Erstes Kapitel.
Lösung von der Heimat

Rückkehr. Die zwei Tage unmittelbar nach meiner Berufung auf den Leipziger Lehrstuhl, welche die Heimreise nach Riga und an den Strand kostete, wo meine Familie lebte, waren schwer zu ertragen. Das überschwengliche Glücksgefühl, welches mit der plötzlichen Beförderung vom Lehrer an dem unbedeutenden Polytechnikum zum ordentlichen Professor an einer der ersten Universitäten Deutschlands und der Welt verbunden war, fand keine Möglichkeit, sich durch Mitteilung zu entladen und mußte schweigend bewältigt werden. Erst auf der Eisenbahn zwischen Riga und dem Strande traf ich mit meinem Kollegen Grönberg zusammen und konnte mich ein wenig aussprechen. Er hatte schon von der Sache gehört, sie aber ebensowenig geglaubt wie die anderen und stellte nun durch Kreuz- und Querfragen fest, daß es sich wirklich um ein selbständiges Ordinariat handelte und nicht eine Honorarprofessur, welche die Kundigen für die einzige Möglichkeit erklärt hatten.

Die Nachricht von der Berufung hatte nämlich meine Familie am Strande getroffen, wo sie mit meinen Schwiegereltern Sommerfrische hielt. Zufällig machte mein Schwiegervater einem Bekannten in der Nachbarschaft davon Mitteilung, in dessen Hause sich ein aus Leipzig gekommener Verwandter befand. Tags darauf[1] erschien bei meiner Frau eine liebenswürdige alte Dame, die sie unter vielen Entschuldigungen dringend bat, die Nachricht nicht weiter verbreiten zu lassen. Denn jener Leipziger, dem die Kreise der dortigen Universität bekannt seien – er war Jurist – hätte sie darüber aufgeklärt, daß eine Berufung meiner Person zu einem Leipziger Ordinariat absolut ausgeschlossen sei; solche Sprünge in eine derart hohe Stellung gebe es nicht. Allerhöchstens könne es sich um eine Titularprofessur als Ersatz für den vor einigen Jahren verstorbenen Extraordinarius Carstanjen handeln. Es müsse irgendein Mißverständnis oder eine Mystifikation vorliegen, und in ihrem und meinem Interesse sollte meine Frau vermeiden, jene unmögliche Nachricht, ich sei Geheimrat Wiedemanns Nachfolger geworden, zu verbreiten. Obwohl meine Frau erwidern konnte, daß es sich tatsächlich um jene Professur handelte, da sie im Berufungsschreiben als die bisher von Wiedemann bekleidete bezeichnet war, fühlte sie sich doch naturgemäß beunruhigt und erwartete mein Kommen mit verstärkter Ungeduld. Die hochentwickelte Akustik am Rigaschen Strande aber hatte die Nachricht und ihre Deutung alsbald bis zu den Kollegen vom Polytechnikum gelangen lassen, so daß Grönbergs Zweifel und Fragen ihre Erklärung fanden.

Der Nachfolger. Um meine umgehende Entlassung zu betreiben, hatte ich mich an den ersten Vorsitzenden des Verwaltungsrates, den Landmarschall von Öttingen zu wenden. Dieser war ein vierter Bruder der drei Dorpater Professoren gleichen Namens und übte als hervorragender Politiker einen großen Einfluß auf die Geschicke des Baltenlandes aus. Er empfing mich mit den Worten: »Sie kommen, um mir eine unwillkommene Nachricht zu bringen,« widersetzte sich aber nicht meiner Bitte, von dem formalen Kündigungstermin abzusehen. Denn er meinte mit Recht, daß ich doch nur ein halbes Herz[2] für meine Unterrichtsarbeit aufbringen würde, wenn ich auch noch ein Semester in Riga bliebe, und verlangte nur, daß ich ihm rechtzeitig einen Ersatzmann beschaffen solle. Ich wandte mich alsbald an Wislicenus, der seinen Schüler und Assistenten C. Bischoff so warm empfahl, daß er alsbald gewählt wurde. Dies war meinem Leipziger Gönner und Kollegen Wislicenus besonders willkommen, denn trotz der ungewöhnlich großen Schülerzahl, die er jahraus jahrein ausbildete, brachte er nur ganz wenige so weit, daß sie in akademische Lehrstellen einrückten. Ich wußte das damals freilich nicht, sondern entdeckte diese seltsame Tatsache erst viel später, als ich allgemeine Untersuchungen über die Bedingungen anstellte, welche zur Entwicklung der Forschungsfähigkeit notwendig sind.

Da Professor Bischoff wegen der Leipziger Ferien sofort abkömmlich war, siedelte er alsbald nach Riga über, so daß ich ihn noch kennen lernen und ihm das Institut übergeben konnte. Er erwies sich in jeder Beziehung als ein anderer Mann. Wissenschaftlich war er im engen Kreise der damaligen organischen Chemie erzogen worden und die Ordnung der Atome im Raum bei organischen Verbindungen war ihm das höchste aller denkbaren Probleme. So wird er wohl die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen haben, als er in Riga nichts von der ihm gewohnten präparativ-organischen Arbeit vorfand. Von der physikalischen Chemie hingegen wußte er nichts und mag sie wohl mit der Mehrzahl der gleichgerichteten Fachgenossen für etwas gehalten haben, was eigentlich gar keine Chemie ist.

Ich hatte mir während meiner Amtstätigkeit oft genug die Frage vorgelegt, ob ich nicht wenigstens eine Abteilung für organische Arbeiten, wie sie damals fast die einzige Beschäftigung der Chemiker bildeten, einrichten sollte; eine Abteilungsprofessur dafür wäre wohl[3] bewilligt worden. Aber ich sagte mir, daß eine Industrie organischer Stoffe, welche die in solcher Richtung ausgebildeten Chemiker hätte aufnehmen können, weder in den Ostseeprovinzen, noch im übrigen Rußland vorhanden war, und daß ein Versuch, mit der deutschen Industrie den Wettbewerb auf solchem Gebiete, namentlich dem der Farbstoffe aufzunehmen, ganz aussichtslos sein würde. Dagegen gab es eine sich stetig entwickelnde anorganische Industrie im Lande, und diese brauchte in erster Linie gute Analytiker. Die Kenntnis der Grundbegriffe der Verwandtschaftslehre war aber gerade für diese Gebiete von großer Wichtigkeit und gab den in Riga ausgebildeten Chemikern sogar einen großen Vorzug vor den anderen. So hatte ich bewußt und überlegt darauf verzichtet, jene andere Richtung in Riga heimisch zu machen. Meinem Nachfolger aber lagen solche Gedanken fern.

Ebenso wie die wissenschaftliche Einstellung war auch seine gesellschaftliche gegensätzlich. Er war ein schöner Mann mit wohlklingender Stimme, der Wagners: »Seid mir gegrüßt in diesem edlen Kreise« ausdrucksvoll und gewinnend zu singen verstand und damit die Herzen der Damen im Fluge eroberte.

So kam es, daß das Steuer des Rigaer Laboratoriums unmittelbar nach meinem Fortgang auf eine ganz andere Richtung umgelegt wurde. Es wären von meiner dortigen Tätigkeit bald alle Spuren verwischt gewesen, wenn nicht in Paul Walden ein vollwertiger Vertreter der neuen Wissenschaft zurückgeblieben wäre, der in stiller und zäher Arbeit deren Werte festhielt und ausbaute. In dem Maße, als durch die in Leipzig einsetzende Entwicklung der Lehre ihre öffentliche Anerkennung zunahm, gelang es ihm auch in Riga, die alte Richtung wieder zur Geltung zu bringen. Walden erhielt einen Urlaub, um im Leipziger Laboratorium arbeiten zu können, und einen Lehrauftrag für physikalische Chemie, der sich in gegebener[4] Zeit zu einer ordentlichen Professur entwickelte. Durch den großen Einfluß, den er weiterhin persönlich am Rigaschen Polytechnikum und in der Petersburger Akademie der Wissenschaften gewann, hat er dann endlich die vielgeliebte Wissenschaft an dem Orte, wo gleichsam ihr Körper, nämlich das Lehrbuch und die Zeitschrift entstanden war, wieder zu allen Ehren gebracht und sie durch eigene, sehr bemerkenswerte Arbeiten in großem Umfange bereichert.

Abschied. Wegen des Abstandes der Semesteranfänge in Deutschland und Rußland hatte ich einige Monate Ferien, bevor ich nach Leipzig übersiedeln mußte. Sie vergingen wie im Fluge infolge der mannigfaltigen Geschäfte, welche das Abbrechen der Zelte in Riga und die Vorbereitung der Unterkunft in Leipzig mit sich brachten. Denn die beschriebenen Ereignisse hatten sich Anfang August abgespielt, während das neue Semester in Leipzig erst Mitte Oktober begann.

Der Abschied von Riga ging mir nicht besonders zu Herzen. Während der fünfeinhalb Jahre, die ich dort als Professor am Polytechnikum zugebracht hatte, war es mir nicht gegeben gewesen, in der Gesellschaft meiner Vaterstadt mir eine bestimmte Stellung zu schaffen. Die Entfaltung einer ausgedehnten häuslichen Gastfreundschaft wie sie in Riga üblich war, war durch die Knappheit des Gehaltes behindert, da das gesellige Leben unter dem Einfluß einer wohlhabenden Kaufmannschaft sich in erheblich üppigeren Formen vollzog, als im akademisch-demokratischen Dorpat. Auch beanspruchte die schnell anwachsende Familie meine Frau als Mutter so stark, daß für andere Dinge nicht viel Zeit und Energie zu erübrigen war. Die Hauptursache lag aber unzweifelhaft in meiner persönlichen Einstellung. Die mannigfaltige wissenschaftliche Arbeit in Gestalt von Forschung, Unterricht und Schriftstellerei ließ mir weder Zeit noch Neigung[5] für die Art der Geselligkeit übrig, welche in meiner Vaterstadt gebräuchlich war. Für mich kamen damals andere Interessen als die rein wissenschaftlichen überhaupt kaum in Betracht. Diese fanden im Boden der Heimat keine Nahrung, wohl aber reichliche in Deutschland, wohin die Wurzeln meines Wesens anfangs unterbewußt später bewußt immer gestrebt hatten. Nun war mir durch das Lehrbuch und die Zeitschrift in Leipzig, dem Orte der Herstellung und des Verlags schon seit einigen Jahren eine Art geistiger Heimat entstanden, in der alles vorhanden war, was meine Vaterstadt mir nicht bieten konnte. Da ich aus diesen Verhältnissen meiner Art nach durchaus kein Hehl machte, erweckte ich ohne es zu wollen – aber leider auch ohne mich darum zu kümmern – eine gegensätzliche Stimmung unter meinen Altersgenossen von der Universität, welche ihrerseits den regelmäßigen Aufstieg in den maßgebenden Kreisen angetreten hatten. Hätte ich statt in der Chemie mich in irgendeinem Gebiete der »Geisteswissenschaften«, etwa in der Philologie oder gar der Theologie ausgezeichnet, so hätte mir eine bereitwillige und respektvolle Anerkennung nicht gefehlt. Auf die Wertschätzung von Sonderleistungen in einem so fernliegenden Gebiet, wie die physikalische Chemie, war niemand eingestellt.

Weiter unten sollen die allgemeinen Ursachen der inneren Trennung noch eingehender erläutert werden.

Der Abschied von den Kollegen am Polytechnikum vollzog sich gleichfalls ohne Kummer, doch in herzlicher Freundschaft. Sie standen meiner Wissenschaft nahe genug, um ein Verständnis für die erlangten Ergebnisse, sowohl im Unterricht wie in der Forschung zu haben, und fern genug, um von Eifersucht oder Neid frei zu bleiben vielleicht mit einer oder zwei Ausnahmen. Sie nahmen mir nicht übel, daß ich ihren Kreis ohne Zögern zu verlassen bereit war und sahen gleich mir den Sprung[6] an die Leipziger Universität als einen außerordentlichen Glücksfall an.

Störungen. Die letzten Jahre in Riga waren zudem noch besonders durch einen schwarzen Schatten getrübt, der auf meine Eltern gefallen war. Nachdem er sich ein für seine Verhältnisse ganz stattliches Vermögen erworben und das sechzigste Lebensjahr überschritten hatte, hielt mein Vater es an der Zeit, sich von dem Betrieb seiner Werkstatt frei zu machen, um mehr Freiheit für seine gemeinnützige Tätigkeit in der Stadt und der Zunft zu gewinnen. Um wirtschaftlich nicht ganz untätig zu sein, gewährte er einem nahen Verwandten die Mittel, einen Holzhandel zu errichten und trat dem Geschäft als Teilnehmer bei. Dies war ein Jahr lang gut gegangen, so daß der Vater dem anderen die Geschäftsleitung mehr und mehr überließ. Dieser aber war von dem Ehrgeiz geplagt, durch einen großen Schlag einen Riesengewinn zu erzielen, ließ sich von den Holzjuden, ohne welche kein Abschluß durchführbar war, zu gewagten Geschäften verleiten und verlor nicht nur das ganze vorhandene Vermögen, sondern erheblich mehr.

Dies traf meine Eltern so schwer, daß es fast untragbar schien. Sein ganzes Leben lang hatte mein Vater darauf geachtet, keinen Pfennig auszugeben, für den nicht Deckung vorhanden war. So hätte er den Verlust seines Vermögens verschmerzt, wenn auch nicht leicht, denn es hing ein Menschenleben voll Arbeit daran. Aber sich mit Schulden behaftet zu fühlen, von denen er nicht absehen konnte, wie er sie bezahlen würde, ging fast über seine Kraft.

Meine kleinen Ersparnisse waren nur ein Tropfen; ebensowenig kam das Wenige in Betracht, was mein Bruder Eugen besaß und die Wechsel mußten eingelöst werden. Da trat mein Schwiegervater mit einem Darlehen in die Bresche, das mein Vater mit dem festen Entschluß annahm, nicht zu ruhen, bis es abgetragen war.[7]

Ich kann nicht im einzelnen erzählen, wie mein Vater mit einer Biegsamkeit des Geistes und Intensität der Arbeit, wie sie uns sonst nur aus Amerika geschildert wird, trotz seiner hohen Jahre es durchsetzte, seine Schulden zu verzinsen und zu bezahlen. Letzteres ist ihm in erstaunlich kurzer Zeit gelungen und er hat sich darüber hinaus zum zweiten Male ein Vermögen erworben, das zwar geringer war, als das frühere, ihm aber doch die Möglichkeit gab, das letzte Jahrzehnt seines Lebens in Ruhe und unter Verhältnissen zu verbringen, die sein lebenslänglicher Wunsch gewesen waren. Er erwarb sich einen kleinen Landbesitz, der anmutig zwischen See und Wald lag und erfreute sich, auf langen Spaziergängen im geliebten Walde die Hasen, Rehe, Füchse und anderen Waldbewohner, die er früher geschossen hatte, nun friedlich in ihrem Treiben und Tun zu beobachten. Dort besuchte ich die rüstigen Eltern von Leipzig aus mit meiner Familie gelegentlich ihrer goldenen Hochzeit, und dort ist er als hoher Achtziger gestorben. Meine Mutter hat ihn noch lange überlebt.

Auch diese Ereignisse waren nicht dazu angetan, mir das Einleben in die gesellschaftlichen Verhältnisse Rigas zu erleichtern.

Die Studenten. Am stärksten empfand ich die Trennung von meinen Studenten. Ich hatte ihnen viel größere Anforderungen zugemutet, als mein Amtsvorgänger, hatte aber eine Bereitwilligkeit gefunden, ihnen zu genügen, die mich mit Freude, fast mit Rührung erfüllte.

Aber auch hier mußte ich mir sagen, daß der Abschied notwendig war. Ich habe schon früher (I, 244) dargelegt, daß durch die Natur der vorhandenen Verhältnisse die Ausbildung eines wissenschaftlichen Nachwuchses in meinem Sondergebiet ganz ausgeschlossen war. Ich mußte vielmehr im Interesse ihrer späteren Unterkunft in der heimischen Industrie vermeiden, sie zu tief in meine[8] persönliche Forschungsrichtung einzuführen und kam dadurch in einen dauernden Widerspruch mit meinen eigenen und zuweilen auch sogar mit ihren Neigungen. Und daß ich etwa vom Auslande her einen Kreis persönlicher Schüler außerhalb des normalen Unterrichtsganges um mich sammeln könnte, mußte als äußerst schwierig ja kaum möglich beurteilt werden. Schon die äußerliche Raumfrage war ein Hindernis. Wegen der Überfüllung war jeder verfügbare Winkel mit den regelmäßigen Praktikanten besetzt, und es durfte nicht daran gedacht werden, sie zugunsten Fremder einzuschränken. War doch Arrhenius' Mitarbeit nur dadurch möglich geworden, daß ich ihm den Arbeitsplatz in meinem eigenen Zimmer anwies. Dies war gleichzeitig Laboratorium, Sprech- und Verwaltungszimmer, da mir weitere Räume nicht zur Verfügung standen.

Landesüblich. Zur Ausreise aus Rußland gehörten mancherlei Papiere, die von der Polizei auszustellen waren und auf die man meist ungebührlich lange warten mußte, wenn man nicht das in Rußland übliche Schmiermittel in Gestalt eines Zehnrubelscheines zur Anwendung brachte. In meinem Falle lehnte der »Quartaloffizier«, durch dessen Hand die Angelegenheit ging, das Geld ab, ohne indessen ein Zeichen des Gekränktseins erkennen zu lassen. »Herr Professor, sagte er, ich bin ein ehrlicher Mann. Ich kann Ihnen die Sache nicht besorgen. Vor einer Woche hätte ich es gekonnt, und nach ein paar Wochen wird es wieder gehen. Aber vorgestern ist der neue Polizeimeister gekommen, und der läßt es noch nicht zu. Es wird nicht lange dauern, dann wird alles wie früher gehen, aber jetzt geht es nicht. Ich kann das Geld nicht nehmen; ich bin ein ehrlicher Mann.« Ich mußte also den vorgeschriebenen Weg einhalten, doch wurden die Papiere noch rechtzeitig ausgefertigt.

Dies war der letzte Eindruck, unter dem ich das Russische Reich verließ. Von Leipzig aus betrieb ich[9] alsbald meine Entlassung aus dem Russischen Untertanenverband, die ich umgehend erhielt und schloß mich als Deutscher dem Deutschen Reich an.

Die Ausreise der Familie. Im September 1887 machte ich mich mit meiner Familie auf den Weg von Riga nach Leipzig. Neben meiner Frau waren vier Kinder vorhanden, zwei Söhne Wolfgang und Walter und zwei Töchter, Margarete und Elsbeth. Margarete war die Älteste und mit ihren fünf Jahren schon ein ganz verständiges Mädchen, Walter der Jüngste und eben im Begriff, das Gehen zu erlernen. Zur Hilfe hatten wir ein Kindermädchen mitgenommen, eine Waise, die meine Frau in ganz verwahrlosten Verhältnissen gefunden und aus Mitleid ins Haus genommen hatte. Sie bewährte sich gut. Die Reise verlief ohne Unfall.

Bei der Wahl der Vornamen der Söhne hatte es mir gefallen, daß sie beide ebenso wie der meinige mit einem W begannen. Ich hatte dabei die Möglichkeit nicht bedacht, daß sie vielleicht ebenso wie ich her nach ihren Namen als Schriftsteller bekannt machen würden, wobei dann drei verschiedene W. Ostwald vorhanden wären, zwischen denen Verwechselungen nicht vermieden werden könnten. Erst als nichts mehr zu bessern möglich war, kam ich dahinter, da diese Möglichkeit Wirklichkeit wurde, und zwar früher als ich dachte. Am nachteiligsten war dies natürlich für meine Söhne. Sie haben sich aber bald dadurch geholfen, daß sie dem gemeinsamen Konsonanten W noch ihren persönlichen Vokal hinzufügten, so daß Wolfgang als Wo. Ostwald, Walter als Wa. Ostwald sich ihren Platz in der wissenschaftlichen und technischen Literatur erarbeitet haben. Mir wurde die kurze Form W. Ostwald überlassen. Doch kann ich feststellen, daß in dem Maße, wie sie häufiger genannt werden, seitens Dritter meine Person durch die Abkürzung [10] Wi. Ostwald gekennzeichnet wird, damit ich nicht mit ihnen verwechselt werde.

Abrechnung. Versuche ich mir Rechenschaft über das wissenschaftliche Kapital zu geben, mit welchem ich von Riga nach Leipzig übersiedelte, so kann ich folgende Aktiva buchen:

1. Durch die Neuorganisation des chemischen Unterrichts in Riga, der ganz verfallen war, mit dem Erfolg einer sehr starken Steigerung der Studentenzahl hatte ich meine Fähigkeit kennen gelernt und erwiesen, neues wissenschaftliches Leben aufzubauen, auch wo der Boden bisher keinen Ertrag gegeben hatte.

2. In die Rigaer Zeit fallen zwei bedeutende wissenschaftliche Fortschritte in meinen experimentellen Arbeiten. Zunächst die Entwicklung der chemischen Kinetik und des dazu notwendigen Thermostaten, wobei sich dieselben Verwandtschaftszahlen der Säuren herausstellten wie aus statischen Messungen. Sodann die ersten Schritte in die Elektrochemie. Erstens die methodische Untersuchung der Leitfähigkeit. Hier begegneten sich meine Arbeiten mit denen von Arrhenius, welcher die Proportionalität zwischen Leitfähigkeit und Reaktionsfähigkeit postuliert hatte. Zweitens die ersten Vorstöße in das Problem der elektromotorischen Kräfte; die weitere Arbeit daran erfolgte allerdings erst nach mehreren Jahren.

3. Durch die Abfassung des Lehrbuches hatte ich das ganze Gebiet der allgemeinen Chemie methodisch durchgearbeitet und in übersichtliche Ordnung gebracht. Es war nunmehr leicht geworden, an jeder Stelle mit neuer Arbeit einzugreifen, da der Boden geebnet und das bisher Geleistete in Zusammenhang gebracht war.

4. Die Begründung der Zeitschrift sicherte das Dasein der Allgemeinen Chemie als einer selbständigen Wissenschaft, indem sie die zeitgenössischen Mitarbeiter vereinigte und ihnen die Möglichkeit gab, sich der[11] Öffentlichkeit im eigenen Hause darzustellen und nicht wie bisher als geduldete Gäste in nicht immer wohlwollender Umgebung.

5. Dadurch, daß ich trotz ungewöhnlich starker Belastung mit Unterrichtsarbeit – wenige Jahre nach meinem Fortgang wurde der Inhalt meines Lehramts auf drei ordentliche Professuren verteilt – noch reichlich freie wissenschaftliche Forschungsarbeit hervorgebracht und daneben eine ausgedehnte literarische Tätigkeit entfaltet hatte, war eine Gewähr dafür gegeben, daß meine Kräfte auch größeren Aufgaben gewachsen sein würden.

Dies waren die positiven Posten, die ich meinem Konto gutbringen konnte; wie stand es um die negativen?

Als solchen konnte ich bei sorgfältiger Selbstschau nur einen verbuchen: daß ich weder unter meinen Kollegen noch in den maßgebenden Kreisen meiner Vaterstadt eine nennenswerte gesellschaftliche Stellung gewonnen hatte.

Zwar fehlte es mir nicht an Vertrauen seitens der Kollegen, noch an Achtung seitens meiner Mitbürger; es war aber in den Jahren meiner Tätigkeit kein näheres Verhältnis zustande gekommen.

Als der langjährige Direktor Kieseritzky zurückgetreten und mein nationalökonomischer Kollege Lieventhal zu seinem Nachfolger gewählt war, sprach er sich mir gegenüber dahin aus, daß wegen meines wissenschaftlichen Ansehens die Stelle eigentlich mir gebühre. Die Herren im Verwaltungsrat hätten dies auch ohne weiteres anerkannt, seien aber der Meinung gewesen, es wäre schade, mich durch die notwendige tägliche Verwaltungsarbeit um Zeit und Kraft für meine wissenschaftliche Tätigkeit zu bringen. In solcher Richtung sei ich schon durch das große Laboratorium belastet genug gegenüber den Professoren, die wie er nur Vorlesungen hätten. Ich gab ihm ganz und gar Recht; ich hätte tatsächlich[12] das Amt nicht übernehmen können, teils aus dem angegebenen guten Grunde, teils weil ich persönlich ganz ungeeignet dazu war. Durch die wissenschaftliche Arbeit war ich dermaßen an abstraktes Denken gewöhnt, daß mir einzelmenschliche Tagesangelegenheiten ein viel zu geringes Interesse abgewannen.

Ähnliche Ursachen hatten meine gesellschaftliche Stellung bestimmt.

Wenn ich mich nachträglich frage, wie es kam, daß die Ablösung von der Vaterstadt so leicht und ohne das Gefühl eines Verlustes erfolgte, so liegen mir heute die Gründe deutlicher vor Augen als damals. Zunächst war meine Familie keine alt-Rigische, sondern vor zwei Generationen eingewandert. Schon dies bedingte, daß ich als nicht zum engeren Kreise gehörig mit einem vielfach unterbewußten aber doch über allwirksamen Gefühl des Abstandes betrachtet und behandelt wurde. Ich konnte dies an der Familie meiner Frau beobachten, die zu den bodenständigen gehörte und deren Angehörige einen weitverzweigten Zusammenhang über Riga hinaus nach Stadt und Land in Livland und Kurland besaßen und pflegten. Bei aller Freundlichkeit des Entgegenkommens war doch der Unterton einer willigen Herablassung dem Emporkömmling gegenüber nicht zu verkennen. Nur mein Schwiegervater hatte ein lebendiges Verständnis für meine wissenschaftlichen Bestrebungen; auch waren ihm an seinem ältesten Sohn Karl (I, 145) die sprunghaften Möglichkeiten der wissenschaftlichen Laufbahn bekannt geworden. Da ich sonst niemand unter ihnen fand, der im Zusammenhang mit den Aufgaben stand, die mich erfüllten, ließ ich es meinerseits an jedem Eifer fehlen, mich jenem Kreise einzugliedern, was dort als ungehöriger Hochmut empfunden wurde. So waren beide Teile zufrieden, die gegenseitigen Berührungen auf das Notwendige zu beschränken. Meine Frau war durch die schnell angewachsenen[13] Mutterpflichten, die sie überaus ernst nahm und mit bestem Erfolge erfüllte, zwar sehr stark in Anspruch genommen, doch empfand sie natürlich diese Vorgänge schmerzlich, so sehr sie ihre Notwendigkeit einsah.

Auch nach einer anderen maßgebenden Seite isolierte mich meine wissenschaftliche Einstellung. Ich habe schon erwähnt, daß man in den politisch führenden Kreisen meiner Vaterstadt es als einen Raub ansah, daß ich meine Arbeit und meine Begabung, deren Vorhandensein anerkannt wurde, nicht in den unmittelbaren Dienst der Heimat stellte, wie dies sonst fast ausnahmslos von jedem geschah, der sich geistig über den guten Durchschnitt erhob. Zu verschiedenen Malen war ich mit den führenden Männern, denen ich ohnedies durch meine Zugehörigkeit zum engeren Kreise der Fraternitas Rigensis näher stand, in Berührung gebracht und von ihnen in ernste Gespräche gezogen worden. Ich erwies mich aber so erfüllt von meinen wissenschaftlichen Aufgaben, daß für die der engeren Heimat kein Raum zu finden war.

Ich kann mir wohl denken, daß dies von jener Seite als ernster Mangel, fast als Verrat am Vaterlande empfunden wurde. Denn die zerstörende Welle des Panslavismus hatte schon, wie erzählt, begonnen ihren Druck auszuüben und täglich mußte man neue Bedrückungen erwarten. Es handelte sich dabei nicht nur darum, daß uns ein fremdes Volk seine Sprache und Sitte aufdrängen wollte, sondern, was noch viel ernster war, daß eine unstreitig viel niedrigere Kultur die bei uns erreichten höheren Werte zu verschlingen drohte, wie dies ja auch in der Folge geschehen ist, wenn auch von anderer Seite. So erschien ich ihnen als einer, der sich dem Notruf: Alle Mann an Bord wegen persönlicher Interessen weigerte.

Auf meiner Seite hatte aber das Gefühl der Verantwortlichkeit für die Geschicke der engeren Heimat sich nicht entwickeln können. Den kleinen Bürgern, zu denen[14] meine Eltern gehörten, war kein Teil an der Verwaltung der Gemeinde eingeräumt gewesen. Mein Vater hatte in seinem Kreise, der kommunalpolitisch der der »kleinen Gilde« war – der Rat und die beiden Gilden bildeten das Stadtregiment – die Stellung eines Ältermanns erreicht, aber nur, um zu erkennen, wie gering der Einfluß war, den er mit seinen Genossen von dort aus besaß. Dann war vor wenigen Jahren von Petersburg her eine neue Stadtverfassung mit Wahlen auf Grund eines Vermögenszensus eingeführt worden, und mein Vater war Stadtverordneter geworden. Aber praktisch blieb doch das Regiment in den alten Händen, auf welche die Erfahrungen der politischen Technik beschränkt waren, so daß es zunächst nicht schwer war, die Wahlen zu lenken. Allerdings nur so lange, als jene Erfahrungen nicht auf die anderen Kreise übergegangen waren.

So hatte ich auch von Hause keine Zusammenhänge mit den regierenden Kreisen Rigas und keine Sympathie für ihre Erhaltung überkommen. Die wirksamste Pflegstelle für diese aber, das Leben in der Fraternitas mit der Vorbereitung durch die dort bekleideten Ämter zu den größeren Aufgaben der heimatlichen Verwaltung hatte ich selbst kurz abgeschnitten durch die sehr frühzeitige Beendigung meiner Studentenjahre, welche mich nicht einmal das nötige Burschenalter für deren Erlangung erreichen ließ. Und zwar war es auch hier die Wissenschaft gewesen, welche jene Entwicklungsmöglichkeit durchkreuzt hatte.

Folglich wurde darauf verzichtet, mich in jene führenden Kreise aufzunehmen. Die Beziehungen zu den Studiengenossen, die inzwischen neben mir in Amt und Beruf tätig geworden waren, lockerten sich schnell und gelegentliche Berührungen belehrten mich, daß man sich zu gewöhnen begann, mich als Fremden anzusehen. Da dies mit der Zunahme meines wissenschaftlichen Ansehens und Einflusses zusammenfiel, empfand ich es nicht als Verlust.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 1-15,269-270.
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