbsttäuschung, wie ich mir deren viele und wichtige zugefügt habe.

Grundsätze der Organisatorik. Die Auffassung der gesamten geistigen Arbeit der Menschheit als eines Organismus ergab das Prinzip der Arbeitsteilung als die Grundform des Fortschrittes. Durch zunehmend feiner ausgebildete Sonderorgane wird Umfang und Inhalt der Arbeit erweitert und verfeinert. Alle einzelnen Arbeiten müssen aber zu gegenseitiger Unterstützung miteinander in Zusammenhang gebracht werden. Dies ergibt die zweite Form der Organisation: die Arbeitsverbindung. Beide haben sich schon auszubilden begonnen; sie methodisch nach dem Grundsatz des besten Erfolges zu entwickeln, wird die Hauptaufgabe der »Brücke« sein.

Während nämlich die Arbeitsteilung leicht erfolgt, ist die Verbindung viel schwieriger herzustellen. Es fehlt mit anderen Worten noch an der Organisation der Arbeit. Jede einzelne Gruppe arbeitet für ihren Kreis; es fehlt an Brücken, welche eine Insel der Arbeit mit der anderen, zuletzt jede mit jeder verbinden. Diese zu bauen soll deshalb die Hauptaufgabe der neuen Anstalt sein.

Hierzu ist erforderlich, zunächst das Vorhandene festzustellen. Es sollen somit Verzeichnisse aller solcher Inseln gesammelt und geordnet werden, sowohl der Arbeiter selbst, wie ihrer Erzeugnisse. Dadurch wird die Brücke in den Stand gesetzt, als Vermittelungsstelle für jedes Bedürfnis nach Auskunft und Anschluß tätig zu sein. Um dieser Aufgabe zu genügen, sind organisatorisch-technische Einrichtungen nötig, welche die Arbeitsverbindung erleichtern oder erst ermöglichen, da bei der Entstehung jener Inseln die künftige Verbindung nicht vorgesehen war.[294]

Als Folge der Organisierung ist eine sehr erhebliche Steigerung der Leistungen aller Art vorauszusehen. Bisher muß z.B. jeder einzelne Forscher die Vorgeschichte seines Problems selbst ermitteln, wobei oft die gleiche Arbeit mehrfach ausgeführt wird, weil die Einzelnen nichts voneinander wissen. Künftig wird die Brücke (meist durch ihre Verbindungen, sonst auch unmittelbar) solche Zusammenstellungen vorrätig haben und fertig liefern können, da sie sich aus der Ordnung aller geistigen Erzeugnisse von selbst ergeben und der Forscher kann sich unmittelbar der Entdeckerarbeit widmen. Denn die Brücke wird über ein Verzeichnis aller Stellen verfügen, von denen Auskunft irgendwelcher Art zu erhalten ist und jeden Nachsuchenden an die Stelle verweisen, welche seine Frage beantworten kann. Sie wird die Auskunftstelle der Auskunftstellen sein.

Mit einem Ausblick auf die Bedeutung dieser Arbeit für den künftigen Weltfrieden schließt der erste Teil der Schrift.

Die technische Handhabung der Gedanken. Damit ein Gedanke Bestandteil der menschlichen Kultur wird, muß er mitteilbar sein, d.h. von Raum und Zeit unabhängig werden. Dies geschieht durch Sprache und Schrift. So ist das mit Schrift- und anderen Zeichen versehene Papierblatt die technische Grundform aller Kultur, d.h. des gesamten geistigen Kapitals, wie es aus den Einzelbeiträgen der schöpferischen Menschen aller Völker und Zeiten sich angesammelt hat. Soll somit die geistige Arbeit organisiert werden, so muß man mit der Organisation des Merkzettels beginnen.

Dies ist der Gedanke K.W. Bührers, welchen ich als neu und unabsehbar folgenreich empfand und der für mich eine unwiderstehliche Ursache wurde, ihm alle Hilfe zu leisten, die ich ihm bringen konnte.[295]

Es ist längst üblich, daß alle Zettel, die zu derselben Sache gehören, gleiche Größe haben. Nun sollen aber auch die Zettel verschiedener Sachen zusammengestellt werden können. Sie müssen also alle gleiches Format haben. Zu den Merkzetteln gehören Hefte, Bilder usw. Diese müssen gleichfalls passen. So entsteht durch einfache Anwendung jener Forderung die Notwendigkeit eines allgemeinen Formats für alles Papier.

Tatsächlich war man damals noch sehr weit entfernt von solchen Gedanken. Einzelne internationale Unternehmungen, wie die Weltpost mit der Postkartengröße, das internationale bibliographische Büro in Brüssel, mit ihrer Katalogkarte hatten gewisse Formate festgelegt, doch ohne den Gedanken einer durchgreifenden Normung aller Formate. Bührer hatte während seiner Schweizer Tätigkeit für Werbedrucksachen ein ihm praktisch erscheinendes Format, genannt das Monoformat, vorgeschlagen und innerhalb seiner Unternehmungen durchgeführt. Auch in Amerika hatte man sich mit der Frage beschäftigt. Als Ergebnis einer dahin gerichteten Zusammenstellung wurde im Brückenbuch das Format 11.5 x 16.5 cm vorgeschlagen. Größere Blätter sollten so gefalzt werden können, daß sich diese Größe ergab.

Die Willkür dieser Wahl wurde durch den Hinweis entschuldigt daß alle Maßeinheiten in letzter Linie auf Willkür beruhen. Ich fühlte mich dadurch nicht befriedigt und stellte mir die Aufgabe, eine bessere Grundlage zu finden, was auch nach einigen Wochen gelang. Hierüber wird bald berichtet werden.

Das Monographieprinzip. Ein anderer grundlegender Gedanke Bührers war die Entdeckung, daß der Buchbinder ein arger Feind der Organisation der Wissenschaft ist. Ein Buch wird in 99 unter 100 Fällen nicht wegen seines ganzen Inhalts gebraucht, sondern wegen eines Kapitels, oft nur wegen einer Seite, z.B. einer Tabelle.[296] Während es so benutzt wird, ist sein ganzer übriger Inhalt für jeden Anderen unzugänglich gemacht. Denkt man sich das Buch in seine Kapitel und Paragraphen zerlegt, so daß jedes einzeln gehandhabt werden kann, so wird der Benutzer nur seinen Teil herausnehmen und alles übrige steht Anderen zur Verfügung.

Bei Neuauflagen werden meist nur einzelne Stücke, Seiten, Worte geändert, während der größere Teil des Buches unverändert bleibt. Der Besitzer der alten Auflage muß aber die neue kaufen, wenn er die Zusätze oder Änderungen braucht. Hernach besitzt er zwecklos das Werk zum größten Teil zweimal. Wäre es, wie erwähnt, geteilt, so brauchte er nur die geänderten Teile zu kaufen und hätte das Geld für andere Bücher frei.

Es muß also grundsätzlich angestrebt werden, die Erzeugnisse der geistigen Arbeit einzeln zu Papier zu bringen und solche Monographien oder Einzeldrucke gesondert herauszugeben. In den wissenschaftlichen Zeitschriften geschieht das erste in den einzelnen Abhandlungen. Hernach kommt aber doch der Buchbinder und bindet alle verschiedenen, nur durch den Jahrgang vereinigten Abhandlungen zu einem Bande zusammen, d.h. er zerstört wieder die Unabhängigkeit der Einzelhefte.

Den Fortschritt, der durch genaue Ausführung des Prinzips der Einzeldrucke erzielt würde, vergleicht Bührer sachgemäß mit der Erfindung Gutenbergs, die so grundlegend für die Entwicklung Europas geworden ist. Schon vorher stellte man Drucksachen her, aber nur indem man die Texte ganzer Seiten in Holzschnitt ausführte und diese abdruckte. Der Fortschritt lag also nicht im Drucken, sondern in der Zerlegung der ganzen Seite in ihre einzelnen Buchstaben. Diese konnte man dann in beliebiger Weise zusammenstellen, d.h. mit einem und demselben Letternvorrat konnte man jeden beliebigen Text drucken. So wird künftig auch jeder[297] Mensch sein eigenes Buch haben können, indem er sich Sonderdrucke über solche Dinge zusammenstellt, deren Kenntnis er zu Berufszwecken, aus Liebhaberei oder irgendeinem anderen Grunde wünscht. Und in dem Maße, als seine Wünsche wachsen oder sich ändern, wird er neue Hefte zufügen und auch alte entfernen, an deren Inhalt ihm nichts mehr liegt.

Alles dies ist aber erst möglich, nachdem die Einheit der Formate durchgeführt ist.

Beim Durchdenken der anderen organisatorischen Aufgaben werden noch zwei wichtige Erfordernisse sachgemäß erörtert. Erstens die gemeinsame Sprache, die nur eine künstliche von unbegrenzter Bildsamkeit und ohne jede Ausnahme sein kann. Zweitens das System der Ordnung alles menschlichen Wissens. Als solches soll das des Amerikaners Dewey dienen, der durch methodische Zuordnung von Ziffern (Ordnungszahlen) zuerst zu den großen, sodann stufenweise zu immer engeren Abteilungen, zuletzt zur Kennzeichnung sehr eingeschränkter Einzelbegriffe gelangt. Er ordnet so jedem Begriff eine Reihe von Ziffern zu, von denen jede folgende eine Unterteilung der vorangegangenen kennzeichnet, bis die Stufe erreicht ist, in welche der Begriff gehört. Es handelt sich also um die alte Ordnung des Aristoteles nach Art (genus) und Sonderkennzeichen (differentia specifica), nur jedesmal vom allgemeinsten Begriff ab durch alle Stufen hindurchgeführt.

Für diese beiden Fragen werden keine neuen Lösungen vorgeschlagen. Vielmehr wird betont, daß die hierfür vorhandenen Organisationen ohne jeden Eingriff in ihre Tätigkeit der Brücke eingegliedert werden müssen, deren Geschäft nur sein würde, die Ergebnisse entgegenzunehmen und sie an alle Stellen weiter zu befördern, für welche sie in Betracht kommen.[298]

Unter den anderen Aufgaben, denen sich die Brücke später widmen sollte, wurde auch die Ordnung und Normung der Farben erwähnt.

Die Gründung der Brücke. Diese Gedanken erschienen mir in ihrer Gesamtheit so wichtig und folgenreich, daß ich mich alsbald entschloß, mit Bührer und Saager die »Brücke« formell zu begründen und die Geldmittel hierfür herzugeben. Das vor kurzem erhaltene Kapital des Nobelpreises schien mir für solche Zwecke am besten im Sinne des Stifters verwendet werden zu können; es ist auch in der Folge so ziemlich dabei verbraucht worden.

Im Sommer 1911 fand in München die Gründungsversammlung der Brücke statt, bei der ich zum ersten Vorsitzenden, Bührer zum zweiten und Saager zum Schriftführer gewählt wurde. Da den beiden anderen die Gabe der Rede nur in geringem Maße zu Gebote stand, hatte ich den Hauptvortrag zu halten, der sehr günstig aufgenommen wurde. Die Geschäftsstelle wurde in Bührers Münchener Wohnung verlegt und dieser begann alsbald eine sehr erfolgreiche Propaganda, die uns eine große Zahl ausgezeichneter Männer zuführte. Aus der Mitgliederliste seien folgende Namen angeführt: G. Kerschensteiner, München, S. Arrhenius, Stockholm, F. Bajer, Kopenhagen, P. Otlet, Brüssel, W. Exner, Wien, H. Beck, Berlin, P. Beck von Mannagetta, Wien, E. Solvay, Brüssel, K. Sigismund, Berlin, E. Rötlisberger, Bern, A. Schlomann, München, F. Oppenheimer, Berlin, Hj. Schacht, Berlin, P. Langhans, Gotha, K. Schmidt, Hellerau, K. Oppenheimer, Berlin, E. Jäckh, Berlin, St. Bauer, Bern, P. Behrens, Neubabelsberg, E.v. Behring, Marburg, J. Brinckmann, Hamburg, E. Francke, Berlin, A. Gobat, Bern, E. Metschnikoff, Paris, H. Muthesius, Nikolassee, H. Poincaré, Paris.[299]

Für eine »Organisation der Organisatoren«, die wir als Ziel der Brücke aufgestellt hatten, war hiermit ein guter Anfang gemacht worden, denn die Genannten gehören alle in ihrer Weise der Kulturgeschichte an.

Die Weltformate. Für mich entstanden aus den allgemeinen Brückengedanken alsbald mehrere Sonderaufgaben. Mit der Frage der Normung auf Grund der sogenannten absoluten Maße hatte ich mich schon viel früher grundsätzlich beschäftigt und war unter Führung durch die Energetik über den falschen Standpunkt der zeitgenössischen Physik (der aus einem von dem ausgezeichneten Physiker J.C. Maxwell begangenen begrifflichen Fehler beruht) hinausgelangt (II, 172). Dadurch hatte ich ein dauerndes Interesse für diese Fragen gewonnen, zumal eine offene Anerkennung des allgemein verbreiteten Irrtums, als könne man alle physikalischen Größen auf Zeit, Raum und Masse zurückführen, noch heute nicht er folgt ist.

Bei dem vorgeschlagenen Monoformat trat mir alsbald die Forderung entgegen, dieses nicht, wie geschehen, willkürlich, sondern methodisch zu begründen. Hierfür diente der Grundsatz, daß man, wo schon eine Normung vorliegt, keine neue einführen darf. Breite und Höhe der Formate sind Längen; als Längeneinheit dient das Zentimeter; auf dieses war also ohne weitere willkürliche Annahme das Maß zu beziehen.

Zweitens mußte die Normung den Umstand ins Auge fassen, daß es mit einem einzigen Format nicht getan war. Vom Straßenplakat bis zur Briefmarke gab es eine ganze Reihe von Formaten zu ordnen, die schon aus technischen Gründen (um keinen Abfall zu bedingen) durch Hälften oder Verdoppeln auseinander erhalten werden mußten.

Hierbei wechseln aber von einer Stufe zur anderen die Seitenverhältnisse. Geht man z.B. von einem Quadrat[300] 1:1 aus, so hat man nach dem Falzen ein ganz schmales Rechteck 1:1/2 und nach dem zweifen Falzen wieder ein Quadrat 1/2:1/2. Das ist offenbar ein großer Nachteil. Kann man ihn nicht beseitigen?

Die Antwort ist, daß es ein und nur ein Rechteck gibt, das beim Falzen sich immer geometrisch ähnlich bleibt, d.h. das gleiche Seitenverhältnis ergibt. Schon Lichtenberg hatte sich die Frage gestellt und sie richtig beantwortet. Dieses ausgezeichnete Format hat das Seitenverhältnis 1:√2 oder in runder Zahl 10:14 (genauer 14.14). Stellt man ein solches Rechteck her, so wird es als besonders wohlgeformt empfunden. Tatsächlich hat sich später aus vielfältigen Messungen ergeben, daß die nach Gefühl gewählten Formate der Bücher sich um dieses als Mittelwert ordnen.

Damit ist das System der rationellen Formate gegeben. Als Ausgang dient das Zentimeter und das Rechteck 1:1.4 cm ist das Anfangsformat I. Das nächste ist 1.4:2, die folgenden sind 2:2.8, 2.8:4, 4:5.6, 5.6:8, 8:11.3, 11.3:16, 16:22.6 cm usw. (die letzten Zahlen sind aus den genauen durch Abrundung abgeleitet).

Glücklicherweise lag das von Bührer vorgeschlagene Format 11.5 x 16.5 dem entsprechenden rationellen Wert 11.3:16.0 so nahe, daß Bührer sich sofort einverstanden erklärte, das seine zugunsten des rationellen aufzugeben. Damit war auch der Übelstand beseitigt, daß jenes beim Falzen etwas wechselnde Seitenverhältnisse ergab.

So hatten wir alsbald etwas, womit wir die praktische Arbeit beginnen konnten. Ich schrieb ein kleines Schriftchen über das »Weltformat«, wie wir diese Reihe nannten, das weite Verbreitung fand, berichtete in der Tagespresse darüber und tat das Meine, um den Gedanken zu verbreiten. Eine höchst wirksame Tätigkeit entfaltete in[301] gleicher Richtung Bührer, dem die praktische Behandlung der Angelegenheit von seinen Schweizer Unternehmungen her geläufig war. Tatsächlich konnten wir bald Erfolge auf sehr weit entlegenen Einzelgebieten erzielen. Wir hielten den Standpunkt fest, daß nur auf freiwilligen Anschluß hinzuarbeiten sei, da wir der Meinung waren, daß die Vorteile durch die Formatnormung nach Überwindung der ersten Trägheitswiderstände sich deutlich genug offenbaren würden, um einen zunehmend beschleunigten Anschluß zu bewirken.

Die Jahresversammlung. Um der Brücke in der öffentlichen Meinung einen Platz zu schaffen, veranlaßte ich Bührer, eines öffentliche Jahresversammlung im Jahre 1912 in München zu veranstalten. Kurz vorher war es noch möglich geworden, das moralische Gewicht der Brücke sehr erheblich dadurch zu verstärken, daß sich Wilhelm Exner auf meine Bitte entschloß, in den Vorstand einzutreten, wo ihm Dr. Saager mit dankenswertem Entgegenkommen Platz gemacht hatte.

Die Münchener Versammlung verlief sehr eindrucksvoll. Eine stattliche Anzahl führender Münchener Persönlichkeiten, in erster Linie König Ludwig, hatte sich zum Festaktus versammelt, zu welchem ich die Rede hielt. Mir war mitgeteilt worden, daß die Zeit mit äußerster Pünktlichkeit eingehalten werden müsse, da unmittelbar hernach der König bei einer anderen Festlichkeit eintreffen wollte. Ich stand also vor der Aufgabe, mein Sprüchlein eindrucksvoll und abgerundet zu sagen und dabei die Zeit von genau 35 Minuten einzuhalten. Ich darf mir das Zeugnis geben, daß es eine der besten Reden wurde, die ich je gehalten habe; sie dauerte 34 Minuten, ohne daß ich inzwischen mein Tempo nach der Uhr geregelt hatte. Ob die drei Kola-Pastillen, die ich vorher eingenommen hatte, einen wesentlichen Anteil zu dem Erfolg beigetragen haben, kann ich nicht[302] mit Sicherheit sagen; doch bin ich geneigt, es zu glauben, weil ich auch sonst in ähnlichen Fällen gute Wirkung verspürt habe. Ob aber die Wirkung physiologisch oder psychisch, d.h. durch den Glauben daran bewirkt war, suchte ich nicht zu entscheiden, da sie doch jedenfalls vorhanden war.

Übrigens habe ich auch hernach gelegentlich gute Vorträge ohne Kola gehalten; allerdings auch schlechte.

Bei der Abrechnung der Ausgaben und Einnahmen erwies sich allerdings, daß die ersten sehr groß waren. Da ich aber den erheblichen Betrag des Nobelpreises für den Zweck bestimmt hatte, so kam ich Bührers Wünschen nach weiterer Unterstützung bereitwillig entgegen und überließ ihm ganz und gar die Führung der Geschäfte. Hierzu war ich ohnedies genötigt, da um die gleiche Zeit die Leitung des Monistenbundes einen sehr großen Teil meiner Zeit und Energie erforderte. Ich hatte den ersten Abschluß zwar nicht eben klar gefunden, doch schrieb ich dies meiner Unerfahrenheit in solchen Sachen zu, da das Zeugnis eines vereidigten Bücherprüfers vorlag.

Schatten. An dem zunächst ganz sonnigen Himmel der Brücke begannen sich aber nun Wolken zu zeigen. Zuerst trafen Klagen über Bührers Geschäftsführung seitens eines Angestellten ein, dem gekündigt war. Ich hielt dies für einen Racheversuch und ging der Sache nicht nach. Dann kamen Beanstandungen durch Münchener Mitglieder des Verwaltungsrates. Als Vorbild einer organisatorischen Leistung hatte Bührer eine vollständige Sammlung aller Ansichtspostkarten einer Stadt (er hatte Ansbach gewählt) vorbereitet und ich konnte nur durch festes Durchgreifen im letzten Augenblicke die Unternehmung verhindern, von der ich mit Recht annahm, daß sie die »Brücke« nur lächerlich[303] machen würde. Es war dies eine Auswirkung des Irrgedankens der »Restlosigkeit« (III, 291).

An Stelle der Ansichtspostkarten wählte Bührer nun die damals massenhaft erzeugten und von Kindern leidenschaftlich gesammelten Reklamebildchen, die er sich von allen Seiten beschaffte und auf Karten in Weltformat klebte. Zuerst machte er diese Arbeit allein, dann aber setzte er auch das Personal der Brücke daran, da er sonst das tausendfältige Material nicht bewältigen konnte. Mir kam dies bedenklich vor, als ich es zu spät erfuhr.

Dazwischen konnte ich andererseits vortreffliche Ergebnisse feststellen. Ein freiwilliger Mitarbeiter, eifriger Skifahrer, hatte ganz im Sinne der Brücke die gesamten Deutschen Skivereine dahin organisiert, daß sie ihre Mitteilungen alle in Weltformat herstellen ließen, ihren Verkehr zentralisierten und hierdurch erhebliche Verbilligung, Beschleunigung und Vervollständigung ihrer Arbeit erzielten. Das war so vortrefflich gelungen, daß ich hier das angestrebte organisatorische Vorbild sah.

Dennoch mehrten sich die Klagen. Briefe von Belang blieben wochenlang unerledigt, Lieferungen wurden nicht bezahlt, kurz, die Ordnung der Geschäftsführung, die bei der Brücke vorbildlich sein sollte, schien empfindlich zu mangeln.

Die Klagen nahmen schließlich so an Zahl und Bedeutung zu, daß ich mich entschließen mußte, persönlich nach dem Rechten zu sehen. Da ich mich selbst zur kaufmännischen Überprüfung der Geschäftsführung unfähig fühlte, nahm ich die Hilfe meines Sohnes Walter in Anspruch, der sich der verwickelten und unerfreulichen Angelegenheit mit einem Eifer und einer Hingabe annahm, für die ich ihm großen Dank schulde.

Der Einsturz. Das Ergebnis war, daß die Brücke liquidiert werden mußte. Irgendwelche Unehrlichkeiten[304] waren zwar durchaus nicht vorgekommen. Wohl aber waren erhebliche Beträge unbedacht und zwecklos nach vielen Seiten verausgabt worden, deren Aufklärung große Schwierigkeiten machte. Wir gewannen den Eindruck, daß die Geschäfte Bührer über den Kopf gewachsen waren und daß er sich zahlreichen Aufgaben gegenübersah, die er nicht sachgemäß zu erledigen vermochte. Es stellte sich eine eigentümliche Unfähigkeit heraus, zwischen wichtigen Dingen und so unwichtigen zu unterscheiden, daß man sie Spielereien nennen mußte. Von Bührer selbst war keine Aufklärung zu erhalten, da er sich wegen Erkrankung persönlich unzugänglich hielt und nur durch einen Vertrauensmann mit uns verkehrte.

Es war mir damals unmöglich, Bührers Verhalten zu verstehen. Es ist erzählt worden, daß seine Schweizer Unternehmungen, die vor der Brückengründung lagen, damals nicht mehr bestanden und daß nach seinen Andeutungen dies durch eine schwere Erkrankung bewirkt war. Ich habe schon an jener Stelle die Vermutung ausgesprochen, daß es sich damals um einen schweren geistigen Zusammenbruch gehandelt hatte und daß dem nur unvollkommen wiederhergestellten Organismus die Last der Arbeit und Verantwortung bei der Verwaltung der Brücke zu groß geworden war. So wirkte sich wohl ein Rückfall in jene Krankheit aus. Dies würde jenen Widerspruch und sein seltsames Verhalten erklären. Er ist wenige Jahre hernach gestorben.

Ich sorgte dafür, daß die Schulden der Brücke bezahlt wurden und übernahm dafür die Bestände, darunter jene zahllosen aufgeklebten Reklamemarken. Bald darauf brach der Weltkrieg aus.

So endete ein hoffnungsvoll begonnenes, in sich gutes Unternehmen. Aber es war nur die äußere Form zerfallen, denn die damals noch wenig verbreiteten[305] organisatorischen Gedanken sind inzwischen, wenigstens äußerlich, der ganzen Welt bekannt geworden. Auch hat sich bereits vieles von dem entwickelt, was damals angeregt wurde. Hierzu gehört insbesondere das Format des Papiers, die Zerlegung des Buches in die Einzelschriften und die Ordnung der Farben. Über die beiden ersten Punkte soll hier noch kurz berichtet werden; der dritte hat sich zum Inhalt meiner letzten Lebensjahre ausgewachsen.

Ausschußarbeit. Die weiteren Schicksale der Weltformate werden hier im Zusammenhange erzählt, obwohl sie einer erheblich späteren Zeit angehören. Nach dem unglücklichen Ausgange des Weltkrieges begann innerhalb der ganzen Technik ein eifriges Arbeiten im Sinne einer Organisation im allgemeinen, einer Normung im besonderen. Es wurden mit anderen Worten die fast ein Jahrzehnt früher im Programm der Brücke für die geistige Arbeit aufgestellten Grundsätze auf die gesamte technische Arbeit angewendet. Da die Zeit hierfür reif geworden war, entstanden entsprechende Gedanken unabhängig voneinander an vielen Stellen.

Die Formatfrage war einem Ausschuß übergeben worden, der aus Vertretern des Buchgewerbes in erster Linie bestand; dazu kamen Vertreter der Druckmaschinen, der papiererzeugenden und -verarbeitenden Gewerbe und der zugehörigen Maschinenindustrie, endlich Vertreter der Behörden als eines der größten Papierverbraucher. Die Führung hatte das Leipziger Buchgewerbe übernommen; der Normenausschuß der Industrie war durch Beauftragte vertreten. Ich war zu den Verhandlungen eingeladen. Die Sitzungen fanden in Leipzig statt; sie begannen um 1919.

Es erwies sich zunächst, daß nur die Wenigsten überhaupt über die Formatfrage nachgedacht hatten. Ich mußte auf der ersten Sitzung feststellen, daß ich unter[306] den Anwesenden der einzige Sachkundige war, insofern ich die Einzelfragen dabei erwogen hatte und stellte alsbald die drei Forderungen auf, die der Normung jedenfalls zugrunde gelegt werden mußten. Nämlich, daß die Formate Reihen von Rechtecken bilden, die durch Halbieren (Falzen) aus dem größten erhalten werden; daß das Seitenverhältnis der Rechtecke gleich 1:√2 sein muß, da nur dann die Formate sich geometrisch ähnlich bleiben; daß die Einheit des Meters oder Zentimeters den Abmessungen zugrunde zu legen ist.

Bei den Verhandlungen mußte ich alsbald erkennen, daß seitens der führenden Männer eine entschiedene persönliche Abneigung gegen mich bestand. Woher sie rührte, habe ich nicht festzustellen versucht; vermutlich waren es Nachwirkungen der Stimmung, unter welcher ich mein Verhältnis zur Leipziger Universität gelöst hatte. Es bestand ein deutliches Bestreben, die Lösung irgendwie außerhalb meiner Forderungen zu finden, wodurch ein Wust zweckloser Arbeit aufwuchs, der in argem Widerspruch zu dem letzten Zweck der Unternehmung stand, nämlich Energievergeudung zu vermeiden. So wurden sehr verschiedenartige Vorschläge gemacht, unter anderen einer, der so zahlreiche »Normen« ergab, daß wie der Vorsitzende zu seiner Empfehlung nachdrücklich hervorhob, bei seiner Annahme eigentlich überhaupt keine Änderung der vorhandenen Zustände nötig sein würde.

Es dauerte einige Jahre, bis sich die Mitglieder des Ausschusses so weit über das Problem klar geworden waren, daß sie auf meine Forderungen zurückkamen. Um aber doch den Schein der Selbständigkeit zu wahren, wurde die metrische Einheit nicht, wie ich in Übereinstimmung mit dem Gebrauch auf allen anderen Gebieten der Normung vorgeschlagen hatte, auf die linearen Abmessungen, d.h. die Seiten der Rechtecke angewendet[307] sondern auf deren Flächeninhalt, wodurch sehr unübersichtliche Zahlen entstanden. In dieser Gestalt ist dann die Formatnormung der allgemeinen Anwendung übergeben worden und hat begonnen, sich zu verbreiten. Ich bin auf Grund der Erfahrungen bei der Brücke der Meinung, daß die Verbreitung erheblich schneller erfolgt wäre, wenn man die »Weltformate« einfach übernommen hätte.

Die Sammelschrift. Der neuartigste Gedanke unter den Brückenplänen war der, das Buch in seine Bestandteile aufzulösen und die hinderliche Arbeit des Buchbinders rückgängig zu machen. Dies gilt nicht für umfangreiche Kunstwerke, wie Dramen und Erzählungen, denn diese sind als ein Ganzes angelegt und sollen ganz bleiben. Wohl aber gilt es für wissenschaftliche und Nachrichtenwerke aller Art, Zeitschriften u. dgl. Das letzte Ziel ist, daß jeder Mensch in der Lage sein soll, sich sein persönliches Sammelwerk anzulegen, das genau seinen Bedürfnissen entspricht und darüber hinaus nichts überflüssiges enthält und daß er es nach Bedarf aus- und umgestalten kann, wie ihn der Geist treibt.

Ganz neu war der Gedanke für mich nicht, denn ich hatte ihn schon zu Beginn meiner Leipziger Tätigkeit praktisch ausgeführt. Die »Klassiker der exakten Wissenschaften« (II, 55) waren ja aus dem Wunsche entstanden, die Dauerwerte der wissenschaftlichen Literatur, die fast alle als Zeitschriftenabhandlungen ans Licht getreten waren, in unabhängigen Einzelheften der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen, und der große Erfolg der Klassiker hat gezeigt, daß dies einem lebhaft empfundenen Bedürfnis entsprach. Habe ich doch selbst namentlich in der letzten Periode meiner Tätigkeit immer häufiger die gesuchte Auskunft in einem Klassikerbändchen gefunden. Aber über den näherstehenden Aufgaben der Fachwissenschaft war mir dieser allgemeine[308] Gedanke in den Hintergrund getreten. Um so bereitwilliger nahm ich ihn auf, als er mir in viel allgemeinerer Fassung und bereichert durch das wesentliche Mittel der Formatnormung von Bührer wieder entgegengebracht wurde.

Gelegentlich der Organisation des Verbandes der chemischen Gesellschaften (III, 280) schien sich mir in meiner Sonderwissenschaft ein Weg dazu aufzutun. Denn ein wichtiger Programmpunkt für das von Solvay unterstützte internationale Chemieinstitut war die Herstellung des vollständigen Handbuches der gesamten Chemie durch die Sammlung und Ordnung aller unserer Kenntnisse in Gestalt von Einzelschriften über jeden chemischen Stoff und Begriff. Aus diesem hätte dann jeder Chemiker die vollständige Literatur über jede Frage erhalten können und das Gesamtwerk hätte gleichzeitig eine vollständige Geschichte der Wissenschaft enthalten. Leider hat der Weltkrieg auch hier zerstörend gewirkt, voraussichtlich noch auf lange Jahre hinaus.

Als ich dann später das Bedürfnis empfand, meine Arbeiten zur Farbenlehre der Öffentlichkeit mitzuteilen, fiel dies in eine Zeit, wo unsere wissenschaftlichen Zeitschriften einen schweren Kampf um das Dasein durchzumachen hatten und eingesandte Beiträge erst nach Jahr und Tag, wenn überhaupt, veröffentlichen konnten. Ich begründete deshalb selbst ein nach Brückengedanken gestaltetes Schriftwesen neuer Art, dem ich den allgemeinen Namen Sammelschrift gab, und das an die Stelle der bisherigen Zeitschriften treten soll. Wie die Zeitschrift bringt auch die Sammelschrift einzelne Abhandlungen; diese werden aber so gedruckt, daß jede selbständig gehandhabt werden kann. Den bisherigen Heften entspricht eine »Mappe«, welche so viele Abhandlungen enthält, daß ein gewisser durchschnittlicher Umfang entsteht, und die Mappen erscheinen ähnlich den[309] Heften in regelmäßiger oder zwangloser Folge. Jede Abhandlung hat eigene Seitenzahlen und ist mit einer laufenden Nummer bezeichnet; außerdem trägt sie das Datum und ein Gruppenzeichen, nach welchem die näher zusammengehörenden inhaltlich geordnet werden können. Die drucktechnischen Maßnahmen, welche hier zu treffen waren und gute Fachkenntnisse erforderten, wurden zweckentsprechend durch Dr. Manitz erledigt. Die Sammelschrift erhielt den Namen »Die Farbe«, der sich aber bald als zu eng erwies, da ich auch die Ergebnisse meiner Forschungen zur Formenlehre darin unterzubringen hatte und hat es bis zu rund 40 Nummern gebracht. Auch hat das Beispiel schon mehrfach Nachahmung gefunden, so daß auch dieser Brückengedanke den Untergang der ersten Form überdauert hat.

Die dritte Aufgabe endlich, die Ordnung der Farben, hat dem letzten Teil meines Lebens seit 1914 den Hauptinhalt gegeben. Es hat eine Synthese meiner ordnungswissenschaftlichen, physikalischen, chemischen, physiologischen und psychologischen Kenntnisse und Fertigkeiten hervorgerufen, welche zu dem Ergebnis der messenden Farbenlehre geführt haben, die ich als den Höhepunkt meiner gesamten Leistungen ansehe.

Und die Fruchtbarkeit des neu erschlossenen Feldes, zeigt sich bereits jetzt darin, daß neue Wissenszweige wie die Formenlehre und die Kalik oder allgemeine Lehre vom Schönen darin aufzusprießen beginnen.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 286-310.
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