Siebzehntes Kapitel.
Frei!

[430] Zur Biologie der Forschertätigkeit. An früherer Stelle (II, 255) habe ich den natürlichen und notwendigen Vorgang beschrieben, durch welchen Mutter und Kind, die anfangs eine Einheit gebildet hatten, sich mehr und mehr trennen, indem das Kind sein eigenes Leben beginnt, so daß sie schließlich einander fremd werden. Der Vorgang ist nicht nur für das Kind nützlich und notwendig, sondern auch für die Mutter, die sonst nicht imstande sein würde, eine neue Brut zur Welt zu bringen und groß zu ziehen.

Es hängt von der Art und Beschaffenheit des Lebewesens ab, welche Zeit für den Ablauf einer solchen regelmäßigen Periode erforderlich ist. Während die Liebe und Sorgfalt einer Katzenmutter nicht über drei Monate anzudauern pflegt, gibt es andere Tiermütter, welche ihren Kindern einige Jahre widmen. Dies hängt im allgemeinen von der Größe ab, mit welcher jene Periode länger oder kürzer wird; daneben auch von der allgemeinen Lebhaftigkeit der Lebensäußerungen in solchem Sinne, daß lebhaftere oder mit größerer Reaktionsgeschwindigkeit begabte Wesen die Erziehungsaufgabe schneller erledigen, als solche von phlegmatischem Naturell. Und zwar ist sowohl das Naturell der Mutter wie das des Kindes maßgebend; da aber beide aus naheliegenden Gründen nur[431] wenig verschieden zu sein pflegen, kommen sie einzeln nicht besonders zur Geltung, außer in Sonderfällen.

Man kann diese Betrachtungen unmittelbar auf das Verhältnis des wissenschaftlich schöpferischen Menschen zu seinen Erzeugnissen anwenden. Sanguinisch veranlagte Forscher mit großer Reaktionsgeschwindigkeit, wie ich sie als solche von romantischen Typus beschrieben habe, pflegen den Erzeugnissen ihres Geistes keine langdauernde Erziehungssorge zu widmen. Denn einerseits bringen sie sie meist in solcher Gestalt zur Welt, daß sie bald ein selbständiges Dasein gewinnen, indem ihre Bearbeitung mit Für und Wider von anderen übernommen wird. Andererseits tragen sie sich so bald mit neuen Gedanken und Entdeckungen, daß sie notwendig die alten abstoßen müssen, um für die neuen Raum zu schaffen. Die Forscher vom klassischen Typus dagegen tragen ihre Jungen wie die Elephanten lange, ehe sie sie zur Welt bringen, und können sich auch nach Jahr und Tag nicht entschließen, sie sich selbst zu überlassen. Sie wenden ihre Energien lieber dazu an, ihr Erzeugnis immer erneuten Prüfungen, Verbesserungen, Ausgestaltungen zu unterziehen. Helmholtz, der ein ausgeprägter Klassiker war, konnte sich nur schwer entschließen, eine Abhandlung zu beenden und zur Veröffentlichung bereit zu machen. Er gibt ausdrücklich an, daß er kaum eine Schrift abgeschickt hätte, ohne bereits am nächsten Tage einiger Stellen sich zu erinnern, wo er sich genauer oder besser hatte ausdrücken können und sollen.

Während aber die normalen Abkömmlinge der Lebewesen so ähnlich ausfallen, daß jener Vorgang immer annähernd gleiche Zeit kostet, sind die geistigen Erzeugnisse von sehr verschiedener Beschaffenheit und die Pflege, welche sie fordern oder erhalten, kann sich von Tagen und Wochen bis über die ganze Lebenszeit des Erzeugers erstrecken. Letztere ist sogar das häufigere, denn die[432] Menschen, welche einen einzigen schöpferischen Gedanken durch ihr ganzes Leben hegen, sind verhältnismäßig häufig.

Hierbei macht sich ein Umstand erfreulich geltend, der ausnahmsweise ein gutes Zusammenstimmen dessen, was unvermeidlich oder notwendig ist, mit dem zeigt, was wünschenswert ist. Die Romantiker unter den Forschern, bei denen ein Gedanke den anderen verdrängt, sind meist, namentlich in jüngeren Jahren, wo diese Überproduktion besonders groß ist, hervorragend gute Lehrer. Sie bilden dadurch Mitarbeiter in großer Zahl aus, denen sie ihre Gedanken anvertrauen können, so daß diese dort alsbald sachgemäße Pflege finden. Die Klassiker sind dagegen nur selten gute Lehrer; nicht, weil sie es nicht können, sondern weil sie es nicht wollen. Hier würde es also an Pflegern der erzeugten Gedanken fehlen, wenn die Erzeuger nicht selbst die Pflege übernähmen. So ist alles wohl geordnet.

Belege. Das Gesagte wird durch einige Beispiele deutlicher werden.

In einem Briefe aus seinen späteren Jahren an seinen Schüler und Freund Wöhler erzählt Berzelius von den Schwierigkeiten, eine freigewordene Professur für Chemie an einer schwedischen Universität zu besetzen, weil kein geeigneter Kandidat im Lande vorhanden war. Es stellte sich also die fast unglaubliche Tatsache heraus, daß dasselbe Land, welchem Berzelius durch ein Menschenalter die chemische Hegemonie in der ganzen Welt gesichert hatte, in dem gleichen Fach nicht einmal so viel chemischen Nachwuchs besaß, daß der eigene Bedarf an Lehrern befriedigt werden konnte.

Die Ursache war, daß Berzelius als Forscher zu den Klassikern gehörte, jenen genialen Menschen mit kleiner Reaktionsgeschwindigkeit, die zwar ausgezeichnete Werke reifen lassen, aber die Fähigkeit oder Neigung[433] nicht besitzen, die gleiche Eigenschaft in anderen zu entwickeln. Zwar hat Berzelius eine Anzahl Schüler gehabt, vorwiegend Deutsche. Diese waren aber alle als entwickelte Chemiker zu ihm gekommen, um sich von ihm in die besonderen Verfahren einführen zu lassen, welche er so erfolgreich bei seinen eigenen Arbeiten angewendet hatte. Die äußere Stellung als Akademiker ohne Lehrverpflichtung gab ihm die Möglichkeit, die ihm nicht willkommene Unterrichtsarbeit zu vermeiden. Hätte er sie angestrebt, so wäre es ihm leicht gewesen, eine Professur zu erlangen oder eine Lehrstelle für sein Fach an der Akademie einzurichten.

Im Gegensatz zu ihm hatte der Romantiker Liebig außerordentliche Erfolge in der Ausbildung eines Heeres von Schülern erreicht. Nicht nur die Deutschen und Österreichischen Professuren der Chemie wurden vorwiegend mit Liebigschülern besetzt – war doch auch Carl Schmidt im fernen Dorpat ein solcher gewesen – auch weit in das Ausland hinaus erstreckte sich sein Einfluß, namentlich nach England und Amerika. Sogar im französischen Sprachgebiet übten sie einen erheblichen Einfluß aus, wie die Namen Regnault und Gerhardt erkennen lassen.

Eigene Verhältnisse. Es war also eine naturgesetzliche Notwendigkeit, daß es mir als Romantiker auch gegeben war, zahlreiche junge Mitarbeiter in meine Wissenschaft einzuführen. An früherer Stelle (II, 367) wurde die Anzahl der Professoren angegeben, die zwischen 1887 und 1904 aus der Leipziger Anstalt hervorgegangen war. Sie hat sich später insgesamt etwa verdoppelt.

Meine Assistenten regte ich stets an, sich das Recht der Vorlesung durch eine Habilitierung zu erwerben. Sie haben es auch getan und sind hernach alle Professoren, zum Teil recht berühmte geworden. Die Folge war, daß es in Leipzig stets außer meinen allgemeinen Vorlesungen[434] über physikalische Chemie noch eine Anzahl Sondervorlesungen aus dem gleichen Fach gab, die in erwünschter Weise die Ausbildung der Studenten nach bestimmte Richtungen ergänzten. Während meines Krankenurlaubs war die Hauptvorlesung von einem Stellvertreter abgehalten worden und auch später wurde mir von der Behörde einigemale gestattet, mich für diese vertreten zu lassen.

Ein Zwischenfall. Im Jahre 1904 starb Johannes Wislicenus. Sein Leben, das nach einer schwierigen Jugend erfreulich, ja glanzvoll verlaufen war, ging trüb aus. Seine Frau, die ihm fünf Kinder geboren hatte, war schwer erkrankt und mußte, da sie dauernd trübsinnig und teilnahmlos blieb, in einer Anstalt untergebracht werden. Von den Kindern, die damals schon erwachsen waren und vom Vater die kräftige Gestalt geerbt hatten, ging einige Jahre nachdem ich nach Leipzig gekommen war, ein Sohn freiwillig in den Tod. Bei der zweiten Tochter, die unverheiratet blieb und ihm das Hauswesen führte, machte sich das trübe Erbe der Mutter geltend. Dazu kamen wissenschaftliche Streitigkeiten peinlicher Art, bei welchen er den Kürzeren zog. Auch gesundheitlich hatte er Grund zu klagen. Das Alter machte sich bei ihm vor der Zeit geltend; er war noch nicht 70 Jahre alt und sein mächtiger Körperbau schien ihm einen rüstigen Lebensabend zu sichern. Aber rheumatische und gichtische Schmerzen beeinträchtigten seine Bewegung, während sein schwerer Körper sie wünschenswert, ja notwendig machte. Obwohl er Naturforscher war und sogar gelegentlich einen experimentellen Ausflug in das Gebiet der Physiologie gemacht hatte, lag ihm die Anwendung der physiologischen Gesetze auf seinen eigenen Zustand fern. Von seinem Vater, der freisinniger Geistlicher in Halle gewesen war und unter der klerikalen Regierung des damaligen Preußen nach Amerika hatte flüchten[435] müssen, um einer Gefängnisstrafe für die Veröffentlichung seiner Ansichten zu entgehen, hatte er anscheinend jene starre, äußerliche Form des Pflichtgefühls geerbt, welche auf naturgegebene Verhältnisse keine Rücksicht nimmt. Statt sich einer angemessenen gründlichen Kur zu unterziehen und so seine Arbeitsfähigkeit dauernd zu erhalten, wenn auch auf Kosten eines dazu verwendeten halben oder ganzen Semesters, lehnte er jedes Ausruhen ab, erschöpfte seinen kranken Körper vollständig und starb plötzlich mitten in seiner Lehrtätigkeit.

Die Erlebnisse seines Vaters, wobei er als junger Mann für die Erhaltung der Familie hatte sorgen müssen, hatten ihn in einen Gegensatz zu dem konfessionellen Kirchentum gebracht. Er bekannte sich als Dissident, betätigte sich aber so wenig nach außen in solchem Sinne, daß er in dem ziemlich klerikal gefärbten Würzburg nicht nur ein großes wissenschaftliches Ansehen genoß, sondern auch eine so hohe persönliche Achtung, daß man ihn zum Jubelrektor für eine Jahrhundertfeier der dortigen Universität wählte, obwohl er schon ein Jahr vorher das Rektorat bekleidet hatte. Auch in Leipzig hielt er sich in dieser Beziehung zurück. Nur hatte er aus dem Hörsaal seiner Anstalt den Bibelspruch entfernen lassen, welchen sein Vorgänger Kolbe angebracht hatte: Gott hat alles nach Maß und Zahl geordnet. Aber dies wurde als große Kühnheit angesehen und von den vielen Anhängern der orthodoxen Lehre als eine »Taktlosigkeit« getadelt.

Denn in der theologischen Fakultät und weit über diese hinaus regierte damals mit schwerer Faust (man sieht ihn so in einer Büste dargestellt, die man im Leipziger Kunstmuseum betrachten kann) der orthodoxe Professor Luthardt. Wie jeder Druck Gegendruck erzeugt, so hielt man sich durch Geschichten schadlos, welche sein Wesen nach anderer Seite kennzeichnen sollten. Unter anderem wurde erzählt, wie er eines Vormittags einen[436] kleinen und dürren Kandidaten der Theologie empfing, der seinen Abschiedsbesuch machte. Mein lieber Sohn, sagte er ihm zuletzt mit gerührter Stimme, vergessen Sie nie, daß Sie einem schweren und entsagungsreichen Beruf entgegengehen.« Er hatte nicht gesehen, daß gleichzeitig das Stubenmädchen ein Tablett mit seinem gewohnten Frühstück hereingestellt hatte: ein großes Glas Süßwein und vier Kaviarsemmeln.

In Wislicenus, Todesjahr war der Jurist E. Wach Rektor, der persönlich gleichfalls konfessionell gesinnt war. Obwohl sonst der regelmäßige Gebrauch bestand, die verstorbenen Professoren von der Universitätskirche aus zu beerdigen – auch mit dem katholischen Juristen Windscheid war es geschehen, nachdem in aller Stille die protestantische Kirche von einem katholischen Geistlichen nach seinem Ritus umgeweiht war – hielt der Rektor es nicht für möglich, den Sarg des dissidenten Professors in die Universitätskirche hinein zu lassen, der bei Lebzeiten alle Ehren genossen hatte, die ein Professor empfangen kann. Die Aufbahrung erfolgte deshalb im Hörsaal des Ersten chemischen Laboratoriums, wo auch die Trauerfeierlichkeiten stattfanden.

Als nächster wissenschaftlicher Kollege war ich gewählt worden, um dem Forscher und Lehrer den reich verdienten Dank der Kollegen und Schüler nachzurufen. Ich tat es mit all der Wärme, die ich in den ersten Jahren unserer gemeinsamen Tätigkeit ihm gegenüber empfunden hatte. Den ungewöhnlichen Umstand, daß er nicht von der üblichen Stätte aus auf den letzten Weg getragen wurde, sondern von dem Orte seiner Arbeit, pries ich als unwillkürliche Anerkennung seines unerschütterlichen Pflichtgefühls im Berufe, der ihm zur besonderen Auszeichnung gereichte, wenn auch engherziger Glaubenseifer ihm die gebräuchliche feierliche Stelle verschlossen hatte. Da ich es für möglich hielt, daß diese Äußerung Bedenken erregen[437] würde, hatte ich meine Rede schriftlich aufgesetzt, an der fraglichen Stelle das Blatt vor die Augen genommen und den Wortlaut sichtbar abgelesen. Die Trauergemeinde nahm den Satz mit hörbarer Stille entgegen.

Die nächsten Tage vergingen ohne Zeichen einer Gegenwirkung, obwohl die Sache lebhaft besprochen wurde. Dann aber erschien in einer Tageszeitung ein Bericht über jenen Vorgang, in dem meine Worte gröblich entstellt waren. Als Verfasser erwies sich ein Leipziger Kollege aus der theologischen Fakultät, dem auch sonst die Unsicherheit seines Gedächtnisses Schwierigkeiten bereitet hat. Ich antwortete an derselben Stelle, indem ich den richtigen Wortlaut angab und mir das Recht zusprach, ihn auf den vorliegenden Fall anzuwenden. Unmittelbar nach dem Erscheinen der Antwort ersuchte mich der Rektor um eine Unterredung, in der er den Standpunkt vertrat, daß die konfessionelle Beschaffenheit der Universitätskirche die Zulassung der Leiche eines Dissidenten vollkommen unmöglich gemacht habe. Ich machte dagegen geltend, daß die Leipziger Universität keine konfessionelle Anstalt ist und ihre Einrichtungen daher allen ihren Mitgliedern in gleicher Weise offenstehen müssen. Die Verhandlung vollzog sich in der besten Form. Dann wurde jener theologische Kollege gemeldet und der Rektor nahm uns das Versprechen ab, den öffentlichen Streit nicht fortzusetzen, wozu wir uns auch beide verpflichteten. Trotzdem erschien nach einigen Tagen in der Zeitung eine neue Streitschrift des Theologen Als ihm sein Versprechen vorgehalten wurde, erklärte er, er hätte damals die Schrift schon entworfen gehabt, und hätte das Versprechen »selbstverständlich« nicht auf diesen Entwurf bezogen. Ich aber habe mein Versprechen trotzdem gehalten.

Seitdem ist mir noch mehrfach bei Geistlichen eine ähnliche Unbefangenheit gegenüber den sonst üblichen[438] moralischen Bindungen aufgefallen. Es scheint, daß nicht ganz selten, wenn auch nicht in der Regel, das Gefühl, die Moral unter persönlicher Verwaltung zu haben, eine unterbewußte Vorstellung auslöst, als seien deren Vorschriften zwar für die anderen bindend, nicht aber für den Verwalter, der sie gleichsam in seiner Gewalt hat. Wie jedem Beruf seine besonderen Krankheiten und Gefahren eigen sind, so dürfte es sich auch hier um eine besondere Berufsgefahr oder Berufskrankheit beim Priester handeln.

Für mich hatten diese Vorgänge die Wirkung, daß die Kluft zwischen mir und den Kollegen aus den »Geisteswissenschaften« sich merklich vergrößerte, unter Wiederholung und Steigerung des Vorwurfes mangelnder »Kollegialität«. Darunter verstanden sie eine sorgsame Rücksichtnahme auf ihre Gefühle und Meinungen. Ein gleiches Verhalten ihrerseits meinen Gefühlen und Meinungen gegenüber wurde nicht in Betracht gezogen, offenbar weil diese von den üblichen abwichen.

Selbstkritik. In den vorangegangenen Kapiteln habe ich einige von den neuen Aufgaben geschildert, sie sich mir organisch aus meiner Arbeit an der physikalischen Chemie entwickelt hatten und nun zunehmend meine Energie in Anspruch nahmen. Auch wenn ich heute unter Berücksichtigung alles inzwischen Erlebten zu beurteilen versuche, ob die Verfolgung dieser neuen Bahnen mich von den allgemeinen und persönlichen Idealen entfernt hat, in denen ich von Jugend her meinen Lebensinhalt gesucht habe, so kann ich nur sagen, daß das nicht der Fall gewesen ist. Mein Leben ist nicht nur viel reicher geblieben, als es beim Festhalten an den alten Aufgaben geworden wäre, sondern auch wirksamer im besten Sinne. Ich darf nicht sagen, daß ich nicht dabei mancherlei Fehler und Dummheiten gemacht habe, die ich nachträglich lieber aus meinem Leben wegdenken dürfen[439] möchte. Aber ich fürchte, daß dies auch beim Einhalten der alten Bahnen nicht viel anders ausgefallen wäre.

Es ist übrigens hinzuzufügen, daß ich keineswegs alles erzählt habe, was ich von solchen Sondergedanken und -arbeiten gehabt und getrieben habe, sondern nur das Wichtigste. Manches hiervon wird vielleicht später bei passender Veranlassung Erwähnung finden. Auch dann wird sich zeigen, daß alle diese Allotria in unmittelbarem Zusammenhange mit den leitenden Fäden meiner Gesamtarbeit stehen. Ich finde mit anderen Worten nichts Sprunghaftes in allen diesen Betätigungen und Zufälliges nur insofern, als nicht selten äußere Anlässe Ursache gaben, unter den vielfältigen Problemen, die mich fortwährend beschäftigten und deren mögliche Lösung ich vor mir sah, dies oder jenes zunächst vorzunehmen.

Die Vorlesung. Zu den guten Dingen, an denen ich nach meiner Erkrankung die Freude verloren hatte, gehörte auch die Vorlesung. Daß ich früher recht wirksame Kollegien gelesen hatte, bezeugten mir meine Zuhörer in Riga (I, 169) und die wachsenden Belegzahlen in Leipzig, die zufolge eines ausgiebig benutzten Gewohnheitsrechtes zum »Nassauern« nur einen Bruchteil der vorhandenen Hörer darstellten. Auch hatte mir das Wort dabei niemals Schwierigkeiten gemacht, so daß mich die Vorbereitungen für die Vorlesung nie lange aufhielten. Ich schreibe gerade dem Umstande, daß sich Form und Inhalt meiner Vorträge sichtbar unter den Augen der Zuhörer gestaltete, den größten Teil ihrer Wirkung zu. Denn einen Zeugungsvorgang sich vollziehen zu sehen, regt jeden Zeugen auf und an.

Nur eine Schwierigkeit störte mich zuweilen. Wenn ich längere mathematische Ableitungen an der Tafel zu entwickeln hatte, verlor ich leicht den Faden und konnte mich nur langsam auf den nächsten Schritt besinnen, der zu tun war. Es war dies eine eigentümliche Art von[440] zeitweiliger geistiger Blindheit, deren Ursache ich nicht habe entdecken können. Daß sie nicht auf mangelndem Verstehen fremder Gedanken beruhte, konnte ich daran erkennen, daß sie auch bei Ableitungen eintrat, die ich selbst entdeckt oder erfunden hatte, die ich also durch und durch kannte. Auch trat sie nicht auf, wenn ich die gleiche Sache im Gespräch einem oder einigen Schülern erklärte, sondern sie war an die Handhabung von Tafel und Kreide gebunden. Am meisten litt ich darunter, wenn ich durch Überanstrengung irgendwelcher Art erschöpft war. Da solche Zustände in der Zeit, von der eben die Rede ist, häufig waren, so wurde mir die Vorlesung, die ich sonst sehr gern abhielt, zunehmend durch solche peinliche Störungen verleidet.

Die Explosion. Während des Wintersemesters 1904/05 hatte ich wiederholt unter den eben beschriebenen Erscheinungen gelitten und hatte deshalb beim Ministerium ein Gesuch eingereicht, mich für das bevorstehende Sommersemester von der Verpflichtung zur Abhaltung der Hauptvorlesung zu entbinden. Eine Lücke im Unterricht war nicht zu befürchten, denn im laufenden Semester wurden nicht weniger als acht Vorlesungen über verschiedene Gebiete der physikalischen Chemie gelesen und für das kommende stand eine gleiche Mannigfaltigkeit des Angebots bevor. Das Ministerium schickte das Gesuch zur Begutachtung an die Fakultät. Ich hatte bisher nie erlebt, daß in solchen Fällen irgendwelche Erörterungen entstanden; man pflegte diese Anfragen als rein formal zu betrachten und zustimmend zu erledigen.

Als indessen in Abwicklung der laufenden Fakultätsgeschäfte die Anfrage des Ministeriums vorgelegt wurde, machte sich ein Widerspruch geltend, der anfangs zurückhaltend vorgebracht, unter zunehmender Beteiligung neuer Sprecher immer heftiger wurde und schließlich zu einer solchen Flut von Vorwürfen und Anklagen gegen[441] mich anwuchs, daß ich auf das Höchste erstaunt war. Besonders besorgt um das Wohl meiner Schüler, welche sie durch den Ausfall der Vorlesungen auf das schwerste bedroht erachteten, waren die Vertreter der philologischen und historischen Fächer, also jene Kollegen, welche von der Sache selbst wie von dem besonderen Unterrichtsbetrieb meines Faches am wenigsten wußten. Sie schlossen von der Art ihrer eigenen Betätigung, die in der Vorlesung allerdings ihren Schwerpunkt hatte, ohne weiteres auf die der meinigen, ohne zu wissen oder zu beachten, daß in meinem Fache der Schwerpunkt im Laboratorium lag, dem ich mich keineswegs entziehen wollte.

Als psychologisches Motiv all dieser Ergüsse stellte sich allmählich immer deutlicher folgendes heraus. Man fand, daß die Art und der Umfang meiner Tätigkeit nicht in den Rahmen des Universitätsprofessors paßte und wollte sich mit aller Macht dem widersetzen, daß mir eine Sonderstellung unter den Kollegen geschaffen oder zugebilligt wurde. Kurze Zeit vorher hatte ein einflußreiches Mitglied der Fakultät ein Gespräch mit mir gesucht, um mir darzulegen, daß ich nach seiner Ansicht eine Stellung anstrebe, derzufolge die anderen zu Professoren zweiter Klasse herabgedrückt würden. Ich erklärte, daß mir solche Rangbetrachtungen ganz fern lagen; war aber unbedacht genug, hinzuzufügen: »Es gibt ja auch unter uns sogar Professoren dritter Klasse.« Tatsächlich hatte ich nicht den geringsten Ehrgeiz, irgendeine besondere Rolle unter den Leipziger Kollegen zu spielen, denn meine Arbeiten und Bestrebungen hatten mich weit über diesen Kreis hinausgeführt. Und es wird wohl auf der anderen Seite die Empfindung dieser inneren Trennung gewesen sein, welche mir als ungehörige Anmaßung ausgelegt und in dieser persönlich feindseligen Weise vergolten wurde.

Die geringe Festigkeit meines persönlichen Verhältnisses zur Fakultät war weitgehend dadurch bedingt,[442] daß grundsätzlich alle Angelegenheiten, welche die Institute betrafen, nicht durch die Fakultät gingen, sondern unmittelbar zwischen dem Ministerium und dem Institutsleiter verhandelt wurden. Das Vorlesungswesen im engeren Sinne wurde dagegen als Fakultätssache behandelt. Da in meiner Lehrtätigkeit die Vorlesungen nur einen kleinen und weniger wichtigen Teil ausmachten, während die Ausgestaltung des Laboratoriumsunterrichts aus kleinen Anfängen zu dem umfangreichen Gebilde, welches er zuletzt darstellte, immer neue Anträge und Verhandlungen beim Ministerium erfordert hatte, so entstand ganz selbsttätig bei mir ein starkes Verantwortungsgefühl gegenüber diesem, während sich mangels Wechselwirkung gegenüber der Fakultät ein gleiches nicht hatte ausbilden können.

Eine große Beruhigung, ja Erhebung gewährte mir die Haltung meiner nächsten Kollegen, der Physiker Wiener und Des Coudres und des Chemikers Beckmann. Sie traten mit allem Nachdruck für mich ein, konnten aber dem allgemeinen Sturm nicht widerstehen. Die Mehrheit der Fakultät beschloß ein Gutachten gegen die Bewilligung des Gesuches. Doch erwies es sich als unwirksam, denn das Ministerium gewährte mir die nachgesuchte Enthebung von der Hauptvorlesung für das kommende Semester.

Die Fakultätssitzung, in welcher diese ungewöhnliche Verhandlung stattgefunden hatte, war und blieb die letzte, welche ich besucht habe. Ich reichte alsbald bei der vorgesetzten Behörde mein Entlassungsgesuch ein und betrachtete mich als ausgeschieden, wenn ich auch natürlich meinen Amtspflichten unverändert nachkam, bis der formelle Abschied erfolgte. Ich sagte mir, daß ich zwar nicht verhindern konnte, daß mir derartiges einmal geschah, wohl aber, daß es mir zum zweitenmal geschehen könne.[443]

Die oben genannten Fachgenossen und Freunde bemühten sich lange und eifrig, meinen Entschluß rückgängig zu machen. Mir bedeutete das Aufgeben der Professur aber keinen Verlust, sondern die Erfüllung eines lange gehegten Wunsches, die durch jenes Ereignis nur beschleunigt worden war. Ich erinnere mich noch lebhaft des unwilligen Erstaunens, als ich ein mal im Kreise der Kollegen erklärte, daß ich durchaus nicht willens sei, mein Leben als Professor zu beschließen; ein Dasein als freier Forscher sei mein praktisches Ideal, das ich früher oder später zu verwirklichen gedenke. »Unsere Gesellschaft ist Ihnen anscheinend nicht gut genug« war die empfindliche Gegenbemerkung und meine Darlegung, daß der von mir angestrebte Zustand mir ja keinerlei andere Gesellschaftskreise auftun würde, machte die Sache nicht besser, eher schlechter.

Auch Wundt und andere von mir hochgeschätzte Kollegen bemühten sich vielfach darum, daß ich bei der Universität bleiben und zu diesem Zwecke meine Bedingungen angeben möchte. Ich machte schließlich das Zugeständnis, das Entlassungsgesuch zurückzuziehen zu wollen, wenn man mich vom Zwang der Vorlesungen in der Gestalt befreien würde, daß es mir freistehe, ob und in welchem Umfange ich welche halten wolle. Allen anderen Lehrverpflichtungen wollte ich nach wie vor genügen. Zu meiner großen Befriedigung ging die Fakultät nicht darauf ein, so daß das Entlassungsgesuch in Kraft blieb.

Diese Ereignisse fanden im Februar und März 1905 statt. Gewissermaßen als Antwort auf die geringe Einschätzung meiner Verdienste um die Leipziger Universität, welche ich in dem mir anvertrauten Fache binnen kurzer Frist zur ersten der Welt gemacht hatte, ging wenige Wochen später durch die Deutsche Tagespresse die Nachricht, daß gelegentlich des soeben von Kaiser Wilhelm II.[444] begründeten Professorenaustausches zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten von Nordamerika, als erster Deutscher Gelehrter, welcher unsere Wissenschaft drüben vertreten sollte, Wilhelm Ostwald, Professor der Physikalischen Chemie in Leipzig, gewählt worden war.

Mir erschien dies als eine Bestätigung der Erkenntnis, daß die mir unmittelbar bevorstehenden Aufgaben einen weiteren Rahmen nötig machten, als ihn mir die Leipziger Professur gewährte.

Quelle:
Ostwald, Wilhelm: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. Berlin 1926/1927, S. 430-445.
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