Sechstes Kapitel.
Die Ausbreitung der Lehre in Deutschland.

[110] Heidelberg. Einen Überblick über das Maß, in welchem unsere Bestrebungen Anklang gefunden hatten, konnte ich auf der Naturforscherversammlung in Heidelberg gewinnen, die im Herbst 1889, also zwei Jahre nach meinem Einzug in Leipzig stattfand. Ich war von A. Horstmann eingeladen worden, bei ihm zu wohnen und wir feierten mit lebhaften Gefühlen das Wiedersehen nach der ersten Begegnung vor sechs Jahren (I, 197). Wie erstaunlich viel hatte sich inzwischen geändert! Freilich nur, was unsere gemeinsame Sache und meine Person betraf; seine Verhältnisse waren die gleichen geblieben und der Zustand seiner Augen hatte ihm die tätige Teilnahme an den neuen Arbeiten versagt.

Die ersten Eindrücke waren nicht vielversprechend. Ich geriet in einen Schwarm von Organikern, der sich um Emil Fischer geschart hatte, in dem man schon den künftigen Führer unserer Wissenschaft sah, denn was nicht organische Chemie war, wurde überhaupt nicht als Chemie anerkannt. Auf eine abschätzige Bemerkung seinerseits über die neue Richtung erwiderte ich, daß die Organiker uns doch schon jetzt zu Dank verpflichtet seien für die Möglichkeit, Molekulargewichte an nichtflüchtigen Stoffen zu bestimmen. Das war bis dahin[111] unmöglich gewesen, durch unsere Arbeiten aber eine leichte Sache geworden, namentlich nachdem Beckmann das Verfahren technisch zur Vollkommenheit entwickelt hatte. Fischer antwortete: »Das war ganz unnötig; ich sehe jedem neuen Stoff ohne weiteres an, welches Molekulargewicht er hat, und brauche Ihre Methoden nicht.«

Ich nahm die Sache, wie sie gemeint war: als eine Redensart, um sich einen guten Abgang zu schaffen und hoffte auf die versöhnende Wirkung der Zeit und Gewohnheit. Diese ist aber nicht eingetreten, denn ich habe seitdem immer wieder Zeugnisse über die Unveränderlichkeit jener unbedingt verneinenden Einstellung erhalten, die sich allerdings weit mehr gegen meine Person, als gegen die Verwendung unserer Fortschritte geltend machte.

Selbst jetzt (1926) nach einem Menschenalter sind die Verhältnisse nicht anders geworden. Während in der Technik Kenntnisse aus der physikalischen Chemie sich täglich nützlicher, ja notwendiger erweisen, bringen die nach alter Weise »organisch« geschulten Chemiker von diesen so wenig mit, daß bei einem ungeheuren Überangebot an Organikern Mangel an Physikochemikern besteht.

In starkem und edlem Gegensatz zu dieser unsachlichen Gegenwirkung stand die Art, wie sich Victor Meyer äußerte. Er war eben im Begriff, Göttingen zu verlassen, um Nachfolger seines Lehrers Bunsen in Heidelberg zu werden, eine Stellung, die er als Krönung seiner glänzenden Laufbahn empfand. Freilich mußte er als kranker, nervös weitgehend verbrauchter Mann dorthin kommen, der die Tage glänzender Betätigung mit schweren Erschöpfungen zu bezahlen hatte. Aber niemand sah ihm dies an, als er einen der großen Vorträge vor der ganzen Versammlung hielt, die immer als deren Glanzpunkte gestaltet und empfunden wurden. Der zweite Vortrag wurde damals von Heinrich Hertz gehalten und erzielte einen noch viel weiter reichenden Nachhall.[112]

In seinem Vortrage über »Chemische Probleme der Gegenwart« entwickelte V. Meyer den Unterschied zwischen der durch das Gefühl und die Phantasie geleiteten Forschertätigkeit des Organikers, und der durch strenge Verstandesoperationen gekennzeichneten des Physikochemikers und machte kein Hehl daraus, daß sein Herz ihn ganz und gar zu jener zog, der er ehrlich genug eine mehr kindliche und künstlerische als nüchtern wissenschaftliche Natur zuschrieb. Aber er verschloß sich durchaus nicht der großen Wichtigkeit, welche jener neuen Richtung zukommt, der er folgerichtig das Jünglingsalter der Chemie zuzuerkennen hatte und trat warm für sie ein. Hierdurch hat er bei dem großen Einfluß, den er auf seine Fachgenossen ausübte, für die zunehmende Anerkennung der physikalischen Chemie auch in seinen Kreisen sehr Erhebliches getan.

Auch bei einigen anderen Gelegenheiten, die uns zusammenführten, hatte ich Ursache, für die großzügige, von Konkurrenzsorgen ganz freie Art seines Verhaltens dankbar zu sein. Insbesondere gilt dies für die Münchener Besprechungen über das Staatsexamen der Chemiker, von denen bald berichtet werden wird. Dort sah ich ihn zum letzten Male, wenige Wochen vor seinem plötzlichen Tode.

Andere Erlebnisse. Auch abgesehen von diesen für mich besonders wichtigen Dingen war die Heidelberger Versammlung sehr interessant. Die große und höchst eindrucksvolle Rede von Heinrich Hertz, in der er über die bis ins einzelne gehende Übereinstimmung der von ihm erforschten schnellen elektrischen Schwingungen mit dem Licht berichtete, habe ich schon erwähnt. Diese Arbeiten sind inzwischen nach mehr als einer Richtung grundlegend geworden.

Außerdem wurde zum erstenmal öffentlich der vor kurzem von Edison erfundene Phonograph in Gegenwart[113] des Erfinders vorgeführt. Edison erwies sich als eine massive Gestalt mit einem Cäsarenkopf von eiserner Unbeweglichkeit, der wie ein Standbild neben seinem Werk aufragte. Er sprach nicht deutsch und auch sein heimisches Englisch konnte nur brockenweise dem Gehege seiner Zähne entrissen werden. Er hatte einen deutsch-amerikanischen Sekretär mit, der für ihn sprach und vortrug und dies Geschäft mit der ganzen Überheblichkeit verrichtete, von der ein untergeordneter Kopf erfüllt zu sein pflegt, wenn er sich als Vertreter eines großen Mannes betätigen darf.

Für diesen Vortrag, die Vorführung des Phonographen, hatte sich der badische Großherzog angesagt, der an den wissenschaftlichen Angelegenheiten der drei Hochschulen seines Landes den lebhaftesten Anteil nahm. Durch irgendeinen unvorhergesehenen Zufall verzögerte sich sein Eintreffen um mehr als eine Stunde und der Vorstand hatte die Aufgabe zu lösen, die sehr große und sehr vollgedrängte Versammlung über diese Zeit hinzuhalten. Die Aufgabe wurde von Rudolf Virchow übernommen, der damals im Vorstande eine maßgebende Rolle spielte und vielleicht auch durch seine eifrige politische Tätigkeit am ehesten darin geübt war, zu reden ohne etwas zu sagen. Er schätzte uns auch nicht höher als eine Volksversammlung ein und ich muß gestehen, daß ich selten ein so peinliches Gefühl gehabt habe, wie bei diesem ziellosen Daherreden eines bedeutenden Mannes. Wir atmeten alle erlöst auf, als endlich der Großherzog eintraf und Virchow kurzweg Schluß machte. Freilich waren dann die Gefühle zwar anders, aber nicht schöner, als jener Sekretär seine Aufgabe sehr unvollkommen nach der technisch-rednerischen Seite löste und es für angemessen hielt, die Lachlust seiner Hörer durch Ausfälle auf die Professoren anregen zu wollen, die den Hauptanteil der Hörerschaft bildeten.

[114] Helmholtz und Kopp. Unter den Teilnehmern befand sich auch Helmholtz, der gern die schöne Stadt wieder besuchte, in der er einen großen Teil seiner wichtigen Forschungen in einem geistig hochstehenden und lebensfrohen Kreise ausgeführt hatte. Er hielt einen Vortrag über stehende Wellen im Luftmeer, auf deren Vorhandensein er durch die Untersuchungen an den Differentialgleichungen der großen Luftbewegungen gelangt war, und wies darauf hin, daß die auffallend regelmäßige Anordnung, die man so oft an den Schäfchenwolken beobachtet, eine Folge dieser Art Wellen sei. Mir war diese Aufklärung eine Befreiung. Denn ich hatte oft beim Malen solche Regelmäßigkeiten absichtlich unterdrückt und durch freiere Formen ersetzt, weil ich noch mit dem Aberglauben behaftet war, Unregelmäßigkeit sei Freiheit und somit künstlerisch, was ein zweifacher Fehler war. Seitdem gab ich solche gesetzliche Formen, wenn sie sich beim Malen darboten, mit Liebe wieder, sehr zum Vorteil meiner Erzeugnisse.

Auch Hermann Kopp, den Schöpfer der Stöchiometrie und unübertroffenen Geschichtsschreiber der Chemie, den ich bei meinem ersten Besuch in Heidelberg nicht angetroffen hatte, lernte ich persönlich kennen, nachdem wir schon schriftlich wegen der Herausgabe einer Arbeit J. Liebigs in den »Klassikern« verkehrt hatten. Er lud mich zu einem großen Essen ein, das er an einem der nächsten Tage gab.

Als ich zur gegebenen Stunde im feierlichen Frack antrat und den Herrn und die Frau des Hauses begrüßte, hatte ich einen Anfall unpassender Heiterkeit zu überwinden. Kopp war ein auffallend kleines Männchen mit dünnen Gliedern, zu denen das spitze Bäuchlein ganz unwahrscheinlich aussah. Den Ausdruck hatte sein langjähriger Freund Wöhler mit überraschender Treffsicherheit beschrieben: er machte ein Gesicht, als sei[115] in seinem Unterleibe etwas nicht ganz in Ordnung. Die Frau Geheimrat neben ihm war um die Hälfte größer und schätzungsweise um das drei- bis vierfache schwerer als er und übertraf ihn auch entsprechend an Kraft der Stimme und des Wesens.

Als ich eben von der Begrüßung zurücktrat, erschien mein Leipziger Kollege Wiedemann, der besonders warm begrüßt wurde. »Sie müssen leider vorlieb nehmen«, sagte die Frau Geheimrat, »wir haben die ersten Leute eingeladen, Helmholtz und Hertz, aber sie hatten alle schon anderweit zugesagt.« Etwas verschnupft, aber mit ungestörter Höflichkeit antwortete Wiedemann: »Nun, es sind ja noch einige leidlich berühmte Leute hier.« Jetzt wußte auch ich, wie ich zu der auszeichnenden Einladung gekommen war.

Das Gespräch mit Hermann Kopp ist mir lebhaft im Gedächtnis geblieben. Er beklagte die Beschwerden des Alters, insbesondere die Vereinsamung, die es bringt. »Sehen Sie hier«, sagte er – wir standen an seinem Schreibtisch – »das ist wie ein Kirchhof. Das Tintenfaß habe ich von Liebig, die Feder ist aus dem ersten technisch dargestellten Aluminium und ist mir von Deville geschickt worden; dort die Medaille habe ich von Berzelius, sie ist aus Selen, das er entdeckt hat – alle sind tot.«

Wenige Jahre darauf hat auch Kopp sich zu den dahingegangenen Freunden gesellt.

Bremen und Halle. Als im nächsten Jahr 1890 die Naturforscherversammlung in Bremen tagte, erlebte bereits die physikalische Chemie die Auszeichnung, sich in einer der allgemeinen Versammlungen in einem ihr besonders gewidmeten Vortrage vorstellen zu dürfen, statt sich wie vor einem Jahre mit einer freundlichen gelegentlichen Erwähnung begnügen zu müssen. Als der sozusagen amtliche Vertreter der neuen Wissenschaft[116] ward ich dazu eingeladen und ich entledigte mich dieser Aufgabe mit Freude und Stolz.

Die Einleitungsworte des Vortrages kennzeichnen die damalige Sachlage so deutlich, daß ich nichts Besseres tun kann, als sie hier zu wiederholen.

»Wer kennt nicht die köstliche Empfindung des Bergwanderers, der nach frischfröhlich begonnener Kletterarbeit in der Morgenfrühe die erste Rast hält! Zwar ist das Ziel noch nicht erreicht; noch türmen sich scheinbar unzugänglich Fels und Eis vor ihm auf. Aber er hat seine Kräfte erprobt und darf ihnen vertrauen. Doppelt genießt er, was ihm versagt war, solange er sich zu mühen und das Auge auf das Nächste zu richten hatte, was er zu überwinden hatte. Frei schweift sein Blick vorwärts und zurück. Im Nebel liegt tief unter ihm der Ausgangspunkt seiner Wanderung; mit heiterem Auge verfolgt er den durchmessenen Weg und erfreut sich der überwundenen Schwierigkeiten und erreichten Ausblicke. Zwar manchen Umweg hätte er, wie er nun sieht, kürzen und manchen mühsam erklommenen Fels umgehen können. Aber die gehabte Mühe reut ihn nicht, denn er hat die Freude der Arbeit gehabt und die nun gewonnene Erkenntnis kommt ihm für seinen weiteren Weg zugute. Diesen prüft er mit ruhigem Blick; wachsen auch die Schwierigkeiten, je höher er führt, so wächst doch in gleichem Maße die Weite des Ausblicks und die Großartigkeit der Umgebung: die Mühe und ihr Lohn liegen immer näher beieinander.«

»Aus einer solchen Empfindung heraus darf ich heute reden. Denn ich stehe nicht für mich hier und nicht, um über meinen bescheidenen Anteil an den Fortschritten zu berichten. Vielmehr war ich keinen Augenblick im Zweifel, daß das Wort nicht meiner Person gegeben war, sondern der wissenschaftlichen Richtung, welcher ich angehöre, der physikalischen Chemie. Die Sage von einer unerwarteten Umwälzung großer Gebiete der chemischen[117] Anschauung, einer Umwälzung, die freilich in kleinerem Umfange nicht weniger radikal ist, als der Übergang von der Phlogistontheorie zur Sauerstofftheorie, ist aus den Laboratorien und Studierstuben herausgedrungen. Von den vielen, in deren Arbeitsgebiet die Chemie eingreift, fragt sich vielleicht dieser und jener besorgt, was denn von dem brauchbar bleibe, was er bisher als richtig angenommen hat, während andere entrüstet und mißmutig jedes Rütteln an dem zurückweist, was sie bisher als die unzweifelhaftesten Grundlagen der Wissenschaft ansahen. Angesichts dieses sind wir vor das größte Forum deutscher Naturkundiger geladen worden, um Rechenschaft zu geben von dem, was wir erreicht zu haben glauben, und was wir erstreben. Wir aber, die Arbeitsgenossen, in deren Namen ich hier reden darf, sind freudig diesem Ruf gefolgt. Ist er doch ein Zeichen dafür, daß unser Streben uns in ehrlicher Arbeit weit genug gefördert hat, um auch in denen, die andere Wege gehen, den Eindruck zu erwecken, daß unser Pfad nicht in die Irre führt, sondern wirklich in die Höhe.«

Die nun folgenden Darlegungen wurden freundlich aufgenommen und gaben Anlaß zu persönlichen Aussprachen, auf denen ja der Hauptwert dieser Zusammenkünfte beruht. Da ich eben von der Tagung der britischen Vereinigung zurückgekehrt war, über die alsbald berichtet werden soll, wo wir einen harten Kampf erfolgreich durchgeführt hatten, so fühlte ich mich einigermaßen beflügelt, was wohl nicht ohne Eindruck auf die Zweifelnden gewesen ist.

Die physikalische Chemie aber hatte nun schon soviel Boden gewonnen, daß auf der nächsten Jahresversammlung von 1891, die in Halle stattfand, ich über die inzwischen erfolgten Fortschritte vor den vereinigten Abteilungen für Physik und Chemie zu berichten hatte. Der Hauptpunkt meiner Darlegungen war folgender.[118]

Die Lehre von den chemischen Gleichgewichtszuständen im weitesten Sinne, also mit Einschluß von Verdampfen, Lösen und Erstarren war durch W. Gibbs grundsätzlich entwickelt worden; nur enthielten seine Gleichungen gemäß dem damaligen Zustand der Forschung zahlreiche unbekannte Funktionen. Von diesen ist nun durch die Lösungs- und Dissoziationstheorie ein sehr großer Teil bekannt geworden, so daß an die Stelle der bisherigen unbestimmten Gleichungen nun zahlenmäßig bestimmte getreten sind, die eine messende Prüfung gestatten. Und wo solche Messungen ausgeführt werden, was bisher nur in geringem Umfange hat geschehen können, haben sich Bestätigungen der Lehre ergeben. Es stand also ein unabsehbares Feld wissenschaftlicher Ergebnisse erntereif da und harrte nur der Schnitter, welche die Garben schneiden und binden wollten.

In diesen Jahren hat dann die physikalische Chemie in der Wissenschaft festen Fuß gefaßt, Die Zeitschrift hatte eine breite Entwicklung erfahren, verschiedene Lehrbücher waren erschienen und wurden eifrig gekauft und gelesen, und hie und da fanden sich einzelne Forscher angeregt, auch ohne persönliche Fühlung mit der Leipziger Zentrale sich im neuerschlossenen Gebiet mit eigenen Problemen anzusiedeln.

Auf den Naturforscherversammlungen wurden die neuen Ergebnisse im Rahmen der Abteilungssitzungen vorgetragen. Bald wurden sie so zahlreich, daß sie zu einer besonderen Sitzung zusammengefaßt wurden, zu denen wohl auch die Physiker eingeladen wurden, die meist schneller als die Chemiker ihr Programm erledigen konnten.

Wilhelm Hittorf, der Wiedererstandene. Eine freudige Überraschung erlebte die physiko-chemische Gemeinde auf der Nürnberger Naturforscherversammlung 1894. Es war gebräuchlich, daß zu Beginn der ersten Sitzung die Teilnehmer einer nach dem anderen aufstanden und ihren[119] Namen nannten. Denn die Namen waren natürlich viel allgemeiner bekannt, als die Gesichter, und so erfuhr man nicht nur, wer anwesend war, sondern wußte auch, an wen man sich zu wenden hatte, wenn eine besondere Angelegenheit zu besprechen war. So wurde denn auch in Nürnberg verfahren und gegen Ende des ziemlich lange dauernden Vorganges, denn die Anzahl der Chemiker war groß, erhob sich ein kleiner, etwas beleibter Herr mit glänzendem haarlosen Schädel und scharfer Brille im glatten Gesicht, der ungefähr wie ein katholischer Pfarrer von der feinen Art aussah, und sagte: Wilhelm Hittorf. Wir fuhren höchst überrascht auf und fragten uns: ist er's wirklich? Denn er war uns, da er wissenschaftlich lange geschwiegen hatte, eine zwar verehrte aber mythische Persönlichkeit geworden, von der Viele überhaupt nicht wußten, ob sie noch unter den Lebenden weilte.

Nun, er war es tatsächlich und erwies sich als ein entzückender alter Herr, der seine spät gekommene Berühmtheit mit unbefangener Freude genoß, wie ein unverhofftes Glas edlen Weines. Uns aber bereitete es ein warmes Wohlgefühl, ihm unsere Verehrung und Dankbarkeit immer wieder zum Ausdruck zu bringen.

Denn er hatte im Leben viel zu leiden gehabt, in erster Linie von seinen Fachgenossen um des Verbrechens willen, daß er vorhandene Unklarheiten und Unrichtigkeiten durch ebenso klare wie folgerichtige eigene Gedanken zu ersetzen, also zu verdrängen versucht hatte. In anderem Zusammenhange (II, 68) wurde schon erzählt, wie ich mich bemüht hatte, durch die Aufnahme seiner Arbeiten in die Klassikersammlung ihm eine späte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Auch hatte ich mit ihm brieflich verkehrt. Aber ich wußte auch, daß er durch die schnöde Verkennung seiner Arbeiten schwer gelitten hatte und sogar zeitweise gemütskrank gewesen war. So[120] hatte ich unwillkürlich angenommen, daß er als gebrochener Mann in der Verborgenheit lebe und leben wolle, und war auf das glücklichste überrascht, einen frischen Greis von blühender Gesichtsfarbe und heiterem Wesen anzutreffen, der trotz seiner 70 Jahre durchaus nicht verschmähte, auch an den geselligen Zusammenkünften teilzunehmen. Hier schloß er sich besonders an meine Frau an, die mich zur Versammlung begleitet hatte und die nicht wenig stolz auf diesen Ritter war.

In der Folge wirkte dies Erlebnis wie ein Verjüngungsbad auf Hittorf. Der Anblick der arbeitsfrohen Jugend belebte auch seine wissenschaftliche Schöpferkraft von neuem und er veröffentlichte bald darauf in der Zeitschrift seine bemerkenswerten Entdeckungen über das elektrochemische Verhalten des metallischen Chroms.

Wider das Schwungrad. Im mündlichen Verkehr dauerten indessen die Widerstände noch jahrelang fort. So wurde mir unter anderem mitgeteilt, daß der bedeutende Physiker August Kundt (I, 260), der inzwischen von Straßburg nach Berlin berufen war, seinen Schülern und Prüflingen nicht gestattete, von der neuen Lehre als einer wissenschaftlich zulässigen zu reden. Er drohte, sie durchfallen zu lassen, wenn sie von Ionen sprachen. Da unsere Begegnung in Straßburg seinerzeit in freundschaftlich-heiteren Formen verlaufen war und ich auch bei späteren zufälligen Begegnungen keine Änderung hierin empfunden hatte, benutzte ich eine Anwesenheit in Berlin, um ihn gemeinsam mit Dr. Nernst zu besuchen und eine Aussprache über diese Fragen herbeizuführen. Es stellte sich heraus, daß er besonderen Anstoß an meiner Darlegung genommen hatte, daß in einem positiv geladenen Elektrolyt ein Überschuß an positiv geladenen Ionen, z.B. Wasserstoffionen bei einer Säure, vorhanden sei. Er hielt dies für unmöglich und sagte: Wenn Sie mir das experimentell nachweisen, so will ich an Ihre Sache[121] glauben. Wir kehrten noch in derselben Nacht nach Leipzig zurück, indem wir die Mittel besprachen, den Versuch anschaulich auszuführen. Am nächsten Vormittag konnten wir an Kundt telegraphieren, daß der Versuch gelungen sei. In einem gemeinsam redigierten Aufsatz: Über freie Ionen, beiläufig dem einzigen, den ich mit einem Arbeitsgenossen zusammen veröffentlicht habe, beschrieben wir unter anderem den Versuch und entwickelten die nächsten Schlußfolgerungen daraus.

Kundt aber hat sich auch durch diese schnelle Erfüllung seiner Forderung nicht überzeugen lassen und ist bis zu seinem Ende ein Gegner der neuen Lehre geblieben, wie sie denn überhaupt in der Berliner Luft am wenigsten gedeihen wollte.

Es war also mit dieser Wette ebenso gegangen, wie mit jener Wette wegen des Abschlußexamens (I, 110): ich gewann sie zwar glänzend, aber der Gegner drückte sich darum, den Einsatz zu zahlen. Auch diesmal bestand ich nicht darauf, denn ich wußte, daß ich wieder den Hauptgewinn von der Sache davongetragen hatte.

Selbstverständlich wurde hernach die Sache selbst für wertlos erklärt. Es ist ja einfach eine gewöhnliche Elektrolyse, sagte man, denn es macht keinen Unterschied, ob man dafür statische Elektrizität in Bewegung setzt, oder einen gewöhnlichen Strom anwendet. Hier ist, wie meist in solchen Fällen, der ursprüngliche Gesichtspunkt vom Gegner willkürlich verschoben worden. Es war eben die Frage, ob auch die kleinen Elektrizitätsmengen, welche statisch betätigt werden, nur unter gleichzeitiger Ionenbewegung möglich sind, oder nicht. Bekanntlich hatte Faraday selbst noch angenommen, daß bei den Elektrolyten neben der durch die Ionen erfolgenden Leitung noch ein kleiner Anteil »metallischer« Leitung ohne Ionenbewegung vorhanden sei. Ich hatte die Notwendigkeit, freie Ionen in den Elektrolyten anzunehmen,[122] durch den folgenden regelrechten Syllogismus begründet:

Die Elektrizität bewegt sich frei in den Elektrolyten.

Die Elektrizität bewegt sich in den Elektrolyten nur mit den Ionen.

Folglich bewegen sich die Ionen frei in den Elektrolyten,

doch hatten die Gegner die Bündigkeit des Schlusses durch den Hinweis auf die »metallische« Leitung zu stören gesucht. Gegen diesen Einwand war jener Versuch gerichtet, und er wurde endgültig durch ihn widerlegt.

Göttingen. Die erste deutsche Universität nach Leipzig, welche der neuen Wissenschaft ein Heim bereitete, war Göttingen. Um 1890 war mein bisheriger Assistent W. Nernst dorthin übergesiedelt, hatte sich habilitiert und erhielt bald einen Lehrauftrag für physikalische Chemie. Um die Angelegenheit zu fördern, wurde ich eingeladen, sie persönlich an Ort und Stelle zu besprechen, was ich sehr gerne tat. Warnungen von befreundeter Seite, daß ich mir doch nicht selbst eine Konkurrenz bereiten solle, verlachte ich. Mir war die Aussicht, zur Ausbreitung meiner Wissenschaft etwas tun zu können, so wichtig, daß mir andere Erwägungen gar nicht in den Sinn kamen. Auch konnte ich mit den Erfolgen einer Politik des freien und rückhaltlosen Zusammenwirkens, die ich im Falle Arrhenius (I, 217) durchgeführt hatte, so zufrieden sein, daß ich keinen Grund sah, eine andere zu verfolgen.

Die Zusammenkunft verlief nach Wunsch und ergab den Beschluß, ein eigenes Institut für physikalische Chemie unter W. Nernsts Leitung zu errichten. Ich lernte bei dieser Gelegenheit den vielberufenen Leiter des preußischen Universitätswesens Althoff kennen und gewann eine Anschauung von der Energie und Weitsichtigkeit, mit der er die vielverzweigten Aufgaben seines Amtes verwaltete.[123] Daß er dabei gegen die Professoren oft rücksichtslos verfuhr, kann für ihn kein Vorwurf sein. Denn seine Tätigkeit ließ gerade die unerfreulichsten Seiten dieses mannigfaltigen Geschlechts: Neid, Engsinn, Habsucht wo sie vorhanden waren gleichsam optisch vergrößert erkennen.

Die weitere Entwicklung der physikalischen Chemie fand in Deutschland weiterhin zunächst einseitig statt, indem ein Teilgebiet, die Elektrochemie, durch das Auftreten starker technisch-wirtschaftlicher Interessen eine bevorzugte Pflege erfuhr. Diese Angelegenheit wird später in einem besonderen Kapitel behandelt werden. Hier sei nur noch bemerkt, daß auch die anderen Universitäten früher oder später sich die neue Wissenschaft angliederten, so daß sie gegenwärtig überall vertreten ist. Am längsten hatte München gezögert, wo A.v. Baeyer keine anderen Götter neben sich duldete.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 110-124.
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