Mein Vater

Auf meinem Schreibtisch steht ein Bild: ein Löwenkopf. Eine wallende, den Nacken deckende Mähne. Ein trauerndes, gleichsam nach der Heimat sinnendes Auge. Wehmut in den verwitterten Zügen. Die Ähnlichkeit meines Vaters in seinen späteren Jahren mit dem Haupt eines Löwen – er stand im 85. Jahre als er 1907 verschied – war auffällig. An dem Sofa meines Sprechzimmers befinden sich gepolsterte Lehnen, deren vordere Enden zwei schön in Holz geschnitzte Löwenköpfe tragen. Als uns eine dreijährige Enkelin meines Vaters einst besuchte, sie wohnte in Stettin im Hause meines Vaters, nahm sie nach echter Kinderart zunächst einmal eine Generalinspektion meines gesamten Wohnungsinventars vor. Als sie vor einem der Löwenköpfe die Beinchen spreizte, hob sie erstaunt die Hände, streichelte den einen und sagte mit rührender Zärtlichkeit: »Opapa!«

Meinen Vater in seinen jüngeren Jahren rekognoszierte jeder Stettiner daran, daß sein weißes Halstuch den Wald seiner Nackenhaare in zwei Hälften trennte, denn am unteren Rande des locker geschlungenen Tuches quollen die dunklen Wellen hervor. Nicht nur diese Mähne war löwenhaft, auch die tief nachdenklichen, gleichsam plastisch enorm durchgearbeiteten, nicht gerade seinen Züge, die ein wenig starke und massige Nase, der ebenfalls breite und volle Mund mit den im Alter schmal gewordenen Lippen, vor allem aber der Ausdruck der tieffaltenumrahmten Augen, eine gewisse Trauer über »diese Tränenwelt!« im Blick, schwere Strahlenfurchen, die sich von der Stirn auf die Nasenwurzel senkten, die grollenden Querrunzeln über den buschigen Brauen und der schöne, wie eine prometheische[53] Flamme von der Kuppe einer mächtigen Stirn emporlechzende Mähnenansatz gaben dem ehrfurchtgebietenden Kopf, zumal im Greisenalter, eine eigenartige Gewalt. Und doch ein weiches, wie ein Lied summendes Mitleidsherz war in ihm; ein alles verstehendes und verzeihendes Licht leuchtete aus den warmen blaugrauen Augen, die so majestätisch grollen konnten.

Meine ersten Erinnerungen an meinen Vater knüpfen sich, wie wohl die aller Kinder, an das Paradies der Spielzeugwelt. So sehe ich einen großen, schlanken Mann mit viel schwarzem Haar mir ein Kamel aus gepreßter gelber Pappe in das Krankenbett legen und sich streichelnd über mich herabbeugen. Mich selbst aber sehe ich noch strampelnd, heulend in den Zimmern auf und ab laufen, die Peitsche für meine acht (!) gezäumten und geschirrten Pferdchen auf Rollen in der Hand, tief verzweifelnd, weil an der Reihe der Stühle, welche meine Galakutsche ausmachten, vorn an dem rechten die lederne Peitschenhülse fehlte, die ich auf den Bock Hildebrands, dem Kutscher meines Vaters, zu höchst bewundert hatte. Wie ich später erfuhr, war inzwischen mein guter Vater die ganze Stadt abgefahren, um ein fertiges »Peitschenloch«, wie ich die heißbegehrte Herrlichkeit benannt haben soll, bei einem Sattler, Spielwarenhändler oder in einem Fuhrgeschäft aufzutreiben. Umsonst! Die vielstündige Frist, die auf der Suche nach dieser von Leder umhüllten Handvoll Luft verging, mußte ich ausfüllen mit Paroxysmen von Geplärr, welche das ganze Haus in Aufregung versetzten, bis auch meiner guten Mutter Tränen flossen. Endlich erschien der Retter, der den ganzen Vormittag ärztliche Praxis Praxis sein ließ und schwang in der Tür das heißersehnte Symbol meiner Kutscherwürde. Wollte ich doch durchaus einmal Kutscher werden, wenn irgend möglich mit einem ebenso verkümmerten rechten Daumen, wie ihn der eben erwähnte Hildebrand, mein Ideal, besaß. Meine Mutter hat mir erzählt, daß in dieser Zeit mein Vater fast täglich eine neue Peitsche von seiner Patientenrundfahrt für mich mitbrachte,[54] weil ich kleiner Lümmel in kindlicher Zerstörungswut jeden Tag eine schöne Galapeitsche verkonsumierte. Hätte doch mein allzu sehr auf meine Freuden bedachter Vater die Peitsche gegen mich selbst bis zum Knicken verwandt! Übrigens besitze ich noch ein sehr drolliges Bild von mir aus dieser Zeit, ein rundliches Kerlchen in schottischem Kittel, ein diktatorisch die Riesen-Equipagenpeitsche auf den Boden stemmender kleiner Rosselenker. Noch auf ein anderes Beispiel der unglaublichen Güte meines Vaters kann ich mich besinnen. Es war Weihnachten. Für meinen Bruder und mich war ein großer Löwe aus Papiermaché mit Uhrmechanismus der Clou der Gaben. Der Löwe, fast so groß wie ein Pudel, konnte aufgezogen mit höchst schauderhaftem Gebrüll die Zimmer durchlaufen. Nur vor den Türschwellen hemmte er meist den starren Wüstengalopp. Was lag näher für unsere Kinderphantasien, als eine Löwenjagd, die denn auch auf mein Anstiften mit allem Raffinement des Anschleichens von der bedrängten Enge unter dem Sofa inszeniert wurde. Die Bewaffnung bestand in Bratenmesser und -gabel, die wir heimlich Mutters Büfett entnommen hatten, auch sicherte uns eine große hölzerne Reibkeule gegen etwaige Ungemütlichkeiten des Löwentieres. Er brüllte und kam wie auf Kommando über die glatten Dielen dahergerollt – eine Abessinierpfiff – und wir waren heldenhaft über ihm mit Keule, Langmesser und Gabel! Er verstummte jäh und fiel; tiefe, schwere Wunden klafften in den Weichen. Wir beschlossen die sofortige Obduktion und wühlten gerade in seinen Eingeweiden, als die Tür aufging und mein Vater staunend sah, was wir angerichtet. Dann sagte er tieftraurig: »Und das arme Tier hat 30 Taler gekostet.« Ein Paar tüchtige Katzenköpfe waren die einzige Strafe. Dann erkundeten wir alle drei auf Vaters Betreiben, um wenigstens den Unglücksfall auszunutzen, die Physiologie der Bewegung der Bestien und des Löwengebrülls. Wie gut wäre uns beiden Rangen wahrscheinlich eine viel exemplarischere Bestrafung dieses hinterlistigen Mordes bekommen! Die Achtung vor[55] Lebewesen muß einem kräftig eingebläut werden. An sich besitzt sie der Mensch nicht ausgiebig genug! Übrigens sei straf- und entrüstungsmildernd bemerkt, daß dieser Trieb zur »Aufmachung« der Spielzeuge und Apparate fast allen Knaben eignet. Ganz anders die Kleinmädchennatur, sie ist auch darin konservativer und mildherziger.

Ach! Diese Weihnachtsfeste! Die Höhe der Freude störte selbst den Schlaf. So stieg ich einst in tiefer Nacht schon lange freudenwach aus dem Bette und schlich mich in den Salon, wo unsere Herrlichkeiten aufgebaut waren, um die lieben Gaben alle im Dunkel wenigstens zu betasten. An unseren gemeinsamen Geschenktisch, auf den Zehen schleichend, angelangt und die Finger zärtlich über die Bau- und Zauberkästen, die Maschinen und Elektrisierapparate tasten lassend, hörte ich unterm Tisch hinter dem langen weißen Damasttuch ein Geraschel. Es war mein Bruder Ernst, von gleicher Sehnsucht getrieben flüsterte: »Pscht! Ich bin schon hier. Wollen Licht machen und weiterspielen!«

Mein Vater muß in der Beschaffung von sinnreichem Spielmaterial ein mächtiges Erziehungsmittel erblickt haben. Er hat mich mit allen Erzeugnissen dieser Industrie für Entwicklung der Knabenphantasie geradezu überschüttet. Zauberkasten, mehrere große Kindertheater nebst unzähligen selbst ausschneidbaren Kulissenbögen und Figuren aller großen Begebenheiten, singende Kreisel, Dampfschiffe, Elektrisierapparate und ganze Armeen von Zinnsoldaten waren unser. Und mein Vater, der sich selbst wohl etwas vom Spieltrieb eines Kindes glücklich bewahrt hatte, hockte mit uns am Boden, wobei seine langen schwarzen Haare ihm oft in Strähnen über das Gesicht fielen, bastelte und machte mit ätzenden Säuren von Mutter streng verbotene Flecke in Dielen und Decken. Er rutschte mit uns, große Drachengestelle beklebend, auf und ab, aus denen allmählich wahre Riesenfalter der Luft wurden, welche von manneskopfgroßen Bindfadenknäueln auf dem großen Exerzierplatz Stettins vor dem Berliner Tor[56] hochgelassen wurden. Klinik-Friedrich, sein Faktotum aus seiner in ganz Pommern hochberühmten Augenheilanstalt, war der einzige, welcher den schwebenden Riesen, der sich nun da oben so klein ausnahm, noch vor dem Winde halten konnte. Das waren natürlich Massenausflüge auf den Drachenplatz mit Kind und Kegel! Auch wurden wir Sonntags alle sechs mit Mutter dazu in die große Doktorkutsche gepackt nach irgendeiner sumpfigen, schmetterlingsreichen Gegend im Umkreis von Stettin transportiert, wenn wir nicht Sonnabend mittag schon per Raddampfer nach der Insel Wollin auf die Stammesburg meiner mütterlichen Großeltern, Kalkofen bei Misdroy, gefahren waren. Zabelsdorf, ein großes Gut bei Stettin, auf dem mein Vater geboren wurde, war gleichfalls oft das Ziel solcher Ausflüge auf »Mottenjagd«. Denn mein Vater war ein Entomologe von Namen. Der Ruf der Schmetterlingskenner ist immer international, da jedes Land nur wenige dieser Kleinschmetterlings-Sonderlinge kennt, die aber alle untereinander im intimsten Tauschhandel leben. Mein Vater hat eine Sammlung von über 10000 Exemplaren Kleinschmetterlinge, Lepidopteren, dem Stettiner Museum vermacht, darunter eine ganze Reihe von ihm zuerst gefundener und beschriebener Arten. Ihm verdankt die Wissenschaft die Aufdeckung eines wunderbaren Ferninstinktes dieser Tierchen, einer Liebeswitterung von unvorstellbarer Feinheit. Mein Vater fand einst auf einer solchen Exkursion einen kleinen weißen Falter, den bisher noch niemand beschrieben hatte, und transportierte ihn laut jubelnd mit uns im Wagen nach Hause. Es war eine gut dreistündige Fahrt. Das geraubte, schneeweiße Prinzeßchen ruhte sicher in einer hohen, laubgefüllten Blechkapsel, die mein Vater zwischen die Kreuze eines Doppelfensters stellte, wo es übernachtete. Am nächsten Morgen war das ganze Außenkreuz des Fensters mit Dutzenden von weißen Faltern besetzt; also »Liebesahnung« über Meilen hinweg. Welch ein Instinkt! Diese Beobachtung ist später von anderer Seite vollauf bestätigt worden. Die Zunft der[57] Schmetterlingssammler ist eine Gemeinschaft gleichartig hochorigineller Menschen. Keine Passion typisiert so das Wesen der Zunftzugehörigen.

Ihre Begeisterung für diese allerdings entzückende Welt von Gold-, Silber- und Seidenfarben behängten und prachtüberschütteten kleinen Seglern der Luft ist notorisch so elementar, daß ihnen konventionell der Diebstahl seltener Arten stillschweigend erlaubt erscheint. Wir Jungen wurden bei dem Besuch an den oft weithergereisten Schmetterlingskollegen von meinem Vater zu veritablen Detektivs ausgebildet, hielten geheime strenge Wacht und haben einmal einem alten russischen General ein Paar halblegitim entwendeter Schmetterlingskästchen zu unserem großen Gaudium wieder zurück gestohlen. Vater aquarellierte sie prachtvoll, und ich habe von ihm gelernt, das Kleine, das Winzige in seiner nur durch die Lupe erkennbaren Schönheit mit glühender Ehrfurcht zu betrachten und anzustaunen. Er hatte sich eine Legende ersonnen, wonach ein indischer Weiser wegen seiner Tugend mit voller Erkenntnis aller Geheimnisse von Gott selbst belohnt werden soll. Der Anfang wird mit der Enthüllung des Sonnenstäubchen-Geheimnisses gemacht. Weiter will aber der Weise nichts sehen. Er will es ewig anschauen. So schön ist das Anschauen. Diese Legende steht am Beginn meiner Gedichtsammlung. Welch eine Lebensarbeit steckte in der Konservierung von über 10000 kleinster Flügelwesen mit ausgespreiteten Fittichen auf ebensoviele Korkenstreifen auf das zierlichste gespannt! Mein Vater trieb alles, was ihn gerade interessierte, mit wahrem Feuereifer, mit »gefährlicher Passion«, wie meine Mutter sagte, es gab dann nichts für ihn, als den Kreis seiner auf gerade diese eine Erkenntnisquelle gerichteten Leidenschaft. Das kann leicht den Eindruck einer gewissen Unbeständigkeit machen, kann aber auch, wie bei ihm, die Quelle einer großen Vielseitigkeit werden, welche zahlreiche Gebiete umspannt und einen Überblick über das Leben gestattet, welcher nur wenigen Menschen gegeben ist.[58]

Von Beruf Arzt und besonders Augenarzt, genoß mein Vater große Achtung unter seinen Kollegen. Er war 35 Jahre hindurch Vorsitzender des pommerschen Ärztebundes und des Stettiner Ärztevereins. Ich war später mehrfach Zeuge der großen Verehrung, die er in beiden genoß. Seine große Toleranz und der Adel einer tiefen Humanität, eine heitere Liebe zu dem Menschen als solchem, sein wunderbar schalkhafter Humor hatten ihn zu einer Art salomonischen Friedensstifter nicht nur unter Ärzten geradezu prädestiniert. Auch die Konflikte anderer Stände, Ehezerwürfnisse, Ehrenaffären gelangten auf Grund eines schönen und reinen Vertrauens seitens vieler der gebildeten und nicht gebildeten Schichten der Bevölkerung vor sein Forum. Wie viele Menschen hat er miteinander versöhnt. Durch Weisheit und Humor.

Eines Tages kam zu ihm ganz offiziell ein Arzt der Stadt und verlangte von ihm als Vorsitzenden der Ärzteschaft ein energisches Vorgehen gegen Virchow, der sich erkühnt habe, ihm, dem Kläger, ins Gesicht zu sagen: »In Stettin gibt es die dümmsten Ärzte!« »Das ist ja entsetzlich!«, sagte schmunzelnd mein Vater. »Gewiß, da müßte etwas geschehen. Die Geschichte hat nur einen Haken. Wenn wir die Sache anhängig machen, wäre das nicht gefährlich? Sehen Sie einmal, Sie und ich, wir rechnen uns gewiß nicht zu den Dümmsten, aber denken Sie sich den Fall, es käme eine statistische Untersuchung und es stellte sich wahrhaftig heraus, daß wir vergleichsweise die größten Esel sind – wären wir dann nicht erst recht blamiert?« – »Das sehe ich ein«, sagte der Entrüstete und verzichtete auf die Verfolgung des inkriminierten Virchowwortes. Wer ihn so gut kannte wie mein Vater, sie nannten sich »Du«, der wußte wohl, daß Virchow das nur gesagt haben konnte als Quittung auf irgendeine Belästigung. Da ich gerade wieder beim Thema Virchow bin, muß ich ein weiteres Beispiel der Schlagfertigkeit meines Vaters erzählen. Er fragte seinen einstigen Studiengenossen, den großen Rudolf: »Wie gefällt dir eigentlich[59] mein Sohn Carl?« Worauf Virchow: »Weißt du, er ist mir sehr angenehm aufgefallen, er hat mich in den drei Jahren nie um etwas gebeten!« »Ach so«, meinte mein Vater, »darum also hat er auch bisher keine Stellung bekommen!« Virchow nickte mit dem Kopf und sagte: »Leider hast du ganz recht, aber, die einem am Rockschoß Sitzenden will man zuerst los sein, das ist ungerecht, aber man ist so froh, ohne Bittsteller zu sein!« Übrigens hat mir Virchow gleich darauf eine Stelle im Biologischen Institut in Neapel, bei Anton Dorn, angetragen. Oh, wie gern wäre ich dahin gegangen. Aber mein Vater riet ab.

Eine enge Beziehung hatte mein Vater zu Albrecht von Graefe, dem größten Augenarzt aller Zeiten, dessen Genie und Segenshand nach Schätzung meines Vaters 10000 Starblinden das Augenlicht wiedergegeben hat. Er sah in ihm, der sein Lehrer und Freund war, eine Art Christus; auch das schöne Bild Graefes, das mein Verbandzimmer ziert, gemahnt an diese Idealgestalt. Neben Virchows, Wilms' und Helmholtz' Porträt hing es über dem Arbeitstisch meines Vaters. Unter den Augen dieser Heroen habe ich meine erste Jugend froh verspielt. Mit Graefe reiste mein Vater mehrmals nach Heiden in der Schweiz und wußte herrliche Dinge von dem jungen Feuerkopf zu erzählen. Er glühte vom Ideenrausch, hatte schon mit 19 Jahren von Wien aus einen Brief an Helmholtz geschrieben, den ich selber bei meiner verehrten Freundin Ellen von Siemens, Helmholtz' bedeutender und feinsinniger Tochter, einsehen konnte, in welchem er divinatorisch voraussagte, was er alles mit dem gerade damals von Helmholtz erfundenen Augenspiegel zu vollbringen gedenke. Um diese Zeit schon war Graefe eine mathematische Berühmtheit. Mein Vater konnte nicht genug erzählen von dem sprudelnden Geniegeist Graefes, der einmal auf einem Kongreß während einer Diskussionsrede die Idee zu einer der segensreichsten Operationen an der Regenbogenhaut improvisiert habe unter ungeheurem Beifall seiner Fachkollegen. Im Examen bei Dieffenbach,[60] das mein Vater mit Graefe zusammen absolvierte, habe der schöne junge Mann so hinreißend, fast visionär medizinische Probleme extemporiert, daß der kleine Dieffenbach, immer staunend zu dem schlanken Verkünder aufblickend, herumgegangen sei und den anderen Examinanden zugeflüstert habe: »Kinder, auf den jebt acht, der wird mal ganz was Dolles!« Die Augen meines Vaters leuchteten, wenn er von diesem Begründer der ganzen modernen Augenheilkunde erzählte, seine Stimme bekam einen zitternden Klang von Innigkeit und Bewunderung. Einst kam er, mein Vater, spät nachts von Wilms, wo letzterer den Freunden den Nachlaß von Graefes Vater zeigte, der vor Dieffenbach und vor Langenbeck die Chirurgische Klinik in der Ziegelstraße leitete – also ein Urahn unseres August Bier. Als der Heimkehrende über die Kronprinzenbrücke ging, traf er, dahinstürmend, das war seine gewöhnliche Gangart, mit wallendem, schwarzem Havelock und tief in die Augen gedrücktem Kalabreser Graefe, den er auch im tiefen Dunkel erkannte: »Mein Gott, Graefe! Woher? – Wohin?« – »Gut, daß ich dich treffe, habe da heute morgen einen rumänischen Ratzenmausefaller staroperiert. Mich peinigt Unruhe, konnte nicht schlafen. Muß sein Auge ansehen. Komm mit!« Im Sturm ging's zur Steglitzer Straße, wo Anno dazumal nur 3–4 Häuser standen. Sie stiegen viele Treppen hinauf in eine Dachstube. Bei einer Kerze Licht schob Graefe den Augenverband zurück, sah tief aufatmend in die glashelle Hornhaut. »Es geht gut«, sagte er und hielt meinem Vater in tiefer Nacht am Bett des Armen einen langen Vortrag, der das Problem zum Inhalt hatte, warum Augenwunden im allgemeinen so gut heilen (was noch heute Problem ist). »Es ist wohl, weil die Natur und der liebe Gott uns da hindurch ins Herz sehen!« schloß er. »So, nun wollen wir Dressel herausklopfen und eine Flasche Romanée mousseux auf das Wohl des Slowaken trinken.« Romanée mousseux ist mein Festwein geblieben, ich nannte ihn lacrirmae Graefii![61]

Im Jahre 1864 war Graefe bei meinem Vater in Stettin zu Besuch während der dort tagenden historischen Naturforscher-Versammlung, auf der Darwin, Haeckel und Virchow so heftig aufeinanderprallten. Ich habe dieses wissenschaftliche Erdbeben mit meinen 5 Jahren leider nur bewußtlos miterlebt, denn ich lag gerade an einer Hirnhautentzündung ohne Besinnung danieder. Mein Vater hatte mich aufgegeben. Graefe saß oft und lange kopfschüttelnd an meinem Bette und strich meine Stirn. Plötzlich sei ich am dritten Tage aufgewacht, habe Graefe in den tiefschwarzen, langen Bart gefaßt und ganz freundlich gesagt: »Nanu, was bist denn du für einer?«

Graefe sprang auf und rief ins Nebenzimmer: »Schleich! Mensch! Er ist gerettet!« Obwohl Graefes Hand mich zurückgerufen hat? Ein Wundertäter war er gewiß. Vielleicht knüpfte sich an diesen Anfall, den ich nach einer bengalischen Vorführung herrlicher Griechenbilder in Töpfers Park bekam, das Mysterium meines Lebens – der verlorene Tag, von dem ich oben berichtet habe. Wie tief solche Probleme in uns haften. Vielleicht ein Dämmerzustand?

Auch zu Virchow hatte mein Vater intime Jugendbeziehungen. Mit Carl Reinhard zusammen haben sie manche frohe und ernste Zecherstunde genossen. Es war 1848. Die Revolution brach aus. Virchow stürmte in die Stube meines Vaters, der damals königl. preuß. Unterarzt war, in fliegender Eile: »Schleich, hast du Waffen?« – »Nichts als diese alte Flinte und einen verrosteten Säbel!« – »Her damit! Auf die Barrikaden!« Und fort war er. Mein Vater hatte dann während der Schießereien auf dem Alexanderplatz ärztliche Wacht im Lazarett in der Linienstraße und hatte aus gutem Herzen, aber gegen die Instruktion, verwundete Zivilisten aufgenommen und chirurgisch behandelt, wofür er von seinem Generalarzt fürchterlich angefahren wurde und Arrest bekam. Ihm ging's nicht gut mit Generälen. Nach dem dänischen Feldzug sah er auf dem Exerzierplatz während[62] einer Parade einen Höchstkommandierenden langsam heranreiten, den er nach seiner schweren Verwundung mit Mühe und Not wieder zusammengeflickt hatte. Mit schöner, rein menschlicher Freude trat er auf den General grußlos herzu, innigste Dankesbegrüßung erwartend. Da kam er aber gut an. »Herr! Was unterstehen Sie sich! Kreuzdonnerwetter! Wollen Sie wohl stramm stehen!«

Das hat mein Vater der ganzen preußischen Armee nie vergessen: er blieb für die Stettiner bis an sein seliges Ende »der rote Schleich!« Er wollte sogar, als zwei seiner Schwiegersöhne, die Offiziere waren, ihm ein wenig auf der Tasche lagen, eine Broschüre schreiben: »Die Tragödie des Schwiegervaters und die preußische Armee!« Es blieb bei der Absicht. Schon als Kinder fütterte er uns mit seinem über alles gestellten, leidenschaftlich bewunderten Goethe. Wie habe ich als Gymnasiast in seiner Goethebibliothek geschwelgt. Sie war fast komplett. Alle Biographien, auch ausländische, Kommentare, darunter ein sehr merkwürdiger Carl Löwes zu »Faust« II. Teil, Jahrbücher usw. wurden angeschafft. Was Wunder, wenn Freunde sich manchmal über meine Goethe-Kenntnisse wundern. Was man früh aufnimmt, haftet am besten. Mein Vater konnte hinreißend über Goethe sprechen und sagte einmal: er würde gern eine Weltreise zu Fuß machen, um einmal zwei Stunden bei Goethe sein zu dürfen. Ich glaube, Goethe hätte manchmal aufgehorcht, wenn dieser wahrhafte Kenner des Menschenherzens ihm Bekenntnisse vom Labyrinth der Brust vorgetragen hätte. Auch Byron und Bulwer liebte er sehr und übersetzte sie, ersteren in schön geschwungenen Versen. Bulwers »Ägyptisches Mysterium« hat er herausgegeben. Auch hat er Emerson und Smiles ganz übertragen. Am liebsten las er in einer holländischen Originalbibel und zitierte oft die originellen Naivitäten dieses behaglichen Idioms. Ich besitze noch Stöße seiner Handschriften dieser Art. Sein Stil war von großer Flüssigkeit und Prägnanz. Seine Briefe, die ich zum Teil Literaten von Bedeutung vorgelegt habe, sind[63] auch nach deren Meinung kleine Meisterwerke. In seiner kleinen, perlenstickereiähnlichen Handschrift offenbarte sich die sichere Hand des Augenoperateurs.

So sehr er die Literatur liebte (einer seiner Lieblingsschriftsteller war der Spanier Perez Galdos), so sehr kehrte er in späteren Jahren den Dichtungen seines eigenen Sohnes den Rücken, nicht aus Mißachtung, sondern aus einer schweren Sorge, ich möchte die Medizin an den Nagel hängen und Schriftsteller werden. Ich sollte nur immer Arzt, nichts als Arzt sein, weil er, immer Graefe, Wilms und Virchow im Herzen, von mir und meinem bißchen Talent sich Ungeheures versprach und ersehnte. Erst spät, als ich das Meinige für seine geliebte Medizin getan, begann er auch bei meinen Reimereien aufzuhorchen; sonst wollte er gewaltsam meinen Kompositionen und Dichtungen sein Ohr sperren. Wenn ich von meinem Poetenberuf sprach, bekam sein Auge einen so unendlich wehen Ausdruck, daß ich derartige Szenen immer mit einer zärtlichen Umarmung schloß: »Na, laß nur, Väterchen. Ich bleibe bei der Medizin!« Ich konnte den traurigen Blick nicht ertragen. Als ich einst August Strindberg beteuerte, daß ich mich nach dem Tode meines Vaters freier und freudiger an Dichtungen heranmache, sagte dieser große Mystiker einfach: »Natürlich! Er hat es eingesehen. Er gibt dich frei!«

In medizinischen Angelegenheiten war er, nachdem meine Entdeckungen der örtlichen Betäubung und vieler medizinischer Präparate erfolgt waren, eifrig mein Anhänger und Schrittmacher. Vielleicht, daß er in seinem verzeihlichen Vaterstolz ein wenig über das Ziel hinausschoß, was natürlich unter einigen seiner Kollegen in Stettin einiges Mißbehagen erregte, so daß um mein Heil natürlich viel besorgtere gute Seelen mir zuraunten, ich müsse meinen Vater hindern, so große Töne für mich anzuschlagen. Ich habe den Ängstlichen barsch den Mund gestopft, indem ich ausrief: »Wenn meine Entdeckungen die Liebe meiner Eltern nicht aushalten, so mögen sie ruhig[64] zum Teufel gehen!« Denn meine liebe Mutter leistete auch darin so Erkleckliches, daß ich ihr einmal neckend zurief: »Mütterchen! Du gleichst einer Nachtigall oben auf der Litfaßsäule, die nur das Lob ihres Sohnes pfeifen kann. Sing' auch mal was anderes!«

Mein Vater war Zeuge jenes unerhörten Auftrittes in der Chirurgischen Gesellschaft 1894, bei dem mir – man staune! – wegen der Proklamation meiner schmerzlosen Operationsmethode 800 deutsche Chirurgen die Tür wiesen. Ich habe die empörende Szene an anderer Stelle ausführlich geschildert, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Als ich entrüstet den Saal verließ, war der einzige, der mir folgte – mein Vater. Mir schlug das Herz bis in den Hals aus Furcht vor seinem bekümmerten Blick. Als er aber schmunzelnd die Terrassen des Saales herabstieg und ausrief: »Die Leute sind ja blödsinnig«, da packte uns beide eine ganz explosive Heiterkeit, die wir bei Hiller durch Romanée mousseux noch zu steigern versuchten. Von da an schrieb er so wilde Streitschriften im Stile eines alten Haudegens, daß, wenn ich eine davon veröffentlicht hätte, sich uns wohl die bürgerlichen Gefängnisse erschlossen hätten.

Seine Stellung in Stettin war die eines ein Zentrum der Geistigkeit bildenden Ausnahmemenschen. Seinem Einfluß konnte sich kaum jemand entziehen. Man gönnte ihm willig seine Überlegenheit, weil das rosige Licht größter Milde und Menschengüte seine hohe Intelligenz dämpfte. Ihn öffentlich sprechen zu hören, war ein Ereignis; fast alle fühlten stets etwas wie seelische Erschütterung unter der Weichheit seiner Stimme und der Tiefe seiner Gedanken.

Aus einer Zeit stammend, in der Stettin geistig ein kleines Weimar war, hier wirkten Löwe, Oelschlaeger, Giesebrecht, Calo, Schmidt, Zitelmann, hielt er die Traditionen des Kreises dieser zum Teil weltberühmten Männer und bewahrte einen Hauch der damaligen Geistesblüte des Stettiner Lebens, das habe ich ja schon berichtet.[65]

Man kann die Frage aufwerfen, warum solch ein Mann der Provinz verkettet blieb? Sie ist leicht beantwortbar. Er traute sich nicht die Produktionskraft zu, im vollen Strom zu wirken, vielleicht mangelte ihm in der Tat ein ganz klein wenig die schöpferische Phantasie zu entscheidenden Leistungen. Mit vielen der sogenannten Berühmtheiten der Residenz nahm er es jederzeit voll auf. Dafür ein einziges Beispiel.

Er konsultierte in einem heiklen Falle den großen Frerichs. Nach beendeter Konsultation sagte dieser Schalk sein Urteil über die Dame und die Krankheitslage: »Ja, lieber Herr Kollege, das ist eben eine Hysterie im Aggregatzustande des Gehirns!« Mein Vater antwortete völlig unverblüfft: »Also Sie wissen es auch nicht.«

Auch genügend Ehrgeiz besaß mein Vater nicht, um große Karriere etwa in Berlin anzustreben, wo ihm Förderung nach jeder Seite durch Wilms, Graefe, Virchow, v. Langenbeck usw. zuteil geworden wäre. Vielleicht liebte er auch seine Heimat allzu sehr und war glücklich, nahe dem entwundenen Gut seines Vaters, bei Zabelsdorf, das kürzlich mit einer Million von der Stadt Stettin angekauft ist, zu leben. Hier war er geboren und fühlte sich wohl in erreichbarer Nähe von allen seinen Jugenderinnerungen. So zog er vor, lieber in Stettin einer der ersten, als in Berlin einer der zweiten zu sein.

So wurde er der alte Weise von Stettin. Die ihn noch gekannt, werden bezeugen, daß hier eine tiefe, unauslöschliche Sohnesliebe aus begreiflicher Scheu noch viel zu wenig gesagt hat.

Ich bin zwei ganz großen Menschen begegnet, der eine war mein bester Freund und hieß August Strindberg, der andere war mein Vater.

Auf seinem Grabstein auf dem großen Friedhof bei Stettin stehen die schönen Worte: Grenzstein des Lebens, doch nicht der Liebe. Terminus vitae sed non amoris![66]

Quelle:
Schleich, Carl Ludwig: Besonnte Vergangenheit. Lebenserinnerungen (1859–1919), Berlin 1921, S. 51-67.
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