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[221] Ernst Haeckel. Um Weihnachten 1910 erhielt ich von Ernst Haeckel einen Brief mit der Bitte, ihn in Leipzig zu besuchen, wo er im Hause seines Schwiegersohns weilte. Ich hatte ihn bisher nicht persönlich kennen gelernt. Wohl hatte ich vor einer Reihe von Jahren versucht, ihn in Jena zu sehen, wo ich mich zufällig befand; ich wurde aber nicht empfangen. Später konnte ich nach dem Datum feststellen, daß es gerade die Zeit war, wo er seine »Welträtsel« schrieb und sich gegen jedermann unbedingt abgesperrt hatte.
Meine innere Einstellung zu Haeckel war etwas zwiespältig. Mit der allgemeinen Richtung seines Denkens war ich einverstanden, mit vielen Einzelheiten aber nicht. Insbesondere fand ich seine Handhabung physikalischer Begriffe und Gesetze vielfach bedenklich, da sie manche Mängel seiner Bildung auf diesem Felde erkennen ließ. In einzelnen Bücherberichten in den »Annalen« hatte ich dies auch zum Ausdruck gebracht. Auf der anderen Seite fühlte ich mich heftig abgestoßen durch die Kampfart, welche seine Gegner gegen ihn benutzten, und zwar nicht nur Geistliche, sondern auch Kollegen, d.h. andere Professoren, und ich war deshalb geneigt, ihm gegebenenfalls zu helfen.
Von seinem persönlichen Wesen hatte ich mir nach seinen Schriften die Vorstellung eines ziemlich wilden[222] Draufgängers gemacht und erwartete ein entsprechendes Verhalten.
Haeckels Aussehen mit dem vollen weißen Haar und Bart ist aus vielen und weit verbreiteten Bildern wohlbekannt, so daß ich es nicht zu beschreiben brauche. Er hielt seine hohe Gestalt trotz der 75 Jahre noch kräftig aufrecht.
Völlig überrascht war ich durch die im besten Sinne kindlich zu nennende Güte und Freundlichkeit seines Wesens. Von selbstbewußtem Geltendmachen des außerordentlich umfassenden Einflusses, den er auf seine Zeitgenossen ausgeübt hat, war nicht die geringste Spur vorhanden; er gab sich eher schüchtern und bescheiden. Die bekannten Schilderungen der Persönlichkeit Darwins, seines wissenschaftlichen Ideals, passen ebensogut auf Haeckel.
Das Anliegen, welches ihn zu seiner Einladung veranlaßt hatte, war sein Wunsch, ich möchte die Leitung des 1906 von ihm gestifteten Monistenbundes übernehmen. Dieser hatte inzwischen mancherlei Schicksale erfahren und war durch verschiedene Höhen und Tiefen gegangen. Eben befand er sich auf dem Grunde eines Wellentals und Haeckel traute sich, wahrscheinlich mit Recht, nicht die unmittelbare persönliche Wirksamkeit zu, um ihn wieder zu heben. Er war wie Liebig am Schreibtisch ein ganz anderer Mensch, als im persönlichen Verkehr.
Mir erschien die Sache nicht unbedenklich. Aus vielfältiger Erfahrung wußte ich zwar, daß ich fähig war, größere Menschenmassen zu beeindrucken, ja hinzureißen. Aber neben der Eigenschaft der Anziehung besaß ich, wie Goethe dies einmal geschildert hat, außerdem die Eigenschaft der Abstoßung, die sich oft genug nach einiger Zeit geltend machte, ohne daß ich recht wußte, wodurch die eine wie die andere bewirkt wurde.[223] Auch hatte ich gerade um jene Zeit eine ganze Menge Eisen im Feuer, von denen einige kalt werden konnten, wenn ich noch ein weiteres hineinschob.
Haeckel wußte indessen meine Bedenken zu zerstreuen, indem er es mir einigermaßen zu einer sozialen Pflicht machte, mich hier nicht zu versagen. Er wies darauf hin, daß gerade innerhalb der Professorenkreise eine große Ängstlichkeit herrschte, sich zu kirchenfreien Ansichten zu bekennen, und daß das Eintreten eines anerkannten Forschers hier vielleicht Besserung bringen würde.
Die Ladenburg-Hetze. Hiermit hatte er eine Saite berührt, die bei mir alsbald in kräftige Schwingungen geriet. Im Jahre 1903 hatte der Chemiker Laden burg auf der Naturforscherversammlung zu Kassel einen Vortrag über den Einfluß der Naturwissenschaften auf die Weltanschauung gehalten, in welchem hauptsächlich die damals ganz allgemein verbreitete mechanistische Philosophie, wie sie u.a. Dubois-Reymond in mehreren viel erörterten Vorträgen an gleicher Stelle entwickelt hatte, nochmals dargelegt wurde. Ich hatte ihn mit nachsichtigem Lächeln angehört, weil er mir nicht eben viel Neues zu sagen schien. Aber die Zeiten waren seitdem ganz andere geworden. Es brach ein Sturm der Orthodoxie gegen Ladenburg los, der insbesondere aus den Kreisen um die Kaiserin genährt wurde, die leidenschaftlich gern Kirchen baute und auf strenge Gläubigkeit hielt. Sie pflegte einen Teil des Sommers auf der schönen Wilhelmshöhe bei Kassel mit ihren Kindern zu verbringen und empfand anscheinend die geistliche Verunreinigung dieses Ortes durch den ungläubigen Chemiker und Juden wie eine persönliche Rücksichtslosigkeit und Kränkung.
Ich war damals Vorstandsmitglied der Naturforscher- und Ärztegesellschaft. Als wir im Winter darauf in Breslau zusammentraten, um die nächste Tagung zu beraten,[224] wurde uns ein Schreiben von irgendeiner hohen Stelle mitgeteilt, in welchem uns nahegelegt wurde, wir möchten uns amtlich von Ladenburg lossagen. Erster Vorsitzender war damals van't Hoff. Bei der Besprechung zeigte sich, daß mehrere einflußreiche Kollegen nicht übel Lust hatten, dem Wink zu gehorchen. Ich trat mit Feuer und Leidenschaft für die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Äußerung auf unseren Versammlungen ein und erzielte auch eine Ablehnung, doch nur mit geringer Mehrheit. Bei nächster Gelegenheit wurde ich aber aus dem Vorstand herausgewählt.
So nahm ich die Einladung Haeckels an. Die nötigen formellen Wahlen wurden alsbald vorgenommen, die geschäftsführenden Vorstandsmitglieder besuchten mich in Groß-Bothen und in kurzer Frist sah ich mich an der Spitze einer Bewegung, von der ich bis dahin nur den Namen und die allgemeine Richtung kannte.
Der Monismus. Haeckel hatte bei der Gründung des Bundes seine leitenden Gedanken in einer Anzahl von Sätzen ausgesprochen, die ich nur zum Teil gutheißen konnte. Die persönliche Aussprache belehrte mich, daß das Hauptbedenken bei solchen Vereinen, die dogmatische Festlegung auf ein ins Einzelne gehendes Programm, hier nicht vorlag. Vielmehr hatten sich im Monistenbunde sehr verschiedene Richtungen zusammengefunden, die in der Abwehr gegen die unter dem Schutz des Kaisers immer anspruchsvoller vordringende Orthodoxie einig waren. Ich hatte inzwischen Comte gelesen und seine Lehre von den drei Stufen der Kulturentwicklung, der theologischen, metaphysischen und positiven (oder wissenschaftlichen) zutreffend gefunden. So konnte ich die Aufgabe des Monistenbundes in die einfache Formel fassen, daß sie negativ in der Abwehr der Versuche bestand, die naturgesetzlich notwendige Kulturentwicklung umzukehren, und positiv in der Herausarbeitung[225] und Verbreitung der wissenschaftlichen Weltanschauung. Und da mir aus der Geschichte der Wissenschaft bekannt war, wie wandelbar (bei gleicher Grundrichtung) die Formen ausfallen, in denen sich die Wissenschaft einer bestimmten Zeit zu gestalten sucht, so sah ich weiter eine wichtige Aufgabe darin, innerhalb des Bundes eine Festlegung auf irgendwelche zeitbedingte wissenschaftliche Lehren zu verhindern. Eine Gefahr in solchem Sinne ließ sich nicht verkennen, da bei Haeckel selbst diese Betrachtungsweise nicht im Vordergrunde stand. Hatte ich mir doch schon früher klar gemacht, daß ein guter Teil des außerordentlichen Erfolges seiner »Welträtsel« auf deren reichlichem Gehalt an Dogmatismus beruhte, der freilich kein kirchlicher war, sondern ein wissenschaftlicher. Die persönliche Bekanntschaft mit diesem ungewöhnlichen Manne beruhigte mich aber völlig nach dieser Richtung. Ich hatte ihn so frei von Eigensinn in Einzelfragen gefunden, daß ich sicher darauf rechnen durfte, mich mit ihm gegebenenfalls bald zu einigen. Und vor allen Dingen lagen ihm alle kleinlichen und unterirdischen Mittel, seine Gedanken und Absichten durchzudrücken, so weltenfern, daß er überhaupt nicht an sie dachte. Dieser unbedingte ethische Idealismus war es, was ihm jene wundersame Kindlichkeit gab, die ihm mein Vertrauen und mein Herz alsbald gewann.
Die Hamburger Tagung. Die Tragfähigkeit des monistischen Gedankens und die Wirksamkeit meiner Bundesleitung wurde in dem darauf folgenden Sommer auf eine entscheidende Probe gestellt. Nach Hamburg sollte eine allgemeine Monistenzusammenkunft eingeladen werden, die sich nicht auf die Deutschen Mitglieder beschränkte, sondern internationale Betätigung anstrebte. Die Bundesleitung befand sich in München, während in Hamburg eine zahlreiche und eifrige Ortsgruppe tätig[226] war. Zwischen beiden Stellen war ein merklicher Gegensatz entstanden, weil den an schnelles und bewußtes Eingreifen gewöhnten Hamburgern das Zeitmaß der Münchener Betätigung etwas zu gemütlich war. Beiden war daher die Verlegung der Bundesoberleitung an einen dritten Ort willkommen, da sie den Gegensatz milderte. Den Hamburgern aber entstand ein zusätzlicher Ehrgeiz, bei dieser Versammlung gut abzuschneiden, als »moralisches Schwungrad«.
In Hamburg war nämlich sowohl die Sache wie der Name geläufig gewesen, bevor Haeckel den Monistenbund gegründet hatte. Dort hatte der aus seinen Beziehungen zu Nietzsche bekannte Dr. Rée schon in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts das Schulwesen in wissenschaftlichem Sinne von den Fesseln der Überlieferung zu befreien begonnen und im Winter 1901 war eine Gesellschaft der Freunde freidenkerischer Bestrebungen unter Führung von Kahl entstanden, die anfangs ihr bescheidenes Dasein unter polizeilicher Bewachung führen mußte. Bald (1903) nahm sie den Namen Monistische Gesellschaft an, die also schon drei Jahre bestanden hatte, als Haeckel in Jena den Monistenbund stiftete, und entfaltete eine von zunehmenden Erfolgen begleitete Tätigkeit. Als dann die Gründung des Deutschen Monistenbundes erfolgte, trat sie sofort diesem bei, ohne auf ihre »älteren Rechte« zu pochen: ein bemerkenswertes Zeugnis für die organisatorische Großzügigkeit Hamburgischen Denkens und Handelns.
Tatsächlich brachten die Hamburger bei dieser Gelegenheit eine organisatorische Meisterleistung zustande. Den wissenschaftlichen Teil hatte der berühmte Dermatologe Paul Unna zu ordnen übernommen, während der technische von dem Fabrikanten Jakob Wolff und dem Kaufmann Carl Rieß durchgeführt wurde.
[227] Unna hatte ein durchdachtes Programm der Vorträge aufgestellt. Svante Arrhenius sollte über das Weltall, J. Loeb über das Leben, ich über die Wissenschaft und der Wiener Philosoph Friedrich Jodl über die Kultur im Zusammenhange mit dem Monismus sprechen. Dazu kamen noch Vorträge vom Rektor Höft über die Trennung der Schule von der Kirche, von Professor Wahrmund über die Trennung von Staat und Kirche. Den Schluß bildete eine Rede von Dr. Ernst Horneffer über Monismus und Freiheit. Diesem wohlbedachten Aufbau, der alle großen Menschheitsfragen berührte (den Mittelpunkt von Jodls Ausführungen bildete das ethische Problem) ist in erster Linie die über alles Erwarten starke Anziehungskraft und Wirkung zuzuschreiben, welche der Hamburger Kongreß ausübte. Mehrere Tage vor Beginn mußten die Listen wegen Überfüllung geschlossen werden.
Ich war einen Tag vorher nach Hamburg gefahren, um bei der letzten Vorbesprechung zugegen zu sein. Es erwies sich, daß auch nach der technischen und wirtschaftlichen Seite die Vorbereitung nichts zu wünschen übrig ließ; die Hamburger Freunde hatten an freiwilligen Beiträgen etwa 40000 Mark aufgebracht.
Am Vorabend hatte ich einen Anfall von Gallenkolik, die mir einige schmerzhafte Stunden brachte, aber meine Arbeitsfähigkeit in den folgenden Tagen nicht beeinträchtigte. Diese wurde allerdings stark in Anspruch genommen, da es sich um das erstemal handelte, wo ich ernstlich meines vor wenigen Monaten übernommenen Amtes zu walten hatte. Denn bisher waren die laufenden Geschäfte in gewohnter Weise von München aus erledigt worden.
Während der Tagung erfuhr ich gütige Gastfreundschaft von Professor Unnas Schwester, Frau de Boor, der namhaften Malerin.[228]
Die Versammlung begann mit einem Begrüßungsabend im Uhlenhorster Fährhaus an der Außenalster. In Ungewißheit über das Gelingen der Veranstaltung gingen wir hin; mit der Gewißheit eines großen Erfolges konnten wir heimkehren.
Schon das Gedränge und Gewoge beim Eintreten in die Festräume ließ die kommende Stimmung voraussehen. Von mancher Seite war befürchtet worden, daß die Einstellung der Vortragsordnung zu »hoch« für die breiteren Massen sei und wir nur auf mageren Besuch würden rechnen dürfen. Das Gegenteil war eingetreten: über 2000 Menschen waren schon ungeduldig zum ersten Abend gekommen, der doch nur Begrüßungen bringen sollte und konnte. Und ohne daß recht erkennbar war, woher sie rührte, war eine freudig erwartungsvolle Stimmung in den Massen vorhanden, noch ehe ein Wort zu ihnen gesprochen wurde.
Begrüßungen erfolgten, nachdem der Vorsitzende der Hamburger Ortsgruppe Carstens das Willkommen gesprochen hatte, von R. Penzig (ethische Kultur), Carus (Amerikanische Monisten), Schmal (Freidenkerbund), Weigt (Freimaurerbund), Helene Stöcker (Mutterschutz), Polako (natürliche Moral, Paris), Bloh (Friedensgesellschaft) und einer Reihe anderer Vertreter verwandter Bestrebungen. Mit immer stärkerem Beifall wurden die unerwartet zahlreichen und vielseitigen Bundesgenossen begrüßt und es entwickelte sich schnell eine beglückt-begeisterte Stimmung, welche den Beteiligten als ein ungewöhnlich starkes Gefühlserlebnis bester und reinster Art unvergeßlich geworden ist. So hatte ich es leicht, zum Schluß warme und herzliche Zustimmung zu gewinnen, als ich folgendes ausführte. Das Wort Moltkes: getrennt marschieren, vereint schlagen ist in Deutschland vielfach so angewendet worden, daß auf das getrennte Marschieren viel mehr Gewicht gelegt[229] wurde, als auf das vereinte Schlagen. Heute haben wir erlebt, wie beglückend auch das vereinte Marschieren wirken kann, und wir wollen uns das für die Zukunft gegenwärtig halten.
Haeckel hatte sein Kommen in Aussicht gestellt, war aber ärztlich verhindert worden. Wir hatten deshalb beschlossen, nach dem Kongreß eine gemeinsame Reise nach Jena zu machen, um ihn dort zu begrüßen. Diese Mitteilung setzte dem Jubel die Krone auf, so daß die Leiter der Versammlung Sorge empfanden, ob es möglich sein würde, eine solche Hochstimmung durch die bevorstehenden Tage bis zum Schluß aufrecht zu halten und einen verdrießlichen Abfall zu vermeiden. Der Erfolg hat dann gezeigt, daß es wirklich möglich war. Und daß es gelang, auch ohne die Anwesenheit des verehrten Begründers, war ein Beweis für die über das Persönliche hinausgehobene sachliche Bedeutung der Bewegung.
Der nächste Tag begann mit einer Geschäftssitzung, der ersten, die ich zu leiten hatte. Das wichtigste Ergebnis war, daß für den Ausdruck der Zwecke der Gesellschaft das bisher benutzte Wort: naturwissenschaftlich begründete Weltanschauung als zu eng befunden und durch wissenschaftliche Weltanschauung ersetzt wurde. Dies geschah auf Antrag von F. Jodl, der hernach in seiner großen Rede eine durchgreifende Begründung dafür entwickelte.
Ferner kündigte sich ein persönlicher Vorgang an, der aber einen sachlich bedeutsamen Hintergrund hatte. Der Öffentlichkeit gegenüber hatte der zweite Vorsitzende, Ernst Horneffer dem geistigen Antlitz des Bundes die kennzeichnenden Züge gegeben, da der erste Vorsitzende Unold, der freundlichst zurückgetreten war, um meine Wahl zu ermöglichen, mehr schriftstellerisch als rednerisch wirksam war. Horneffer war dagegen ein zündender Redner, der seine Hörer wesentlich nach[230] der Gefühlsseite beeinflußte und nicht ohne Mißtrauen gegen die nüchterne Wissenschaft war. Als diese durch jenen Beschluß so scharf in den Vordergrund gerückt wurde, empfand er es als eine Art Verneinung seiner bisherigen Tätigkeit und betonte ausdrücklich, daß kein Gegensatz zwischen ihm und dem Bunde bestände. Der Vorgang rührte an seinen wesentlichen Unterschied zwischen zwei etwa gleich großen Gruppen im Bunde, den Gefühlsmonisten und den Verstandesmonisten und an die sehr großen Schwierigkeiten, beide zum gemeinsamen Marschieren zu bringen. Auch in anderen Gemeinschaften entwickeln sich sehr häufig ähnliche Gegensätze, die oft unüberbrückbar erscheinen. Es ist der alte Unterschied, den schon die griechische Kultur in Plato und Aristoteles verpersönlicht sah.
Am Abend fand die erste öffentliche Sitzung des Kongresses statt. Hierfür war der größte Saal Hamburgs im Curio-Haus gewählt worden, der 2700 Plätze bot. Er wurde nicht nur gefüllt, sondern überfüllt; etwa 3500 Hörer fanden Zutritt. Hunderte über hunderte von Spätergekommenen konnten nicht zugelassen werden. In den Begrüßungsworten betonte ich, daß nachdem das Deutsche Volk seit 1871 einen unerhört schnellen wirtschaftlichen Aufstieg genommen hatte, nun ein allgemeines Bewußtsein entstanden ist, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt, sondern nach geistiger Nahrung verlangt, an welcher Gemüt und Verstand wachsen können. In den alten Formen der kirchlichen Überlieferung findet er diese Nahrung nicht mehr, wohl aber darf er sie von der Wissenschaft erhoffen, und hier liegt daher die Aufgabe des Monistenbundes.
Auch bei dieser Gelegenheit gelang es mir, den persönlichen Zusammenhang mit den Hörermassen sehr bald herzustellen, so daß sie die mehreren Anreden, zu denen mich mein Amt veranlaßte, mit gesteigerter Zustimmung,[231] zuletzt mit Jubel aufnahmen. Es ist ein sehr glückbringendes Erleben, sich solchem hemmungslosen Wohlwollen einer großen Menschenmenge gegenüber zu befinden.
Eine weitere Anzahl Grüße von befreundeten Vereinigungen aus Paris, New York, Chicago, Jassy, Washington, Antwerpen wurden großenteils persönlich durch Abgeordnete überbracht und regten den Gedanken an, diese einmalige Berührung durch Gründung einer internationalen Organisation in einen dauernden Zusammenhang zu verwandeln.
Ernst Haeckel hatte einen Aufsatz: Die Fundamente des Monismus durch seinen Schüler und Freund Heinrich Schmidt übersandt, dessen Verlesung stürmische Zustimmung hervorrief.
Den Hauptinhalt des Abends lieferte S. Arrhenius durch einen weitgedachten und höchst eindrucksvollen Vortrag über das Weltall, in welchem er die für die Weltanschauung wesentlichen Ergebnisse der astrophysischen Forschungen darlegte, an deren Entwicklung er selbst so erfolgreich teilgenommen hatte. Die Hörer waren sichtlich tief ergriffen, so daß ich ihre Gefühle ausdrückte, als ich dem Redner unseren Dank für die monistische Erbauungsstunde abstattete, die er uns gegeben hatte. Ich erinnerte, wie wir vor 25 Jahren gemeinsam unsere wissenschaftliche Arbeit begonnen hatten, wie sich dann unsere Arbeitswege getrennt und uns doch heute wieder zusammengeführt haben. Die Zuhörer wollten mit dem Dank für den Vortrag nicht enden und der heutige Abend stand dem gestrigen nicht nach.
Wieder bewährte sich die überlegene Organisationskunst unserer Hamburger Bundesbrüder. Da für die zweite öffentliche Versammlung am folgenden Tage, der ein Sonntag war, ein noch größerer Zudrang erwartet werden mußte, besorgten sie unter Aufopferung der Nachtruhe einen zweiten Saal, machten Horneffer willig,[232] einen Vortrag aus dem Stegreif zu halten, ließen Plakate drucken und am nächsten Morgen durch die Straßen tragen und fahren und hatten die Freude, für rund tausend Hörer, die zum Curiosaal keinen Zutritt mehr fanden, einen Ersatz zu schaffen. Horneffer zeigte sich der schwierigen Aufgabe gewachsen und riß seine Zuhörer mit einem Vortrag über den Monismus im Kampfe der Gegenwart zu stürmischem Beifall hin.
Der mittäglichen öffentlichen Versammlung ging eine Ausschußsitzung voran, in welcher die oben erwähnte internationale Organisation des Monismus beschlossen und die Wahl von Vertretern für Nord- und Südamerika, Frankreich, Spanien, Polen und Rußland, Rumänien vollzogen wurde.
Wieder vor überfülltem Hause begann die Tagung mit einem Vortrag von J. Loeb (II, 320), dem genialen Biologen, dessen Entdeckungen über künstliche Befruchtung soeben das größte Aufsehen auch in Laienkreisen hervorgerufen hatten. Mit größter, fast atemloser Aufmerksamkeit wurde sein Vortrag aufgenommen und die mit scharfer Bestimmtheit, ja Härte ausgesprochenen Schlüsse auf eine rein physikochemische Auflösung und Erklärung aller Lebenserscheinungen riefen eine starke Erschütterung hervor, die ich dann in meinen Dankworten zum Ausdruck brachte.
Es folgte nun mein eigener Vortrag über die Wissenschaft. Er begann mit der Schilderung der eigenartigen Erscheinungen selbständigen Lebens, unabhängig von ihren einzelnen Dienern, welches die Wissenschaft erkennen läßt und ging dann zu dem Nachweis über, daß von den drei gern als Schwestern bezeichneten höchsten Kulturgütern: Religion, Kunst und Wissenschaft die letzte zwar die jüngste, aber eben deshalb auch die höchste Schöpfung des Menschengeistes ist. Das Verhältnis zwischen angewandter und reiner Wissenschaft wurde[233] dann klargelegt, ihre prophetische Natur gekennzeichnet und ihr organischer Aufbau in der Wissenschaftspyramide entwickelt.
Zum Schluß wurde folgende Gedankenreihe dargelegt, die ersichtlich auf die Zuhörer den stärksten Eindruck machte.
Die Menschheit hat von jeher in der Gottesidee das Stärkste, Klügste und zuletzt auch Beste zusammengefaßt, was sie sich als Wunsch und Sehnsucht hatte erdenken können und was sie in der vorhandenen Welt nicht verwirklicht fand. Fragen wir uns heute, in welchem Begriff alle diese Ideale zusammenlaufen, so ist es die Wissenschaft, welche sich als Trägerin des Höchsten erweist, was sich der Mensch erdenken kann. So kommt es, daß jene übermenschlichen Eigenschaften welche von jeher Gott zugeschrieben wurden, sich bei der Wissenschaft vorfinden, nur nicht in der »absoluten« Weise der Tradition. Denn Absolutes gibt es nicht. Diese Eigenschaften sind Allmacht, Allwissenheit, Allgegenwart.
Allmächtig ist die Wissenschaft nicht, denn sie ist an die Naturgesetze gebunden (die man ja auch vielfach für Gott als bindend ansah), aber sie ist doch der Inbegriff der größten Macht, die im ganzen Bereich des Menschenlebens vorkommt. Sie kann Berge versetzen, Ernten vervielfältigen, den Tod abhalten und das Leben verlängern, kurz alles Wünschenswerte in einem Ausmaß gewähren, welches durch die gemeinsame Arbeit der Menschen beständig zunimmt.
Ebenso ist sie allwissend, denn sie umfaßt alles Wissen, welches dem Menschen zugänglich ist, und vermehrt es jeden Tag.
Ebenso ist sie allgegenwärtig, denn jeder Schritt, den wir in irgendeiner Betätigung über das bloß tierische Dasein hinaustun, beruht auf Wissenschaft, ob in einfachster oder höchstentwickelter Form.[234]
Die Wirkung des Vortrags auf die Zuhörer wurde durch den Gegensatz zu dem vorangegangenen sehr verstärkt. Dort war ein pessimistisch eingestellter, bleicher, magerer, schwarzer Mann zu Worte gekommen, der mit harten, unbarmherzigen Hammerschlägen ein unpersönlich-kaltes Gebäude errichtet hatte und dessen Wirkung auf der rücksichtslosen, fast fanatischen Herausstellung des leblosen Anteils am Leben beruhte. Nun sprach ein breiter, behaglicher Blondkopf mit warmen persönlichen Tönen, doch sachlich ebenso nüchternwissenschaftlich. Mußte man dort die Wissenschaft fast fürchten, so durfte man sie hier wieder lieben, denn sie erwies sich als Trägerin des Höchsten und Besten, was der Menschengeist hatte ersinnen können.
So kann man sich erklären, daß der Redner wiederholt durch stürmischen Beifall unterbrochen und unter kräftigen Äußerungen der allgemeinen Zustimmung entlassen wurde.
Der Tag schloß mit einem Festessen, von fast tausend Teilnehmern, auf welchem für die Bundesarbeit ein »Energieschatz« von 17000 M. gezeichnet wurde.
Am dritten Versammlungstage wurden zunächst Wahlen und andere Geschäfte erledigt.
Am Abend sollten die letzten öffentlichen Vorträge stattfinden, und ich war etwas in Sorge, ob der Schluß nicht allzusehr gegen den glänzenden Sonntag abfallen würde. Am Nachmittag fand eine Hafenfahrt in kleinen Dampfern bei schönstem Wetter statt, an der ich mich auch beteiligte, obwohl ich ein wenig die Erschöpfung durch die dauernde Beanspruchung zu spüren begann. Meine Begleiter nahmen freundlich Rücksicht auf diesen Zustand und verschonten mich mit Ansprachen. Dies benutzte eine Anhängerin der Mazdaznanlehre, die zu Propagandazwecken sich uns zugesellt hatte, um einen Bekehrungsfeldzug gegen mich zu eröffnen. Vergeblich[235] erklärte ich, daß ich kein Bedürfnis darnach empfand; sie wollte sich nicht abweisen lassen und schließlich mußten die Freunde einen lebenden Wall um mich bilden, um mir etwas Ruhe zu verschaffen.
So kam ich am späten Nachmittag ziemlich erschöpft nach Hause und bedachte, wie ich die nötigen nicht geringen Energiemengen auftreiben sollte, um den Forderungen der bevorstehenden Abendversammlung zu genügen. Auf ein Reizmittel wie Kaffee oder Weingeist wollte ich mich nicht verlassen; so bat ich meine gütige Gastfreundin, mir außer aller Zeiteinteilung ein schönes Hamburger Beefsteak zubereiten zu lassen, indem ich diese Zumutung mit pyschophyischen Gründen zu rechtfertigen suchte. In vollem Verständnis der Sachlage gewährte sie mir in freundlichstem Eifer die Bitte und als am Abend der wohlgelungene Abschluß vorüber war, konnte ich den Erfolg mit Recht auf die energetisch-chemische Grundlage zurückführen, welche sie dafür beschafft hatte.
So war der letzte Abend herangekommen, an welchem mit einer dritten öffentlichen Sitzung der Kongreß geschlossen werden sollte. Es schien außerhalb aller Möglichkeit zu liegen, daß die starken Erlebnisse der vorangegangenen Tage noch überboten werden konnten, doch wurde es erreicht.
Das Hauptgewicht dieser Versammlung lag in dem ersten Vortrag von Friedrich Jodl über den Monismus und die Kulturprobleme der Gegenwart. Jodls philosophische Arbeiten, die anfangs der Geschichte seiner Wissenschaft galten, hatten ihren Schwerpunkt in einem ausgezeichneten Werk über Ethik erhalten und diese Studien hatten ihn zu den gleichen Ergebnissen geführt, welches die von den Naturwissenschaften ausgehenden Forscher gefunden hatten, daß nämlich die Ethik ein soziales Gebilde ist und daher von diesem Gesichtspunkt[236] aus begriffen werden muß und kann. Um diese grundwichtige Tatsache von weitreichender Stelle aus zur Geltung zu bringen, hatte er die Einladung nach Hamburg angenommen, obwohl er kränklich war und diesen Entschluß auch wirklich mit einer nicht leichten Schädigung seiner Gesundheit bezahlen mußte.
Sein Vortrag war denn auch auf diesen Punkt gerichtet, wo Natur- und Geisteswissenschaften, die bisher getrennt, ja oft im Gegensatz zueinander ihre Arbeit getan hatten, sich endlich auf gemeinsamem Boden gefunden hatten. Dem Monistenbund stellte er deshalb die Aufgabe, vor allem dies gemeinsame Gebiet zu bearbeiten, und zwar nicht nur theoretisch, sondern jedenfalls auch praktisch. Ist die Ethik als soziales Gebilde wissenschaftlich ererwiesen, so muß der Monismus als wissenschaftliche Weltanschauung und Weltgestaltung sich sozialen Aufgaben in erster Linie widmen.
Dieser Gedanke wurde von den Monisten alsbald als führend und richtunggebend empfunden und wir hatten wieder einmal das Bewußtsein, daß es sich bei unseren Zusammenkünften nicht um ein schönes Spiel mit Worten und Gedanken, sondern um dringende sachliche Arbeit handelte.
In meinen Dankworten betonte ich, daß mit Professor Jodl zum ersten Male ein bedeutender Vertreter der Geisteswissenschaften den Weg zu uns gefunden hatte, so daß auch in solcher Hinsicht der Monismus die ganze Wissenschaft umfaßt. Dadurch habe er für die Zukunft seine Stellung in der Geschichte des menschlichen Geistes festgelegt.
Die beiden folgenden Reden: Ludwig Wahrmund, Professor in Innsbruck über die Trennung von Staat und Kirche, und Rektor Gustav Höft, Hamburg, über die Trennung von Kirche und Schule waren treffliche Zusammenfassungen der entsprechenden Tatsachen und[237] Forderungen, enthielten aber naturgemäß keine so neuartigen Gedanken, wie die vorausgegangene. Sie wurden von der großen Versammlung mit völliger Aufmerksamkeit entgegengenommen, ohne daß jener mit Recht gefürchtete akustische Nebel entstand, der sich aus tausend kleinen ungewollten Geräuschen einer ungeduldig werdenden Zuhörerschaft bildet und sich unaufhaltsam verstärkt, wenn er einmal aufgetreten ist.
Als letzter Redner erschien Horneffer, warm begrüßt in der begründeten Erwartung, daß das Gemüt, das zuletzt ein wenig hatte darben müssen, nun reichlich Nahrung finden würde. Er sprach über Monismus und Freiheit, wobei die individualistischen Neigungen deutlich zur Geltung kamen, die mit der Platonischen Denkweise notwendig verknüpft sind. Es war ihm eine Herzenssache und so deckte die Wärme seiner mehr poetischen als wissenschaftlichen Darlegungen den Widerspruch gegen die Gedankenrichtung einigermaßen zu, welche auf dieser Versammlung sich so kraftvoll geltend gemacht hatte.
Hinter dem Rednerpult saß ein hervorragendes Mitglied der Hamburger Ortsgruppe, ein Jurist, den ich als scharfsinnigen Kopf bei unseren geschäftlichen Verhandlungen kennen gelernt hatte. Er hatte einen kahlen Schädel und ein mageres, sehr bewegliches Mephistogesicht. Während der Rede suchte er meine Augen unter höchst ausdrucksvollem Feixen, das sein Vergnügen an der Verlegenheit ausdrückte, in der ich mich bei dem abschließenden Dankspruch befinden würde. Ich nickte ihm vergnügt zu mit dem Ausdruck: wart's ab.
Als nun der Redner unter reichem Beifall geschlossen hatte, sagte ich: Es ist in diesen Tagen meine gern erfüllte Pflicht gewesen, jedem unserer Vortragenden den rauschenden Beifall und Dank der Versammlung in unser geliebtes Deutsch zu übertragen und gleichsam jedem das wohlerworbene Lorbeerreis in das Knopfloch seines[238] Rednerfracks zu stecken. Diesmal ist es aber nicht ein Lorbeerzweig, nach dem ich greife, sondern einen vollen Rosenkranz möchte ich unserem hochgeschätzten zweiten Vorsitzenden auf das Haupt setzen.
Ich hatte, wie ersichtlich, als Vorsitzender es mir zur Regel gemacht, das Wort an den Redner zum Schluß des Vortrages nicht auf die üblichen formellen Wendungen zu beschränken, sondern mit einigen möglichst bezeichnenden Worten auf den Punkt hinzuweisen, auf den sich unser Dank in erster Linie bezog. So wurden diese Schlußworte, nachdem die Hörer hinter die Sache gekommen waren, mit zunehmender Aufmerksamkeit angehört und besonders begrüßt. Als nun der letzte Redner auf das Ende zusteuerte, dachte ich daran, daß ich nicht nur das zu sagen hatte, was sich auf ihn und seinen Vortrag bezog, sondern den Abschluß der ganzen erfolg- und anregungsreichen Tagung in einem einprägsamen Wort kennzeichnen mußte. In aller Geschwindigkeit überlegte ich mir die Aufgabe und fand, daß ich vor allen Dingen die reichen Hoffnungen auszusprechen hatte, welche wir an die Auswirkung der Tagung knüpfen durften. So rief ich, nachdem der letzte Redner persönlich erledigt war, in den Saal hinein: Hiermit schließe ich den ersten internationalen Monistenkongreß und eröffne das monistische Jahrhundert.
Nie in meinem Leben, weder vor- noch nachher, habe ich einen so starken Widerhall in einer mehrtausendköpfigen Menschenmenge erlebt, wie nach diesem Wort. Immer wieder begann der Jubel von neuem und ich mußte die Verführung, nochmals das Wort zu ergreifen (wodurch ich die ganze starke Wirkung zerstört hätte) auf das ernstlichste in mir bekämpfen. Ich beglückwünsche mich noch heute, daß mir dies gelang. Es war der Höhepunkt der Versammlung und auch der Höhepunkt meiner Wirksamkeit im Bunde.
[239] Pilgerfahrt nach Jena. Für die schon am Begrüßungsabend angekündigte gemeinsame Reise zu Haeckel hatten sich 250 Teilnehmer gemeldet, die in einem Sonderzug die ziemlich lange Fahrt zurücklegten. Unterwegs wurde das »Weimarer Kartell«, eine Vereinigung der meisten Freidenkender-Gesellschaften, neu organisiert, um bei gegebenen Umständen mit geschlossenen Kräften vorzugehen. Doch fand sich nicht der Führer, der eine solche lockere Gemeinschaft zusammenzufassen vermochte, so daß die Tätigkeit des Kartells gering blieb.
In Jena trafen wir gegen Abend ein. Ich ging, nachdem ich den Reisestaub entfernt hatte, alsbald zu Haeckel, um ihm den Fackelzug anzukündigen, der ihm nach Dunkelwerden gebracht werden sollte und fand ihn froh erregt in Erwartung der Dinge vor. Er nahm auch diese Auszeichnung, die sachgemäß mit den Wanderungen ähnlicher Pilgerzüge nach dem Sachsenwalde zu Bismarcks Ehren verglichen wurde, mit derselben kindlichen Freude entgegen, wie die vielen anderen Dankbezeugungen seiner zahlreichen Jünger, und wenn man dabei von Eitelkeit sprechen will, so war es eine von liebenswürdigster Beschaffenheit.
Zu rechter Zeit erschien der Zug und ich richtete, neben ihm auf dem Balkon stehend, die zugehörige Begrüßung an ihn, indem ich seinen Gedanken des Monistenbundes mit einem der edlen Samenkörner verglich, die lange im Boden ruhen, bis sie plötzlich mit unerhörter Pracht sich entfalten. In seiner Antwort schrieb er diesen Vorgang meinem Eintreten zu, während ich genau wußte, wie groß der Anteil der Hamburger Organisatoren war.
Am Abend fand ein Kommers statt, auf welchem ich hervorhob, wie auffallend gering die Anteilnahme der Professoren und Studenten an unserer Bewegung war, und die Hoffnung aussprach, daß der freie Geist Jenas die vorhandenen Hemmungen am ehesten überwinden[240] würde. Diese Hoffnung ist aber nicht in Erfüllung gegangen.
Am nächsten Vormittag besuchten wir das Phyletische Museum, Haeckels eigenste Schöpfung. Er führte uns persönlich und mußte fast gezwungen werden, sich für das Festessen zu schonen, für das er sein Erscheinen zugesagt hatte. Auch hier stiegen von vielen Seiten die Reden, darunter eine poetische Huldigung, welche die Dichterin selbst sprach, die das siebenundsiebzigjährige Festkind sichtbar ergriffen. In herzlichster Stimmung nahmen wir Abschied von ihm und voneinander, um einzeln in Ruhe die Summe dieser reichen Tage zu ziehen.
Die Zeitschrift. Als entscheidendes Mittel, um den einigermaßen trägen Kreislauf der Gedanken im Monistenbund zu beleben, hatte die Hamburger Versammlung die Entwicklung der Bundeszeitschrift ins Auge gefaßt. Denn so glänzend und eindrucksvoll die Versammlung verlaufen war: die Erlebnisse dieser wenigen Tage, die ohnedies nur ein Teil der Mitglieder persönlich hatte aufnehmen können, reichte keinenfalls aus, um die Empfindung tätigen Lebens oder lebendiger Tätigkeit bei allen zu erwecken oder zu erhalten. Dies war aber ganz notwendig, wenn unsere Bewegung wirklich dazu beitragen wollte, dem geistigen Leben unseres Vaterlandes jenes Element zuzuführen, das ihm am meisten fehlte: die Überzeugung, daß für jedes Problem des inneren wie äußeren Daseins die Wissenschaft die letzte entscheidende Instanz sein muß.
Zwar verfügte der Bund über eine monatlich erscheinende Zeitschrift, genannt »Der Monismus«. Diese besaß aber keinen Einfluß, denn sie war außer halb des Bundes nicht bekannt und wurde auch von den Mitgliedern anscheinend nicht besonders beachtet. Als Herausgeber war ein Berliner Mitglied von unzweifelhaft[241] aufrichtiger Gesinnung tätig. Aber er litt an der Vorstellung, daß in ihm ein großer Dichter verborgen sei und wenn ihn die Poesie ergriff, so hielt er die Hingabe an ihren Ruf für seine erste Pflicht, der sich alles andere, auch seine Herausgebertätigkeit, unterzuordnen hatte. Zuerst glaubte ich, mit ihm auskommen zu können, doch wollte es mir nicht gelingen, die Einschätzung der relativen Bedeutung seines inneren und äußeren Berufes in der von mir im Interesse des Bundes geforderten Weise umzustellen.
Die Versuche, einen besseren Ersatz zu finden, machten mancherlei Schwierigkeiten. Es blieb schließlich kein anderer Weg übrig, als daß ich zunächst mich selbst um die Zeitschrift kümmerte. Für die laufende Einzelarbeit fand ich eine gut geeignete Hilfe in W. Blossfeldt, dessen Bekanntschaft mir mein ältester Sohn schon früher vermittelt hatte. Auch nach der finanziellen Seite nahm ich einen Teil der Verantwortung auf mich. Die Geldopfer waren für meine damaligen Verhältnisse nicht sehr erheblich, wohl aber wurde dies später unter Umkehrung des Tatbestandes von meinen Gegnern benutzt, um mir nachzusagen, ich hätte mich an der Zeitschrift bereichert.
Den Inhalt der früheren Zeitschrift hatten vorwiegend Aufsätze allgemeinen und theoretischen Inhaltes gebildet, wie sie so leicht in einem Kreise entstehen, wo jeder Einzelne, oft unter vielerlei Mühen, ältere, nicht mehr brauchbare Vorstellungen abgestreift und sich eine neue Weltanschauung, meist aus zufälligen und einseitigen Quellen gebildet hat. Solche schwer erworbene geistige Güter persönlichster Art hält jeder Eigentümer natürlich besonders wert und ist wenig geneigt, andere Lösungsversuche der gleichen Probleme als ebensogut oder gar besser anzuerkennen. Hier gedachte ich den Gedanken geltend zu machen, daß die Betonung des[242] Gemeinsamen der mannigfaltigen persönlichen Philosophien viel förderlicher ist, als die Geltendmachung ihrer Verschiedenheiten. Dies Gemeinsame fand sich in der wissenschaftlichen Denkweise, entsprechend den Ergebnissen der Hamburger Tagung, und die uns gegebenen Aufgaben hatte der grundlegende Vortrag Jodls bezeichnet: theoretische und angewandte Ethik in der Gestalt sozialer Arbeit. So richtete ich alsbald eine besondere Abteilung ein, in welcher ich die Vertreter solcher Arbeit nach verschiedenen Richtungen zu Worte kommen ließ. Weiter unten wird einiges hierüber zu erzählen sein.
Metaphysiker. Von den Vielen, denen die Forderung der unbedingten Anerkennung der führenden Stellung der Wissenschaft bedenklich vorkommt – es gehören merkwürdigerweise fast alle berufsmäßigen Wissenschafter oder Professoren dazu – wird immer wieder behauptet, der Mensch habe ein angeborenes metaphysisches Bedürfnis, das ihn zwinge, jene Fragen, auf welche die Wissenschaft noch keine Antwort gefunden hat, vermutungsweise zu beantworten. Da ich an mir selbst dieses Bedürfnis nicht erkennen konnte, durfte ich dessen Allgemeinheit und Notwendigkeit mit Recht bestreiten. Ich erinnerte daran, daß früher Ärzte und Laien der Überzeugung waren, jeder Mensch müsse in den Kinderjahren Masern und Scharlach durchmachen, und fand die Überzeugung vom metaphysischen Bedürfnis nicht besser begründet, als jenen medizinischen Aberglauben. Dies war wohl das einzige Mal, wo sich der verehrte W. Wundt ernstlich über mich geärgert, hat, denn auch er war Vertreter des metaphysischen Bedürfnisses und meinte, ich bilde mir nur ein, davon frei zu sein. Aber wo es bei mir noch wirksam war, hat er mir nicht nachgewiesen.
Das entscheidende Wort hierüber hat Mach gesagt. Er kennzeichnete den wissenschaftlichen Menschen als[243] einen, der sich mit der Unvollständigkeit seines Weltbildes, wie es durch die Unvollständigkeit der Wissenschaft bedingt ist, zufrieden gibt und die Lücken nicht mit Vermutungen verhängt, deren luftige Beschaffenheit er selbst kennt.
Handelte es sich bei dieser Gruppe wesentlich um Einigungsversuche, die nicht ganz aussichtslos, wenn auch schwierig waren, so waren solche Hoffnungen sehr gering bei einer verwandten, ziemlich zahlreichen Gruppe, welche ich oben die Monisten des Gefühls genannt hatte. Sie empfanden als die wertvollste Seite ihrer Weltanschauung deren poetischen Gehalt, etwa nach dem Vorbilde des Giordano Bruno. Gelegentlich einer Jahresversammlung in Magdeburg machten wir denn auch einen Ausflug nach dem nahen Helmstedt, wo Bruno einige Jahre an der damaligen Universität als Professor gelehrt hatte. Solches war seinerzeit möglich und gebräuchlich, da das Latein als allgemeine Sprache der Wissenschaft ihre Vertreter unabhängig von ihrer eigenen Muttersprache sowie von der Sprache des Landes machte, in welchem die Universität gelegen war. Dieser höchst wünschenswerte Zustand könnte jederzeit wieder hergestellt werden, wenn sich die Wissenschafter auf den Gebrauch der künstlichen Weltsprache einigen wollten. Die Vorbereitungen hierfür sind in der Ido-Sprache schon soweit durchgeführt, daß es nur des Entschlusses bedarf, sich des bereit stehenden Hilfsmittels zu bedienen. Wenn nur das Trägheitsgesetz nicht wäre!
Die poetischen Monisten wurden beeinflußt und geführt durch einige Mitglieder, welche ihre natürliche Redebegabung zu erheblicher Stärke entwickelt hatten und sie im Sinne einer Kunstbetätigung ausübten. Diesen war der Gedanke unerträglich, daß der kalte Verstand als grundsätzlich überlegen dem warmen Gemüt anerkannt werden sollte. Sie stellten sich teils sofort in[244] einen Gegensatz zu der neuen Führung, teils verzichteten sie auf die weitere Bestellung des Feldes, auf dem die Ernte sich voraussichtlich vermindern würde, und suchten andere, hoffnungsvollere Betätigungsgebiete auf. Jene Gebliebenen aber begannen alsbald ihre Gegenarbeit. Ich wurde sie anfangs nicht gewahr und habe meiner Gewohnheit gemäß mir gar keine Mühe gegeben, sie zu bekämpfen, als ich sie nicht mehr unbeachtet lassen konnte, sondern überließ dies meinen Mitarbeitern. Denn ich war von vornherein nicht geneigt, für das Verhältnis zum Bunde größere Opfer zu bringen, als sie mit der Erfüllung der übernommenen leitenden Arbeit sachlich verbunden war und betrachtete meinen Rücktritt als eine Frage der Zeit, wie ich dies seinerzeit bei der mir viel näher stehenden Bunsengesellschaft schon getan hatte.
Demokraten. Weitere Schwierigkeiten entstanden aus einem Mißverständnis, dessen weite Verbreitung mir erst aus den politischen Vorgängen der letzten Jahre deutlich geworden ist. Der Bund war selbstverständlich durchaus demokratisch organisiert und die höchste Gewalt lag bei der jedesmaligen Jahresversammlung, die auch alle Wahlen vollzog. In der Zwischenzeit hatte der erwählte Vorstand die Geschäfte zu führen. Es fanden sich aber stets unter den Mitgliedern nicht wenige, welche unter demokratischer Organisation die Forderung verstanden, daß das, was sie eben wünschten, nur dem Vorstande mitgeteilt zu werden brauchte, um alsbald ausgeführt zu werden. Sie waren ehrlich entrüstet, wenn sie darauf verwiesen wurden, daß sie erst auf der nächsten Hauptversammlung eine Mehrheit für ihre Vorschläge erzielen müßten, ehe diese verwirklicht werden konnten, und hielten solche Hinweise für undemokratische Ausflüsse anmaßender Herrschaftsgelüste.
Die monistischen Sonntagspredigten. Der persönliche Verkehr mit den neuen Bundesbrüdern hatte mich die[245] sehr weitgehenden Verschiedenheiten erkennen lassen, welche in der Auffassung des Monismus bestanden. Haeckel selbst war von Rückfällen aus der wissenschaftlichen Entwicklungsstufe in die metaphysische nicht frei und so konnten sich die Angehörigen weit verschiedener Gedankenrichtungen auf den Meister berufen. Ich hegte damals die phantastische Hoffnung, wenn nicht alle, so doch die meisten Genossen unter der Fahne der Wissenschaft vereinigen zu können und war bereit, reichliche Arbeit an diese Aufgabe zu wenden. In der Erinnerung an die guten Ergebnisse bei der Durchführung der neuen Lehren in der physikalischen Chemie hoffte ich hier auf gleiche Erfolge und bedachte nicht, daß die Durchsetzung eines neuen Gedankens in der Wissenschaft unverhältnismäßig viel leichter ist, als die einer neuen Weltanschauung bei Laien. Denn wenn sich auch Gefühlseinflüsse bei der Aufnahme oder Ablehnung wissenschaftlicher Fortschritte wirksam erweisen: maßgebend ist zuletzt doch der rein verstandesmäßige wissenschaftliche Beweis. Weltanschauungen aber, insofern sie hypothetisch ergänzt werden, sind ganz vorwiegend Gefühlssache.
Als erstes Mittel zu solcher Beeinflussung bot sich die Bundeszeitschrift an. Sie war bis dahin monatlich einmal erschienen; es ließ sich bald zunächst ein zweiwöchentliches, sodann ein wöchentliches Erscheinen durchsetzen und ich hatte trotz des erweiterten Umfanges keine Schwierigkeit, sie mit lebendigem Inhalt zu füllen. Vielmehr kamen die Beiträge so reichlich, daß ich vermeiden mußte, allzuviel Raum für meine eigenen Aufsätze in Anspruch zu nehmen, so viel ich auch zu sagen wünschte.
Deshalb suchte ich nach einer Form, in der ich ohne Benachteiligung des Mitteilungsbedürfnisses der Bundesgenossen meine Gedanken darlegen konnte. Einige Versuche,[246] die ich für mich anstellte, überzeugten mich bald, daß der Plan, alle zwei Wochen einen Aufsatz von bestimmten Umfang (ein halber Druckbogen) unter dem Titel Monistische Sonntagspredigten der Zeitschrift beizulegen, sich gut ausführen ließ. Ich hatte schon bei mancherlei Gelegenheiten gesehen, daß es mir leicht fiel, eine bestimmte Gedankengruppe so aufzubauen, daß sie genau in einen vorher bestimmten Umfang hineinpaßte, mit einer Schwankung von 3 bis 5 v.H. Ich empfand solche Bindungen nicht als eine Störung, sondern es war mir eher ein Reiz und Genuß, sie einzuhalten, ohne Inhalt und Stil zu benachteiligen, ähnlich wie es den Tonkünstler freut und fördert, die strengen Forderungen des Kontrapunkts zu erfüllen.
Auch nach der technischen Seite brauchte ich die Arbeit nicht zu fürchten. Ich hatte mir etwa um 1910 eine Diktiermaschine angeschafft, welche mir die Mühe der Niederschrift abnahm und meine schriftstellerische Geschwindigkeit auch gegenüber der Schreibmaschine auf das mehrfache erhöhte. Wenn der Gedankengang überlegt und durch einige Stichworte festgehalten war, konnte ein Druckbogen Text in etwa zwei Stunden diktiert werden. Meine Schreibhilfe gewöhnte sich bald an den Klang meiner Stimme von der Walze, so daß die Niederschrift fast fehlerlos ausfiel. Wenn es sich als nötig erwies, den Satz unter dem Diktieren umzugestalten, so wiederholte oder beendigte ich ihn gemäß der neuen Form, indem ich mir vorbehielt, die nötigen Verbesserungen oder Streichungen hernach in der Niederschrift anzubringen. Die Schreiberin hatte ein für allemal den Auftrag erhalten, die Sätze niederzuschreiben, wie sie sie hörte, auch wenn sie falsch klangen. Für die Verbesserungen wurde zwischen den Zeilen reichlich Raum gelassen.
Hierbei machte ich auch meinerseits die Erfahrung, daß eine Rede keine Schreibe ist und daß ich mich hüten[247] mußte, in den Stil des Redners zu verfallen, wenn ich für den Druck sprach. Der Unterschied besteht hauptsächlich in den Wiederholungen, die der Redner anwenden muß, um einen wichtigen oder schwierigen Gedanken im Gehirn seiner Hörer hinreichend festzunageln. Für den Leser genügte aber ein kleiner Hinweis, der sich sprachlich oder stilistisch anbringen läßt, um ihn, wo es wünschenswert ist, zum Verweilen zu veranlassen und man spart so ihm und sich entbehrliche Wiederholungen.
Um ganz sicher zu gehen, arbeitete ich etwa fünf solche Predigten aus, schrieb ein Dutzend Inhalte für künftige auf und ging dann fröhlichen Muts an die Veröffentlichung.
Die Sonntagspredigten hatten einen unmittelbaren und starken Erfolg, wie aus vielfachen Zuschriften hervorging, in denen mir meine Leser ihren Dank aussprachen, oft mit rührend herzlichen Worten. Als nach einem Jahr 26 Predigten gedruckt waren, ließ ich sie in Buchform erscheinen und mußte eine Auflage nach der anderen herstellen lassen, um der Nachfrage zu genügen.
Die Inhalte der Predigten waren in unregelmäßiger Folge aus allgemeinen Fragen und solchen gewählt, die der Tag brachte. Für die ersten hatte ich mir eine methodische Reihe aufgebaut, in welcher die Hauptfragen der wissenschaftlichen Weltanschauung erörtert werden sollten. Dazwischen kamen Aufsätze ohne besondere Ordnung. Anregungen aus äußeren Ereignissen, aus Briefen und aus dem sehr mannigfaltigen Lesegut das für die »Bücherschau« der Annalen und bald auch des Monistischen Jahrhunderts einlangte, riefen sie hervor. Dieses Gemisch von Ordnung und Zufall machte mir viel Vergnügen und wurde offenbar auch von den Lesern als angenehm empfunden.
Diese Predigten wurden durch etwa drei Jahre geschrieben. Der Krieg brachte auch sie zum Erliegen.
[248] Anschluß an andere Bestrebungen. Die Aufgabe des Monistenbundes war in erster Linie alle diejenigen zu sammeln, die sich über die religiöse und metaphysische Stufe zur wissenschaftlichen entwickelt hatten, und sie in dieser letzten Denkweise zu befestigen, wenn atavistische Rückfälle die Klarheit des Denkens und Urteilens beeinträchtigten. Zweitens galt es, das Recht dieser Auffassung gegenüber den äußeren Beengungen zu wahren, welche von den Vertretern jener älteren Ansichten damals mit erheblichem Erfolg durchgesetzt wurden. Denn unter der Regierung des Kaisers Wilhelm II. hatte die orthodoxe Reaktion sehr an Macht gewonnen. Obwohl Wilhelm I. sicherlich mehr unmittelbare Frömmigkeit besaß, als sein Enkel, war doch die Achtung der Gedankenfreiheit ihm eine so selbstverständliche Pflicht, daß es ihm fern lag, staatliche Gewaltmittel zur Geltendmachung seiner persönlichen Überzeugungen anzuwenden. In solcher Beziehung waren bei seinem Enkel keine wesentlichen Hemmungen vorhanden, zumal er ähnlich wie sein Großonkel Friedrich Wilhelm IV. (mit dem er eine ganz auffallende Ähnlichkeit des Denkens und Handelns zeigte) für sich ein näheres Verhältnis mit »seinem« Gott in Anspruch nahm, als es anderen Menschen vergönnt war. Von dieser Höhe aus sah er als Recht und Pflicht an, seine »Untertanen« auf den rechten Weg zu führen. Gesteigert wurde diese Neigung durch die orthodoxe Einstellung der Kaiserin und durch seine Vorliebe für die Prachtentfaltung der katholischen Kirche, zu der er eine starke Hinneigung erkennen ließ.
Immerhin schienen mir jene Aufgaben nicht ausreichend, um unsere Betätigung zu begrenzen. Ich war daher sehr bereitwillig, anderen Bewegungen, die ich für sozial wertvoll hielt, die freundschaftliche Mitarbeit des Monistenbundes zuzuführen. Schon die Hamburger[249] Tagung hatte durch die Teilnahme hervorragender Ausländer die Möglichkeit ergeben, internationale Beziehungen anzuknüpfen. Auf unserer nächsten Jahresversammlung in Magdeburg überzeugte uns unser Mitglied Dr. Juliusburger von der Notwendigkeit, den Verwüstungen der Rauschgifte, insbesondere des Alkohols, entgegenzuarbeiten. Eine Beziehung zur Bodenreformbewegung wurde alsbald hergestellt. Ebenso unterstützten wir die freiheitliche Frauenbewegung, die Bestrebungen zur Justizreform, für welche wir in unserem Mitgliede Dr. Dosenheimer einen wertvollen Vertreter hatten. Weitere Beziehungen verbanden uns mit den Schulreformern, den Sexualreformern und manchen anderen.
Sozialdemokratie. Alle diese Betätigungen lagen politisch links bis zum äußersten Flügel. So ergaben sich naturgemäß nahe Berührungen mit der Sozialdemokratie. Man legte mir von dieser Seite oft genug nahe, mich der Partei anzuschließen. Ich erklärte dies als unmöglich für mich, solange der grobe Widerspruch zwischen den Begriffen Sozialismus und Klassenkampf nicht behoben war. Denn eine Partei, welche einen Klassenkampf betätigt, ist zweifellos in schärfster Weise unsozial.
Dies hat mich indessen nicht gehindert, mit einzelnen Sozialdemokraten, die mir gefielen, in ein näheres Verhältnis zu treten. Hier muß ich in erster Linie Heinrich Peus nennen, der seinerseits weit über die Parteischablone hinaus sich mit mir in meinen anderen Bestrebungen vereinigte, insbesondere bezüglich der Weltsprache und der Bodenreform. Er gehört zu den Ersten, welche die durchgreifende Bedeutung des energetischen Imperativs klar erfaßt hatten. Und ich weiß keinen zu nennen, der ihn mannigfaltiger und erfolgreicher praktisch betätigt hätte. Als Präsident des Anhaltischen Landtags und Leiter zahlreicher sozialer Organisationen hat er erfolgreiche Arbeit geleistet im Gegensatz zu der[250] Mehrzahl seiner Parteigenossen, welche bei den Versuchen, die Wirtschaft zu sozialisieren, meist völlig versagten.
Kirchenaustritt. Die innere Unwahrhaftigkeit, welche ich bei zahlreichen Betätigungen der Kirche, namentlich ihrer »positiven« Vertreter so oft antreffen mußte, und von welcher ich während meiner Tätigkeit im Monistenbunde häufige Proben erlebte, veranlaßte mich zur tätigen Teilnahme an der Kirchenaustrittsbewegung, welche damals sich mit großem Nachdruck entwickelte. Die Arbeit daran vollzog sich in Vorträgen, welche die Darlegung der unzeitgemäßen Beschaffenheit der gegenwärtigen Kirche bezweckten. Zur Gegenwirkung wurden von kirchlicher Seite gleichfalls Vorträge veranstaltet. Es fanden Rede und Gegenrede innerhalb der gleichen Versammlung statt, wobei nicht selten der Vorsitzende durch »taktische« Maßnahmen die Partei in Vorteil setzte, zu der er sich hingezogen fühlte.
So eifrig ich anfangs mich an dieser Arbeit beteiligte, verlor ich doch sehr bald die Lust daran. Hauptsächlich wegen des geringen Nutzwertes solcher Bemühungen, der mit dem energetischen Imperativ in Widerspruch stand. Sodann glaubte ich bei gelegentlicher Teilnahme an Versammlungen, in denen Berufsredner sprachen, d.h. solche, die von Ort zu Ort in gleichem Sinne Vorträge hielten (es gab solche auf beiden Seiten) eine seltsame Beobachtung zu machen. Die Redner schienen es beiderseits sorgfältig zu vermeiden, den Gegner völlig kampfunfähig zu machen, sondern ließen einige Möglichkeiten weiterer Erörterungen offen. Dies erinnerte mich an die Kampfregeln der Lanzknechte im ausgehenden Mittelalter, welche vor der Schlacht mit den Gegnern ausmachten, wieviel Tote und Verwundete es beiderseits geben sollte. Denn es lag nicht in ihrem Interesse, den Krieg durch einen entscheidenden Sieg zu beenden, da er dann eben aus war und sie arbeitslos wurden. Ich[251] glaube nicht, daß hier die Beteiligten bewußt so handelten, wohl aber, daß unterbewußte Regungen in solchem Sinne vorhanden waren.
Diese Tätigkeit brachte mich mit dem radikalsten Flügel der Sozialdemokratie und einer Anzahl anderer Personen zusammen, die ihnen nahe standen. Die genauere Bekanntschaft wirkte nicht einladend zu einer Fortsetzung und so gab ich bald diese Sache auf. In gleichem Sinne wirkte es, daß der vom Bunde gewählte Ausschuß zur Herstellung von Schul- und Lehrbüchern der weltlichen Moral trotz einiger Anläufe keine aufweisbaren Ergebnisse zutage brachte.
Die monistische Siedelung. Ich darf nicht unterlassen, über ein Experiment zu berichten, das ich während dieser Zeit anstellte. Wie viele Andere, war ich beunruhigt wegen der überstürzten Umstellung der Deutschen Wirtschaft auf technische Erzeugnisse, die im Ausland Absatz suchen mußten, da die Lebensweise vieler Fabrikarbeiter, namentlich in den Großstädten, die Gefahr einer körperlichen wie sittlichen Verkümmerung der nachwachsenden Geschlechter mit sich brachte. Als sicherstes Mittel dagegen sah (und sehe) ich die unmittelbare Verbindung des Arbeiters mit der Erde an, auf der die Energien gesammelt werden, die er für sein Leben und das seiner Familie notwendig braucht.
In meiner Gewohnheit, die allgemeinwissenschaftlichen Kenntnisse und Erkenntnisse unmittelbar auf das tätige Leben anzuwenden, hatte ich mir klar gemacht, daß jeder Mensch mit einem Stück Erdoberfläche auf Tod und Leben verbunden ist, wie der Embryo mit dem Mutterkuchen. Die Nabelschnur mag noch so lang sein und noch so wunderliche Wege laufen: sie ist immer vorhanden, denn reißt sie, so muß der Mensch untergehen. In letzter Linie bezieht ja jedes Lebewesen seine Betriebsenergie von der Sonne. Diese aber kann ihre[252] strahlende Energie in die chemische, von der Mensch und Tier leben, nur durch Vermittlung der Erde und der auf ihr wachsenden Pflanzen umwandeln. So gehört zu jedem Menschen ein Stück Erdoberfläche, an der die Sonnenenergie gesammelt wird, die sein Leben ermöglicht. Für ein Volk, das einen erheblichen Teil der Nahrungsmittel von auswärts bezieht, liegen diese Stücke teilweise außerhalb der Landesgrenzen und jene Nabelschnur läuft stets Gefahr, unterbunden zu werden. Eine ähnliche Gefahr besteht innerhalb des Volkes, wenn ein unverhältnismäßig großer Teil des Grundbesitzes in wenigen Händen liegt. Es ist also in jedem Sinne am besten, die Nabelschnur möglichst kurz und sicher zu machen, und dies wird erreicht, wenn jede Familie unvertreibbar auf der eigenen Scholle sitzt. Ist doch hierdurch erst die Wiederentstehung eines wirklichen Familienlebens ermöglicht. Und die äußeren Schwierigkeiten, die bisher eine solche Entwicklung erschwerten, werden täglich vollkommener durch die Fortschritte der Technik in der Überwindung von Raum und Zeit verkleinert. Namentlich die elektrische Energie mit ihrer leichteren Verteilung wird zur Umgestaltung des Lebens im Sinne einer räumlichen Zerstreuung der Siedelungen beitragen.
Solche Erwägungen hatten mich zuerst veranlaßt, einen Anschluß des Bundes an die von Damaschke so wirksam geleitete Bodenreformbewegung durchzuführen und deren Wege und Ziele in der Bundeszeitschrift darzustellen. Dann aber lockte es mich, selbst ein solches Siedelungsexperiment anzustellen. Zwar für meine Person und meine Familie hatte ich die Aufgabe längst durch das Landhaus Energie gelöst. Da aber mein Opfermut nicht so weit ging, mir und den Meinen die Aufnahme Fremder in oder bei unserem Heim zuzumuten, schickte ich meinen damaligen Assistenten, der landwirtschaftliche[253] und gärtnerische Erfahrungen besaß, auf die Suche nach einem geeigneten Grundstück. Er fand ein solches nahe bei der Stadt Eisenberg in Sachsen-Altenburg von genügender Ausdehnung, um zehn bis zwanzig Menschen zu ernähren und ich erstand es um einen ziemlich hohen Preis. Es war landschaftlich sehr anmutig an einem Bach gelegen und enthielt neben ausgedehnten Feldern und Wiesen eine Mühle, Wohngebäude, Ställe und was sonst zum Dasein erforderlich war.
Die schwierigste Aufgabe ist in solchen Fällen immer die Wahl der Mitarbeiter, und ich muß bekennen, daß ich ihr in keiner Weise gewachsen war. Wirtschaftlich hatte ich mir die Sache so gedacht, daß ich den Siedlern zunächst freie Benutzung von Haus und Boden zugestehen wollte; für Nahrung, Kleidung usw. sollten die Erträge der Landwirtschaft dienen. Natürlich hatte ich alsbald noch allerlei Baarbeträge für die erste Einrichtung und Instandsetzung bereitzustellen.
Schon dies muß ich jetzt als einen organisatorischen Grundfehler ansehen, da die Siedler dadurch den Eindruck erhielten, daß es auf ein genaues Wirtschaften nicht so sehr ankäme. Die allererste Aufgabe, die Siedlung wirtschaftlich selbständig zu machen, trat dadurch in den Hintergrund, und damit war eigentlich schon der Mißerfolg besiegelt. Als ich nach dem ersten Monat die Abrechnung durchsah, stellte sich heraus, daß die Siedler sich unter anderem Zahnbürsten auf Wirtschaftskonto angeschafft hatten, für jeden eine besonders.
Dazu kam, daß ich die für die Auswahl der Siedler maßgebenden Grundsätze mir nicht vorher klar gemacht hatte. Ich hatte keineswegs die Absicht, mich persönlich für die Gestaltung der Kolonie einzusetzen. Denn von der Landwirtschaft, welche die Grundlage bilden sollte, verstand ich nichts, und die zu erwartenden kleinen täglichen Schwierigkeiten und Reibungen zu überwinden,[254] fehlte es mir an Zeit, Lust und Talent. So legte ich die Verwaltung in die Hand meines bisherigen Sekretärs, der sich aus ärmlichen Verhältnissen zu einer achtungswerten Bildung emporgearbeitet hatte, gelernter Gärtner war und in seinen Knabenjahren sich mit der Tierpflege bekannt gemacht hatte und nahm im übrigen ohne viel Prüfung auf, was sich um Aufnahme bewarb, auch wenn keine andere Begründung da war, als eine Notlage. Da die Nachricht von der Unternehmung in der Hauptsache auf die Bundesmitglieder beschränkt blieb, so war das Bekenntnis zur monistischen Gesinnung eigentlich die einzige Voraussetzung. Doch will ich nicht unterlassen, zu erwähnen, daß unter den Siedlern einige wirkliche Idealisten waren, die sich ehrlich und kräftig jeder Arbeit unterzogen, die der Betrieb erforderte.
Der Versuch dauerte etwa anderthalb Jahre. Wie immer in solchen Fällen brachen Zwistigkeiten aus, die ich anfangs persönlich auszugleichen versuchte, was immer nur auf kurze Zeit gelang, so daß ich der vergeblichen Arbeit müde wurde und es ihnen überließ, selbst damit fertig zu werden. Die Folge war eine schnelle Steigerung der Temperatur zwischen den Siedlern, die schließlich ein in sehr bestimmten Ausdrücken gehaltenes Schriftstück an mich ergehen ließen, daß sie allgesamt die Siedlung verlassen würden, wenn ich den Leiter nicht sofort entfernte. Was sie gegen ihn vorbrachten, war im wesentlichen persönlicher Natur. Ich hatte die Unhaltbarkeit der Unternehmung eingesehen und beschloß, sie beim Wort zu nehmen, indem ich jene Eingabe unbeantwortet ließ. Sie sind dann geschlossen nach Leipzig gereist, anscheinend in dem Gedanken, daß die drohende Auflösung der Siedlung mich zum Nachgeben stimmen würde. Mir war dies aber willkommen, da es mir mühsame Verhandlungen mit den Einzelnen ersparte; ich ließ ihnen daher mein Einverständnis mit ihrem Entschluß[255] mitteilen und konnte mit einigen nachträglichen Geldopfern die Rechnung abschließen.
Es war dies nicht die einzige Erfahrung des Inhaltes, daß ein soziales Gebilde, welches Dauer haben soll, nicht ohne den Einsatz einer ganzen Persönlichkeit zum Leben erweckt werden kann. Im Mittelalter herrschte weitverbreitet der Aberglaube, daß ein Dom, eine Burg oder sonst ein großes Gemäuer nicht Bestand haben könne, wenn nicht zwischen den Steinen ein lebendes Wesen eingemauert wurde. Dies mag als Symbol für alle derartigen Gebilde gelten. Nicht eben ein ganzes Leben, aber mindestens ein Dutzend Lebensjahre verlangt es, bis es soviel eigenes Leben gewonnen hat, um sein Dasein ohne ununterbrochene Pflege fortführen zu können. Der Bunsen-Gesellschaft (II, 233) hatte ich dieses Opfer gebracht, wenn man das ein Opfer nennen darf, was man freiwillig und gern tut, und der Erfolg war nicht ausgeblieben, denn auch der Übergang zum selbständigen Leben war geglückt. Bei der monistischen Siedlung hätte ich mir im Voraus sagen können, wenn ich die inzwischen gemachten Erfahrungen schon besessen hätte, daß mangels der Grundbedingung der Versuch mißglücken würde.
Leider ist die Natur so ungeschickt eingerichtet, daß man die Erfahrungen erst nachher hat, wo man sie meist gar nicht mehr braucht oder brauchen kann, und nicht vorher, wo man sie am nötigsten hätte. So habe ich noch an einer Anzahl anderer Unternehmungen ein Scheitern aus dem gleichen Grunde erleben müssen. Glücklicherweise handelt es sich in solchen Fällen meist nur um eine Einzelform, in welcher ein allgemeiner Gedanke sich ein lebendiges Dasein zu gestalten versucht. Der Mißerfolg trifft dann nur diese einmalige Gestaltung, während der Gedanke selbst am Leben bleibt und auf eine neue Gelegenheit wartet, wo er Fleisch werden und sich praktisch betätigen kann.
[256] Der Ferienkurs. Eine sehr wirkungsvolle Unternehmung wurde im Frühling 1914 begonnen und wäre fortgesetzt und entwickelt worden, wenn der Weltkrieg es nicht unmöglich gemacht hätte. Es war dies eine Zusammenkunft für wissenschaftliche Vorträge.
Derartige »Ferienkurse« wurden in jenen Jahren vielfältig veranstaltet, meist als Fortbildungskurse für bestimmte Berufe. Der unsrige war geplant, um gewisse wichtige Gebiete, wo sich Wissenschaft und Leben berühren, von berufenen Fachmännern darstellen zu lassen. Als Ort wurde Jena gewählt, das wir als unsere Heimatstadt betrachteten, da ja Ernst Haeckel dort den größten Teil seines Lebens zugebracht hatte. Außerdem bot das von Ernst Abbe gestiftete Volkshaus besonders günstige Unterkunft, da es große wie kleine Hörsäle hatte. Die Zeit war die Pfingstwoche. Vormittags von 8 bis 12 Uhr fanden die Vorlesungen statt. Die Nachmittage waren für die Aussprache, Ausflüge usw. frei gehalten, da wir meinten, mehr als vier Vorträge täglich unseren Teilnehmern nicht aufzwingen zu sollen.
Die Vorträge wurden von Staudinger über Genossenschaftswesen, Bozi über die Grundlagen der Justizreform, Magnus Hirschfeld über Sexualwissenschaft und mir über Organisation gehalten. Sie wurden von einigen hundert Hörern sehr regelmäßig besucht, am meisten die von Hirschfeld. Die nachmittäglichen Aussprachen ließen eine sehr lebendige Teilnahme der Hörer erkennen. Wir trennten uns mit dem Bewußtsein, eine gute Sache angefangen zu haben und mit dem Entschluß, den Versuch jedenfalls zu wiederholen. Wie erwähnt, wurde auch diese gute Absicht durch den Weltkrieg zerstört.
Das Wellental. Nach dem ersten plötzlichen Aufschwung in der Hamburger Tagung erwies sich der Bund[257] willig, meinen Anregungen zu folgen und meiner Führung zu vertrauen. Allmählich aber fanden sich solche Genossen zusammen, welche sich selbst hierdurch unbillig in den Hintergrund geschoben fühlten und organisierten sich als grundsätzliche Gegnerschaft. Zu ihnen gesellten sich diejenigen, denen der Versuch mißglückt war, mich anzupumpen. Den Erstgekommenen hatte ich das Gewünschte gegeben (ich habe nie einen Pfennig davon wiedergesehen), weil ich mich genierte, nein zu sagen. Als aber die Anzahl größer wurde, faßte ich einen kräftigen Entschluß und überwand meine Scheu. Das wurde mir sehr übel genommen, denn die Vorstellung war sehr verbreitet, ich sei durch die Übernahme des Vorsitzes etwas wie das Privateigentum jedes Mitgliedes geworden, über welches zu verfügen sein gutes Recht war.
So entstand eine Gruppe, welche es sich zur Aufgabe machte, mich tunlichst bald abzubauen. Nach einiger Zeit fühlte sie sich so stark, daß auf der Düsseldorfer Hauptversammlung im Kassenausschuß die Anklage erhoben wurde, ich bereichere mich an der Bundeszeitschrift. Ich lehnte von vornherein ab, mich persönlich zu verantworten und der geschäftsführende Schriftleiter Bloßfeldt, der die Geldangelegenheiten verwaltete, hatte es nicht schwer, das Gegenteil zu beweisen.
Aber wie ich dies schon in der Leipziger philosophischen Fakultät erlebt hatte: es gibt in jeder Gesellschaft eine überraschend große Anzahl Mitglieder, welche es als eine persönliche Beleidigung auffassen, wenn ein Genosse größere Erfolge hat, als sie, und demgemäß nur auf eine Gelegenheit warten, um die Beleidigung zu vergelten. So mußte ich beobachten, wie auch höher stehende Bundesfreunde, mit denen ich auf freundschaftlichem Fuße näher verkehrt hatte, sich abwendeten und eine feindliche Haltung annahmen. In einem Falle,[258] der mir besonders nahe ging, konnte ich bei sorgsamster Selbstprüfung an mir kein anderes Vergehen entdecken, als folgendes. Wir hatten in München gemeinsam im Hofgarten Kaffee getrunken, und ich hatte mir einen ausführlichen Plan darlegen lassen über eine Angelegenheit, die uns beiden am Herzen lag. Da ich über eine kommende Stunde schon verfügt hatte, brachen wir auf und der Andere begleitete mich zu meinem Gasthof in der Nähe des Hauptbahnhofes, was etwa eine halbe Stunde Weg ausmacht. Ich hatte gegen sein Schema einiges einzuwenden und versuchte dies zum Ausdruck zu bringen; er aber war noch nicht fertig. Wieder und wieder versuchte ich ihn zu unterbrechen, doch es gelang mir nicht. Als wir uns endlich an meiner Tür verabschiedeten, sagte ich ihm mit lachendem Munde: Nun haben Sie mich eine geschlagene halbe Stunde lang nicht zu Worte kommen lassen. Er stutzte, überzeugte sich von der Richtigkeit meiner Bemerkung, vermied in der Folge jedes persönliche Gespräch und trat mir bei öffentlichen Gelegenheiten mit Bitterkeit entgegen.
Abschluß. Der ausbrechende Weltkrieg hat auch über den Monistenbund harte Zeiten gebracht. Innerhalb des Bundes entstand ein schwerer Gegensatz. Im allgemeinen waren wir alle natürlich Anhänger des Weltfriedens und sahen in der Tatsache, daß es bisher immer Kriege gegeben hatte, keinen zureichenden Grund für die so oft ausgesprochene Folgerung, daß es auch in aller Zukunft immer Kriege geben würde. Denn wir fanden in der Tatsache der Entwicklung umgekehrt einen Grund für die Folgerung, daß künftig einmal auch diese Geißel der Menschheit vom Erdboden verschwinden werde, ebenso wie die Pest, der schwarze Tod, die Cholera und andere völkerverheerende Epidemien verschwunden sind, wenigstens in den Kulturländern.[259]
Aber nachdem wir nun von allen Seiten kriegerisch überfallen waren und unser Dasein verteidigen mußten, war ein Teil der Genossen der Meinung, daß die Tatsache, daß hier nun Krieg geführt wurde, uns als Angehörige des Deutschen Volkes verpflichtete, das Mögliche für die Überwindung der Feinde zu tun. Ein anderer Teil war dagegen der Meinung, daß wir gerade jetzt unsere Friedensgesinnung betätigen und uns al er und jeder Teilnahme an allen und jeden Kriegs- oder Verteidigungshandlungen enthalten sollten.
Ich selbst zählte mich zur ersten Gruppe, versagte aber auch natürlich der anderen nicht, sich in der Bundeszeitschrift zu äußern. Dabei stellte sich ein merkwürdiger Gegensatz heraus. Die Kriegsbejaher waren gegenüber den anderen durchaus friedlich gesinnt und bereit, die Frage mit Für und Wider zu erörtern. Die Kriegsverneiner zeigten dagegen eine ausgesprochene Neigung, die Gegner nicht sowohl zu überzeugen als zu bekämpfen.
Unter solchen Umständen hielt ich es für das Richtigste, von meinem Amt zurückzutreten, zumal ich für den Monistenbund keine ersprießliche Tätigkeit voraussehen konnte, weder während des Krieges, noch nach dessen Aufhören, und zwar gleicherweise, ob das Kriegsglück für oder gegen uns entscheiden würde.
Von meinen Freunden wurde ich an das verwegene Wort vom bevorstehenden monistischen Jahrhundert erinnert, mit welchem ich meine Bundesarbeit gleichsam eingeleitet und eingeläutet hatte, und man wollte es mir zur Pflicht machen, meine Hand nicht zurückzuziehen. Ich aber machte den energetischen Imperativ geltend für die Notwendigkeit, die vorhandenen starken Reibungen durch meinen Rücktritt zu vermindern, vielleicht zu beseitigen.
Beschaue ich heute, was das Jahrhundert hernach gebracht hat, so ist der erste Eindruck, daß jene Voraussage,[260] es werde monistisch sein, ganz weit an der Wahrheit vorbeigeschossen hat. Aber man muß erwägen, daß seitdem nur erst etwa ein Sechstel Jahrhundert vergangen ist; fünf Sechstel stehen uns noch bevor. Und da für mich monistisches Jahrhundert gleichbedeutend ist mit dem wissenschaftlichen, so bekenne ich trotz allem einen starken Glauben an das Eintreffen meiner Hoffnung.
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