Berlin

Mai 1809

[290] In Berlin sah es wüst und wandelbar aus. Der König weilte zögernd noch in Preußen. Die Franzosen waren fort, aber schwer lastete der Druck ihrer Macht noch auf dem ganzen Lande; arm und fortwährend bedrängt, wußte man nicht, ob man die letzte Habe notdürftig zusammenhalten oder vollends in die Schanze schlagen sollte. Schills kühnes Unternehmen hatte alles noch mehr verwirrt; der Zweifel, ob er lediglich auf seinen Kopf ein tolles Abenteuer gewagt oder mit verabredetem Zweck und Rückhalt gehandelt habe, durchkreuzte sich mit dem andern, ob ganz Preußen jetzt notgedrungen in die gebrochne Bahn mit allen Kräften nachstürzen müsse oder durch Verdammung des Geschehenen sich gegen Napoleons Mißtrauen und Rache noch werde retten können. Die Einwirkung des Tugendbundes war in dieser Zeit äußerst lebhaft, doch dadurch weniger stark, daß seine tüchtigsten Glieder schon größtenteils auf den eröffneten Kampfplätzen zerstreut waren; die ganze Partei drängte überall, soviel sie vermochte, zu kriegerischen Entschlüssen, besonders wurde die Entscheidung Preußens eifrig bearbeitet. Den Willen des Königs glaubte man aus der veränderten Besetzung einiger Behörden, die bei der Schillschen Sache gegen die Franzosen zu arg kompromittiert schienen, noch nicht so bestimmt abnehmen zu dürfen, jene rasche Maßregel konnte vom Augenblick erfordert sein und gleichwohl entgegengesetzte zur Folge haben. Es fehlte nicht an Personen, welche den Krieg gegen die Franzosen auch allenfalls zu erzwingen hofften. Bedeutende Staatsbeamte und Offiziere zeigten sich in dieser Art unverhohlen tätig, andre wenigstens geneigt, einem solchen Sinne kräftig beizutreten. Ganz Berlin befand sich solchergestalt in unsichrer Schwebe und in dumpfem Harren.

Quelle:
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. Berlin 1971, S. 290-291.
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