Brüssel. Straßburg

17901792

[19] Ein großes Ereignis war es für mich, daß ich meinen Vater auf einer Reise nach Brüssel begleitete, zu der ihn dort lebende Freunde veranlaßten. Sie erstreckte sich auf vierzehn Tage, und ich war nicht wenig erstaunt, als ein Tag nach dem andern verging, ohne daß ich Mutter und Schwester wiedersah. Die Begegnisse der Reise, die neuen Landschaften und Städte, die ich zu sehen bekam, beschäftigten mich indes auf das angenehmste, besonders Brüssel selbst, die prächtige, volkreiche Stadt mit dem schönen Park, dem zahlreichen österreichischen Militär und den vielen guten[19] Leuten, bei welchen wir einsprachen und die es mir vom Morgen bis zum Abend an Unterhaltung nicht fehlen ließen. Wiewohl noch so jung, empfing ich doch nicht ohne Nutzen die Eindrücke so vieler und bedeutender Gegenstände; von dem, was die Sinne fassen konnten, ging mir nichts verloren, und das frische, durch keinen Zwang verkümmerte Gedächtnis hielt alles in treuem Gewahrsam fest. Hätte ich Brüssel später nie wiedergesehen, so würde mir doch von jenem ersten Mal ein allgemeines und in vielen Zügen höchst bestimmtes Bild der Stadt und ihrer Einwohner, der Trachten und Sprachweisen, der gottesdienstlichen Aufzüge, und was sonst in die Augen fiel, zeitlebens verblieben sein, ungerechnet das denkwürdige Wahrzeichen des Manneken Pis, dieses wunderlichen Brunnenmännchens, das freilich meine Begriffe äußerst in Verwirrung brachte, denn hier war ganz öffentlich zur Schau gestellt, was in jedem andern Falle für höchst unanständig erklärt wurde. Daß dieses Manneken nun gar ein Bürger von Brüssel sein sollte, an gewissen Tagen festlich geschmückt wurde und der ganzen Stadt als ein Pfand ihres Wohlergehens teuer und fast heilig war, hatte für mich zwar keinen Sinn, doch reimt ich es zusammen mit der Verehrung, die ich auch andern Bildern von Stein oder Holz erweisen sah und die ich ebensowenig begriff.

Nicht lange waren wir heimgekehrt, als eine neue Trennung stattfand und meine Mutter und Schwester eine Reise nach Straßburg machten. Hatte ich früher das Scheiden als Abreisender empfunden, den neue Aussichten reizen und wechselnde Gegenstände zerstreuen, so war mir nun beschieden, das Los des Zurückbleibenden zu erfahren, dem sich alles Bekannte und Gewohnte plötzlich verödet und der ein verringertes Leben einsam fortsetzen soll. Schon in dem begünstigten erstern Falle hatte ich den Schmerz der Trennung tiefer empfunden, als ein sonst leichtsinniges Naturell es erwarten ließ, und mitten in den größten Zerstreuungen war meine Sehnsucht oft ungestüm erwacht; jetzt aber, als[20] das Schiff, das die Geliebten aufgenommen, stromaufwärts meinen Augen entschwand und diese zurückblickten in das leere Haus, den stillen Garten, da kannte meine Wehmut kein Maß. Die Spielsachen, das Gartengeräte, alles, was ich noch am Tage vorher mit meiner Schwester gemeinsam besessen und gehandhabt, erregte meine heißen Tränen, alles war mir allein überlassen, und keine Freude mehr haftete daran. Ich durchlief klagend die mir leeren und übergroßen Räume, nicht Essen noch Trinken behagte mir, und nur als mein Vater mich zu einem weiten Spaziergang mitnahm und bei guten Freunden einsprach, wo fröhliche Jugend in Busch und Feldern sich tummelte, vergaß ich etwas des Leides, das mir zu Hause fortbestand. Am nächsten Morgen war es derselbe Schmerz, dieselbe Angst, und ich fühlte wohl, daß alle Tröstungen, die man mir bot, keine waren, daß niemand wußte oder wissen wollte, was ich litt, und ich glaube wirklich, daß man im allgemeinen das Weh und Leid, welches Kinder empfinden können, zu gering anschlägt. Mein Vater, dessen Gesellschaft allein mich beruhigte, konnte mich doch nicht immer an seiner Seite haben und sah sich genötigt, mich für die Zeit der Abwesenheit von Mutter und Schwester in eine befreundete Familie zu geben, wo mir denn unter Kindern die Tage bald wieder angenehm hingingen.

Das frühere Dasein ungetrübter Kindheit in stiller Häuslichkeit und Gartenlust war jedoch unterbrochen und schien in voriger Weise nicht wiederkehren zu sollen. Denn auch als meine Mutter und Schwester von Straßburg zurückkehrten und mir das Glück des Wiedersehens, von mitgebrachten Geschenken und unerschöpflichen Erzählungen begleitet, durch viele Tage sich immer neu fortsetzte, war es nicht mehr die Absicht, sich der früheren Lebensgewohnheit behaglich wieder einzufügen, sondern es wurde schon daran gedacht, diese ganz zu verlassen und neue Verhältnisse in der Ferne zu begründen. Die Eindrücke von Straßburg hatten in meiner Mutter das lebhafteste Heimweh nach der geliebten Vaterstadt erweckt, wo viele teure Bande sie anzogen,[21] und die Mitteilungen, welche sie meinem Vater brachte, hatten auch ihm die alte Vorliebe für die Stadt seiner Studien aufgeregt. Man verglich den Glanz und die Behaglichkeit des Lebens in der großen und reichen Hauptstadt des herrlichen Elsaß mit dem kleinen und ärmlichen Zuschnitt der Verhältnisse in Düsseldorf, wo eine ehemalige Residenz mehr und mehr in eine Provinzialstadt versank und ein schwaches Bürgertum von üppigem Beamtenwesen erdrückt wurde, dessen Kabalen und Ränke, wie am fernen Hofe so auch am Orte selber, sich durch alle Lebensgebiete hinzogen. Mein Vater war von namhaften Männern aufgefordert, an der blühenden Straßburger Universität, welche kürzlich die berühmten medizinischen Lehrer Spielmann und Lobstein verloren hatte, eine Professur anzusprechen, wobei ihm der Erfolg als gewiß und sein künftiger Wirkungskreis als der glänzendste vorgestellt wurde. Ein Mann, der sich in seinem Fache vollkommen tüchtig fühlte und der seine Gabe des Vortrags und Lehrens in manchen Gelegenheiten erprobt hatte, konnte wohl gereizt sein, solchem Rufe zu folgen und Verhältnisse, in denen er mühsam zu ringen hatte und einen Teil seiner Fähigkeiten nutzlos ruhen sah, mit solchen zu vertauschen, in welchen allen seinen Kräften geförderte und fruchtbare Tätigkeit gesichert schien. Doch zu diesen persönlichen Bestimmungsgründen kam noch ein allgemeiner hinzu, der jene mit aller Macht fortriß und sie alle weit überflügelte.

Die im Jahre 1789 in Frankreich ausgebrochene Revolution hatte überall die Geister lebhaft angeregt, und alle Freunde des Lichts, der Freiheit, des Menschenwohls überhaupt erwarteten von der großen Bewegung ein neues, allgemeines Heil der Welt. Mein Vater war nicht der letzte gewesen, diese schönen Hoffnungen aufzufassen und zu verkündigen. Zwar hatte sein Gemüt bei den Auftritten der Pöbelwut und Grausamkeit, die gleich im Beginn stattfanden und von Zeit zu Zeit wiederkehrten, sich heftig empört und wollte für den hohen Zweck nur milde und menschenfreundliche[22] Mittel angewendet sehen; allein jene Untaten verloren sich noch als Einzelheiten in der großen erfreulichen Strömung, die fortwährend die wichtigsten Anliegen der Menschheit einem glücklichen Ziel entgegenzutragen schien. Zudem war die Bewegung nun in einem Zuge, der zu einer festen und ruhigen Ordnung leiten mußte, das Werk einer neuen Konstitution wurde von der Nationalversammlung eifrig gefördert, die Grundsätze fanden begeisterte Zustimmung, und der Abschluß des Ganzen konnte nicht fern sein. Dem neuen Reiche der Freiheit und des Gesetzes, des Bürgertums und der Bruderliebe anzugehören schien das glücklichste Los, dessen wohldenkende, edle Menschen teilhaftig werden könnten.

Was meine Schwester mir von ihrer Reise und insbesondere von Straßburg erzählte, stellte meine eignen Anschauungen leicht in Schatten; sie hatte größere und reichere Gegenstände gesehen als ich und hatte sie sicherer und reifer aufgefaßt. Auch die Begeisterung für Freiheit war ihr nicht entgangen; sie hatte die frohen Feste gesehen, mit denen die neue Gottheit war gefeiert worden, sie hatte die Zeichen derselben, die Nationalfarben, überall vor Augen gehabt, und sie trug selber eine Schärpe dreifarbigen Bandes, auf welches sie nicht wenig stolz war. Sie teilte mir gar leicht eine Stimmung mit, die ihr aus natürlichem Nachahmungstriebe so lieb und eigen geworden war. Was sie von den Herrlichkeiten des Münsters, diesem für keine wiederholte Erzählung erschöpfbaren Wunder, von der Pracht der Spaziergänge und Lustörter, von den liebevollen Verwandten und zahlreichen Spielkameraden, ja von den kindischen Genüssen, dem herrlichen Obst und vortrefflichen Backwerk und von anderm Wichtigen dieser Art hinzufügte, verschmolz mir mit jenen dunkeln unfaßlichen Worten von Freiheit zu einem gemeinsamen Ganzen unermeßlicher Vorzüge, in welchen Straßburg vor allen Städten prangte. Die Mutter hatte nicht versäumt, auch ihr eignes Geburtsrecht hervorzuheben und sich als Straßburgerin zu rühmen, wonach[23] ihr denn auch der Name einer freien französischen Bürgerin zukäme, und wir hörten oft genug, unser Vaterland sei ebensogut in Straßburg als in Düsseldorf.

Der Entschluß, letztere Stadt zu verlassen und sich in jener anzusiedeln, kam bei den Eltern bald zur Reife, und zufällige Umstände halfen ihn beschleunigen. Mein Vater hatte, zwar ohne seinen Namen, aber doch für diejenigen, die ihn näher kannten, leicht erratbar, auswärts eine Schrift drucken lassen, welche in volksverständlicher Weise mancherlei gemeinnützige Gegenstände, besonders aber die Gesundheitspflege behandelte und in solchem Betreff manche Vorurteile und Mißbräuche scharf kritisierte, wobei denn auch die Anstalten sowohl der Kirche als des Staates nicht geschont blieben. Durch die Aufdeckung von solchen Übelständen wurden viele Leute verletzt, am meisten erbitterte der Ton, in welchem sich menschenfreundliches Pathos mit schneidender Satire mischte. Die Pfaffen vorzüglich machten großen Lärm, und da sie fühlten, daß sie in eigner Sache schon weniger Gunst fanden, so spielten sie ihre Anklagen lieber auf die Staatsseite hinüber, beschuldigten den ungenannten Verfasser der Auflehnung gegen die Obrigkeit, der Schmähung von Behörden und brachten es dahin, daß selbst das Medizinalkollegium, von welchem mein Vater Mitglied war, in solchem Sinne verfahren und die Schrift öffentlich mißbilligen wollte. Die Klemme, in welche mein Vater geriet, war sehr unangenehm, sein Mut drängte ihn, frei hervorzutreten und sich zu nennen, die Klugheit aber gebot, den Schutz der Halbanonymität nicht aufzugeben und die Gegner nicht in Vorteil zu setzen. Die Reibungen, welche aus diesen Mißverhältnissen entstanden, die Kleinlichkeiten, die sich dabei zeigten, und die fortgesetzte Gehässigkeit und Verleumdung, welche sich bis zum Hof des Kurfürsten nach München erstreckten, alles dies verleidete meinem Vater den Aufenthalt in Düsseldorf, der in seinen Augen um so mehr sinken mußte, wenn er damit den Lebenskreis verglich, der sich ihm in Straßburg eröffnete.[24]

Als bekannt wurde, daß er damit umgehe, seine Vaterstadt zu verlassen, hätte er sein Vorhaben fast wieder aufgeben mögen, so groß war der Zudrang und die Beeiferung seiner Freunde, die ihn zurückhalten wollten, ja viele lernte er erst jetzt als solche kennen; gleichwohl gestanden die meisten, daß auch sie, wenn nur die Verhältnisse es ihnen erlaubten, am liebsten desselben Weges mit ihm zögen, denn die heimischen Zustände lagen drückend auf jedem nur einigermaßen freien Mute. Von der andern Seite hingegen fand mein Vater für seine beabsichtigte Verpflanzung jede mögliche Bereitwilligkeit. Man erleichterte ihm den Entschluß auf alle Weise und gewährte ihm als besondere Gnade, seine kurfürstliche Bedienung an einen Befähigten, der sogleich gefunden war, verkaufen zu dürfen. Nachdem alle Hindernisse beseitigt waren, gingen die Anstalten rasch ihren Gang. Wir sahen nach und nach unsern Hausrat verschwinden, die geringern Sachen wurden verkauft, die bessern eingepackt, Kisten und Koffer zu Schiffe gebracht; und eines Vormittags, nachdem schon viele Tage das Abschiednehmen uns ermüdet, diesmal aber eine dichte Schar mit lauten Segenswünschen uns zum Ufer begleitet, stiegen wir selbst in einen Nachen, der uns an Bord eines großen holländischen Schiffes brachte, das unmittelbar darauf seine Bergfahrt fröhlich antrat.

Diese Rheinreise gehört zu den vergnüglichsten Ereignissen meines jüngern Lebens, die früheren Trennungen ließen mich das Reisen im Zusammensein mit beiden Eltern und der geliebten Schwester als ein neues Glück empfinden, und die Schwester, welche diese Fahrt schon doppelt gemacht hatte, stand mir als erfahrene und kundige Erklärerin höchst erfreulich zur Seite. Das Schiffleben hatte den größten Reiz, der innere Raum war gemächlich eingerichtet, für unser Bedürfnis übergroß, dabei vollkommen sicher; am erwünschtesten war uns aber der Aufenthalt auf dem Verdeck, wo wir jedoch, der mancherlei Gefahr wegen, unsere Freiheit sehr beschränkt sahen und keinen Augenblick ohne Aufsicht[25] blieben. Wir machten mit den Schiffknechten gute Bekanntschaft, erfuhren den Gebrauch so mancher Geräte, den Zweck so vieler Anstalten; Mitreisende machten uns aufmerksam auf die Gegenstände am Ufer, nannten die Ortschaften; auch Erzählungen fehlten nicht, alte Sagen und neue Vorfälle; aber auch schweigend in die bewegte hellgrüne Wasserflut hinabzublicken und die Wellen und Wirbel zu verfolgen konnte uns stundenlang vergnüglich beschäftigen. Die Fahrt, als eine zu Berge, ging langsam; weit vor uns auf dem Leinpfade des Ufers sahen wir die lange Reihe hintereinandergespannter Pferde unser Schiff mühsam fortziehen; die Mitte des am hohen Maste befestigten Zugseils verlor sich unsern Augen meist im Wasser, wenn aber bei stärkerem Anziehen, wie bisweilen Krümmungen des Ufers oder heftigere Strömungen des Wassers es veranlaßten, der dünne Faden triefend aufschnappte und straff in der Luft glänzte, so war dies für uns ein köstlicher Augenblick, dem wir oft lange Zeit geduldig entgegenharrten. Erhob sich günstiger Wind, so wurden auch Segel aufgespannt, selten kam die Anstrengung hinzu, daß auch Stangen zum Abstoßen gebraucht wurden. Mich dünkt, die Schiffahrt auf dem Rheine war in jener Zeit nicht minder belebt als heutigestages, die Dampfschiffe natürlich abgerechnet, ja die kleine Schiffahrt sogar belebter als jetzt, wenigstens hat meine Erinnerung ein Bild unaufhörlichen Begegnens und Vorüberfahrens bewahrt.

Was uns das größte Wunder blieb, war die Kleinheit, in der uns die Menschen und Tiere am Ufer oder auf den Bergeshängen erschienen; diese kleinen Kinder, die wir sahen, waren große Leute, wie man uns versicherte und wie wir uns in manchen Fällen auch selbst überzeugten; mit diesen Pferdchen und Wägelchen hätten wir spielen mögen, diese kleinen Nachen schien man mit der Hand aus dem Wasser nehmen zu können. Mächtig groß erhoben sich im Gegensatz die Städte, zu denen wir dicht heranfuhren und wo wir zu Mittag und Abend einzukehren pflegten. Das[26] vom Flusse her sich prächtig darbietende Köln, Bonn mit seinem schönen Schloß und hohen Bäumen, dann das heiter daliegende Koblenz und die hoch drohende Festung Ehrenbreitenstein, alle diese Anblicke sind mir aus damaliger Zeit fest im Gedächtnisse geblieben, und keine folgende fand Wesentliches daran zu ändern.

In Neuwied fanden wir gastliche Aufnahme in dem Hause eines ehemaligen Universitätsfreundes meines Vaters. Er hieß von Tonder und hatte als Herausgeber einer in jener Zeit sehr verbreiteten Wochenschrift, der berühmten »Politischen Gespräche im Reiche der Toten«, sich zu ansehnlichem Ruf und Wohlstand emporgeschrieben. Große Lebhaftigkeit des Geistes und bewegliche, das Was und Wohin nicht allzu genau nehmende Sinnesart befähigten ihn für damalige Zeiten zu einem glücklichen Zeitungsschreiber, der denn doch aus allen Abweichungen, zu denen die Umstände ihn fortrissen, sich immer wieder in die eigne Bahn zurückzufinden wußte. Mir ist von ihm besonders erinnerlich, daß er und mein Vater, wie sie es als Stubenkameraden auf der Universität schon gewohnt gewesen waren, miteinander immer Latein sprachen, so geläufig und bequem, als es ihnen die Muttersprache hätte sein können; sie führten ernsthafte Erörterungen und scherzendes Gespräch voll Munterkeit und Lachen, die künstlichen Wendungen selber, zu denen der Zwang der fremden Sprache nötigte, ergötzten und belebten die Unterhaltung und nahmen ihr die Bitterkeit, die sie sonst hätte haben müssen; denn die beiden Freunde waren in vielen Dingen ganz entgegengesetzter Meinungen. Die Fertigkeit im Lateinsprechen fand sich in katholischen Ländern und besonders am Rhein ehemals sehr häufig, und eine gewisse Meisterschaft darin wurde immer sehr hoch geschätzt; wer in ihrem Besitze war, durfte sich mit Erfolg darin sehen lassen. Späterhin war ich oft verwundert, in protestantischen Ländern diese Fertigkeit weder so häufig noch so geschätzt zu sehen, indem selbst anerkannte Gelehrte sich darauf nicht einlassen wollten und[27] sogar Philologen es verschmähten, eine Übung zu erwerben, die nach ihrer Meinung nie der Maßstab echter und tiefer Sprachkenntnis sein konnte, sondern als ein überflüssiges Beiwerk nebenherlief. Mir aber ist aus meiner frühesten Zeit stets ein besonderer Respekt für das Lateinreden verblieben, und wenn mir späterhin dergleichen vorkam, hatte ich immer sogleich von Tonder und meinen Vater vor Augen.

Von Koblenz aufwärts blieben wir in einem Entzücken. Die vielen Bergruinen, Felsenmauern und Türme belebten sich uns mit allen Bildern des Ritterwesens, von dem uns schon das Theater einigen Begriff gegeben hatte. Die Felsen im Rhein selbst, die Bank von St. Goar, der Unkelstein und andere gefährliche Stellen, welche man uns zeigte und dabei der furchtbarsten Unglücksfälle erwähnte, des rettungslosen Zugrundegehens, fuhren wir mit angstvollem Staunen vorbei, allzu froh und glücklich, daß wir mit den Eltern so gräßlichem Verderben entgangen seien. Die Schiffknechte rühmten sich wohl, daß wir unser Heil bloß ihrer Geschicklichkeit zu danken hätten, und wir gaben ihnen gern dafür unser Taschengeld; als ich aber hörte, daß einige von ihnen nicht schwimmen könnten, schloß ich alsbald, daß, wenn wir scheiterten, auch sie mit untergehen müßten, wodurch ihre Fürsorge für uns mir sehr im Werte zu sinken schien.

In Mainz machten wir einen längern Aufenthalt. Mein Vater hatte dort viele Bekannte; Sömmerring stand als naturforschender Arzt in größtem Ansehen, der Arzt Wedekind war in seinem Fache ausgezeichnet, noch mehr aber durch den politischen Eifer bekannt, der ihn bei der nachherigen Mainzer Revolution in große Wirksamkeit, aber auch in gefahrvolle Verwickelungen brachte. Ich weiß es nicht mit Sicherheit, aber ich habe Grund zu vermuten, daß auch Georg Forster mit meinem Vater in freundlichem Verhältnisse stand. Wir machten Ausflüge in den Rheingau, nach Wiesbaden, Schwalbach und Ems, ja wir müssen damals lahnaufwärts auch Montabaur, Limburg und Weilburg besucht haben, denn als ich nach vielen Jahren diese Orte[28] wiedersah, dämmerte mir die Erinnerung eines früheren Eindrucks derselben Örtlichkeiten deutlich und deutlicher aus jener Kinderzeit hervor. Dagegen ließen die Besuche in Frankfurt am Main, in Offenbach und Hanau wohl die Erinnerung der Namen dieser Städte, nicht die ihres bestimmten Anblicks in meiner Seele.

In Mannheim verweilten wir ebenfalls einige Zeit, denn meines Vaters Mutter lebte hier und wollte uns so schnell nicht wieder abreisen lassen. Sie war Garde des Dames oder Oberkammerfrau der Kurfürstin Marie Elisabeth, der Gemahlin Karl Theodors, und stand am Hofe in großem Ansehn. Gleich ihrer Herrin, deren ganzes Vertrauen sie besaß, hatte sie sich der eifrigsten Frömmigkeit ergeben, befolgte mit aller Sorgfalt die Vorschriften der Kirche und ging in strengen Andachtsübungen so weit, daß ihr Beichtvater ihrem Eifer Einhalt tun mußte. Uns gegenüber fand sie sich in einer sonderbaren Lage, schon über die lutherische Schwiegertochter und Enkelin mochte sie oft im stillen seufzen; allein sie half sich in diesem Falle mit der Hoffnung, welche den Frommen ihrer Art immer zur Hand ist, daß nämlich die ewige Gnade noch zu rechter Zeit die Irrenden erleuchten werde, ein Ziel, das jeder Gläubige durch andächtige Fürbitten helfen könne näherzurücken, und gewiß ließ sie es an Gebeten zu diesem Zwecke nicht fehlen; doch bei dem Sohne und Enkel konnte solche Hoffnung schwerer stattfinden, denn diese waren ja katholisch und dennoch für die Kirche fast verloren! Mein Vater, der um keinen Preis täuschen wollte, gestand offen seine freie Denkart, und daß er weder selbst die kirchlichen Gebräuche mitmachte noch seinen Knaben in dieser Richtung erzog; aber er tat alles mögliche, um die gute Mutter zu beruhigen, versprach ihr, dem katholischen Glauben nie förmlich zu entsagen, stellte ihr vor, wie selbst nach ihren Grundsätzen alle Versäumnisse wiedergutgemacht werden könnten, und brachte endlich, was ihr am meisten galt, das Zeugnis eines alten Jesuiten bei, den er in Mannheim von alter Zeit her kannte und[29] der ganz gleichmütig versicherte, solche Leute wie mein Vater seien noch gar nicht vom Himmel ausgeschlossen. Gutmütig und traulich, wie sie übrigens war, tat uns die alte Frau gern alles zur Liebe, was in ihren Kräften stand; ihre auserlesene feine Lebensart, verbunden mit der reinsten Herzlichkeit, hatte selbst für uns Kinder etwas Gefälliges und Anziehendes; wir liebten sie aufrichtig und folgten ihr ohne Widerstreben, wenn sie uns unter dem Vorwande eines Spaziergangs mit in die Messe nahm, was ihr jedesmal wie ein errungener Sieg vorkam; auch die Heiligenbilder, die sie uns verehrte, hielten wir in großem Werte, freilich empfingen wir aus derselben Hand reichlich das vortrefflichste Naschwerk, das uns noch je vorgekommen war. Die Großmutter sorgte dafür, daß wir auch der Kurfürstin vorgestellt wurden, welche gegen uns sehr gnädig war und uns schön beschenkte, meinem Vater aber ernstlich abriet, in das neue französische Wesen einzugehen; sie wünschte vielmehr, daß er in Mannheim bliebe, und bedauerte nur, selber keinen Einfluß zu haben. Dies letzte sagte sie mit Bedeutung und ging dann zu vertraulichen Äußerungen über, für welche sie bei meinem Vater alle Teilnahme voraussetzte. Jedermann wußte, daß die Lebensweise Karl Theodors nie von der Art gewesen, um ein zufriedenes Eheverhältnis zu begründen. Die Kurfürstin hatte ihrem Gemahl, als er mit seinem ganzen Hofstaate nach München zog, dahin nicht folgen wollen, sondern gesagt, sie sei eine geborne Pfalzgräfin bei Rhein und wolle bei ihren Pfälzern leben und sterben. Wegen dieser Gesinnung wurde sie von den Mannheimern leidenschaftlich verehrt. Manche Stimmen behaupteten zwar, ihr sei zu verstehen gegeben worden, sie brauche nicht nach München zu kommen, aber ihre Anhänger widersprachen und wollten der Kurfürstin das Verdienst ihres Entschlusses nicht schmälern lassen. Übrigens war am Hofe derselben und für sie selbst ein eifriges und tägliches Geschäft, alle Sittenverderbnis, die noch immer den Hof des Kurfürsten in München bedrängte, genau zu wissen und zu besprechen, welches[30] mit der Frömmigkeit und Strenge, die sonst in allen Dingen herrschte, einen seltsamen Gegensatz machte.

Mannheim zeigte noch glänzende Reste der früheren Hofhaltung. Zahlreicher Adel war hier angesiedelt, die vornehmste und feinste Geselligkeit belebte die oberen Kreise, die mittleren taten es ihnen nach; in Künsten wurde Vorzügliches geleistet, besonders standen Musik und Theater auf einer hohen Stufe. Auch pflegten viele Fremde hier zu verweilen und das Leben in der Stadt und Umgegend sehr angenehm zu finden. Wir ebenfalls besuchten Oggersheim, Frankenthal, Schwetzingen und Heidelberg; es waren die schönsten Lustfahrten, begünstigt durch den Namen der Großmutter, der uns überall Eintritt und vorzügliche Aufnahme verschaffte. Allein diese hellen Vorzüge hatten einen dunkeln Hintergrund, dem Glanz und der Üppigkeit der Hauptstadt ging das Elend des ausgesogenen und zertretenen Landes zur Seite; das Volk erlag der Willkür, dem Eigennutze der Beamten. Dieser Zustand entging auch uns Kindern nicht, wir begegneten Auswanderern, deren Not und Jammer sich deutlich genug aussprach, wir sahen die Armut in den Dörfern; was uns an Verständnis noch fehlte, schöpften wir aus den Gesprächen, die wir mit anhörten, ohne daß man uns diese Aufmerksamkeit zutraute, und so bestärkten wir uns in der Gesinnung, die wir uns schon angeeignet hatten; die Länder der Knechtschaft und Unterdrückung gern zu verlassen und froh dem Lande der Freiheit zuzueilen, das vor uns lag.

Von Mannheim reisten wir zu Wagen weiter, ein Wechsel, der uns, nach der bequemen sanften Wasserfahrt, sehr verdrießlich fiel. Es war wenig zu sehen, man fühlte sich beengt und bald ermüdet, und dies Unbehagen ist auch wohl der Grund, daß von diesem letzten Teile der Reise mir weiter nichts im Gedächtnisse verblieben ist; erst als wir über Rastatt hinaus in weiter Ferne den Münsterturm erblickten, wachten unsere Lebensgeister wieder auf, und alles gewann ein fröhlicheres Ansehen; immer näher kamen wir dem[31] Wunderzeichen, immer größer und deutlicher stieg es vor unsern Augen empor; bei einer Wendung, die wir machten, wurde die bisher dunkle Gestalt plötzlich durchsichtig, ein zauberisches Netz von zarten Fäden stand klar in der Luft, dem durchströmenden Lichte überall geöffnet. Diesem ersten Eindrucke des Münsters stellt sich kaum ein späterer gleich, er überwältigt den Sinn, doch nur um die Einbildungskraft zu steigern; er gewährt Befriedigung und erregt Ungeduld; in der Macht dieses Anblickes ist es unmöglich zurückzugehen, man fühlt sich unwillkürlich vorwärts gezogen, und alle andern Gegenstände schwinden vor dem einen, der bei jedem Schritte sich verändert darstellt und die Aufmerksamkeit nicht losläßt. Nachdem wir in Kehl, an der Rheinbrücke, und zuletzt bei der Maut schmerzlich aufgehalten worden, fuhren wir endlich durch das Metzgertor ein und waren in Straßburg.

Im Gasthofe zum Geist, wo wir eingekehrt, weilten wir nicht lange; wir wurden sogleich zu dem Vater meiner Mutter abgeholt, der uns bei sich aufnahm. Er besaß ein eignes Haus und galt für einen vermöglichen Mann; sein hohes Alter aber trennte ihn gänzlich von der Welt, er lag schon seit Jahr und Tag immer zu Bett und ließ sich von einer älteren Tochter pflegen, die selber längst Witwe war. Die übrigen Geschwister meiner Mutter waren verheiratet, teils in Straßburg, teils auswärts ansässig, die zahlreichen Verwandtschaften, von denen ich mich plötzlich umringt sah, wußt ich auch in der Folge nicht zu entwirren, ich war zufrieden, daß meine Schwester es konnte und daß wir unter ihnen einige Kinder fanden, mit denen wir unsre Spiele trieben. Nur fühlte ich bald, daß meine Schwester, von den schon entwickelteren Basen angezogen, sich weniger mit mir abgab, und da die Eltern ihrerseits überaus in Anspruch genommen waren, die Vettern aber bei ihren Spielen mich als zu klein oft vernachlässigten, so befand ich mich in dem bewegten Treiben sehr allein und dachte wehmütig an Düsseldorf zurück, wo sich alles mehr nach meinem Sinn und[32] Bedürfnis gestellt hatte. Dies Gefühl der Einsamkeit und daß die andern nichts von mir wüßten, ich ihnen im Grunde doch nicht angehörte, übernahm mich oft in den lebhaftesten Zerstreuungen und gab mir eine unsägliche Bangigkeit, die ich auszudrücken unfähig war und also meinem Vater auch nicht vertrauen konnte, dem ich sonst alles ohne Rückhalt zu sagen pflegte. Natürlich dauerte solche Stimmung nie lange, sondern wurde leicht und schnell von dem Vergnügen und Reiz überwunden, die mir aus neuen Gegenständen und fröhlichen Vorgängen in Fülle zuströmten.

Das Münster ist für jeden Straßburger mit Recht die Zierde und der Stolz der Stadt, ein Schatz und ein Ruhm, den der geringste der Einwohner sich aneignet. Meine Schwester war schon eingebürgert genug, um gegen mich Neuling die Straßburgerin zu spielen, mir das Münster als größte Sehenswürdigkeit der Welt anzupreisen und mich in Begleitung älterer Personen sofort hinzuführen und das Wunder anstaunen zu lassen. Man kann nicht erwarten, daß ein Knabe die Schönheit des Münsters zu fassen gewußt habe, aber das darf man mir glauben, daß der Eindruck ein ungeheurer gewesen. Der Anblick der mächtigen, durchbrochenen und doch durch und durch festen Wand, die über den Haupteingängen der Kirche senkrecht zu der Plattform aufsteigt, von wo ab sich der Turm allein erhebt; die herrliche Aussicht von der Plattform über die Stadt rings in die grüne Landschaft hinaus, durch die sich der helle Glanz des Rheins windet; dann der Blick die kühnen Schneckenstiegen hinauf, die freistehend von außen den Turm auf jeder seiner vier Ecken begleiten und hoch oben in ihn übergehen, der sich nun allmählich verengt und zuletzt in den Knopf und das Kreuz endet, wo kaum das Auge zu weilen kühn genug ist: alles dies ist von der Art, daß auch ein roher und kindischer Sinn unfehlbar davon getroffen wird. Nur eines entsprach meiner Erwartung nicht ganz, und dies war freilich ein Hauptstück: nach allem, was ich von der Höhe des Turmes hatte hören müssen, war er mir noch nicht hoch[33] genug, und ich sagte das ganz unbefangen. Aber wie erging es mir da! Gleich einer Narrheit wurde meine Äußerung verlacht, gleich einem Verbrechen gescholten, und als wir nach Hause kamen, mußte ich sogar bei dem Vater mich verklagen hören, der ebenfalls meine Ungebühr rügte, weil er meinte, ihr liege ein eitler Trotz zum Grunde, willkürlich anders zu urteilen als die andern. Ich war aber bei jener Bemerkung unschuldig dem sinnlichen Eindrucke gefolgt, von dem relativen Wert einer bestimmten Höhe hatte ich keinen Begriff, und anstatt einer unermeßlichen Höhe, die man mir verheißen, fand ich eine sehr absehbare, in der meine damals scharfen Augen noch jedes einzelne erkannten, was den andern schon unkenntlich dünkte. Als mir auch letzteres abgestritten und ich eines unwahren Vorgebens beschuldigt wurde, konnt ich das Unrecht nicht länger tragen und brach in heftiges Weinen aus. Nun suchte man mich wohl zu beruhigen und redete mir freundlich zu, aber noch immer in der Voraussetzung, daß ich meine Schuld fühlen sollte. Niemand sah mein Inneres, niemand wollte mir beistehen, ich erschien mir völlig allein in der Welt, denn Vater und Mutter standen mir als Fremde gegenüber; es war eine schreckliche Empfindung, eine frühe Schmerzensweihe zu mancher späteren.

Diese gleich anfangs um des Münsters willen vergossenen Tränen verleideten mir doch nicht im geringsten den Wunderbau selbst, der mir im Gegenteil mit jedem Tage lieber und vertrauter wurde. Ich könnte genauer sagen: mit jedem Abend; denn diese Zeit war es, wo wir gewöhnlich und stundenlang ihn vor Augen hatten, seine Vorzüge besprechen und Merkwürdigkeiten von ihm erzählen hörten und, indem wir an seinem Fuße spielten, immer wieder zu ihm emporblickten, uns von dem übermächtig Großen durchschauern zu lassen. Eine Tante nämlich bewohnte ein Haus auf dem Münsterplatze, welches der Falkenkeller genannt wurde, und meine Mutter versäumte selten, dort mit uns die Abende zuzubringen. Da wurden wir mit dem schönsten[34] »Zowes-Essen« – wie in Straßburg das Vesperbrot hieß – bewirtet, besonders mit unvergleichlichem Obst und feinem Gebäck, beides Zierden der Stadt. Mit den Kindern des Hauses fanden wir uns besser und lieber zusammen als mit allen andern unsrer Bekanntschaft, und der Raum vor dem Hause begünstigte unsre Spiele vortrefflich. Mochte die Sonne noch so sehr brennen und den Münsterturm oben in allem Zauber wechselvoller Beleuchtung glühen lassen, hier unten war tiefer Schatten und erquickende Kühlung, die von alt und jung in froher Unterhaltung genossen wurde. Mit dem Tageslicht aber schwanden gewöhnlich die Spaziergänger, die Straßen wurden stiller, und nach dem Zapfenstreich, im späteren Abenddunkel, gehörte der ganze Münsterplatz nur uns. Wir alle waren gutgeartete, wohlgezogene Kinder, und unsern Freuden blieben grobe Unarten und Bosheit fremd; fanden sich bisweilen rohere Gespielen ein, um an unsern Erlustigungen teilzunehmen, so schieden sie bald wieder aus, wenn sie merkten, daß ihre Art mißfiel oder auch wohl scharf gerügt wurde. Hier geschah mir selten ein Leid, ich fühlte mich von den Größeren nicht nur geduldet, sondern berücksichtigt und gefördert, und genoß ein schönes Jugendglück, schöner noch, als ich es am Rhein in Düsseldorf genossen, weil die Zahl der Teilnehmer soviel größer war.

Nicht umsonst aber lachte das schöne Sommerwetter, wir folgten gern seinen Lockungen ins Freie; die Gärten und Lustörter in der Nähe, der Wasserzoll, Kehl, besonders aber die Ruprechtsau, wurden fleißig besucht; die letztere, ein ausgedehnter, fester Wiesenboden, mit vereinzelten großen Bäumen besetzt, war ein Lieblingsort der Straßburger, wo ganze Familien sich schon im ersten Frührot einfanden, lustwandelten oder Spiele trieben und, unter den hohen Bäumen im Grase gelagert, ihre mitgebrachten Erfrischungen verzehrten, denn ein Wirtshaus war nicht vorhanden und bei der hergebrachten einfachen Sitte auch nicht nötig. Wir machten aber auch größere Ausflüge zu Wagen, besuchten[35] Zabern und das schöne Schloß des Kardinals von Rohan, das Städtchen Baar und den nahen Odilienberg, wo uns die Legende von der heiligen Odilie, der Tochter des Herzogs Eticho, welche hier ein Kloster gebaut hatte, umständlich erzählt wurde. Ein Herr von Türckheim war auf dieser Fahrt mit uns, ob vielleicht der Gatte von Goethes Lili? wüßt ich nicht zu sagen. Den Namen Schöpflin hört ich bei dieser Gelegenheit auch mit großer Verehrung nennen, für die Altertumskunde des obern Rheintals, und des Elsasses insbesondere, war er die höchste Autorität. Von den größeren Ausflügen erinnere ich mich zumeist der Ermüdung, mit der ich von ihnen zurückkehrte; mein Vater wollte meine Kräfte früh zur Anstrengung gewöhnen und mochte ihnen bisweilen doch wohl zuviel zumuten.

Die Straßburger Frauentracht, von welcher Goethe so anmutig erzählt, habe ich auch noch gesehen, und zwar in ihrer letzten Zeit, denn im Verlaufe der Revolution scheint sie schnell seltener geworden und bald gänzlich verschwunden zu sein. Das Bild meiner Mutter als Braut war schon in französischer Kleidung gemalt, das Haar aber dabei noch im altbürgerlichen Staat der unendlichen Zöpfe. Jetzt waren auch diese nebst den kurzen runden Röcken nur noch in den untersten Klassen übrig und am vollständigsten in den kleinern Orten auf dem Lande. Diese Tracht, so wie die landesübliche deutsche Mundart, wurde von den Aufgeklärten und Bestrebsamen sehr bespöttelt, und da den Spöttern selbst ein erträgliches Deutsch oft nicht erreichbar war, so nahmen sie ihre Zuflucht zum Französischen, worin sie aber gleichfalls, durch die abscheulichste, dem Oberrhein und einem Teile der Schweiz eigne Falschbetonung, sich als gute Elsasser auswiesen. Das Straßburger Deutsch klingt freilich ungeschlacht, und besonders schadet ihm, daß soviel verdorbenes Französisch hineingeknetet ist; doch ein guter Kern ist darin unverkennbar, und der viele Scherz und Mutterwitz, der in der ansehnlichen lebhaften Stadt seit uralter Zeit in gangbaren Redensarten sich angesammelt und fortgebildet,[36] macht diese Mundart zum täglichen Gebrauch geschmeidig und anmutig genug. Ich verstand bald, was in ihr gesagt wurde, machte jedoch kaum den Versuch, darin zu sprechen; denn die Personen, mit denen ich umging, wollten alle mit mir lieber hochdeutsch reden, und die Kinder besonders wurden zu diesem, und mehr noch zum Französischen, angespornt.

Das Französische mußte in der Tat vermittelst der Revolution rasch die Oberhand gewinnen. Vor dieser wußte und fühlte noch jedermann die deutsche Stammgenossenschaft und suchte mit Fleiß alte Sitte und Gewöhnung zu bewahren. Die Sprache, die Religion, die Tracht, die städtische Ordnung, alles stand den französischen Einflüssen entgegen, die von seiten des Hofes nur absolutistische und katholische sein konnten; als aber von Paris her die Freiheitsgrundsätze kamen, alles bisher Gefürchtete verschwand und die herrlichsten Hoffnungen an die Stelle traten, da mußten alle Schleusen sich öffnen, und die wogende Flut durfte frei hereinströmen. Mit der Freiheit und dem Bürgertum verbrüderte man sich unbedenklich, mit den wiedergeborenen Franken wollte man gern in ein Volk zusammenfließen; schwache Fäden alter Gewöhnungen hielten nicht gegen die neuen starken Bande des Geistes und der Gesinnung.

Wirklich war in Straßburg kaum ein Schritt möglich, ohne den neuen Ideen in Tatsachen oder Zeichen zu begegnen. Gleich die ersten Bewegungen zu Paris hatten im Elsaß begeisterte und kräftige Zustimmung gefunden, und die Straßburger besonders waren leidenschaftlich in die neue Richtung eingegangen. Überall hörte man die neuen Wahlsprüche, den Leberuf der Freiheit, des Gesetzes, der Nation, überall brachen die Zeichen des neuen Lebens hervor; man sah Freiheitsbäume aufgerichtet, die Farben und Schlagwörter der Revolution in Tafeln, Schildern und Inschriften vervielfältigt, die dreifarbige Kokarde an jedem Hute, dreifarbige Fahnen auf jedem öffentlichen Gebäude, die Frauen schmückten sich mit dreifarbigen Bändern; Tag und Nacht[37] erklangen die patriotischen Gesänge. Das berühmte Volkslied »Ça ira« war im vollen Schwange, jeder Straßenjunge wußte die wenigen scharfen Worte und sang sie nach der leichten rohen Weise mit aller Kraft der Lungen. Das Lob der Patrioten und das Verderben der Aristokraten waren die beiden Hauptthemen jenes Liedes und vieler andern, die mit ihm wetteiferten. Man kannte damals noch keine anderen Parteien als diese beiden; der Name des Königs galt noch auf jeder, wenn schon in verschiedener Bedeutung, ja die Patrioten feierten ihn am meisten, da er ihrer Sache damals willig diente. Mir sind eine Menge jener Lieder und Verschen, zu denen sich kein Dichter hätte bekennen mögen, im Gedächtnisse geblieben, aber ich erinnere mich durchaus keiner deutschen, alle waren französisch, und bei der reichen Zufuhr aus dem Innern war kein Bedürfnis eigner elsassischen Erzeugung. Der bekannte Eulogius Schneider, der nach Aufgebung seiner Professur in Bonn um jene Zeit in Straßburg revolutionär zu wirken begann, widmete wohl den Freiheitsgegenständen auch seine scharfe Dichtergabe, jedoch keins seiner derartigen Erzeugnisse hat sich im Volke Bahn gemacht.

Am lebendigsten und glänzendsten spiegelte sich das Freiheits- und Bürgerwesen in Straßburgs Nationalgarde. Jeder wehrhafte Mann war eingeschrieben, uniformiert, bewaffnet, exerzierte und tat Wachtdienste. Die gesamte Truppe nahm sich vortrefflich aus, sie konnte sich dreist neben die Linientruppen stellen und hatte sogar ein vornehmeres und mutigeres Ansehen. Blaue Röcke mit roten Kragen und Aufschlägen und weiße Unterkleider und Gamaschen hielten auch hier die beliebten Nationalfarben stets vor Augen; die ganze Körperschaft, welche öfters in ihrer imposanten Masse ausrückte, und jede Schildwacht, die auf dem Posten stand, schimmerte trikolor. Dies fiel um so mehr auf, als die Linientruppen noch ihre weißen Uniformen hatten, mit schwarzen, grünen und noch anderen Aufschlägen; sie hatten schon die dreifarbige Kokarde am Hut, die Nationalgarden dagegen[38] führten an den Rockzipfeln noch die Lilien, diese beiden Zeichen waren gemeinsam. Übrigens bestand gegen die Linientruppen einiges Mißtrauen, man wußte, daß ihre Stimmung nicht durchgängig revolutionär, sondern geteilt war und daß besonders die Offiziere die Volkssache nicht begünstigten; viele der besten Unteroffiziere waren von den Regimentern abgegangen, um als Lehrer der Waffenübung und des Dienstes bei den Bataillonen der Nationalgarde einzutreten; die gemeine Mannschaft aber bestand aus ungleichartigen, zum Teil ausländischen Elementen. Die Nationalgarde hatte daher das Selbstgefühl ihres entschiedenen Übergewichts; ihre Einigkeit in sich selbst und ihr Rückhalt an der revolutionären Kraft des ganzen Landes ließen sie keinen Zusammenstoß mit den Linientruppen fürchten, auch waren diese am meisten bemüht, einen solchen zu vermeiden, und ließen den Nationalgarden überall den Vortritt. Die Entschlossenheit und Leichtigkeit, mit denen sich Bürger, sobald ein ernster und großer Antrieb sie bewegt, in Soldaten verwandeln, hat immer die Welt überrascht und in Erstaunen gesetzt, doch vielleicht niemals mehr als in jenen ersten Zeiten der Revolution. Die Stürmung der Bastille, die Vendée, Saragossa und die spanischen Guerillas, die österreichischen und preußischen Landwehren und zuletzt wieder die Pariser in den Julitagen haben die Stärke, welche den Volksbewaffnungen inwohnt, noch oft genug dargetan; in jenen Tagen aber hielten die zünftigen Kriegsmänner für ganz unmöglich, daß ein zusammengerafftes Bürgervolk – oder Schuster und Schneider, wie man sich gern ausdrückte – alten geübten Soldaten widerstehen sollte. Die Straßburger wußten recht gut, daß auch sie von jenseits des Rheines her verlacht wurden, allein sie ließen sich dadurch nicht irren, setzten ihre Übungen fleißig fort, hielten auf Zucht und Ordnung und brachten es in kurzem so weit, daß die wichtige Festung kaum einer andern Besatzung zu bedürfen schien. Die Bürger hatten auch einige Reiterei und besonders tüchtige Artillerie errichtet, die mit der[39] königlichen in bester Eintracht lebte; denn grade dieser Zweig des alten Heeres zeichnete sich, wie in ganz Frankreich so auch hier, durch Hinneigung und Eifer für die Volkssache aus.

Mein Vater leistete den vorgeschriebenen Bürgereid und wurde demzufolge nun auch Mitglied der Nationalgarde. Als ich ihn zum erstenmal in der Uniform sah, schlug mir vor Freuden das Herz; nun glaubt ich, daß wir dem neuen Vaterlande völlig angehörten. Ihn bei seinem ersten Wachtdienste zu besuchen, unter so vielen muntern, ihm und mir so ausnehmend freundlichen Kameraden, so nah und vertraut allen Gewehren, Trommeln, Fahnen, das war ein Fest, dessengleichen sich im Leben selten ereignet. Ich war stolz darauf, meinen Vater als einen Verteidiger der Freiheit zu sehen, die ich von allen Seiten als das höchste Gut preisen hörte und für welche zu sterben als das schönste Los gerühmt wurde. Ich erfuhr, daß auch mir nun die Ehre gesichert sei, als französischer Bürger einst an der hohen Bestimmung teilzunehmen, die mein Vater jetzt erfüllte und die ich mehr beneidete als alles andere, was die erwachsenen Leute vor mir voraushatten. Abends fand ein Gastmahl im Wachthause statt, wo sich mehrere hohe Befehlshaber einfanden, der Zapfenstreich wurde von kriegerischer Musik begleitet, man sang patriotische Lieder, und zuletzt fielen sogar Freudenschüsse, die von anderen Posten beantwortet wurden, und berauscht von Entzücken, kehrte ich in später Nacht aus dem Zauberkreise nach Hause, wo mich heimkehrende Nationalgarden sicher ablieferten. Unfähig zu erzählen, was ich erlebt hatte, konnt ich Mutter und Schwester nur bedauern, nicht mit dort gewesen zu sein, ja es schien mir sehr traurig, daß ihnen nicht derselbe Beruf werden könne, dem ich unfehlbar entgegenging! La nation française, liberté, égalité – welch süße, stolze Worte damals dem Ohr! Wer mir damals gesagt hätte, daß diesen Franzosen, diesen Nationalfarben und dieser Losung ich einst, aus freier Wahl und mit heißem Eifer, feindlich gegenüberstehen[40] würde! – Die Begeisterung erstieg den höchsten Gipfel, und ein Goldenes Zeitalter schien wirklich anzubrechen, als von Paris die Heilverkündung erscholl, der König habe die von der Nationalversammlung ausgearbeitete Konstitution angenommen und beschworen. Dieser Tag, der 14. September 1791, wurde durch ganz Frankreich festlich nachgefeiert, und Straßburg zeichnete sich vor vielen Städten durch großartige Anordnungen aus. Kanonendonner verkündete den Anbruch des Tages, die Linientruppen und Nationalgarden waren mit dem frühsten in Bewegung, die von Musik und Jubel begleiteten Hin- und Herzüge bewaffneter Abteilungen wollten nicht enden; zuletzt vereinigte sich alles zu einer großen Parade, einem erhebenden Schauspiele, aus Ernst und Fröhlichkeit gemischt, denn nach einigen Waffenübungen wurden die Gewehre zusammengestellt und unter dem Jubelgeschrei »Vive le roi, vive la nation!« fraternisierten die Truppen mit dem Volke; plötzlich drängten sich im Gewühl lange Reihen gedeckter Tische hervor, an denen in Gemeinschaft gespeist wurde. Hatte man sich an diesem Anblick ergötzt, so eilte man zu dem Münster, die Vorbereitungen zu sehen, die dort für den Abend getroffen wurden. Die Munizipalität hatte eine Menge Volkslustbarkeiten veranstaltet, für die Armen fanden öffentliche Speisungen statt, auch viele angesehene und reiche Bürger hielten ihre Mahlzeit auf offener Straße, riefen die Vorübergehenden heran, und diese allgemeine Teilnahme der Wohlhabenden und Gebildeten gab der Lustbarkeit ein gesittetes und elegantes Ansehen, durch welches auch die Roheit und Wildheit, die sich etwa hätte zeigen mögen, leicht in Schranken gehalten wurde. Dieses Zu-Mittag-Essen auf der Straße, die mannigfachen Gruppen der Familien, zwischen Frauen und Kindern die hellen Uniformen, denn Väter, Gatten und Brüder, alle waren ja Nationalgarden – dieser Anblick war einer der größten und eigentümlichsten meines ganzen Lebens; man kann sich die Heiterkeit und Anmut einer solchen Veranstaltung schwerlich vorstellen. Nachmittags strömte die[41] Menge vor die Tore hinaus, wo gleichfalls mannigfache Vergnügungen angeordnet waren, die Ruprechtsau wimmelte von geputzten Menschen, Musikchöre waren verteilt, und patriotische Lieder und frohe Tänze fehlten nicht. Die größte Herrlichkeit war indes dem Abend vorbehalten: die ganze Stadt wurde prachtvoll erleuchtet, die öffentlichen Gebäude und jedes Bürgerhaus, die großen Plätze und jedes Gäßchen, alles flutete von Lichtströmen. Nichts aber war dem Münsterturme zu vergleichen, der, mit Hunderttausenden von Lampen bis zur höchsten Spitze beleuchtet, in dem dunkeln Nachthimmel riesenhaft emporragte. Man drängte sich heran, zu dem lichtübersäten Ungeheuer in der Nähe aufzublicken, man suchte bald wieder das Weite, um aus einiger Ferne den Anblick noch wirkungsvoller zu genießen. So wogte die Menge hin und her, überall in fröhlicher Helle, überall von Lust umgeben. Dem gewaltigen, weit im Lande hin sichtbaren Leuchtturm antworteten von den umliegenden Dörfern aufflammende Freudenfeuer, und entferntere Feuersäulen stiegen in den Vogesen empor. Bis tief in die Nacht blieben die Straßen von wogender Menge erfüllt.


Der Herbst war bald vorüber, und der eintretende Winter brachte manche Veränderung. Die wichtigste und folgenreichste für uns war, daß sich nunmehr als gewiß erkennen ließ und als entschiedene Tatsache herausstellte, die Straßburger Universität sei als eingegangen zu betrachten. Sie war von jeher fast gar nicht von Franzosen, sondern hauptsächlich von Deutschen, Schweizern und auch von Russen besucht worden; diese fremden Studenten hatten sich schon während des Sommers merklich vermindert, mit dem Schlusse der Vorlesungen waren fast alle davongegangen; und da die Revolution noch kein Ende absehen, sondern im Gegenteil nahen Krieg befürchten ließ, so schien unter Volksunruhen und feindlicher Belagerung, die für Straßburg zunächst eintreten konnte, kein friedlicher Musensitz möglich,[42] und die Studenten blieben sämtlich aus. Mein Vater, der noch eben erst seine vorhabende Lehrtätigkeit durch eine gedruckte Epistola ad Argentinenses eruditos förmlich angekündigt hatte, sah plötzlich alle seine Hoffnungen zerstört und sein Schiff, anstatt im erwünschten Hafen, auf das hohe Meer hinausgeschleudert. Für die altansässigen Professoren war das Mißgeschick eben falls empfindlich, allein sie hatten mannigfache Verhältnisse und wurzelten im bürgerlichen Boden zu fest, als daß sie von ihm sich hätten losreißen können; auch schmeichelten sich die meisten, daß die Unterbrechung von keiner Dauer sein würde. Solcher Täuschung gab mein Vater sich nicht hin; er sah hier eine Wendung der Dinge, bei der es auf lange Zeit werde verbleiben müssen, und der neue Boden, auf dem er stand, wurde ihm dadurch unsicher und fremd. Die Sorge für seine und der Seinigen Zukunft legte sich ihm schwer auf die Seele; sie war mit Erwägungen verknüpft, die über das persönliche Interesse des nächsten Augenblickes weit hinausgingen. Auf seine Ansichten und Gesinnungen hatten die veränderten Umstände nicht den geringsten Einfluß, den in der Revolution lebenden Ideen war und blieb er treu, er wünschte von Herzen deren Fortgang und Sieg, gegen sie legte er sein persönliches Gedeihen gar nicht in die Waage. Allein die Zeiterscheinungen boten neben dem Guten, das er freudig bewillkommnete und begeistert pries, auch Zweideutiges, das ihm Mißtrauen erregte, und Schlechtes, das er geradezu verwerfen mußte. Er war ein biederer deutscher Charakter, in seiner Begeisterung durchaus ehrlich, für edle Zwecke wollte er nicht unedle Mittel; Arglist und rohe Gewalt waren ihm verhaßt. In Straßburg hatte er im Verlaufe mehrer Monate manches Bedenkliche hervortreten, die herrschenden Einflüsse trüber werden sehen, das Zusammenwirken deutscher und französischer Elemente schien beide nur zu verschlechtern; er konnte sich die Frage stellen, ob für ihn, nachdem sein nächster Beruf hier erloschen, dieser Aufenthalt noch der richtige, der einzige sei. Doch hierbei blieb er nicht stehen;[43] er überlegte auch – was mir freilich erst in späterer Zeit kund wurde –, ob er unter solchen Umständen seinen Kindern das angeborene deutsche Vaterland verschließen, so jung sie in die ungewissen Schickungen eines fremden Volkes auf immer verflechten dürfe. Solche Gedanken fanden weniger Eingang bei meiner Mutter, die persönlich manche Befriedigung genoß und auch den allgemeinen Angelegenheiten heitres Zutrauen schenkte.

Ganz verborgen blieb es uns Kindern nicht, daß etwas Ungewöhnliches und Unerfreuliches verhandelt wurde, daß besonders der Vater ernsthafter aussah und seine gute Laune seltener zeigte. Aber wir selber empfanden Verstimmung und Unbehagen, und der Grund lag nahe genug in der veränderten Jahreszeit; der Winter bedingte für uns ein Leben, das von dem während des Sommers geführten himmelweit verschieden war. Kälte und schlechtes Wetter beschränkten uns meist auf das Zimmer, wo uns noch oft genug fror und überhaupt unheimlich war, der Umgang mit den Gespielen hörte größtenteils auf, die Nähe des schwächer gewordenen Großvaters wurde uns zu hartem Zwang, und mancher lange Winterabend ging in trübem Mißbehagen dahin. Ich hatte noch den Vorteil, daß mich der Vater, wiewohl viel seltener als sonst, doch bisweilen zu seinen Gängen mitnahm, wo mir dann Auffrischung mancher Art zuteil wurde; aber die arme Schwester blieb dann um so verlassener daheim. Ich fühlte ihr Leid mit, und wir sagten es einander, daß wir sehr unglücklich seien.

Als der Schnee verging und wieder Frühlingslüfte zu wehen anfingen, wollte mein Vater eine Entscheidung in betreff seiner Lage nicht länger aufschieben. In Straßburg konnte er jetzt kaum noch eine andere als die politische Tätigkeit ergreifen, aber für diese hatte er wenig Neigung, besonders wenn er betrachtete, welche Partei schon zusehends auf dem Wege war, die Macht an sich zu reißen. Einige Volksbewegungen, gegen angebliche Aristokraten gerichtet, die mein Vater aber als gute Patrioten kannte, gaben[44] unzweideutig zu erkennen, was man von gewissen Seiten beabsichtigte. Bald glaubten auch redliche Freiheitsfreunde, die Konstitution könne nur durch gewaltsame Maßregeln geschützt und behauptet werden; um sie selber zu retten, zu diesem heiligen Zwecke dürfe man über sie hinausgehen. Dies wollte mein Vater in keinem Falle gutheißen; seine Widerreden erregten Mißfallen, er wurde von denen, die er für seine politischen Freunde hielt, gewarnt – und verlassen. Hätte er schon ein Amt gehabt, einen ausgesprochenen Beruf, so würde er keinen Fußbreit gewichen sein; bis jetzt aber band ihn keine Pflicht in Straßburg, er sah sich allein stehen mit seiner Denkart und ganz wirkungslos. Der ganze Zug der Dinge, der von Paris her kam, gefiel ihm nicht, und er meinte, die durch unreine Elemente getrübte Revolution werde Jahre bedürfen, sich wieder zu klären; dieser Zeitpunkt sei in Ruhe abzuwarten. In diesem Gedanken schlug er eine ansehnliche Stelle aus, die man ihm bei der Medizinalverwaltung des Heeres antrug, und zog vor, einstweilen nach Deutschland zurückzugehen.

Für meine Mutter galten andere Betrachtungen; sie befand sich in ihrer Heimat, unter Geschwistern, bei ihrem alten Vater, dessen Ableben gar nicht fern sein konnte; sie wünschte in Straßburg zu bleiben, bis sich erst bestimmt ergeben habe, welches unsere neuen Verhältnisse sein würden. Was zwischen den Eltern näher vorging und schließlich verabredet wurde, ist mir nie bekannt geworden, nur die große Neuigkeit ergab sich bald, daß mein Vater abreisen und mich mitnehmen, meine Schwester aber mit der Mutter in Straßburg zurückbleiben würde. So schrecklich mir die Ankündigung der nahen Trennung war, so war mir doch, mit dem Vater zu gehen, vollkommen recht; ihn zu missen, wäre mir doch am härtesten gewesen. Meine Schwester und ich täuschten uns nicht über das Los, das uns verhängt war, wir fühlten den ganzen Wert unsres Zusammenseins, die ganze Bedeutung unseres Scheidens, wir fragten, ob wir uns denn gewiß wiedersehen würden, wir versprachen[45] einander mit Tränen, wie lange es auch dauern möge, nie wollten wir einander fremd werden!

Die letzten acht Tage vergingen unter Wehklagen und Zärtlichkeit, meine Schwester tat mir alles zu Gefallen, schenkte mir alles, was ihr zu Gebote stand, sammelte Näschereien für mich und füllte mir alle Taschen, so gut sie nur konnte. Ich sah mit tiefster Rührung ihr Bemühen: ich empfand die innigste Dankbarkeit und wünschte ebenso liebevoll für sie tätig zu sein. Alle Leute beklagten uns; solche Geschwister, die sich so liebten, meinten sie, sollten nicht auseinandergerissen werden. Die Eltern selber schienen erst in unserm Schmerze recht zu fühlen, welch bittre Trennung uns alle traf. Der Tag der Abreise kam schnell heran; den mütterlichen und schwesterlichen Armen fast bewußtlos entwunden, fand ich mich an der Seite meines Vaters im Wagen wieder, der uns schon aus der Stadt entführt hatte und auf der Straße nach Landau dahinrollte.

Quelle:
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. Berlin 1971, S. 19-46.
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