Als Paul Ehrlich zu Grabe getragen wurde, mußte ich der Zeiten gedenken, da ich noch bei Virchow im pathologischen Institut als Prosektor tätig war und häufig mit ihm, dem damaligen ersten Assistenten des berühmten Klinikers Frerichs, zu tun hatte. Frerichs, der Heros der inneren Medizin, starb dann plötzlich. Sein Assistent Kroenig stürzte in das Institut mit den Worten: »Hier ist die Opiumflasche, die ich eben von Frerichs Betttischchen weggenommen habe. Er hat sie ausgetrunken. Er ist tot.« Man sprach von kriminellen Verfehlungen des großen Friesen, der einen etwas haltlosen Charakter hatte. Sein Selbstmord war weniger originell als der des berühmten Chirurgen Wilms, eines intimen Freundes meines Vaters, vom Krankenhaus Bethanien, der im Gram über die ewigen Reibereien mit der Krankenhausverwaltung sich das Leben nahm, und zwar sehr genial dadurch, daß er sich mit einem halbkreisgekrümmten kleinen Messerchen, Tenotom genannt, vom Munde her die große Schlagader des Halses durchschnitt. Ein großer, tödlicher Bluterguß erfolgte. Scheinbar war er an einer Magenblutung gestorben. Erst Virchows Scharfblick entdeckte bei der Obduktion den kleinen Schnitt im Rachen und klärte die Sachlage. Frerichs hatte sich an mehr konventionelle Methoden des Selbsttodes gehalten. Er war ein großes Original. Ich entsinne mich noch einer drolligen Szene, bei der auch Ehrlich figurierte. Bindemann, Prowe und andere hatten mit mir einen Riesenfrühschoppen mit Weißbier und Kümmel gefeiert. Einer schlug vor, nun noch ein bißchen zu Frerichs ins[289] Kolleg zu gehen; er könne so wundervoll neue Krankheiten vorschwindeln und sie an Fällen entwickeln, was in der Tat der Fall war, er log bildschön und erfand ganz romanhafte Krankheitsbilder, die möglich, aber unbeobachtet waren, in durchaus großem, genialem Stil. So auch diesmal. »Es war bei einer russischen Großfürstin« – darunter tat er's nicht –, »bei welcher ich dies sonderbare Symptomenbild entdeckte« usw. Zum Untersuchen solchen kuriosen Falles bei einem hereingetragenen Patienten verlangte er nach einem Praktikanten. Ehrlich sollte ihn aufrufen aus dem vollen Kolleg. »Herr Bindemann!« tönte es mit der meckernden Stimme von Paul Ehrlichs Lippen. Bindemann aber war im Banne des Frühschoppens sanft entschlafen, wachte ein bißchen auf und rief zu Frerichs hinüber: »Prost! Prost!« Da stellte Frerichs die beste Diagnose. Er sagte: »Lassen Sie den ruhig weiterschlafen, er hat einen schweren Frühschoppen hinter sich.«
Ich sah Ehrlich erst wieder, als der Ministerialdirektor Kirchner, dieser höchst seßhafte langjährige Hemmschuh jedes schönen Fortschrittes, ein Mann von dem Horizont seines Direktorialzimmers. der die Kühnheit hatte, mir zu sagen, das Ministerium interessierten meine Beobachtungen bei Friedmann und das Friedmannmittel überhaupt nicht, uns an Paul Ehrlich zur Prüfung der Natur des Mittels verwies. Er empfing uns sehr freundlich, und ich habe bei den häufigen Besuchen im Frankfurter biologischen Institut von Ehrlich so viele tiefe Anregungen erfahren, daß ich ihm ganz besondere Erwägungen schulde.
Die Armee derer, die sich zum Kampfe gegen die Krankheiten innerhalb staatlicher Gemeinschaften ständig mobil erhält, hat sich von jeher in zwei große Organisationen geschieden: in eine Genietruppe solcher, welche die theoretischen Bedingungen eines wirksamen Eingreifens gewissermaßen im Generalstabe der Wissenschaften festzulegen suchen, und solche, die Taktik und Praxis der Verfahren anzuwenden haben beim eigentlichen Schlagen der gespenstischen Schlachten, deren winziges und doch von[290] Sorge und Schmerz schwer belastetes Feld zuletzt immer eine Menschenwiege, ein Bett, ein ärmlich Lager bildet. Jene, die Theoretiker der Medizin, müssen naturgemäß in den Bereich ihres Wissens fast die ganze Biologie, den weiten Umkreis aller Lebenserscheinungen einbeziehen, da jeden Augenblick ein neu vom Spinnrad des Lebens abgerollter Faden hinüberleitbar sein kann in die verborgensten Teppiche auch des Menschenleibes. Ihre Forschungsart ist kühler, unpersönlicher, losgelöster von der Resonanz der Klagen und frei von dem Herzerschüttern der Tränen. An sie hängt sich nicht ein flehendens Paar von erhobenen Händen mit seinem, den fühlenden Arzt immer neu erbeben machenden »Rette, rette!«, sondern sie überlassen Enttäuschung und auch den Triumph der Probe aufs Exempel eben dem Praktiker, der ja niemals, wie jene, dem unpersönlichen Krankheitsbegriff gegenübersteht, sondern dem handgreiflichen Kranken selbst. Jene gehen begrifflich-experimentell einem Komplex abnormer, biologischer Erscheinungen der Krankheit zu Leibe, diese haben ein leidendes Individuum mit allen Varianten des Themas, an denen die Natur ja so reich ist, zu betreuen. Diese Trennung in zwei Heerlager war nicht immer vorhanden, sie ist herausgewachsen, entwicklungsgeschichtlich und rein historisch, aus einer frühen Verkoppelung von Weissagertum, Zauberei, Religion, Mythos, Priesterschaft usw. mit spezifischen, zunächst wohl gelegentlichen, mechanisch-wundärztlichen Nachbarhilfen und Heilversuchen. Es ist ein wehmütig-trauriges, aber von Offenbarungen intuitiver Hellblicke nicht ganz armes Unterfangen, den Spuren nachzugehen, auf welchen aus Tiervorstufen, Volksmedizinen, Zauberei und einem ganzen Wust entsetzlicher Irrtümer sich das herauskristallisiert hat, was wir heute wissenschaftliche, das heißt auf Erkenntnissen oder Vorstellungen von Ursache und Wirkung gegründete Medizin nennen. Jede Zeit glaubt sich auf der Höhe menschlicher Leistungsfähigkeit, und niemals war auch die Medizin und ihre Vertretung frei von jenem[291] gefährlichen Doppelgänger des Wissens, dem Dogma. Es gehört eine fast übermenschliche Strenge der Kritik gegen jeden Wunsch und jede Hoffnung, eine Wahrheitsliebe über jeden Gefühlsaffekt hinaus dazu, ein echter medizinischer Forscher zu sein. Gleich weit entfernt von Erfolgsjagd wie von lähmendem Skeptizismus, hat er eigentlich nur einen einzigen Maßstab: die Praxis mit all ihren vieldeutigen und labyrinthischen Menschlichkeiten. So hat es sich denn nach vollzogener Trennung der wissenschaftlichen und ausübenden Heilkunde fast von selbst gemacht, daß das Institut der praktischen Ärzte eigentlich die letzte Instanz, den höchsten Richterstuhl über das Tun und Treiben ihrer gelehrter Generalstäbler bildet. Denn sie sind die im Lande rings schaltenden Wechsler, welche die Goldbarren der Wissenschaft in gangbare Münze umzusetzen haben.
Das Wirken des Mannes, dessen Tod am 20. August 1915 für die meisten so überraschend erfolgte und wohl, wäre die Erde nicht im Zeichen eines gigantischen Völkervernichtungskampfes gewesen, in allen belebten Zonen einen noch viel tieferen und einmütigeren Wehruf unersetzlichen Menschheitsverlustes entfesselt hätte, – dieses Mannes, Exzellenz Paul Ehrlichs Arbeit gehörte ganz der stillen Werkstatt der vorbereitenden Gedanken und Vorversuche an. Es war eine kleine Schmiede von Diamanten des Wissens, die ihm in Frankfurt am Main der Staat, vertreten durch den genialen Organisator moderner medizinischer Kultur, F. Althoff, unterstützt durch munizipale und mäzenatische Beihilfe, in ein paar stillen Häuschen errichtet hatte. Es ist merkwürdig: die Bedeutung medizinischer Entdeckungen steht beinahe im umgekehrten Verhältnis zu der Pracht der Räume, in welchen sie gemacht werden. Ehrlichs Raum war für den Besucher erschütternd schlicht und einfach. Eine Eremitenhöhle der Wissenschaft, von deren Wänden die Stalaktiten hochgestapelter Zeitschriften, loser Blätter, Tabellen und statistischer Tafeln den Dunst der Wissenschaft nur so herabträufelten, und[292] mitten durch diese Grotte von papiernen Gedankenkristallen, in einem schmalen Gäßchen durch den Wust von Protokollen gelangte man zu dem Hans-Sachsen-Sessel dieser kleinen Majestät der Wissenschaft. Hier saß und empfing er, immer rauchend und sofort Importen anbietend, die Gesandten aus allen Reichen, Domänen, Statthalterschaften und auch wohl exotischen und antarktischen Provinzen der Medizin.
Er war immer ganz er selbst, ein Original vom Kopf bis zur Zehe, ein Mensch, der den vollen Mut zu seiner beinahe drolligen Persönlichkeit hatte. Ein Mann, der jedem, der Lust hatte zu Charakterstudien, sofort den Beweis vor Augen führte, daß wahre Größe keinerlei Pose, keiner Kulisse, keinerlei Aufmachung bedarf. Sein Kopf war, allzufrüh greisenhaft, bedeutend, klug, wenn auch ohne gleich offenbare Geniemaske, nur der Blick der scharfen Augen konnte sofort blitzen, durchbohren, sondieren, umlauern. Ein Schalk trieb drin sein Spiel. Sein herziges Lachen, spöttisch-gutmütig, ein wenig neckend und gleich in eine drollige Bedenklichkeit abbiegend, muß jedem unvergeßlich sein. Seine Sprechweise schnell, springend, kostbare Perlen der Erkenntnis wie im Spiel hinwerfend. Die ganze kleine Gestalt vor Beweglichkeit vibrierend, die seinen Meisterhände immer in Aktion, zeichnend, die Luft nicht weniger als die Wände mit Figuren, Formeln, Ideen bevölkernd. Ein rückhaltloser Verschwender seiner gewiß oft mühsam aufgespeicherten Resultate. Dabei von einer staunenswerten Beherrschung des Wissens seiner Zeit, das er in jedem Augenblick wie auf dem Präsentierteller auszubreiten vermochte; dazu eine eminente Fähigkeit, das Wesen der unzähligen Naturen, die mit ihm in Berührung gekommen waren, blitzartig mit ein paar Begriffen zu erhellen, ihre kleinen Schwächen und ihr manchmal großes Bedeuten spielend, wie selbstverständlich, mit wenigen Strichen zu zeichnen. Jede Persönlichkeit, jede sachliche Angelegenheit färbte sich im Mondhofe seiner eigenen geistigen Strahlung. Er sah alles Ehrlichsch. Alles war[293] an ihm und um ihn einfach, und man fühlte, daß er, wie jeder Große, begriffen hatte, daß man sich und seinem Wesen nichts hinzusetzen kann, daß reine Menschlichkeit genügen muß zum allergrößten Auftrag. Nichts unterschied seine bescheidene Werkstatt von dem Gläserwirrwarr und den Phalanxreihen der Apothekergefäße anderer Laboratorien. Das Reagenzglas war sein Horoskop. Bakterienkulturen, die Injektionsspritze, die unzähligen Kaninchen- und Meerschweinchenkäfige sein ganzes Arsenal. Dabei war er ein Protokollant erster Klasse, der stets die Fäden einer unendlichen Zahl gleichzeitiger Fragestellungen in fester Hand hielt. Ich habe außer Rudolf Virchow niemand gesehen, der so wie er in dem Chaos seiner angeschnittenen Fragen Bescheid wußte. Die historisch berühmt gewordene Zahl 606 erhellt mit einem Schlage die ungeheure Kettenreihe von Versuchen, die Ehrlich anstellte, um einem Problem zu Leibe zu gehen.
Man stelle sich 605 Vorversuche vor bis zum letzten entscheidenden Ergebnisse und übertrage diese Zahl einmal auf das Gesamtgebiet Ehrlichscher Studien und man wird eine Vorstellung erhalten von der schwindelerregenden Übersicht, welche dieser Mann über die vielen Tausende seiner begehrlichen Fragen an die Sphinx der Natur behielt.
Es ist nichts so klein oder nebensächlich in der Welt der Erscheinungen, wie Emerson sagt, daß ihm nicht eines Tages eine Art Prophet erstünde. Kein Vorgang, der nicht zu irgendeiner Zeit ein Auge fände, das ihn sehen und deuten lehrte, keine Beziehung der rhythmisch umeinander kreisenden Tänze der Körperlichkeiten, die nicht dem Spürsinn eines »Beauftragten« offenbar würden. Ehrlich war ein Enthüller der Gesetzmäßigkeiten, die zwischen Farbe und Materie bestehen, und es ist reizvoll zu denken, daß dieser universale Geist gerade in der Goethestadt unendlich viel dazu beigetragen hat, den Roman von Licht und Farben, den jener große Frankfurter schrieb, in wesentlichen Teilen zu vertiefen und auszubauen. Denn Ehrlich war ein Färber und ein Erfüller jenes Goetheschen[294] Wortes, daß aus dem Leiden und Tun der Farben den Menschen letzte Erkenntnisse erwachen würden. Ohne Farbe wäre diese Welt ein Gespensterreich von blendendem Licht und verwirrenden Schatten. Farben sind Orientierungsmittel.
Aber Goethe konnte wohl kaum ahnen, daß sie einst (in Ehrlichs Hand) dazu dienen würden, uns die letzten Geheimnisse des Lebens gerade an den Gespensterschatten mikroskopischer Gebilde, gleichsam an den Zwergenwiegen des Lebens zu enthüllen. Wie in der Geschichte der Wissenschaften oft Gesetzmäßigkeiten zu walten scheinen, die später die Ereignisse wie ineinander eingreifende Zahnräder eines einzigen sinnvollen Mechanismus darstellen lassen, so war die Entdeckung der Anilinfarben, welche mit einem Schlage die Zahl der verfügbaren Gerbungen und Färbungen geradezu vertausendfachte, für Ehrlichs Lieblingsbeschäftigung, die Färbung der Körperelemente, der er schon als Assistent des alten Frerichs leidenschaftlich nachging, geradezu wie die Überlassung und Auslieferung einer Armee von Hilfskräften. Darum waren seine Wohnungen anzusehen wie das bunte Atelier eines Anilinfarbenmalers. Er wurde ein Gerber und Färber, ein Kollege des Griechen Kleon, dessen sprichwörtliche Grobheit wohl auch hier und da einmal bei ihm atavistisch ausbrach. Die Anilinfabriken, in jener Zeit (um 1885) wie Pilze aus der Erde wachsend, sandten ihm Probe um Probe, und man kann sich denken, wie seine Hände, seine Wäsche, seine Wände, seine Pulte damals unter der Tyrannei dieser alles durchdringenden Farbgeister ausgeschaut haben mögen. Was ihn aber hier fesselte, war die Spur einer unendlich wichtigen, naturwissenschaftlichen Beziehung von Farbe zum menschlichen und tierischen Gewebe. Nicht nur, daß er viele einzelne, große und ganze Disziplinen begründende Entdeckungen in dem Sinne machte, daß er die Affinität, die spezifische Tönung gewisser Gewebe, zum Beispiel der Nerven, der Bakterien, der Körperzellen des Blutes, zu ganz bestimmten Anilinen aufwies. Nicht nur, daß er[295] mit Hilfe der Tingierbarkeit einzelner feinster Details die Formelemente aus ihrem schattenhaften, gelatinösen Nichts, aus dem indifferenten, schillernden Grau unter dem Mikroskop herausholte und demonstrabel machte – eine Reihe von Taten, die zum Beispiel den eben erst dogmatischen Satz Virchows: die Zelle sei eine letzte Lebenseinheit, durch die Aufdeckung der ganz gewaltigen Kompliziertheit einer sogenannten Zellmaschine, die mit seiner Hilfe uns heute schon als ein mikroskopischer Riesenorganismus erscheint, ins Wanken gebracht hat. Nicht nur, daß er unendlich viel dazu beigetragen hat, das Wundernetz der feinsten Nervenseidengespinste durch spezifische Nervenfärbung weit bis zu den Zellen selbst ausmündend erkennen zu lassen, oder, daß er der Begründer der Methoden zur Aufdeckung der Geheimnisse der Blutbildung und Blutmischung im Gesunden und Kranken wurde, – Färbungen, die in ihren Konsequenzen zu den letzten Wundern der Persönlichkeit hinausreichen und noch heute unübersehbar sind. Ehrlich genügten diese Tatsachen in seinem echt synthetischen Geiste der Intuition noch lange nicht.
Er sah in dieser Beziehung von Farbe und Stoff nicht allein etwas Zuständliches, allein das Auge und den Spürsinn der Formen Befriedigendes, er ahnte darin, sich hoch aufschwingend zu dem geheimen Rhythmus alles Geschehens, die Offenbarung eines weit tiefer dringenden, im Leben allzeit am Werke meisternden, gesetzmäßigen Vorgangs: einen Ablauf, eine lebendige Funktion.
Was heißt das, so mag er gedacht haben, eine besondere Körperzelle oder ein besonderer Teil derselben, zum Beispiel der Nukleinkern, färbt sich gerade mit diesem Stoffe und durchaus nicht mit jedem andern? Das kann doch nur bedeuten, daß dir Natur des Färbbaren in besonderer Weise Appetit auf das Färbende hat, daß ersteres das letztere verschluckt, es als sich irgendwie verwandt, korrespondierend, haftbar, ansetzbar erkennt aus der großen Symphonie der Farben, denen es wie in einem Serpentintanz bunter Quellen ausgesetzt ist.[296]
Wenn schon das Tote, Leblose, das aus dem Reigen des organischen Geschehens Herausgerissene diese Wahl aufweist, wie müssen da erst im Strom der Säfte nach zwangartigen Beziehungen Angepaßtheiten und Verwandtschaften wirksam sein. Und hier betritt sein Geisterschritt den Boden, aus dem uns die volle Erkenntnis tiefer Geheimnisse erwuchs. Er setzte nämlich im Geiste an die Stelle der Farben, die das Tote umklammern, den damals noch ganz vagen Begriff der Körpergifte, welche vielleicht ganz ähnliche Umarmungen und Umschlingungen der lebendigen Molekeln im Strom der Säfte vollziehen könnten. Diesen Gedankengängen Ehrlichs verdanken wir einen so zwingenden Einblick in die bis dahin schlechthin unvorstellbaren Prozesse des Vergiftungsvorgangs an den Zellen selbst, daß wir heute alle im Banne dieser Ehrlichschen Lehre von den Giften stehen!
Die Bakterien sondern Gifte ab, diese schädigen den Leib – aber die Art und Weise, wie dies geschieht – bei inneren Giften, sogenannten Innensekretionsstörungen, ist es gewiß ebenso –, darüber eine geradezu handgreifliche, körperlich vorstellbare, stereochemische Theorie aufgestellt zu haben, die nicht nur alle Symptome der Vergiftung erklärt, sondern auch rechnungsmäßig die einzelnen Giftdosen einzustellen gestattet, das war die erste Großtat Ehrlichs, die seinen Namen über alle Lande trug. Es würde zu weit führen, wollte ich hier dem Leser auch nur ganz kurz die Grundzüge dieser grandiosen Konstruktion des Giftbegriffes vor Augen führen, es mag genügen, darauf hinzuweisen, daß, genau so wie Farben gewisse Einbohrbarkeiten ins Zellgefüge besitzen, auch die Toxine, die chemisch unendlich aktiven, fast belebten Produkte der fremden, parasitären oder der zerfallenden eigenen Zellen des Leibes, Haftungsmechanismen besitzen, welche dem Bilde des in ein Schlüsselloch passenden Schlüssels sehr nahe kommen. Aber damit nicht genug, die Theorie Ehrlichs gestattet auch, sich den Vorgang der Befreiung des Leibes von diesen ultra-mikroskopischen Mosaiksteinchen[297] der Gifte rein körperlich vorzustellen und damit den Begriffen der Heilung und Immunisierung (der natürlichen wie der künstlichen) den ersten haltbaren Boden unter die Füße zu geben. Ein Molekel, das, gleichwie zu Farben, auch zu Giften Artbeziehung hat, trägt nach Ehrlich zu seinem Schutze auch etwas um sich, das er »toxophore« Tentakeln nannte, die ich dem Laien als eine Art giftfangender Fransen, Wimperhärchen mit seinen Öfen und Schlössern schildern möchte, die frei ablößbar sind und gleichsam wie Eiszäpfchen, wie gläserne Splitterchen ins Blut fallen und hier vermöge ihrer Fangbereitschaft für die Haken und Stifte, Mutterschrauben oder Schlößchen der Giftmolekeln diese »verankern« zu einer unschädlichen, ausstoßbaren, schmelzbaren Masse von Elementarkörnchen. Das macht die Natur des »Immunen«, des Widerstandsfähigen, des durch Bakterien nicht attackierten Körpers, daß in ihm naturgegeben viele solche freie, kleine Giftbändiger herumschwimmen, die den Angriff des Toxins durch Giftverankerung aufheben. Das gibt aber auch die Möglichkeit, durch abgeschwächte Dosen verwandter Gifte die Haftstellen der Toxine zu reizen und sie zu veranlassen, einen Überschuß von Giftfransen abstoßen zu lassen, die nun, in vermehrter Weise dem Blute zugeführt, die Immunität gegebenenfalls garantieren oder im Erkrankungsfalle die Heilung vermitteln.
Nun wird mit einem Schlage klar, was der geheime Sinn der Pocken-, Cholera-, Diphtherie-, Tetanus-, Typhusimpfung ist, die im Felde zu so ungeahnten Erfolgen geführt haben, nämlich die künstliche Entwicklung von Immunkörpern innerhalb eines der Ansteckungsgefahr ausgesetzten Leibes. Alle diese Methoden. soweit sie nicht von Ehrlich selbst erdacht oder streng kontrolliert sind, fußen unbedingt auf dem Gedankengerüst dieser Ehrlichschen Konstruktion, und es ist nicht absehbar, was die Flut der durch ihn und seine Ideen angeregten Experimentalstudien auf diesem Gebiete vom Schlangengift bis zu dem Heere der Sekretionsgifte (Zuckerruhr,[298] Gicht, Steinbildung usw.) noch zeitigen mag. Das erste Mal befreite die Medizin aus dem Banne der allzu tyrannischen Betrachtung des zuständlich Toten und der erstarrten Zellularlehre der revolutionäre Geist eines der größten Denker der Medizin, Ottomar Rosenbach, der dem Virchowschen Koloß die Lanze der funktionellen Diagnostik in den Leib stieß, das heißt das Leben als wirklich lebendig, nicht als einen Zellenstaat in einem gewissen »Zustand« zu denken lehrte, dann kam Behring und machte im Gegensatz zu den Zellmaschinen die alten Säfte (humores) wieder lebendig, und nun krönte Ehrlich das Werk, indem er gleichsam aus der Symphonie des Lebens die kontrapunktischen Gesetzmäßigkeiten und greifbaren Grundharmonien herauskristallisierte. Auch der Laie muß begreifen, was das heißt: die Theorie der lebenbedrohenden Blitze nicht nur zu begründen, sondern auch tausend Wege zu tausend mikroskopischen Blitzableitern zu weisen. Töten doch die rasanten Gifte der zersetzten Materie (Austern-, Wurst-, Fleischgifte) nicht weniger schlagartig, als die großen, zuckenden Weltallsschlangen der Atmosphäre!
Und nun, auf der Höhe seiner Forschung über Giftwirkung der Bakterien, machte Ehrlich einen merkwürdigen Sprung, ein förmliches Salto mortale ins Gebiet des reinen Chemismus. Konnte man seine bisherige Riesenforschung einigermaßen einreihen unter dem Begriff der geplanten Lieferung von Heilstoffen aus dem Betriebe der Zellen selbst heraus, unter dem Suchen nach Methoden zur Bildung von Immunkörpern, so sprang er jetzt mit einem Male zurück zu Heilmitteln aus der Reihe der gleichsam unbelebten Chemie. Denn das Salvarsan ist ein Arsenpräparat und fällt ganz aus dem Rahmen der Bakterienimmunisierung heraus. An die Stelle der Immunisierung tritt plötzlich die alte Sterilisierung durch metallisches Gift.
Das hat allgemein verblüfft, zumal Ehrlich meines Wissens nirgends eine Erklärung zu dieser Fahnenflucht von seinen Forschungsprinzipien gegeben hat. Wie er[299] denn überhaupt karg gewesen ist in der eigenen psychologischen Selbstanalyse. Er war wohl von Natur zu bescheiden, um seinen »Ideenperioden« biographisches Gewicht beizulegen. Und doch, will ich meinen, kann es nicht schwer fallen, die Pfade aufzuspüren, die ihn zu diesem plötzlichen Versuch, den Bakterien von einer anderen Seite beizukommen, veranlaßt haben mögen. Bei dem allgemeinen Interesse, welches diese Salvarsan-Großtat Ehrlichs bei allen Nationen, oft sturmartig, erregt hat, mag es verstattet sein, auf die Frage seiner Heilung der Syphilis etwas näher einzugehen.
Ehrlich wußte und hat es gewiß durch zahlreiche Tierexperimente erhärtet, daß das Arsenik wie das Quecksilber ein Mittel ist, welches die Spirillenerreger dieser Krankheit schwer schädigt. Dabei blieb, wie bei allen Versuchen, den Bakterien im Leibe mit Antisepticis (wie Karbol, Salizyl, Sublimat usw.) beizukommen, das Dilemma bestehen, daß eine wirksame Dosis des Vernichtungsmittels, direkt oder indirekt appliziert, die Körperzellen genau so in Gefahr brachte wie die Bakterien, und daß eine nur tastende Dosis zwar die Gewebe schonte, aber auch den Bakterien keinen Schaden bringen konnte. Diese Zwickmühle, diesen Fehlerquellenzirkel suchte nun Ehrlich zu umgehen durch eine chemische Konstruktion, welche mir geradezu in der Verlängerungslinie seiner ersten und letzten Ideen zu liegen scheint: nämlich ein Arsenikpräparat zu finden, welches zu den Spirillen eine größere Affinität (gleichsam höhere Tingierfähigkeit!) besitzt, als zu den Gewebselementen. Eine Arsenikgabe, welche, gleichsam in indifferente Hülsen eingepackt, die Zellmaschen durchdringt und nun, während die indifferenten Schlitten, gleichsam die Gleitschienen, verzögert abbröckeln, die volle Dosis allein auf die Spirillen explosionsartig abschießt. Auch hier muß also Ehrlich die molekuläre Struktur dieses Giftmolekels rein körperlich vorgeschwebt haben, und es muß, gleichviel wie man zum Salvarsan als Alleinbeherrscher der Syphilis steht, rückhaltlos zugegeben werden, daß die Medizin kaum[300] ein Heilmittel kennt, welches so findig bis in die Filigranstruktur der Moleküle durch chemische Komposition herausgetüftelt wurde aus dem Chaos der Möglichkeiten. Ohne die zwingende Vision der Giftkörperlichkeit im Geiste Ehrlichs hätte nicht einmal der Plan zu einem solchen Unterfangen gefaßt werden können, und es spricht denn doch wohl stark für eine relative Realität des von Ehrlich vermuteten Atomismus der Giftindividuen, wenn so erstaunliche Wirkungen mit dem Salvarsan zu erzielen sind, wenn auch die Hoffnung auf die grandiose »Therapia magna sterilisans« arg in die Brüche ging und wenn auch der neue Konkurrent des Quecksilbers sich langsam wieder auf die Beihilfe seines alten Ahnen besinnen muß.
Man mag über Ehrlichs therapeutische Erfolge – – übrigens unberechtigterweise – so skeptisch denken wie man will, niemals wird ihm abgestritten werden können, daß er ein Säemann war, der ausging zu säen. Er war ein Ideenschaffer, ein Befruchter, ein Neulandentdecker, wie kaum je ein Mediziner. Es ist ein schweres Problem in der Medizin, das der Lösung harrt. Die Menschheit, überhaupt die belebte Materie, würde nicht lebensfähig sich erhalten haben, wenn sie nicht von Natur den Kampf mit der Außenwelt (einschließlich der Bakterien) von Beginn an zu bestehen imstande gewesen wäre. Haben Ärzte historisch einen Einfluß auf diesen Aufstieg der Menschheit ausgeübt, oder wäre alles (für den Kollektivbegriff der Menschheit) ebenso gekommen, wenn es nie Ärzte und immer nur Zauberer, Quacksalber und weise Frauen gegeben hätte? Des Arztes Verhältnis zu dem Kranken ist etwas durchaus Persönliches, Individuelles, es ist etwas Seelisches, Gläubiges oder Abergläubisches, das die Leidenden ebenso zum Geheimrat wie zum Schäfer und Kurpfuscher treibt; der Arzt ist das Produkt eines Regenschirmbedürfnisses für die Not, einer Schutzhoffnung des Menschen, er ist eine Sehnsucht, ein seelisches Postulat. Er ist der Detailhändler der wissenschaftlichen Doktrinen, der Reisende für Dogmen und Theorien. Er soll die Weisheit[301] der Entdecker am Generellen in ihre Anwendbarkeit auf den Einzelfall übersetzen. Denn der Arzt soll Individualist sein, die Wissenschaft aber generalisiert.
Die ganze Menschheit kämpft aber organisch von selbst, an sich, aus sich, und von Natur gegen ihre Bedrohungen. Sie schafft durch Generationen mit Hekatomben von unerhörten Opfern selbst in sich organische Dämme, ihr Eingestelltsein gegen Schädlichkeiten, ihre eingeborenen Immunitäten.
Das ist ein langer, durch Wüsten von Gräbern führender Weg, und jeder Sterbende ist in diesem Kampfe ein wenig ein Christus, der für seine Brüder stirbt, weil er ein wenig hilft, eine Schädlichkeit auch durch sein Opfer für seine Nachkommenschaft wett zu machen. Es schreitet ein steter organischer Pilgerchor des Opferns voran.
Und nun kommt die Wissenschaft und glaubt diesen Weg durch künstliche Heranzüchtung von Widerstandskräften um Jahrhunderte, Jahrtausende abkürzen zu können.
Das ist das Problem. Kann das gelingen? Kann ärztliche Kunst dem Rade des naturgemäßen, langsamen, aber stetigen Ablaufes des Selbstschutzes der Natur in die Speichen greifen, kann man dem Tode ein geistig Schnippchen schlagen, um mit den Waffen eines Ehrlich in der Hand nicht mehr individuell, sondern ganz generell zu heilen, gewissermaßen vom Laboratorium aus, mit einer Blutprobe in der Hand, ohne den Patienten je von Angesicht zu Angesicht zu sehen? Vor diesem Probleme stehen wir.
Das müssen sich die Ärzte bald einmal völlig klar machen. Der generelle Laboratoriums-Aeskulap ist am Werke, den Pilgerarzt, der über Land von Hütte zu Hütte wandert, abzulösen. Die Fabrik rutscht langsam an die Stelle der Apotheke, und die Erkenntnisse eines Ehrlich, eines Wassermann werden vielleicht dazu führen, den ganzen Wust der persönlichen Diagnostik über den Haufen zu werfen. In der Blutprobe allein leuchtet manch[302] diagnostisches Röntgenlicht. fern vom Patienten kann Reagenzglas und Mikroskop die Diagnosen stellen, wie einst symbolisch der Schäfer Ast aus dem Haarbüschel.
Mag diese Zeit fern oder nahe sein, die Wissenschaft drängt mit einem Riesenimpuls darauf hin, und Ehrlich war ihr Heerführer, und ein Wassermann wird ihr großer Feldherr sein.
Der Arzt aber, der etwas stutzig werden könnte vor dieser Gespensterperspektive einer unpersönlichen Medizin, hat eins in seiner altbewährten humanen Trösterhand, das ihm nie ein Laboratorium, keine Reaktion und keine Toxintheorie entreißen kann: das ist die Seele seiner Leidenden. Je mehr die Medizin generell und universell werden sollte, desto psychologisch tiefer, desto ethischer, kultivierter, hochgesinnter muß der Arzt werden, desto mehr drängt ihn die im Sturmschritt auf Verallgemeinerung der Heilmethoden, auf Monopole und Spezialitäten vorrennende Wissenschaft in das stille Kämmerlein, wo Beichte, Trost und Mittlerschaft des Seelischen ihre Wohltaten spenden.
Wer Paul Ehrlich einmal, wie ich damals in Frankfurt a. M., am Krankenbette, in den Sälen eines großen Krankenhauses zu beobachten Gelegenheit gehabt hat, der muß bemerkt haben, daß in diesem außerordentlichen Manne dieses Bewußtsein des eben aufgezeigten gewaltigen Problems der Medizin ganz gegenwärtig war. Es war geradezu rührend für mich, zu sehen, wie schmiegsam zärtlich er mit den kleinen Patienten umging, sich über ihr Bettchen beugte, sie streichelte und Scherze machte, und das doch, indem man ihm deutlich anmerkte, wie scheu, wie ungemütlich, wie fernab er sich vorkam in diesen Betrieben, die in seinem Namen ihre Räder spielen ließen.
Oder war es die hellseherhaft ihm aufleuchtende ungeheure Verantwortung, die er kraft seiner Erkenntnis und Empfehlung auf seine Menschenschultern nahm? In diesen Augenblicken dämmernden Kleinmutes erschien mir Ehrlich am größten! Was muß er erst gepeinigt gewesen[303] sein von den schweren Angriffen, die er erfuhr, wie mag er zusammengezuckt sein, wenn man hart und grausam seinem Mittel eine Erblindung, einen plötzlichen Tod in die Schuhe schieben wollte! Die Ereignisse haben ihm diese Last tragen helfen, ja, die Schulter gesegnet, die sie auf sich nahm, aber er hat sicher gelitten, wie jeder Große, er hat gewiß die schwerste Buße des Genies getragen, den Zweifel an sich und seinem Werke, der, sollte er auch nur Stunden währen, doch Golgatha bedeutet.
Gäbe doch der Lauf der Dinge, daß diesem gleich gütigen wie großen Menschen der Nachruhm länger währt als sonst den Geistnaturen der medizinischen Wissenschaft, die, weil sie am Schatten des Lebens arbeiten, nie recht der Sonne der Volksgunst sich erfreuen, die sie so reichlich verdienten.
Macte senex![304]
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