Wien

1809

[322] Nach der traurigen Fahrt über einen Teil des stillen, verödeten Schlachtfeldes von Wagram und gegen die Donau hin, wo die unheimlich einsame Gegend nur düstre Bilder aufkommen ließ, überraschten die starkbefahrnen Donaubrücken[322] und sodann die erfüllten Straßen von Wien mich mit neuen Lebenseindrücken, und ich mußte mir sagen, daß in dieser noch ungekannten Welt mir zunächst eine neue Wendung meines persönlichen Geschickes zu gewärtigen sei, wobei die größten Wechselfälle vorhanden und mein eigner Wille wie meine Tätigkeit so gut wie ausgeschlossen waren. Doch für diese Gedanken blieb nur wenige Zeit, wir hielten vor der französischen Kommandantur, ich vernahm, daß die Auswechselung der Kriegsgefangenen schon im Gange sei, und wurde vorläufig, bis die Reihe an mich käme, in der Stadt einquartiert.

Der Graf von Gatterburg, der die feindliche Einquartierung möglichst entfernt von sich hielt, kam mir gleich mit dem Wunsch entgegen, daß ich an seinem Tische vorliebnehmen möchte; er hatte sich in den obersten Stock seines großen, in der Dorotheengasse gelegenen Hauses zurückgezogen und führte hier, ab gesondert und fast versteckt, das behaglichste Leben fort, sah wenige vertraute Gäste bei sich und vergaß beim üppigen Mahle die Stürme, welche draußen tobten. Er hatte gedient, war als Offizier nach Venedig gekommen und als ein schöner, lebhafter Mann dort einer Erbtochter des Hauses Morosini wert geworden; die Heirat hatte ihn längere Zeit an Venedig gefesselt, seit kurzem lebte er aber wieder in Wien, während seine Gattin auf ihren großen Besitzungen im Venezianischen verweilte. Er haßte die Franzosen und ihren Kaiser mit dem doppelten Hasse des Österreichers und Venezianers, hatte jedoch in der angenommenen letztern Eigenschaft auch gegen die österreichische Herrschaft schon manche Abneigung eingesogen und seiner Wiener Behaglichkeit etwas italienisches Mißvergnügen beigemischt. Da wir oft allein aßen und nach dem Essen der Kaffee sich tief in den Nachmittag zu verlängern pflegte, so fehlte es nicht an Zeit und Gelegenheit zu mancher vertraulichen Mitteilung; ich wurde über die innersten Verhältnisse des Landes und der Regierung auf die unmittelbarste Weise aufgeklärt, durch Erzählung von Tatsachen,[323] in welchen, sie mochten wichtige oder geringere Gegenstände betreffen, für mich immer etwas Bezeichnendes lag.

Das Haus hatte mehrere Mieter, mit denen ich notwendig Bekanntschaft machen mußte. Ein wohlhabender Baron bewohnte den ersten Stock, war aber nie zu sehen, sondern brachte den ganzen Tag und oft auch die Nacht in einer chemischen Küche mit alchemistischen Versuchen zu. Seine Frau hingegen war gesellig, wünschte die Huldigungen, welche früher ihre Schönheit empfangen, fortgesetzt zu sehen und konnte nicht umhin zu bekennen, daß die Franzosen in Betracht der Artigkeit und Feinheit den plumpen Wienern sehr vorzuziehen wären; sie rühmte besonders ihre jetzige Einquartierung, einen jungen Mann von gewiß vornehmer Herkunft, denn sonst würde er so früh nicht den hohen Verwaltungsposten erlangt haben, den er bei der Garde des Kaisers bekleide. Diesen Bemerkungen war im allgemeinen nicht zu widersprechen; doch als ich gleich darauf den belobten Franzosen zu sehen bekam, durft ich die Richtigkeit der Anwendung wohl etwas in Zweifel ziehen; es war ein schlanker, rotbäckiger Bursche, überschwenglich in Höflichkeiten und dreisten Schmeicheleien, des Bodens, auf dem er stand, allerdings, wie es schien, schon kundig und sicher und von der Dame mit lächelnder Zufriedenheit aufgemuntert. Er führte das große Wort bei Tisch, begleitete die Baronin auf die Bastei und ins Theater und wurde wie ein Mitglied der Familie gehalten. Die Freude dauerte nicht lange. Eines Tages, als ich die Treppe hinaufgehen wollte, rief mich die Baronin zu sich hinein, ich fand sie in aufgebrachter Stimmung, sie hatte vor Ärger geweint, doch jetzt flammte nur Zorn in ihren Augen, und rief mit Heftigkeit: »Wissen Sie denn, wie mir's ergangen ist? Der Schlingel von Franzos, der sich bei mir eingeschlichen hat, wissen Sie, was er ist? Garde-magasin nennen's die Leute, ich hab wunder geglaubt, was das ist, ich hab mir nicht träumen lassen, daß das nur so ein ›kleines Viech‹ ist, wie ich jetzt erfahre! Und er untersteht sich und[324] kneipt meinem Kammermädel in die Backen! Nein, ich möchte Gichter kriegen! Auf der Stelle müssen mir beide aus dem Hause, das Mädel ist schon fort, und der Franzos soll umgelegt werden, das Quartieramt hat's mir versprochen!« Ich sollte nun geloben, mit dem Menschen kein Wort mehr zu wechseln, ja, ich sollte als Österreicher ihm zeigen, daß wir ihn als unsern Feind haßten, ihn als Menschen verachteten. Ich konnte die unerwartete Zumutung nur sonderbar und mich zu dem plötzlichen Rittertum aus keinem Grunde verpflichtet finden, lehnte dasselbe daher so glimpflich als möglich ab, wiewohl mir nicht entging, daß ich selber dadurch in der bisherigen Gnade merklich sank. Bald hatte ich dieselbe ganz verloren und wurde nicht mehr eingeladen; vielleicht war inzwischen auch in betreff meiner die Entdeckung geschehen, daß ich im Grunde doch nur so ein »kleines Viech« sei.

Außer mir waren noch drei polnische Offiziere bei dem Grafen einquartiert, ein Saal zwischen unsern Zimmern diente uns als gemeinschaftlicher Eingang, und man konnte nicht umhin, sich hier zu begegnen; dem Gruße folgte Gespräch, und das zufällige Zusammentreffen wurde absichtliches. Die Polen waren Männer von Auszeichnung und Bildung, sie ließen sich auf allgemeine Ansichten ein, auf Geschichts-und Rechtserörterung, und von einem Norddeutschen, einem Preußen, der ich ohne Frage sein mußte, glaubten sie manches vernehmen zu können, was ihrem Sinn oder wenigstens ihrer Neugier entspräche. Wir waren bald insoweit einverstanden, daß wir, wie auf dieses Saales Boden, auch oft auf dem der Vaterlandsliebe uns recht gut zusammenfanden, dann aber freilich nach verschiedenen Richtungen gingen. Sie waren leidenschaftlich für ihr Land, für ein selbständiges, freies Polen begeistert und hingen den Franzosen nur an, sofern diese unbezweifelt sich als die tätigsten Freunde und Förderer der polnischen Sache erwiesen. Sie fanden mich in meinem vollen Rechte, ein Deutscher sein zu wollen, bestritten mir aber, dies in Österreich[325] sein zu können, wo die deutsche Sache von jeher nur geopfert oder beschädigt worden sei; sie führten frühere Ereignisse schlagend an: die Preisgebung des Deutschen Reiches während des Rastatter Kongresses, die Auslieferung der Festungen an den Reichsfeind, ja selbst die Niederlegung der Kaiserkrone vor dem Preßburger Frieden – ich hatte es mit unterrichteten Sachwaltern zu tun! Ich setzte ihnen die Behauptung entgegen, der jetzige Augenblick sei ein andrer, ein ganz neuer, der sich von aller Vergangenheit ablöse; hätten früher die Völker ohne und wider ihren Willen den Zwecken der Fürsten gedient, so dienten jetzt unwillkürlich die Fürsten dem Volkstume, und ihre Dienste seien wohl anzunehmen. Wir gingen hierauf in die Geschichte der Französischen Revolution zurück und fanden hier unsre Sympathien wunderbar übereinstimmend, unsre Urteile über Menschen und Vorgänge meist ganz dieselben. Wir erkannten uns in Grundsätzen und Interessen mehr miteinander verbunden, als jene es mit ihren französischen Kampfgenossen, ja mit manchen ihrer polnischen Landsleute waren und als ich es mit den meisten meiner österreichischen Kameraden sein mochte. Und doch waren wir jeden Augenblick gewärtig und bereit, in feindliche Stellung auseinanderzutreten und uns wechselseitig zu töten, zu beschädigen! Ein Widerspruch, den wir nicht lösen, dem wir uns nicht entziehen konnten, den wir sogar mit Willen festhielten, der aber unsern friedlichen Umgang nicht störte, sondern vielmehr erhöhte. Daß über den Kämpfenden ein Höheres schwebt, für das beide Teile streiten, daß die Geschichte für ihre einfachen Ergebnisse widerstrebender Richtungen bedarf und auch die scheinbar überwundene das Drama fördern hilft gleich der augenscheinlich siegenden, dieser Trost der Geschlagenen dämmerte mir aus unsern Betrachtungen damals auf; in der Tat ließ Wien inmitten der Unterdrückung manchen Funken leuchten, der ohne sie nie hervorgesprüht wäre!

Ich sah mich schon in größeren Kreisen um und konnte Leben und Treiben der Wiener auf den reichsten Schauplätzen[326] beobachten. In dem Bankierhause, dem ich empfohlen war und durch das ich eine geringe Geldhülfe zu beziehen eilte, machte ich manche Bekanntschaften, und Herr Leopold von Herz erbot sich, mich im Arnsteinschen Hause einzuführen.

Die ausgezeichnete Frau und ihre gesellige Kraft und Wirksamkeit ist schon anderweitig geschildert worden; hier füge ich nur die Bemerkung bei, daß die Anwesenheit des Feindes den geselligen Glanz des Hauses nicht störte, sondern in manchem Betracht sogar erhöhte. Man mußte mit den Franzosen verkehren, man konnte sie nicht abweisen, es war wichtig und nebenher angenehm, sich mit ihnen gut zu stehen, ihre Generale und Oberbeamte wie ihre jungen Elegants, zum Teil aus alten vornehmen Geschlechtern, wußten sich in der Gesellschaft geltend und den Grund ihrer Anwesenheit vergessen zu machen. Der Haß der Wirtin gegen den Kaiser wurde als die liebenswürdige Torheit einer Frau lachend hingenommen, ja, nicht selten stimmten vornehme Franzosen in die bösen Reden ein, mit denen jene nicht karg war. Es war ein seltsames Verhältnis, das überall, wo die Gebildeten zweier Krieg führenden Nationen friedlich zusammenkommen, mehr oder minder hervortreten muß, das die Franzosen aber besonders geeignet sind anzubauen. Die Wiener ihrerseits, anstatt sich zurückzuziehen, strömten eifriger als je herbei; es war der augenscheinlichste Gewinn, mit den unvermeidlichen und hinwieder so anziehenden Feinden sich im fremden Salon zusammenzufinden, der für viele andre die Aufnahme und Bewirtung dieser Gäste abmachen zu wollen schien.

Auf ähnliche Weise wie bei Frau von Arnstein, nur in etwas minderem Maße, ging es bei ihrer Schwester, Frau von Eskeles, und bei ihrer Tochter, Frau von Pereira, gesellschaftlich her. Ich war in beiden Häusern günstig aufgenommen und fand mich von den gewählten kleineren Kreisen mehr angezogen als von dem großen Durcheinander bei Arnsteins. Frau von Eskeles hatte nicht die Lebhaftigkeit[327] ihrer Schwester, vereinigte aber mit dem feinsten Ton und leisesten Takt einer vornehmen Wirtin das gutmütigste Wohlwollen, das auch dem Geringsten ihrer Gäste zugute kam. Zwei schöne Kinder waren die Freude ihres Herzens, und da beide, und besonders das Mädchen, gleich am ersten Tage sich mir innigst anschmiegten, so genoß ich des vollen Zutrauens auch der Mutter. Dasselbe war der Fall im Hause Pereira, wo drei wunderschöne Knaben die zarte, liebliche Mutter heiter umspielten und diese durch kluges Maß den oft allzuheißen Liebeseifer der Großmutter sanft auszugleichen wußte.

Bei Frau von Flies, einer Schwester des Herrn von Eskeles, war ebenfalls ein anziehender Gesellschaftskreis. Denon und andre Franzosen von Bildung und Ansehn sprachen hier gern ein und lebten mit den guten Wienern, die hier Stammgäste waren, als gäbe es keinen Krieg in der Welt.

Kamen in diesen Häusern wirklich fast nur die Frauen in Betracht und war von den Männern kaum die Rede, so machte doch Herr von Eskeles hierin eine bedeutende Ausnahme. Er war einer von den hochbegabten, vielumfassenden Geschäftsmännern, die neben der wachsamsten und unermüdlichsten Aufmerksamkeit auf die Staats- und Handelswelt auch noch lebendigen Sinn und frische Tätigkeit für höhere geistige und allgemein menschliche Verhältnisse bewahren. Seine große Umsicht und strenge Zuverlässigkeit hatten ihm schon früh das Zutrauen des Staatsministers Freiherrn von Thugut erworben, der sich dadurch nicht irren ließ, daß man ihm den trefflichen Bankier politisch verdächtigte; er wußte, daß Eskeles, bei seinem unverleugneten Freiheitseifer, von österreichischer Vaterlandsliebe durchglüht und, trotz seiner republikanischen Denkart, für den Dienst des Kaisers von unverbrüchlicher Pflichttreue erfüllt war. Auch jetzt wieder, wie erst in der Folge bekannt wurde, hatte Eskeles, mit eigner Aufopferung und Selbstgefahr, dem Staate große Summen gerettet, die ohne seine kluge Fürsorge den Franzosen zugefallen wären. Sein scharfer Blick[328] und richtiges Urteil bewährte sich im Kleinen wie im Großen, wo er unterstützte, forthalf, Rat erteilte, geschah es stets mit Sachkenntnis, Richtigkeit und daher meist mit Erfolg. Arme und Leidende jeder Art, von der Willkür der Macht oder des bürgerlichen Zustandes Getroffene, Künstler, geistig strebende und durch irgendeine Tüchtigkeit ausgezeichnete Menschen hatten ein entschiedenes Anrecht auf seine Teilnahme und Hülfe. Das Gefühl des Wohlwollens, das er hegte, und sein gutes Bewußtsein gaben seinem ernsten Gesicht einen Ausdruck froher Heiterkeit, die auch in Witz und Laune reichlich ausströmte.

Die politische Lage der Dinge hielt alles in Spannung; der Waffenstillstand dauerte fort und Friedensverhandlungen waren eröffnet, doch rüstete man sich auf beiden Seiten zu neuem Kampfe. Die Kriegsanstalten der Franzosen hatte man vor Augen; Nachrichten aus Ungarn rühmten die Stärke und Streitbegier der österreichischen Scharen. Im Grunde glaubten wenige an die Fortsetzung des Krieges; wer hinter den Vorhang sah, hielt sie auf österreichischer Seite für unmöglich und im Falle des Versuchs für das unausbleiblichste Verderben; man zweifelte nicht an dem Mute der Krieger, an der Willigkeit des Volkes, aber durchaus an der Kraft und Geschicklichkeit der obersten Leitung, die selbst in der fähigsten Hand an dem Mißtrauen, der Unentschlossenheit und den Parteiränken der unfähigsten, aber unlenksamsten Köpfe zunichte werden mußte. Daß der Erzherzog Karl den Oberbefehl wieder empfinge, war nicht zu hoffen; und wenn auch seine Fähigkeiten durch andre hätten ersetzt werden können, so wußte man schon voraus, daß diese doch nur in untergeordneter Stellung würden verbraucht werden. Diese Kenntnis des innern Zusammenhanges der Dinge war weiter ausgebreitet, als man denken sollte, sie war schon in das untere Volk eingedrungen, dessen Stimmung sich in heftigen Schimpfreden gegen diejenigen ausließ, die es sonst zu verehren gewohnt gewesen. Die Besonnensten meinten, bei dem Bewußtsein seiner selbst, das man österreichischerseits haben[329] müsse, sei das klügste, so schnell als möglich Frieden zu schließen und nur einzig darauf zu sehen, daß man den Feind aus dem Lande schaffte und lieber Geld als Gebiet abtrete. Dieser letzteren Meinung war auch Eskeles, der hier seine Eigenschaft als Bankier verleugnete und die ungeheuersten Geldopfer als gering ansah in Vergleich zu denen, die man an Land und Leuten zu bringen hatte.

Unter den großen und kleinen Schwankungen, den Leiden und Lasten, die sich im allgemeinen und für jeden einzelnen fühlbar machten, übte der Tag mit seinen nächsten Darbietungen sein Recht, und zwischen die wichtigen Fragen, die zur Entscheidung schwebten, drängten sich andre, der Neigung, der Eitelkeit, der Vergnügung. Wiener und Franzosen wetteiferten hierin miteinander, und beiderseits gab es Verhältnisse genug, die weder den Krieg noch den Frieden wünschen konnten, weil sowohl der eine wie der andre sie aufheben mußte und nur dieser Mittelzustand ihr Boden war. Wenn auch für mich selbst unbeteiligt, lebte ich als Zuschauer, als Vertrauter in solchen Tagesreizen mit und bewunderte die dichterische Fruchtbarkeit des wirklichen Lebens, das neben seinen Helden- und Staatsgeschichten so manchen Roman und unzählbare Novellen spinnt, wundersam und abenteuerlich, daß keine Dichtung hierin es ihm zuvortut.

Es fehlte nicht an Aufforderungen, mich in die Gesellschaftskreise der französischen Großen einführen zu lassen; man wollte mich zu dem Vizekönige von Italien, Eugen Beauharnais, bringen, es wurde sogar bemerkt, als geborner Rheinländer müßt ich eigentlich dem Kaiser der Franzosen oder seinen Verbündeten dienen, und man gab mir zu verstehen, ich würde, als beider Sprachen und der Feder mächtig, meinen Weg dort rascher machen als in den österreichischen sich ohnehin jetzt noch verengenden Aussichten. Meinen Weg! Als ob meinen Weg hier jemand hätte nur ahnden können! Ich versäumte die großen französischen Bekanntschaften, die mir nur bei Zwecken, die ich nicht[330] hatte, der Mühe wert sein konnten, und vernachlässigte sogar die deutschen Kreise, wo jene zu stark vorwalteten. Ich brachte manchen Abend einsam für mich allein hin, und die Stunden, welche mir so verflossen, durft ich zu meinen besten rechnen; ich las mit einer durch die politischen Reizungen erhöhten Aufmerksamkeit Montesquieus Werk »De l'esprit des loix«, und je mehr ich in dasselbe eindrang, desto weniger könnt ich die Mißachtung gelten lassen, in welche neuere deutsche Urteile das tiefsinnige und gründliche französische Buch bringen wollten; Oberflächlichkeit und Dünkel erschienen mir diesmal ganz auf der deutschen Seite. Den heitersten Genuß gewährten mir die Lustspiele Molières, die ich hier zum ersten Male mit reifem Sinne las und in ihrer Bedeutung anschauen lernte, gegen welche selbst die des geliebten Racine merklich zurücktreten mußte. Solche Bücher lesend, konnt ich nun dennoch behaupten, in Wien die Gesellschaft der allervornehmsten und besten Franzosen nach Wunsch genossen zu haben!

Nach kurzer Zeit empfing ich die Anzeige, daß ich ausgewechselt sei und meiner Abreise nach Ungarn nichts mehr im Wege stände. Bei meinen letzten Besuchen empfing ich noch werte Zeugnisse der guten Gesinnung, die man mir hegte und die mich von einigen Personen, bei denen ich sie vielleicht weniger verdient hatte, um so mehr beschämte. Die Gräfin von Engl, eine Freundin der Frau von Pereira, wollte mich nicht abreisen lassen, ohne mir die Karten zu schlagen. Sie tat es, meines spöttischen Unglaubens nicht achtend, mit allem feierlichen Ernst und Eifer, den eine so wichtige Handlung erforderte, und begann ihre Weissagungen. Ich erstaunte mehr und mehr, ja, ich wurde bestürzt, als ihre Worte stets treffender meinen innersten Zustand bezeichneten und auf Verhältnisse anspielten, die durch bloßen Zufall so genau zu erraten unmöglich schien. Sie achtete meiner verwunderten Aufregung so wenig wie vorher meines Zweifelns und fuhr in ihrer Aussage gelassen fort. Zuletzt verkündigte sie mir, ich würde bald wieder in Wien sein,[331] wozu die Wahrscheinlichkeit grade für mich, es mochte wieder Krieg oder nun Frieden werden, am wenigsten denkbar war. Mit solchem Spruch und besten Wünschen entlassen, reiste ich am 23. September nach Preßburg, wo ich zum Abend eintraf.

Quelle:
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. Berlin 1971, S. 322-332.
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