Dreizehntes Kapitel.
Die Berufung nach Leipzig.

[250] Loslösung. Wenn ich auch die Herausgebertätigkeit nicht unmittelbar meine amtlichen Pflichten beeinträchtigen ließ, so konnte ich doch nicht verhindern, daß sie im Verein mit der anderen rein wissenschaftlichen Arbeit zunehmend mein inneres Verhältnis zu dem Amte in Riga lockerten. Die Aussicht auf wirksame Mitarbeit durch die Schüler, die es mir zuführte, war allzu gering. Zwar meine Assistenten hatten sich von meinem Arbeitsdrang ergreifen lassen und begannen ganz wackere Beiträge zu liefern. Aber Privatdozenten gab es nicht an der Anstalt und die kaum herangebildeten Leute gingen nach abgelegtem Examen in die Praxis über. Nur einer von ihnen, J. Spohr, wohlhabender Eltern Sohn und nicht zum Broterwerb genötigt, hat längere Zeit sich als freiwilliger Mitarbeiter an meinen Untersuchungen beteiligt und eine ganze Anzahl fördersamer Arbeiten geliefert.

Aber mehr und mehr machte sich doch die Einsicht geltend, daß das Polytechnikum meiner Vaterstadt nicht der richtige Boden für die Ausführung der Aufgaben war, die mir, ohne daß ich einen vorbedachten Plan verfolgt hatte, selbsttätig in die Hand gewachsen waren. Es war nicht daran zu denken, diesen Boden am Polytechnikum neu zu schaffen, am wenigsten in einer Zeit, wo der ganzen Anstalt aus politischen Gründen ein schwerer Existenzkampf[251] bevorstand, aus dem sie nicht ohne Wunden hervor gehen konnte.

So richtete ich meine Augen mit zunehmender Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit, ein neues Arbeitsfeld an einer Hochschule des Deutschen Reiches zu finden. An Andeutungen und Anregungen von mancherlei Art hatte es nicht gefehlt, zu faßbaren Möglichkeiten war es aber nirgend gekommen. Mit dem Jahre 1887 erhob sich aber an meinem Horizont eine Aussicht von so blendendem Glanze, daß ich meine Augen nur verstohlen auf sie zu richten wagte und ihre Verwirklichung zwar von ganzem Herzen wünschen, vernünftigerweise aber nicht erhoffen konnte.

Die Leipziger Verhältnisse. In Leipzig war der Physikprofessor Hankel in hohen Jahren von seinem Amt zurückgetreten und durch G. Wiedemann ersetzt worden. Damit war die einzige Professur für physikalische Chemie frei geworden, die es damals in Deutschland gab und natürlich hatte ich mein Auge auf die Möglichkeit gerichtet, die sich mir hier auftat. Anfangs ganz ohne Hoffnung, denn in Landolt und Lothar Meyer waren zwei Vertreter dieser Forschungsrichtung vorhanden, welche jedenfalls zunächst in Betracht kamen. Beide bekleideten normale Ordinariate, in denen sie die ganze Chemie lehren mußten und ich konnte mir wohl denken, daß sie gern die Gelegenheit ergreifen würden, sich ausschließlich ihrer persönlichen Arbeitsrichtung widmen zu können. Beide wurden tatsächlich auch zunächst in Betracht gezogen und waren nicht abgeneigt, eine Berufung anzunehmen; eine nähere Einsicht in die Verhältnisse aber, welche sie in Leipzig erwarteten, bewirkte eine Ablehnung.

Gleichzeitig mit Hankel war nämlich der Ackerbauchemiker W. Knop vom Amt zurückgetreten, wodurch eine verwickelte Drehung eintrat. Der auf gleichem Gebiet tätige Honorarprofessor F. Stohmann hatte[252] sich schon lange über die ungenügende Unterkunft beklagt, mit der er sich auf dem der Landwirtschaft übergebenen »Kuhturm« vor den Toren Leipzigs begnügen mußte. Er hatte seit einigen Jahren mit gutem Erfolg thermo-chemische Arbeiten betrieben – damals als Einziger in Deutschland – und dabei als sehr genauer Arbeiter dem hochangesehenen Veteran der Thermochemie, Julius Thomsen in Kopenhagen, einen folgenreichen methodischen Fehler nachgewiesen, der einen großen Teil seiner Messungen entwerten mußte. Um für diese belangreichen Untersuchungen eine angemessene Unterkunft zu schaffen, erschien das bisher von Wiedemann betriebene physikalisch-chemische Laboratorium als besonders geeignet. Es war von O.L. Erdmann erbaut worden und hatte seinerzeit als eines der schönsten Laboratorien Deutschlands gegolten.

Um den zu berufenden Physikochemiker, der dadurch heimatlos geworden war, unterzubringen, griff man auf das bisher W. Knop zugewiesene Laboratorium zurück, welches sich im Erdgeschoß des landwirtschaftlichen Instituts befand, das unter Verwaltung des Professors für Landwirtschaft stand. Es lag in der Nähe der anderen naturwissenschaftlichen und medizinischen Anstalten. Dies war aber auch sein einziger Vorzug, da die Einrichtung veraltet war und ein Umbau wegen der Zweckbestimmung des ganzen Gebäudes nicht in Frage kam. Ferner hatte der Inhaber des chemischen Lehrstuhls J. Wislicenus die Gelegenheit benutzt, sich in seinem überfüllten Institut dadurch Luft zu schaffen, daß er die pharmazeutische Abteilung, die er bisher neben der rein chemischen zu leiten hatte, der neu zu schaffenden Anstalt überweisen ließ, welche den Namen des Zweiten chemischen Instituts erhalten sollte.

Unter diesen Voraussetzungen wollte weder Landolt noch L. Meyer, noch Cl. Winkler von der Freiberger[253] Bergakademie die Professur übernehmen. Damit war die Möglichkeit für mich, sie zu erhalten, tatsächlich fast Wahrscheinlichkeit geworden, denn es kam außer mir nur noch van't Hoff in Frage. Dieser hatte allerdings einen großen Vorsprung, denn der maßgebende Kollege in Leipzig, J. Wislicenus, hatte sich schon vor Jahren energisch für seine Lehre von den chemischen Formeln im Raum und vom tetraedrischen Kohlenstoffatom eingesetzt, und hatte eben eine aufsehenerregende Untersuchung veröffentlicht, die ganz auf diesen Gedanken beruhte und für sie eine Reihe experimenteller Anwendungen und Bestätigungen erbrachte.

Ich stand damals mit van't Hoff als meinem Mitherausgeber in regem brieflichem Verkehr, und hatte ihn gefragt, ob er den zweifellos an ihn gelangenden Ruf annehmen würde. Er war damals schon ordentlicher Professor an der Universität in Amsterdam, so daß es sich nicht eigentlich um ein Aufsteigen handelte. Er hatte mir ausweichend geantwortet, woraus ich entnahm, daß er den Ruf annehmen würde; meine Hoffnungen hatte ich demgemäß begraben.

Die Säurenfahrt. Dies war die Sachlage, als ich im Sommer 1887 meine vierte Reise antrat. Ich hatte eine besondere Veranlassung dazu durch den Fortgang meiner wissenschaftlichen Arbeiten erhalten. Die auffallenden und interessanten Beziehungen zwischen der Konstitution und der elektrischen Leitfähigkeit organischer Säuren, die mir entgegengetreten waren, erregten den Wunsch, diese Forschungen möglichst weit auszudehnen. Im Handel waren die Tausende von Säuren nicht zu haben, die sich in der Literatur beschrieben finden und sie selbst herzustellen hätte mich viele Jahre präparativer Arbeit gekostet. Die einzige Möglichkeit war, von den Entdeckern selbst mir die kleinen Mengen zu erbitten, die zu meinen Messungen ausreichten. Sie betrugen weniger,[254] als man damals zu einer Elementaranalyse brauchte. Und aus den Sammlungen der Universitätsinstitute konnten gleichfalls, wenn der Professor gebelustig war, mancherlei aufschlußreiche Proben entnommen werden. So begab ich mich während der Sommerferien auf die Säurebettelfahrt, die ich zunächst nach Österreich richtete, das ich noch nicht kannte.

Die Reise nach Wien über Warschau lehrte mich zunächst den ungeheuren Schmutz in Polen kennen. In meinen Studentenjahren hatte ich zuweilen den Kanon mitgesungen


Der Pole meint, der Russe sei

Von Ungeziefer auch nicht frei,


worauf die Gegenstrophe lautet:


Der Russe meint, der Pole sei

Von Ungeziefer auch nicht frei.


und so weiter in infinitum. Hier aber überzeugte ich mich von der zweifellosen Überlegenheit der Polen nach dieser Richtung.

In Wien wurde ich von den Fachgenossen mit größter Freundlichkeit aufgenommen. Ich lernte die Physiker Stefan und Victor v. Lang, den Chemiker Barth, den Botaniker Wiesner, den Physiologen Fleischl und andere namhafte Professoren kennen, dazu eine große Anzahl Altersgenossen: Goldschmied, Zeisel, Wegscheider, Weidel, Exner, Herzig, mit denen ich hauptsächlich zusammen war. Die damals geknüpften Beziehungen haben mehrfach über das ganze Leben gedauert.

Meinen Reisezweck erreichte ich alsbald in wünschenswerter Weise; was ich von den vorhandenen Präparaten haben wollte, wurde mir rückhaltlos mitgeteilt und alle sprachen mir ihre Freude aus, mir bei meinen Arbeiten helfen zu können, von denen sie alle etwas wußten, wie sie auch das Lehrbuch und die Zeitschrift kannten. Abgestoßen[255] fühlte ich mich nur von dem Physiker F. Exner, bei dem ich die wissenschaftliche Unbefangenheit vermissen zu müssen glaubte, welche mir als die einzig haltbare Grundlage aller Forschung erschien. Auch bin ich bald darauf mit ihm in einen Konflikt geraten, dessen Nachwirkungen noch jetzt nicht vergessen scheinen, obwohl ich seitdem jedem Anlaß dazu ausgewichen bin.

Wien erschien mir als die Stadt der Widersprüche. Die neuerbaute Universität prangte in übertriebenem Luxus; nicht weit davon war das physikalische Institut in einem Miethause übler untergebracht, als in Dorpat oder Riga und es bestand keine Aussicht auf bessere Verhältnisse. Ebenso sah das Gebäude des Polytechnikums höchst anspruchsvoll aus, die Einrichtung der Laboratorien darin war aber mangelhaft bis zum Unglaublichen. Die Dotationen der Institute waren überall ganz unzulänglich, während für das äußere Ansehen der Gebäude Millionen verausgabt waren. Es lastete deshalb auf allen Kollegen ein gewisser Druck, der eine freudige wissenschaftliche Arbeitsstimmung nicht recht aufkommen ließ. Trotzdem nahm ich einen kollegialen Hinweis, daß nach vier Jahren der Professor Loschmidt pensioniert werden und man dann meine Berufung betreiben würde, gern und willig auf. Denn die Stadt hatte es mir, wie so vielen Nordländern, durch die Heiterkeit und Anmut des Lebens angetan. Schon am ersten Abend war mir aufgefallen, daß fast jeder Droschkenkutscher hinter dem Ohr oder zwischen den Zähnen eine Nelke oder andere Blume von lebhafter Farbe trug. Und ein Abend im Wurstelprater hatte durch die harmlose Lustigkeit der Besucher mir den gewaltigen Unterschied gegen die Berliner zugunsten der Wiener lebhaft anschaulich gemacht.

Graz und Innsbruck. Von Wien ging ich nach Graz, wo ich Arrhenius vorfand, der dort im physikalischen Institut arbeitete. Physikprofessor war L. Boltzmann,[256] einer der genialsten aber auch originellsten Forscher seiner Zeit, der mich sehr freundlich aufnahm. Wir hatten alsbald ein langes Gespräch und sahen uns noch mehrmals. Es begann damit ein Verhältnis gegenseitiger Neigung und freien Vertrauens, das uns noch vielfach zusammenführte und erst mit Boltzmanns tragischem Tode endete.

Chemiker war in Graz der hervorragende Forscher H.Z. Skraup, zu dem ich mich gleichfalls alsbald hingezogen fühlte. Er teilte mir reichlich Säuren aus seinen Vorräten mit und erwies mir mit seiner liebenswürdigen und lebhaften Frau freundschaftlichste Gastlichkeit. Auch diese Bekanntschaft ist der Anfang eines dauernden guten Verhältnisses geworden, dem der frühe Tod Skraups ein allzu schnelles Ende bereitet hat.

Eine andere folgenreiche Bekanntschaft vermittelte Arrhenius, der sich mit Dr. Walter Nernst als Alters- und Fachgenossen angefreundet und ihn in unseren Gedankenkreis eingeführt hatte. Auf die Schilderung unserer gemeinsamen Arbeit in Riga war in Nernst der Wunsch entstanden, gleichfalls bei mir zu arbeiten; ich stimmte natürlich gern zu und wir verabredeten den Zeitpunkt für den kommenden Herbst. Er hatte bisher magnetelektrische Arbeiten bei dem Physiker der technischen Hochschule v. Ettingshausen gemacht. Dieser erwies sich als feiner und interessanter Kollege, der sich seinerzeit nahe mit meinem Lehrer v. Öttingen befreundet und von ihm recht günstige Urteile über mich erfahren hatte, was natürlich der Entwicklung unserer Beziehungen sehr förderlich war.

Während ich in Graz vortreffliche Verhältnisse der Institute angetroffen hatte – das von Pebal erbaute chemische galt mit Recht als das beste in Österreich und eines der besten überhaupt – fand ich in Innsbruck, wohin ich mich von dort gewendet hatte, unglaubliche Zustände. Chemie und Physik waren in einem dunklen[257] und unsauberen Bau, einem alten Jesuitenkollegium untergebracht und entbehrten aller Hilfsmittel.

Die Physik war durch Leopold Pfaundler vertreten, einen ganz namhaften Forscher, für den ich wegen der Selbständigkeit und Feinheit seiner Arbeiten eine ganz besondere Hochachtung empfand. Ich fand ihn niedergedrückt, da ihm fast alle Mittel fehlten, sie fortzuführen. Der chemische Kollege interessierte sich mehr für die Gemsjagd als für den Betrieb seines Laboratoriums und war mit seinen Verhältnissen daher nicht unzufrieden.

Neben der wissenschaftlichen Gipfelwelt, in der ich mich während dieser schönen Reise bewegen durfte, genoß ich mit empfänglichster Seele die prachtvollen Landschaftsbilder, an denen mich die Fahrt vorbeiführte und verwendete manche Tage auf den Besuch besonders schöner Punkte. Den Malkasten hatte ich mitgenommen, kam aber nicht viel dazu, ihn zu benutzen, da ich nirgend einen längeren Aufenthalt machen konnte. Die Jahreszeit konnte nicht schöner sein – Ende Juni und Anfang Juli – und mein Gemüt war höchst empfänglich für diese Eindrücke, da die unbehaglichen Erinnerungen an Riga durch die vielen angenehmen Berührungen mit den Fachgenossen ganz zugedeckt waren. Auch der Gedanke an Leipzig beunruhigte mich nicht, da ich keine ernstlichen Hoffnungen hegte.

Immer näher. Von Innsbruck ging ich zunächst nach München, wo ich mit A.v. Baeyer die Bekanntschaft erneuerte. Er befand sich damals auf der Höhe seines Wirkens, empfing mich sehr freundlich und lud mich zum Abend ein.

Von den Physikern interessierte mich besonders Sohncke, (technische Hochschule) wegen seiner Arbeiten über Kristallstruktur. Er war seinerseits erfreut, bei einem Chemiker ein so lebhaftes Interesse für seine viel zu wenig beachteten Forschungen anzutreffen. Ich verbrachte[258] mit ihm einige sehr lehrreiche Stunden. Weiter lernte ich den führenden Kristallographen P. Groth kennen, der mich gleichfalls zu einem langen Gespräch festhielt und mir bis heute eine freundliche Neigung bewahrt hat.

Von München fuhr ich über den Bodensee nach Zürich. Ich hatte wie oft die Nacht zur Fahrt benutzt, so daß ich mich bei Sonnenaufgang auf dem See befand und die Schneegipfel der Schweizer Alpen in den ersten Strahlen sich entzünden sah – ein unvergeßliches Erlebnis.

In Zürich fand ich Victor Meyer nicht mehr, den ich auf meiner ersten Reise dort kennen gelernt hatte; er war inzwischen nach Göttingen berufen worden. An seine Stelle war A. Hantzsch getreten, der soeben als ganz junger Forscher von Leipzig, wo er Assistent von G. Wiedemann gewesen war, durch den berühmten Schulrat Kappeler dorthin berufen war und den ich schon früher gesehen hatte. Auch von ihm wurde ich freundlich empfangen und mit reichlichen Säureproben beschenkt. Er war strahlend glücklich im Besitz der namhaften Stellung und seiner schönen Gattin. Sie war eine Tochter des Dresdener Bildhauers J. Schilling, der das Nationaldenkmal am Niederwald geschaffen hatte; sie hatte als Vorbild für die Germania gedient. Nach fast einem Menschenalter fanden wir uns in Leipzig wieder; seine Frau wurde ihm leider durch einen frühen Tod entrissen.

Von Zürich ging es nach Basel, wo mir Nietzky eine Anzahl sehr interessanter Präparate gab. Dort sah ich meinen Dorpater Landsmann Gustav Bunge als Professor der physiologischen Chemie wieder. Er hatte inzwischen seine soziale Lebensaufgabe, den Kampf wider den Alkohol gefunden und bemühte sich, seine neuen Einsichten auf mich zu übertragen. Ich muß bekennen, daß ich dazu noch nicht reif war, denn ich hatte eben in[259] München im gegenteiligen Sinne gehandelt und meine kräftige Natur hatte die Vergiftung ohne erkennbare Spuren überstanden. Immerhin machte der große Ernst, mit dem Bunge das Problem behandelte, einen starken Eindruck auf mich und hat auf die Dauer seine Wirkung nicht verfehlt.

Auf Basel folgte das nahe Straßburg. Als Physiker war dort A. Kundt tätig, dessen ausgezeichnete Arbeiten vielfach die physikalische Chemie berührt hatten und auf dessen persönliche Bekanntschaft ich daher gespannt war. Als ich am Morgen nach dem physikalischen Palast ging – die Universität war, seit sie zu Deutschland gehörte, mit größtem architektonischen Aufwand wiederhergestellt worden – wurde ich von mehreren Studenten sehr höflich gegrüßt, was mich in Erstaunen setzte, da ich bei allem Selbstbewußtsein mich nicht für so berühmt hielt, daß die Straßburger Studenten mich persönlich kannten. Kundt war in der Vorlesung und ich wartete deren Ende in den hübschen Anlagen beim Institut ab. Wieder kamen ergebene Grüße von Studenten. Als ich dann Kundt nach Vorlesungsschluß sah, begriff ich die Studentengrüße: wir waren an Wuchs und Haltung ähnlich, hatten beide einen roten Bart (nur war Kundts Bart viel röter als meiner) und trugen auch das Haar übereinstimmend; so hatten die Studenten mich für ihren Professor gehalten.

Kundt erwies sich als ein lebhafter, freundlicher Kollege von entgegenkommendem Verhalten, der mir gern sein Institut zeigte und sich auch für meine Arbeiten interessierte. Die Ähnlichkeit zwischen uns amüsierte ihn sehr. Als ich seiner Einladung zum Abendessen gefolgt war, nahm er mich unter den Arm, stellte uns beide vor seine Frau und fragte: wer bin nun ich?

Von den jüngeren Physikern, die ich dort sah, ist mir besonders E. Cohn im Gedächtnis geblieben. Ein[260] feiner Kopf, aber schüchtern und zurückhaltend in allen Betätigungen, hat er sich auch mit seinen wissenschaftlichen Leistungen mehr im Hintergrunde gehalten, als seine Begabung und sein Scharfsinn erwarten ließen.

Die Chemie vertrat in Straßburg Fittig. Er war ein älterer, hagerer und ernsthafter Mann, der sich zunächst sehr zugeknöpft verhielt und für mein Ansuchen um Säuren, deren er gemäß seinen Arbeiten eine große Zahl besitzen mußte, kein Entgegenkommen zeigte. Er mußte bald zur Vorlesung und bestellte mich auf den Nachmittag, wo er auftaute, so daß wir zuletzt als gute Freunde schieden. Aber Proben seiner Säuren hat er mir doch nicht gegeben.

Während des Gesprächs fragte er mich, wohin ich von Straßburg reisen wollte. Ich nannte Tübingen, Würzburg und Leipzig. Er zog ein seltsames Gesicht und sagte: »Leipzig würde ich an Ihrer Stelle lieber nicht berühren.« »Warum nicht?« fragte ich erstaunt, »ich muß dahin, um Reisegeld von meinem Verleger zu bekommen.« »Ja, wissen Sie denn nicht, daß eben Ihre Berufung dorthin in Frage steht?« war seine Antwort. Nähere Auskunft, um die ich bat, konnte er mir nicht geben, meinte aber, daß ich sie voraussichtlich in Würzburg von F. Kohlrausch erhalten würde, der mit Wislicenus befreundet war, durch dessen Hände die Berufungsangelegenheit ging.

Schon in München hatte ich Nachricht von Hause erhalten, daß dort ein Brief von van't Hoff eingelaufen sei mit einer Andeutung, daß er nun kein Hindernis mehr für meine Berufung nach Leipzig sei. Ich hatte kein besonderes Gewicht darauf gelegt, da ich mir inzwischen den Gedanken so ziemlich abgewöhnt hatte.

Die Bemerkung Fittigs war etwas wie ein neuer Weckruf, der aber nicht stark genug wirkte, um mich zu einer Änderung meiner Reiselinie zu veranlassen.[261]

Diese führte mich nach Tübingen, wo ich Lothar Meyer und Hüfner mit großer Freude wiedersah; der letztere hatte inzwischen das altertümliche Schloßlaboratorium verlassen und war in einem schmucken Neubau sehr gut untergebracht.

In hohem Maße interessierte mich der damalige Tübinger Botaniker Wilhelm Pfeffer. Die merkwürdige und folgenreiche Anwendung, welche kurz vorher van't Hoff von dessen Entdeckung des osmotischen Druckes auf chemische Probleme gemacht hatte, legte mir nahe, Pfeffer um genauere Nachricht von der geschichtlichen Entwicklung seiner Arbeiten zu bitten, die damals schon etwa ein Jahrzehnt zurücklagen. Er erzählte mir, daß er die Arbeiten in Bonn als Privatdozent in seiner Stube ausgeführt hatte, da ihm ein Laboratorium nicht zur Verfügung stand. Er war sich bewußt gewesen, daß die Sache eine große allgemeine Bedeutung hatte, konnte sie aber nach der chemischen Seite nicht verfolgen, weil er sich an seine botanischen Probleme halten mußte. So hatte er R. Clausius, den sehr bedeutenden Physikprofessor in Bonn, eingeladen, seine Versuche zu sehen. Dieser war auch gekommen und hatte am Manometer den überraschend hohen Druck abgelesen, der durch eine dünne Zuckerlösung erzeugt worden war. Dann aber hatte er schweigend den Kopf geschüttelt und war fortgegangen, ohne ein Wort zu sagen. Auch hatte Pfeffer, als er nach Tübingen gekommen war, wiederholt Lothar Meyer eingeladen, mit ihm diese Dinge zu bearbeiten; dieser aber hatte auch keine Seite gesehen, von der aus dem Problem beizukommen war.

Als Physiker war in Tübingen F. Braun tätig, mit dem mich auch gemeinsame Interessen zusammenführten. Ich hatte an einer seiner Arbeiten einen gewissen Schluß in meinem Lehrbuche beanstandet und er hatte meinen Einwand sehr gut aufgenommen. Persönlich sagte er mir:[262] »Das einzige von Belang, was gegen meine Arbeit vorgebracht worden ist, haben Sie gesagt, und Sie haben Recht.« Da man derartiges nur sehr selten erlebt, ist mir das kleine Ereignis im Gedächtnis geblieben. Ein Vierteljahrhundert später sahen wir uns in Stockholm wieder, wo uns beiden der Nobelpreis verliehen wurde; ihm der physikalische für drahtlose Telegraphie, mir der chemische für Katalyse.

Über die Leipziger Angelegenheit erfuhr ich in Tübingen nichts. Man war einig darüber, daß ich der geeignetste Kandidat sei. L. Meyer erzählte, daß nach Berichten eines Leipziger Freundes Wiedemann gegen seine Berufung gearbeitet habe, und als er den Freund fragte: »warum nehmt ihr nicht Ost wald?« war die Antwort: »Der ist Wiedemann noch viel unbequemer.«

Die große Nachricht. Von Tübingen reiste ich nach Würzburg, wo ich endlich Genaueres über die Leipziger Frage erfahren konnte. Mir war die persönliche Bekanntschaft mit Kohlrausch abgesehen von der schwebenden Angelegenheit besonders wertvoll, weil er der Schöpfer des Verfahrens zur Leitfähigkeitsmessung und der beste Kenner des ganzen Gebietes war. Er hatte mich brieflich dringend ersucht, meine Messungen, die ich bislang in willkürlichen Einheiten ausgedrückt hatte, methodisch auf absolute Einheiten zu beziehen und ich habe seine Anregung mit Dank ausgeführt.

Ich fand einen langen, mageren Herrn mit graublondem Bart, der kühl und zurückhaltend war, wenig sprach und entschlossen schien, alles von sich fern zu halten, was man nicht beweisen kann.

Nach Erledigung der wissenschaftlichen Angelegenheiten kam das Gespräch auf Leipzig. Ich erwähnte Fittigs Bemerkung; er sagte mir, daß Wislicenus sich günstig über mich ausgesprochen habe, mehr wisse er mir nicht zu sagen. Er nahm mich zum Kaffee nach Hause und lud mich zum akademischen Kegelabend ein, der eben[263] fällig war. Dieser verging im Kreise der Würzburger Kollegen sehr fröhlich; auch Kohlrausch taute auf und erbot sich, am nächsten Morgen Wislicenus zu telegraphieren; die Antwort würde dann zum Mittag eintreffen, wo ich bei ihm essen sollte. Dies fand denn auch richtig statt; das Telegramm brachte aber keine Lösung, denn es lautete etwa: »Wohin reist Ostwald? ich wünsche und hoffe seine Berufung.« So drahtete Kohlrausch nochmals und fragte, ob mein Kommen nach Leipzig erwünscht sei. Er hatte sich inzwischen so für meine Sache und Person erwärmt, daß er sich beider mit einer Liebe annahm, für die ich mich ihm zu dauerndem Dank verpflichtet fühlte. Auch habe ich das Glück gehabt, mir sein Wohlwollen ungetrübt zu erhalten, obwohl bei den vielfachen Berührungen unserer Arbeiten und der vollkommenen Gegensätzlichkeit unserer Temperamente – er war reiner Klassiker, ich bin Romantiker – Meinungsverschiedenheiten nicht ausblieben. Sie konnten immer durch freundschaftliche Verständigung ausgeglichen werden. Gegen Abend traf von Wislicenus die Nachricht ein, daß eine persönliche Aussprache erwünscht sei; ich machte mich sofort auf den Weg.

Die Leipziger Vorgänge. In Leipzig hatte sich inzwischen folgendes zugetragen. Nachdem die Berufungen deutscher Professoren alle fehlgeschlagen waren, wurde auf Wislicenus' Anregung van't Hoff auf die Liste gesetzt. Doch war dem Ruf die Bedingung beigefügt worden, daß er ohne alle weiteren Verhandlungen mit einem runden Ja oder Nein beantwortet werden müsse. Van't Hoff war darauf stillschweigend nach Leipzig gereist, hatte sich die Verhältnisse angesehen, sie ungenügend befunden und in der Antwort seine Änderungswünsche ausgesprochen. Darauf mußte ihm Wislicenus mitteilen, daß durch die Nichtberücksichtigung jener Bedingung die Angelegenheit im negativen Sinne erledigt sei.[264]

Die philosophische Fakultät in Leipzig mochte sich nach dieser Kette von Mißerfolgen nicht weiter mit Berufungen befassen; Wislicenus wollte aber keinenfalls auf die Besetzung der zweiten Professur für Chemie verzichten und brachte persönlich bei dem Sächsischen Kultusminister Gerber, dessen Vertrauensmann er war, als letzte Möglichkeit mich in Vorschlag.

Die Fakultät konnte ihre Bedenken wegen meiner Jugend und wegen meines draufgängerischen Wesens nicht verschweigen; doch wurde anerkannt, daß andere Kandidaten nicht genannt werden könnten. So ging ein ministerielles Berufungsschreiben nach Norden ab, während ich mich ahnungslos im Süden herumtrieb.

Nach durchfahrener Nacht traf ich in den Morgenstunden in Leipzig ein, versah mich beim Verleger mit Reisegeld und ging so früh als zulässig war zu Wislicenus. Es war ein eigentümliches Gefühl, ihn in demselben Zimmer häuslich eingerichtet zu finden, in welchem ich vor Jahr und Tag auf meinen früheren Deutschlandreisen gleichsam zu Kolbes Füßen gesessen hatte und von ihm mit völlig unerwarteter und daher fast überwältigender Freundlichkeit empfangen worden war. Sogar Kolbes alter und vertrauter Laboratoriumsdiener Schumann war noch im Amt. Wislicenus trat mir entgegen, eine imponierende Gestalt, groß, mit breiter Brust, fast weißem, gewelltem Haar und starkem Bart: ein Zeuskopf. Doch war er sehr herzlich und behielt mich alsbald zu einer langen Aussprache da. Er berichtete mir, daß der erste Kandidat Landolt gewesen sei, der damals in Berlin Professor an der landwirtschaftlichen Hochschule war. Doch seien seine Ansprüche (Neubau usw.) unerfüllbar gewesen. Ebenso habe mit Winkler in Freiberg keine Einigung erzielt werden können. Auf die Episode van't Hoff ging Wislicenus nicht ein. Dann sei mein Name genannt worden; Wiedemann habe aber dagegen gesprochen mit[265] der Begründung, daß ich zu viel und zu schnell publiziere und Gesetze aufstelle, ohne sie genügend zu beweisen. Wislicenus habe das teilweise zugegeben, aber hervorgehoben, daß das an meiner Jugend läge und sich ändern würde; ich sei doch andererseits ideenreicher, als die anderen Kandidaten. Sehr energisch für mich eingetreten sei W. Wundt.

Um aus diesen Gegensätzen herauszukommen, erzählte Wislicenus weiter, habe die Fakultät Clausius und Kohlrausch um ein Urteil ersucht. Beide hätten sich sehr günstig über mich geäußert. Sie hätten beide in sachlicher und fast wörtlicher Übereinstimmung gesagt, daß ich zwar etwas kühn im Schließen sei, daß aber meine Experimentalarbeiten völlig solid seien und sie mich daher nur dringend empfehlen könnten. Diese Briefe hatte Wislicenus dem Minister vorgelegt und da die Fakultät zu keinem Entschluß kam, persönlich meine Berufung befürwortet, zu der der Minister auch ohne Fakultätsbeschluß berechtigt war; er glaube, daß darnach auch verfahren sei, so daß vermutlich das Berufungsschreiben schon nach Riga abgeschickt sei.

Er gab mir dann einen Überblick über meine künftige Tätigkeit und die zu erwartenden Einnahmen. Die Zahlen ergaben eine vielfache Steigerung gegenüber Riga. Unter dem Sprechen wurde er wärmer und wärmer, und als wir schieden, war er herzlich wie ein alter Freund.

Die Berufung. Wenige Stunden später erschien er unerwartet in meinem Gasthof, als ich eben meinen Koffer packte. »Da sind Sie ja – nun ist alles gut, Sie sind Leipziger Professor!« Er hatte alsbald nach Dresden telegraphiert und umgehend aus dem Ministerium die Nachricht erhalten, ich möchte sofort nach Dresden kommen; das Berufungsschreiben sei in Riga. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Daß dies Ziel, um welches in den letzten Tagen meine Gedanken gekreist waren, wie um eine ferne[266] Sonne, nun schon erreicht sei, wollte mir nicht in den Sinn. Wislicenus war womöglich noch froher. Er bekannte mir, daß er mit dem Gefühl eines großen Wagnisses meine Kandidatur vertreten habe. Die persönliche Bekanntschaft heute früh habe ihn aber völlig beruhigt. Er sei überzeugt, daß ich die Erwartungen erfüllen und beim Einarbeiten in die neuen Verhältnisse bald das abstreifen würde, was die Kollegen allenfalls an mir aussetzen könnten.

Wislicenus legte großes Gewicht darauf, daß ich alsbald mich mit Wiedemann persönlich in Verbindung setze und brachte mich zu ihm, worauf er sich in Amtsgeschäften entfernen mußte. Wiedemann ließ es mir gegenüber nicht an Versicherungen fehlen, welche schönen Erfolge er für die Wissenschaft aus unserer gemeinsamen Tätigkeit erhoffe. Ich wußte damals nicht, daß er gewünscht hatte, seinen Sohn in der Stellung zu sehen, die mir zugefallen war.

Als ich Wiedemann verlassen wollte, begegnete uns ein alter, ziemlich kleiner Herr mit scharfgeschnittenem, bartlosem Gesicht, einer rötlichen anliegenden Perrücke und unbeschreiblich gescheuten Augen. Ich wurde ihm vorgestellt: es war Carl Ludwig, der größte und genialste Physiologe seiner Zeit. Er sprach seine Freude aus, mich als Kollegen begrüßen zu können und fügte hinzu: »Aus Ihrem Buche habe ich viel gelernt.« Ich wußte nichts zu erwidern, denn von allen Glückserlebnissen dieses reichen Tages war dies das intensivste.

Am Abend reiste ich nach Dresden, um mich am nächsten Tage im Ministerium vorzustellen. Ich wurde von dem vortragenden Rat in Universitätssachen, Petzold, einem feinen und liebenswürdigen Beamten empfangen und nach einigen freundlichen Worten, trotz meiner Reisekleidung zum Kultusminister Gerber, einem früheren Leipziger Professor aus der Juristenfakultät geführt. Er teilte mir mit, daß das Berufungsschreiben vor zehn Tagen[267] nach Riga abgegangen sei und ersuchte mich um meine formelle Erklärung, ob ich die Berufung annehme. Ich antwortete: »es ist, als ob Sie einen Unteroffizier fragen, ob er General werden will. Ja.«

So war ich Leipziger Professor geworden, bevor ich mein 34. Lebensjahr erreicht hatte, und sah einen Wirkungskreis vor mir, der über die ganze Kulturwelt reichen konnte, wenn ich ihn auszufüllen fähig war.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 250-268.
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