Hamburg

1804–1806

[145] Nach den ersten Begegnissen der freundlichsten Aufnahme und günstigsten Einführung in die reichlichen und angenehmen Verhältnisse meiner neuen Lage, den gerührten Liebesbezeigungen meiner Schwester und allem Anteil der erfreuten Mutter, und nachdem ich auch alte Freunde und die werten Örtlichkeiten der Stadt und Gegend im Fluge wieder begrüßt, war mir nun Muße und Reiz genug, mich in meinem nächsten Lebenskreise genauer umzusehen.

Ein angesehenes tätiges Handelshaus, das aus beschränkten Anfängen sich durch Fleiß und Redlichkeit zu großen Glücksgütern und allgemeinem Vertrauen emporgearbeitet hatte, verbreitete über seine Mitglieder Fülle des Wohlstandes, die man doch weniger zu genießen als stets noch zu mehren trachtete, da Geschick und Lust für letzteres ohnehin vorhanden waren, für ersteres hingegen noch größtenteils erst hätten erworben werden müssen, wohin weder der herrschende Bildungszustand der älteren jüdischen Glaubensgenossen noch ihre sonstigen Verhältnisse so leicht führen konnten.

Der Hausherr, Jakob Hertz, erschien auf den ersten Blick als ein biedrer, zutraulicher, muntrer, heftig wollender und[145] doch stets nachgiebiger Alter, der sein Geschäft mit höchstem Eifer trieb und von früh bis spät, besonders an Posttagen, sich in Arbeit vergraben mochte. Einen reichen Vorrat von Scherzen, Maximen und Gleichnisreden, die der lebhafte Mann in seiner Jugend teils aus eignen Erlebnissen, teils aus dem fleißigen Besuche des damals unter Schröders Leitung so glänzenden hamburgischen Theaters aufgesammelt, pflegte er in den Zwischenzeiten, wo er an Gespräch und Unterhaltung teilnahm, besonders auch bei Tisch, zur Ermunterung mitzuteilen, wobei auch seine ernsthaften Ansichten und Meinungen, nicht selten auf Beweisreden des vielgesehenen und vielbewunderten Hamlet gestützt, sich stark und entschieden aussprachen, ohne jedoch den Sinn und die Handlungen der andern im geringsten bedingen zu wollen; niemand willigte leichter und vollständiger in fremde Weise, wenn man ihm nur die seinige auch ließ, denn als seinen wahren Grund und Boden sah er nur das Komtoirgeschäft an, dem er mit Einsicht, Eifer und unermüdetem Fleiße vorstand, gemeinschaftlich mit zweien älteren Brüdern und von einem eignen und einem Brudersohn unterstützt. Für den achtungswürdigen Charakter dieser Gemeinschaft und zum Lobe ihrer Teilhaber läßt sich kein beßres Zeugnis anführen als die Tatsache, daß bei einem Geschäft, welches wesentlich auf Gewinn absehen muß, der persönliche Vorteil unter den Brüdern ganz außer Betracht gelassen war. Die beiden älteren Brüder arbeiteten am wenigsten und verbrauchten am meisten; der eine pflegte große Reisen zu machen, der andre hatte außer dem eignen Hauswesen auch den besondern Aufwand einer anspruchsvollen und verwöhnten Schwiegertochter zu bestreiten; dagegen arbeitete der jüngste Bruder Tag und Nacht, lebte am eingezogensten, erwarb noch persönlich große Summen durch Maklergeschäfte, und gleichwohl war für alles nur eine und dieselbe gemeinschaftliche Kasse, wohin alles floß und woher alles kam; was die drei Haushaltungen jährlich gebraucht hatten, ohne Rücksicht, in welchem Verhältnisse[146] jede – und dabei kamen Summen vor, wie für die Ausstattung einer Tochter, den Ankauf eines Hauses, je nachdem Bedürfnis oder Belieben es fügte –, wurde beim Abschlusse des Jahres ungeschieden in Rechnung gebracht und dann das Vermögen jedesmal aufs neue dreifach gleichgeteilt. Ein merkwürdiges und vielleicht einziges Beispiel brüderlicher Eintracht und großartiger Geschäftsverbindung, durch vierzigjähriges ehrenvolles Bestehen und gesegnetes Gedeihen inmitten stürmischer und drangvoller Zeiten geprüft und bewährt! In solchem uneigennützigen Sinne war auch das übrige Benehmen dieser sonst persönlich nicht eben liebenswürdigen Männer, die jedem kleinen redlichen Gewinne unverdrossen nachgingen, im Nehmen vorsichtig, im Geben großmütig waren und eintretenden Verlust ohne Bekümmernis verschmerzten.

Jakob Hertz hatte von einer ersten Frau zwei schon erwachsene Söhne. Als Witwer und bereits in reiferen Jahren ward er aber durch den Anblick eines jungen, blühenden Mädchens so eingenommen und hingerissen, daß er ungeachtet des Unterschiedes im Alter und trotz vielfacher Abmahnungen der Brüder um die Schöne zu werben beschloß. Sie war aus Potsdam, von wenig bemittelten Eltern, und lebte in Hamburg als Gesellschafterin bei einer kränklichen Dame. Der Antrag erschien als ein glänzendes Glück, Neigung war nicht vorhanden, aber auch nicht gefordert, alles drängte zur Annahme, und die Heirat fand statt. Drei Kinder, worunter meine beiden Zöglinge, waren die Frucht dieser in jedem gewöhnlichen Sinne überaus glücklichen und beneideten Verbindung.

Fanny Hertz war als Mutter und Hausfrau in der Tat glücklich zu nennen; daß ihr Los aber allen Ansprüchen ihres Wesens genügen könnte, und gerade den tiefsten und besten, durfte schon der erste Anblick zweifelhaft machen. Sie war eine hohe schlanke Gestalt, von schönen Gliedern getragen, voll heitrer Anmut und reizender Beweglichkeit; ihre wohlgebildeten Gesichtszüge vereinigten den Ausdruck[147] von Lebhaftigkeit und Sanftmut, besonders durch die lieblichsten blauen Augen, die mit reichem dunklen Haarwuchs glücklich kontrastierten. Unbefangen folgte sie jeder Eingebung, deren sie nur gutmütige und heitre hatte, sie war teilnehmend, menschenfreundlich, wohltätig bis zum Übermaß, freisinnig, vorurteilslos, das Nächste mit Billigkeit schätzend, dabei doch nicht selten von ihm verletzt, einer feineren Bildung schon teilhaftig und zu höherer eifrig emporstrebend.

Eine jüngere Schwester hatte sie als Gehülfin und zur Erziehung bei sich, ein rotwangiges muntres Mädchen von gutem Willen und schönen Anlagen; eine andre Schwester war in Pension bei Madame Meyer, einer Tochter Mendelssohns, die in Altona eine Erziehungsanstalt mit Verstand und Anmut leitete. Der älteste Stiefsohn Moses, durch auffallende Häßlichkeit, über die er selber zu scherzen nicht unterließ, aber ebenso durch unverwüstliche gute Laune und ungemeine Gutmütigkeit ausgezeichnet, war ein fleißiger Arbeiter auf dem Komtoir; hatte er aber dort das Seine getan, so gab er sich ganz dem Vergnügen hin, das er in und außer dem Hause reichlich zu finden wußte; besonders zog das lebendige französische Theaterwesen ihn an, und die Lieder und Redensarten der Schauspieler widerhallten durch sein glückliches Nachahmungstalent bei allen Gelegenheiten. Da er gern ritt und ich die Reitbahn auch fleißig besuchte, so gab dies manche nähere Gemeinschaft zwischen uns. Der jüngere Stiefsohn war in auswärtiger Anstalt, um Apotheker zu werden, was er, unbegreiflich bei solchen Vermögensaussichten und Familieneinrichtungen, jedem andern Berufe mit beharrlichem Eigensinn vorgezogen hatte. Meine Zöglinge, erst fünf und vier Jahre alt, waren allerliebste Knaben; ein kleines Mädchen wurde noch auf den Armen getragen. Mit diesen Kindern war natürlich nur eine spielende Beschäftigung möglich, eine verständige Aufsicht, und es machte sich ganz von selbst, daß ich mit ihnen die meiste Zeit bei der Mutter zubrachte und daß, während der[148] eine Teil des Hauses sich in Arbeit und Geschäft absonderte, der andere sich zum freigegebenen Genusse des Tages nur um so besser vereinigte.

Ein freundlicher Garten hinter dem Hause gab den gelegenen Raum für Spiel und Erquickung im Freien zu jeder Stunde und mit jeder Bequemlichkeit. Das schöne Sommerwetter reizte aber an Vormittagen und Abenden zu weiteren Spaziergängen auf den hohen schattigen Wällen, dem Jungfernstieg, am Hafen oder, noch besser, zu den schönsten Fahrten die Elbufer hinab, in die reizenden Alstergegenden oder nach andern schönen Orten der reichen Landschaften um Hamburg. Ich zählte die Stunden und Tage, die ich im Genusse der herrlichsten Natur, unter prangendem Himmel, bei reinster Luft, im Anblicke der mächtigen Elbe mit ihren grünen Inseln und weißen zahllosen Segeln, daneben blühender Gärten und reizender Landhäuser, solchergestalt im friedlichsten Behagen hingebracht, zu den glücklichsten meines Lebens, und an die Namen Rainville, Flottbeck, Blankenese sowie andrerseits Harvestehude, Eimsbüttel und Wandsbek knüpfen sich die liebsten und traulichsten Bilder, die ich irgend aus meiner Vergangenheit hervorzurufen vermag.

War man zu Hause geblieben oder abends zum Tee wieder heimgekehrt, so war auch hier ein gutes Zusammensein angeordnet; die Kinder begaben sich zum Schlafen, die Frauen forderten mich zum Vorlesen auf – ich las auch hier wiederum »Wilhelm Meister« –, oder wir führten Gespräche bis zur späten Stunde des Abendessens, wo dann auch Vater und Sohn sich einstellten, welches beim Mittagsmahl, der Börse wegen, nicht regelmäßig der Fall sein konnte.

Selten wurde dieser stille Gang der Tage durch Besuch unterbrochen oder lebhafter; den lästigen hatte man von jeher vermieden, die Familie war nicht eben zudringlich, und willkommene, gebildete, geistreiche Gesellschaft nicht leicht zu haben; eine Klage, die man an allen arbeitsamen[149] Handelsplätzen vernimmt, in Hamburg aber mehr als anderswo, und zu der damals in einem jüdischen Hause noch ganz besonderer Grund war. Mit den Frauen der Mendelssohnschen Familie, von der ein Zweig sich in Hamburg niedergelassen hatte, bestand als mit Verwandten und gebildeten preußischen Landsmänninnen ein naher Umgang, doch sah man sich nur in abgerissenen Augenblicken; ein paar jüngere Leute von Talent und Bildung kamen als Freunde des Sohnes zuweilen abends, eine besondere Auszeichnung aber hatte keiner.

Unter solchen Umständen war mir notwendig eine hervorragende Bedeutung zugeteilt, die mir Aufmerksamkeit und Wohlwollen brachte. Schon gleich in den ersten Tagen meines Aufenthalts war ich auf dem besten Fuße mit den Alten wie mit den Jüngeren; mein guter Wille und lebhafter Eifer, mein jugendliches Streben und dabei bescheidner Ernst nahmen die ganze Familie für mich ein. Man sah wohl, daß man keinen gewöhnlichen Hofmeister vor sich hatte, und wollte mich mit keinem dieses Standes vergleichen; auch bedauerte man fast, als man nähere Einsicht in meinen Lebenszusammenhang erhielt, daß ich in diese Verhältnisse geraten sei, sosehr man sich selber dazu Glück wünschen wollte; man meinte, es sei doch recht schade, daß ich nicht vorher habe ordentlich studieren können, und man hoffte, ich würde dies nun später nachholen, wozu die Mittel gewiß nicht fehlen sollten. Wurde solche Teilnahme von seiten der Alten vielfach laut, so zeigte sie bei den Jüngern sich nur noch inniger und zarter in persönlicher Fürsorge und anerkennendem Bezeigen jeder Art. Besonders von seiten der Madame Hertz wurde dies sichtbar. Es ließ sich nicht verhehlen, sondern fügte sich so offenbar wie notwendig, daß hier zwei jüngere Personen – ich zählte 19 Jahre und Fanny nur einige Jahre mehr – inmitten eines ihnen fremdartigen äußeren Treibens als Haus- und Familiengenossen mit allen ihren Interessen und Regungen unmittelbar aufeinander angewiesen waren. Zu ganzen Tagen frei[150] und unbeachtet sich selbst überlassen, zu manchem Vertrauen durch die Stellung der Dinge sogar genötigt und beide durch Unbefriedigung in Geistes- und Gemütsstreben, durch Versagungen des Geschickes und Schranken der Welt leidend und hoffend aufgeregt, mußten sie sich bald einander sehr nah und wirklich verbunden fühlen, ehe noch eine Betrachtung darüber in ihnen entstehen konnte. Wohlgefallen, Neigung und Leidenschaft wirkten unaufhaltsam ein. Ich fand mich unvermerkt in Beziehungen verflochten, die ich keineswegs gesucht hatte, die ich kaum wollte bestehen lassen und doch als unwiderstehlich reizende empfinden mußte; auch waren sie durchaus nicht abzuwenden, die Natürlichkeit und Unschuld dieses Zusammengehörens lag so klar vor Augen und das ganze Verhältnis stellte sich als ein so richtiges dar, daß darin kein Geheimnis stattfand und auch kein Tadel noch Argwohn uns treffen konnte. Das ganze Haus fand es nur in der Ordnung, daß der junge Mann und die jugendliche Frau, der Erzieher und die Mutter, der Lehrende und die Wißbegierige, zueinander hingezogen waren und sich zusammenhielten, wie man es natürlich findet, daß zwei Personen, die gern Schach spielen, sich unter Nichtspielern aufsuchen und ihre Partie machen.

Eine Zufälligkeit traf in diesen Stand der Dinge, wodurch derselbe augenblicklich seinen Sinn tätig aufschließen konnte, so wie jene durch ihn erst recht bedeutend wurde und für meine ganze Folgezeit von wichtigem Einflusse blieb. Es verhielt sich damit folgendermaßen. Auf dem Komtoir, wo seit so langen Jahren Tausende von Geschäften betrieben worden, geschah eine Aufräumung alter Bestände und mannigfacher Sachen, die sich aus dem Strom der Tageswellen gleichsam abgelagert hatten. Eine Menge von Goldmünzen, großenteils Seltenheiten und Schaustücke, kamen an den Tag und wurden freigebig ausgeteilt. Den beträchtlichsten Teil erhielt der älteste Sohn, der Vater meinte aber, ich sollte davon die Halbscheid bekommen, und jener, ohne Zögern und voll Freude, nötigte mir fast das Ganze auf.[151] Es waren die prächtigsten Stücke darunter, spanische und portugiesische Münzen von außerordentlicher Größe, merkwürdige Medaillen, doch fehlte auch gangbares Gepräge nicht. Bisher war noch keine so große Summe, als hier der bloße Goldwert betrug, in meiner Hand gewesen, ich sah darin die erlangte Gewißheit künftiger freier Studien; doch freute mich im Augenblicke weniger der Besitz als das überraschende, von allen Seiten gleichmäßige Wohlwollen, das mir bewiesen wurde. Fanny blieb dabei nicht zurück; sie machte mir in fürsorglicher Beeiferung alsbald das Anerbieten, den kleinen Schatz für mich zu verwahren und zu verwalten, wobei sein Anwachsen unzweifelhaft sein würde und ich bald imstande sein sollte, nach meiner Wahl eine Universität zu beziehen. Es war im Hause gleichsam schon abgeredet, daß es eine Sünde sei, mich meinem höheren Berufe auf die Dauer entzogen zu halten, und es stand fest, ich solle die Erziehung der noch sehr kleinen Kinder nicht vollenden, sondern vorher meine eignen Studien machen und könne dann später vielleicht zurückkehren, wobei die Aussicht zu schönen Reisen nach England, Frankreich und Italien eröffnet wurde. Der Schatz hatte sich in so guter Hand nach Verlauf eines halben Jahres schon beträchtlich vermehrt. Die Aussichten rückten näher, alle Innigkeit der Gegenwart stand mit der verheißungsvollsten Zukunft in Bezug. Da trat unvermutet ein andrer Vorfall ein, der die Sachen in neue Gestalt brachte. Fanny bekannte mir eines Tages mit Verlegenheit und Betrübnis, mehrere Kostbarkeiten und auch der mir gehörige Schatz seien aus ihrem Zimmer entwendet; der Verdacht fiel auf einen entlassenen Bedienten, allein aus tausend Gründen wollte sie förmliche Anzeige und polizeiliche Nachforschung vermeiden und übernahm lieber, den ganzen Diebstahl zu verschweigen und nach und nach zu ersetzen; im Verlaufe der Zeit und nach Maßgabe meines Bedarfs würde das Verlorene, meinte sie, doppelt und dreifach sich erstatten lassen. Ich war nur bemüht, sie zu beruhigen, und dachte nicht weiter an den[152] Verlust, der in der Tat für mich keiner sein konnte. Aus diesem Zusammenhange zuerst, und noch ganz unberührt von Antrieben und Empfindungsgründen, die sich nachfolgend entwickelten, ergab sich das fördernde Verhältnis, daß ich eine Reihe von Jahren hindurch, nachdem ich das Hertzische Haus verlassen, zuerst auf dem Gymnasium in Hamburg, dann auf der Universität, von der lieben Freundin fortgesetzt einen Teil der Mittel empfing, deren meine Studien bedurften und in denen auch noch Freunde zuweilen Hülfe fanden. Die ursprünglich mir gehörige Summe, deren Betrag ohnehin nicht genau zu bestimmen war, mußte freilich zuletzt wohl überschritten sein; aber Fanny wollte dies nie zugeben, sondern meinte, das durch ihre Fahrlässigkeit mir abhanden gekommene Kapital habe ja die Möglichkeit der klügsten Benutzung und des größten Gewinnes in sich getragen, daher dürfe jeder Ersatz zu gering dünken, und so fuhr sie fort, nur als Schuld abzutragen, was ich von der geliebten Hand ebensogern als freies Geschenk anzunehmen in meinem Innern nicht das geringste Bedenken haben konnte!

Ich muß es der edlen Freundin dankbar nachsagen, daß sie mit großmütigem Selbstvergessen nur stets daran dachte und dahin strebte, für andre Gutes zu wirken, für andre gelingen zu machen, was ihr selber, auf eignen Lebenswegen, nicht beschieden sein sollte. Ich erfuhr die Kraft und Wärme dieses unerschöpflichen Triebes in vollen Maßen. Nur immer bemüht war sie, mich auf meiner Bahn zu fördern, die Erfüllung dessen zu bewirken, was meinen Anlagen und Wünschen gemäß war, auch wenn gerade dies mich von ihr entfernen oder gar trennen sollte. Und in diesem Charakter bewährte sich immer aufs neue das ganze Verhältnis. Denn was auch im Wechsel so vieler Tage an mannigfachen Vorgängen und Stimmungen bald als trübere Glut, bald als hellere Wärme hervorbrechen wollte, wie auch die leidenschaftlichsten Empfindungen sich gestalten mochten, so herrschte doch von Anfang und behauptete sich[153] bis zuletzt eine höhere Gesinnung, ein Gefühl und ein Willen der Entsagung, die wir uns auferlegt glaubten: ich mir durch die Macht des Geistes, die mich vor allem zu Studien und Weltanschauung unwiderstehlich trieb, Fanny durch die schon geknüpften Lebensbande, welche sie durch ihre Kinder als unauflösliche fühlte. In diesem Sinne waren wir frühzeitig einverstanden, selten trübte er sich, und als eine Zeitlang der entgegengesetzte, daß wir uns dennoch künftig, und selbst mit gewaltsamer Umänderung der Verhältnisse, ganz angehören wollten, als die Vorstellung dieses einzigen Glückes die Oberhand zu haben schien, war es doch nur ein Wahn, der zwar mich als Vorsatz und Hoffnung ernstlich ergriffen hatte, aber für Fanny, wie sie später eingestand, immer nur eine Täuschung des Tages geblieben war, welche den Unmut der Trennung und das Leid der Gegenwart durch ein Bild erheitern sollte, das sie niemals im Ernste hegen noch glauben mochte.


Wilhelm Tischbein war aus Neapel, wo er lange Jahre als Direktor der Malerakademie in angesehenen und glücklichen Verhältnissen gelebt, der Kriegsunruhen wegen nach Deutschland zurückgekehrt und hielt sich abwechselnd in Eutin und in Hamburg auf. Er verabscheute den Norden, fand diese Länder eigentlich nur für Bären bewohnbar, sehnte sich täglich nach Neapel zurück und bejammerte sein und so vieler liebenswürdigen und edlen Menschen Geschick, die gleich ihm verdammt wären, in diesem winterlichen Klima zu leben, pries sich und sie aber doch glücklich, hier wenigstens Ruhe und Ordnung des bürgerlichen Lebens zu finden, die freilich in jenem von der Natur begünstigten Lande fehlten, nicht nur jetzt, sondern auch schon vorher, ehe noch die französischen Revolutionsstürme dort eingedrungen. Er war in seinem Benehmen und in seinen Äußerungen sehr eigentümlich, seine große Lebenserfahrung resümierte sich gern in Bildern und Sprüchen, die er dann humoristisch auslegte, mit oft grillenhafter,[154] doch immer sinnvoller Laune, die gern didaktisch wurde, ohne je langweilig zu werden. Für seine Jahre – er stand in den Fünfzigen – war seine Liebenswürdigkeit noch jugendlich, und die Empfänglichkeit seines Herzens wollte sich nicht verbergen. Ich lernte ihn und seinen Neffen, den Maler Unger, in besonders günstiger Weise kennen. Wir trafen in einer Familie zusammen, wo Tischbein von der Anmut der Dame des Hauses lebhaft ergriffen war, aber auch bald bemerkte, daß andre Beeiferungen schon begünstigt wurden. Der Ältere suchte den Jüngern nur leise zu bekämpfen, nur soweit, um abnehmen zu können, derselbe stehe auf sichrem Boden, und schloß sich dann freundlich dem Mitbewerber an, machte ihn geltend und erhob ihn, soviel er konnte. Ich habe später diese Erfahrung in andern Beispielen noch oft wiederholt gesehen, und es scheint in solchem Benehmen ein gutmütiges Selbsterkennen doch mit einiger Arglist wunderlich gemischt zu sein; damals aber empfand ich nur den Vorteil davon und ließ mir ihn wohlgefallen. Wenn Tischbein von Neapel erzählte, von der reichen Natur und dem üppigen Leben, von den Geschichten des Hofes und den Sitten des Volkes, hörten wir ihm stets mit Vergnügen zu; weniger Beifall erwarben seine Lehren in betreff der Tierphysiognomien, auf welche er die menschlichen Gesichter zurückführen wollte, und dabei den einen von uns ohne weiters als Schaf, den andern als Hund, den dritten als halb Schaf, halb Esel bezeichnete, ohne mit diesen Namen im geringsten einen Schimpf verbinden zu wollen, der aber in der Schadenfreude der Anwesenden doch immer nahe genug schwebte. Äußerst unterhaltend war das Durchmustern der Zeichenbücher, in die er wie seine großen Naturanschauungen und ernsten Stimmungen auch seine geistreichen Launen und Einfälle, seine seltsamen Anblicke und Begegnisse mehr oder weniger flüchtig eingetragen hatte und in deren Erläuterung und Nutzanwendung er unerschöpflich war. Goethe hatte unternommen, mehrere Darstellungen dieser Zeichenbücher mit anmutigen Reimen[155] zu begleiten; dieselbe Gunst erbat nun Tischbein auch von unsrer Dame, die vergebens beteuerte, sich dergleichen nicht anmaßen zu dürfen; sie mußte wirklich die Feder nehmen und wurde der lästigen Aufgabe nur dadurch frei, daß sie merken ließ, sie würde sich von mir helfen lassen; von dem Augenblick an war von der Sache nicht mehr die Rede. Wir besuchten Tischbein auch öfters in seiner Wohnung, um seine größeren Gemälde zu sehen. Sein neuestes, damals noch nicht fertiges Bild, »Ajax und Kassandra«, erregte allgemeine Bewunderung, besonders wurde Zeichnung und Färbung des reinen und zarten Leibes der Kassandra höchlich gerühmt; mir aber mißfiel, daß der Künstler einen gradezu sinnereizenden Eindruck darin beabsichtigt zu haben heimlich eingestand, und ich verhehlte nicht, daß mir das ganze Bild, wenn auch die technische Meisterschaft darin noch so sehr zu rühmen sei, als eine schwache Komposition und ohne innere Notwendigkeit erscheine. Zu einem so verwegenen Urteil hielt niemand mich berechtigt, und ich wurde übel dafür angesehen; man erblickte darin einen Ausbruch jener göttlichen Frechheit, zu welcher die Schlegelsche Schule sich bekannte, und dieser sollt ich nun einmal angehören! Tischbein, dem schon meine Stummheit und Kälte vor seinem Bilde verdrießlich gewesen, erhielt einige Kunde von meinem frevelhaften Tadel, und die geringe Anziehung, die zwischen uns stattgefunden, schwand nun völlig. Ich sah ihn noch öfters wieder und erkannte gern seine großen Vorzüge in Kunst und Leben, sooft sie mir als solche einleuchteten; allein mein aufrichtiges, unbefangenes Gefühl für bösen Trotz und willkürliche Laune ausgegeben zu sehen, regte mich gegen die andern auf, welche selber willkürlich und eigensinnig mir solcherlei beimaßen.

Der bedeutendste Mann, welchen ich in dieser Zeit sah, war ohne Zweifel Doktor Veit, ein von Breslau gebürtiger, in Hamburg ansässiger Arzt. Zwar verhielt er sich zu meinen medizinischen Vorstellungen fast ebenso wie Reinhold[156] zu meinen poetischen; allein er hatte streng wissenschaftlichen Grund und Geist, und sein tiefer gebildeter Verstand führte ihn sicher und fest auch in Gebieten, die nicht gerade die seinigen waren. Ein Aufsatz von ihm über Pascal, auch manche mündliche Erörterungen gaben mir einen hohen Begriff von seiner Einsicht, desgleichen mußt ich in ihm den Arzt dankbar verehren; gleichwohl ermaß ich seinen vollen Wert damals nicht, woran zum Teil seine unangenehm scherzhafte und etwas mephistophelische Manier schuld war, die ihn als Hausarzt am wenigsten kleidete und ihm noch oft genug völlig verunglückte. Daß ich in ihm einen Jugendfreund Rahels zu schätzen und seine gehaltreichen mit ihr gewechselten Briefe aufzubewahren haben würde, lag in jener Zeit ungeahndet verborgen.

Eines neuen Zweiges der Familie Mendelssohn muß ich hier auch gedenken. Der jüngere der beiden Brüder, Abraham Mendelssohn, kam von Paris, holte sich eine Berlinerin, Lea Bartholdy, zur Gattin und zog mit ihr nach Hamburg, wo er an der Handlung des ältern Bruders Joseph teilnahm. Die Bildung des jüngern Paares zeichnete sich vorteilhaft aus, und ihr entsprach ein redlicher und wohlwollender Charakter, der sich in der Folge gleich den übrigen Eigenschaften in wachsendem und gedeihendem Familienleben nur immer reicher entwickelte.

Ein helleres Licht strahlte mir auf, als Friedrich Heinrich Jacobi im Februar 1805 zum Besuch von Eutin nach Hamburg kam. Er stand im Begriff, Holstein zu verlassen und sich nach München zu begeben, wohin er als Mitglied der Akademie der Wissenschaften mit ansehnlicher Besoldung berufen war. Wollte ich den berühmten Landsmann noch sehen, der, schon ein Dreiundsechziger, aus dem nördlichen Deutschland für immer sich entfernte, so durfte ich diese Gelegenheit nicht versäumen. Mehr aber als der Landsmann reizte mich in ihm der mit Fichte in Verkehr stehende, der von Fichte im Leben Nicolais hocherkannte Geistgenosse, der Freund von Goethe, von Voß, von Jean[157] Paul Richter und so vielen andern. Ich faßte mir ein Herz und ging zu ihm. Mit ungemeiner Liebenswürdigkeit nahm er mich auf; er hatte meinen Vater kaum, aber noch sehr wohl meinen Großvater gekannt; meine Beziehung zu Fichte und mein Eifer für die neuere Poesie regten sein besonderes Interesse und, ich darf sagen, seine lebhafte Neugier auf; denn es war das erstemal, daß ihm ein Jünger aus jenem Kreise persönlich vor Augen stand; und dieses lebendige Beispiel gab ihm einen offnen Blick in diese Zustände und Gesinnungen, von denen so viel Abenteuerliches im Schwange ging, und in sein eignes Verhältnis zu denselben, wie er denn kaum erwartet hatte, dort noch so gut zu stehen und so gerechnet zu werden, wie es aus mir hervorleuchtete. Er führte mich zu seinen beiden Schwestern, in welchen mich die niederrheinische Natur stärker ansprach als in ihm, der in allgemeiner geistiger Bildung das Örtliche oder Provinzielle mehr überwunden hatte. Da er bei Sievekings im Hause wohnte, so wurde ich seinetwegen daselbst eingeladen, wo ich mich in einer großen gemischten Gesellschaft von Herren und Damen fand, aber nicht ahndete, daß ich es war, auf den diese Versammlung ihr Augenmerk vorzüglich richtete. Denn Jacobi hatte das Wunder erzählt, daß er unvermutet einen Landsmann gefunden, der noch nicht lange von Berlin gekommen und ein eifriger Schlegelianer sei, und nun hatten es die andern recht eigentlich darauf angelegt, mich auf die Probe zu stellen. Jacobi redete mich über Tisch bei allgemeiner Stille mehrmals sehr liebreich an und gab mir Anlaß, mancherlei Urteile zu äußern, weitre Gespräche verknüpften sich damit, und wiewohl alles in bester Gestalt und ohne eigentliches Gefecht ablief, so hatte das Ganze doch etwas von kriegerischer Demonstration, bei welcher man die Truppen, die sich schlagen könnten, wenigstens hin-und herrücken läßt. Mir fiel aber gar nichts bei der Sache auf, und mir ahndete nichts von der gefährlichen Rolle, in die man mich gestellt hatte. Ich war freimütig wie immer und bescheiden aus wahrhafter Achtung.[158]

Erst viele Jahre nachher sagte mir Perthes, der auch zugegen und im Geheimnis gewesen, daß man mich habe aufs Korn nehmen und zum Übermut verleiten wollen, da man denn nachher um so leichter mich würde in Verwirrung und in mir die Schlegelsche Schule zu einer Niederlage gebracht haben. Aber Perthes meinte, ich habe mich damals vortrefflich aus der Sache gezogen, mit solcher schicklichen Haltung und gemessenen Gewandtheit, daß man mir nichts anhaben gekonnt, sondern mit Verwundrung mich habe gelten lassen. Er fügte hinzu, ich hätte schon damals meinen Beruf als Diplomatiker völlig bewährt. Wenn ich dieses Lob einmal annehmen soll, so trägt lediglich meine Unbefangenheit davon die Ehre, denn ich kann beteuern, daß ich weder Absicht merkte noch hatte; und diese Wirkung einer Eigenschaft, an deren Statt man meistenteils lieber Klugheit voraussetzen will, habe ich noch oft zu meinem großen Vorteil, aber auch nicht selten zu meiner gänzlichen Verkennung erfahren müssen.

Bei wiederholten Einladungen und vertraulichern Gesprächen konnte ich Jacobin meine ganze Lage umständlich aufdecken. Er bewies mir väterliches Wohlwollen, versprach, in München, wo sich ihm so mannigfacher Einfluß eröffne, an mich zu denken, und hielt nicht für unmöglich, daß ich als geborner Pfalzbayer von der dortigen Regierung für meine Studien unterstützt würde. Vor allen Dingen ermahnte er mich zum Fleiß, um, nach Senecas Spruch, mit der Eile der Zeit durch die Schnelligkeit ihrer Benutzung zu wetteifern. An meinem Verlangen zum Griechischen nahm er um so erregtern Anteil, als er sich in gleichem Falle mit mir befand und den Mangel ausreichender Kenntnis dieser in neuere Bildung stets gewaltiger eingreifenden Sprache mit jedem Jahre schmerzlicher empfunden und nie ersetzt hatte. Mein Bemühen fand seinen ganzen Beifall, aber es dünkte ihn zu hart und schwer, ohne fremde Hülfe durch die Anfangsgründe sich durchzuringen; er machte mich mit dem Professor am Gymnasium und Direktor der Johannisschule,[159] dem erst kürzlich von Kloster Bergen hieher versetzten Doktor Gurlitt, bekannt und hoffte, es werde sich mit dem trefflichen gelehrten Mann ein Unterricht irgendwie verabreden lassen. Bald nachher reiste Jacobi nach München ab, und ich habe ihn nicht wiedergesehen noch mit ihm eine weitere Verbindung gehabt. Der edle Eindruck aber seiner schönen hohen Gestalt, der geistreich milden Gesichtszüge, der eindringlich angenehmen Rede und der würdigen und feinen Weltbildung kann mir niemals erlöschen. In seiner Erscheinung war die Vornehmheit eines Weisen und eines Staatsmannes vereinigt, wobei doch sein Gemüt einige Reizung verriet, die auf einen weder dem Geiste noch der Leidenschaft nach völlig beruhigten Zustand deutete, welchen er gleichwohl in sich zu haben und nach außen darzustellen nicht aufgeben konnte. Sein persönlicher Umgang aber war so anmutig und gewinnend, daß auch frühere Gegner wie Tieck und Schleiermacher ihren eignen literarischen spöttischen Urteilen zum Trotz bei späteren Besuchen in München als seine innigen Verehrer von ihm schieden.

Unter diesen Umständen reifte der Entschluß, auf welchen ohnehin gleich von Anfang alles gezielt und seitdem auch wirksam eingeleitet war; Fanny Hertz hielt es für unverantwortlich, daß mein wahrer und so tief gefühlter Beruf mir noch verkümmert bliebe, da die Bahn jetzt nach Wunsch eröffnet sei, und nach innigen, bewegten Gesprächen, welche den Schmerz, aber auch den Mut des schönsten Wohlwollens offenbarten, wurde das Ergebnis festgestellt, daß ich das Haus baldigst verlassen sollte, um ganz den begonnenen Studien zu leben. Freilich war hierzu fürerst noch Hamburg der Ort und ein fortgesetztes Zusammenleben uns noch gewiß; allein über die Bedeutung und notwendige Folgenwirkung eines solchen Auflösens bisheriger Verhältnisse konnte man sich nicht täuschen, so wenig wie darüber, daß dieses halbe Scheiden ein späteres ganzes nur schneller herbeiführen helfe. Durch die schmerzlichen[160] Empfindungen einer echten Anhänglichkeit wurde jedoch der vernünftige Entschluß nicht wankend, und seiner Ausführung konnten wir auch unter wehmütigen Tränen, doch mit Freudigkeit entgegenblicken. Das ganze Haus hatte an dieser Gefühlsweise mehr oder minder teil, alle waren betreten, traurig und dabei voll guter Wünsche für mich; der alte Jakob Hertz weinte wie ein Kind und sagte, er hätte gewünscht, mich nie weggehen zu sehen; da mein Glück aber auf andrer Bahn liege, so hoffe er nur, ich würde nie aufhören, sein und der Seinigen Freund zu sein. An eine Wiederbesetzung meiner Stelle wurde nur obenhin gedacht, einige schon früher in Anregung gebrachte Vorschläge fanden keinen Eingang, man konnte eine Pensionsanstalt einstweilen versuchen, was mancherlei Gründe empfahlen, da sich im Hause trotz aller Sorgfalt noch immer zu viel des alten Judentums fand, von dem die Kinder um jeden Preis frei bleiben sollten. So lagen diese Sachen, und die Trennung war ausgesprochen und nahe, als ein sonderbares Walten noch unvermutet schleuniger sie hervorrief. Mitten in so vieler Zuneigung und Teilnahme hatte sich ein Dämon törichten Haders für einen Augenblick einnisten können: ein rasches Anerbieten wurde ebenso rasch angenommen, durch Zufall befestigt, und ich schied gleich an demselben Tage noch. Die Heftigkeit, mit der das geschah, tat der innigen Freundschaft, welche nach allen Seiten bestand, keinen Eintrag. Der alte Hertz bat mich mit Handschlag und Tränen, schon am nächsten Tage sein Gast zu sein und so fortzufahren, wie und wann ich wollte. So geschah es auch, und es vergingen, solange ich noch in Hamburg war, selten zwei, drei Tage, ohne daß ich die Familie besucht und einen Teil meiner freien Stunden so dort zugebracht hätte, als gehörte ich nach wie vor dem Hause an.

Ich zog bei Neumann ein, und wir befanden uns zwar in einiger Enge, aber doch ganz gut. Ungehemmten Eifers warfen wir nun uns mit allen Kräften auf das Griechische[161] und nahmen jede Gelegenheit wahr, die sich unserm Verlangen darbot. Wir ließen uns förmlich zu Mitgliedern des Gymnasiums aufnehmen, besuchten aber hauptsächlich die Lehrstunden des Johanneums. Zum ersten Male genoß ich frei und ungetrübt das hohe Glück, ohne Hemmung noch Ablenkung die herrlichen Geisteswege zu durchschreiten, zu welchen heiße Neigung und tiefes Bedürfnis mich schon so lange Zeit hindrängten, wie keine Jugendleidenschaft es heftiger zu andern Gegenständen gekonnt hätte. Die schönen Sommertage waren es jetzt mir dadurch erst recht, daß ich dem Freunde gegenüber, im Genuß aller Lockungen des lichten und milden Wetters, aber durch noch höheren Reiz gefesselt, vom frühen Morgen bis zum späten Abend angestrengt über den Büchern sitzen konnte, und ich empfand in dem beharrlichen, nachdrücklichen Fleiß eine Befriedigung, ein Wohlsein und Gedeihen, wie sie nicht oft im so vielfach gestörten Leben erreicht werden. Die Wochen, welche uns auf diese Weise dahinflossen, gehören gewiß zu den besten, die wir verlebt haben.

Inzwischen waren die Ferien herangekommen, und wenn auch unser Fleiß darin keine Unterbrechung erleiden sollte, so entbehrte derselbe doch der gelehrten Leitung und Anregung. In dieser Zeit sahen wir oft sehnsüchtig nach Berlin, wo auch Fanny Hertz grade zum Besuch war. Im südlichen Deutschland entzündete sich ein gewaltiger Krieg zwischen Franzosen und Österreichern; auch in unseren Gegenden waren kriegerische Andeutungen und Gerüchte, und auf Preußens Entschließung harrte man in größter Spannung. Da kam unerwartet die Nachricht, das Regiment, in welchem Chamisso stand, habe Marschbefehl und werde an einem bestimmten Tage ins Feld rücken; wir konnten den Freund, wenn wir sogleich reisten, noch eben zum Abschied umarmen. Dies berechnen, unsre Bündel packen und den Postwagen besteigen war Sache weniger Augenblicke. Wir kamen im schönsten Herbstwetter dort an, ich einen Tag später als Neumann, denn ein Abenteuer, das ich mir[162] zugezogen hatte, zwang mich, den Umweg mit Extrapostpferden über Potsdam zu machen und eine junge, hübsche Frau von Wartenberg dort bei ihrem Gatten, der Offizier in des Königs Regiment war, abzuliefern und selber für den Rest der Nacht bei ihm Quartier zu nehmen; eine seltsame Geschichte, die zu erzählen ohne große Weitläufigkeit gar nicht gelingen und auch dann noch vielleicht nur mißverständlich geraten würde. Wir kehrten bei Chamisso ein, wo wir durch andre Gäste das Zimmer zwar schon beengt, aber doch Raum genug für uns fanden. Ein Kandidat von der französischen Kolonie, Franceson, kam abends und nahm seine Herberge bei Chamisso auf einem Strohlager, und Professor Bourguet, ein nicht ungeschickter Chemiker, aber durch Unordnung und Schulden verdorben, war schon zufrieden, auf einem Schemel in die Ecke gedrückt, die Nächte sitzend durchzubringen. Den Tag über war niemand zu Hause, mit der Dunkelheit aber bevölkerte sich der Raum mehr und mehr mit uns seltsamen Nachtvögeln. Von dem Ausmarsche war es noch still, und wir durften einigen Wochen ungestörten Zusammenseins glücklich entgegensehen. Wir eilten zu Madame Cohen, wo wir noch alles im vorigen Gange fanden, zu Eberty, Bernhardi, Fichte, der von Erlangen in Berlin zurückgekehrt war, zu den andern Freunden und Freundinnen, und des Wiederanknüpfens, Austauschens, Berichtens und Verabredens gab es die Fülle.

Eine französische Truppenmacht, eilig aus dem nordwestlichen Deutschland zu dem großen Heere Napoleons gegen die Donau hinanziehend, hatte in Franken den kürzesten Weg unangefragt über das preußische Gebiet genommen und durch diese Verletzung einen allgemeinen Schrei des Unwillens und der Rache in Preußen aufgeregt. Was bis dahin noch zweifelhaft geschienen, daß Preußen an dem Kriege gegen Frankreich teilnehmen würde, mußte jetzt als ausgemacht gelten. In Berlin schrie alles laut von verletzter Nationalehre, von blutiger Vergeltung und von kriegerischen[163] Machtgeboten, welche dem unfehlbaren und raschen Siege folgen müßten. Die bisher langsamen Rüstungen und Bewegungen wurden jetzt kräftig beschleunigt, die Truppen zogen sich zusammen, Chamisso mußte jeden Augenblick gewärtig sein, daß auch sein Regiment Berlin zu verlassen hätte. Unser schwacher Anteil an dem politischen Treiben hatte sich bisher schon immer auf der Gegenseite Napoleons gehalten, auch für Preußen fühlten wir einige Zuneigung, und das gesamte Deutschland ließ uns auch nicht gleichgültig. Allein zu einem wahren politischen Eifer, der sich ausschließlich und den ganzen Tag mit politischen Nachrichten und Verknüpfungen beschäftigen mag, hatten wir es noch lange nicht gebracht; das allgemeine und einzige Gespräch von Krieg und Staat langweilte uns, und wir suchten vergebens unsre schönen Stimmungen und Gesellschaften wiederzufinden, die wir uns auf diesem geweihten Boden zu erneuern gehofft. Für Begeisterung und Empfindsamkeit war keine Stätte, alles drängte zerstreut und gestört ins Weite. Chamisso sollte uns auf ungewisse Zeit und zu unsicherem Geschick entzogen werden, seine Studien waren aufgehoben, die Poesie trat in den Hintergrund. Kaum daß wir bei Madame Sander ein paar literarische Abende hatten, wo unter andern »Das Kreuz an der Ostsee« von Zacharias Werner zur Vorlesung kam, uns aber wenig Geschmack abgewann. Hier sah ich auch den Professor Darbes wieder, der seine Laune und Zutraulichkeit unverändert erhielt. Den schwedischen Geschäftsträger und nachherigen Gesandten Gustav von Brinckmann, der diesen Kreis oft besuchte, ließ mich der Zufall stets versäumen, und ich habe nachher niemals Gelegenheit gehabt, ihn zu sehen; seine Gedichte reizten uns nicht, doch mußten wir ihm große Kunstfertigkeit im Versbau zugestehen. Dagegen sah ich den Dichter des »Lacrimas«, Wilhelm von Schütz, den ich schon früher persönlich gekannt, jetzt in freundschaftlicher Annäherung wieder; hier fanden sich denn freilich alle Arten und Unarten der Schlegelschen Schule zusammengedrängt![164]

Fanny Hertz war inzwischen nach Hamburg schon zurückgekehrt, Chamissos Abmarsch aber verzögerte sich aufs neue ganz unbestimmt, und wir unsrerseits durften nicht länger säumen, unsre abgebrochenen Studien wieder aufzunehmen. Wir gelangten wohlbehalten heim und schickten uns sogleich zu neuem Fleiß an.

Wir waren kaum eine Weile in Hamburg zurück, als der hingehaltene Ausmarsch der Truppen von Berlin nun dennoch unerwartet erfolgte und ein lebhafter Briefwechsel mit Chamisso unsre Teilnahme stärker auf die Truppenbewegungen und die Kriegsereignisse hinzog. Die Siege Napoleons erschreckten uns, aber die Wünsche für die Gegenseite wurden auch leicht irre, und wenn wir uns die tapfern französischen Soldaten einen Augenblick wieder als die Kämpfer der Freiheit denken durften, wandten wir ihnen gern unser Wohlgefallen zu. Das zweifelhafte Benehmen Preußens hielt uns eine Weile gespannt, ging aber bald aus dem kriegerischen Drohen in friedliche Ausgleichungen über. Die Truppen jedoch kehrten nicht sofort in ihre Standorte zurück, und anstatt nach Berlin sah Chamisso am Ende der mancherlei Herumzüge sich zur Besetzung der eingetauschten hannoverschen Lande mitbestimmt, wo sein Regiment in die Festung Hameln zu stehen kam.

Der Winter brachte mir wie gewöhnlich mancherlei Unwohlsein, besonders war mir die rauhe Morgenluft schädlich, und ich mußte die Frühstunden mehr und mehr versäumen. Die Schulstudien gerieten mir dadurch in mißbehagliche Störung, allein gleichzeitig mußt ich auch von andrer Seite mich ihnen allmählich entrückt fühlen. Wir hatten das Nachzuholende in der Hauptsache wirklich nachgeholt, unsre Lebensjahre widersprachen dem längern Verharren in einem Verhältnisse, das für uns nur richtig sein konnte, solange es durchaus notwendig war, und Gurlitt selbst fand, daß wir genug vorbereitet seien und das etwa noch Wünschenswerte aus dieser Sphäre auch in der höheren nicht verabsäumen würden. Für David Mendel war[165] ohnehin der Abgang vom Gymnasium schon festgesetzt, und so beschlossen auch wir, zum Frühjahr 1806 die Universität Halle zu beziehen und womöglich unsern Freund mit dahin zu entführen. Der Leibmedikus Stieglitz in Hannover, der dem Mendelschen Hause ehemals in Göttingen große Verbindlichkeit schuldig geworden und aus Dankbarkeit jetzt den Sohn desselben studieren ließ, hatte zwar, wie natürlich, Göttingen zur Universität für ihn bestimmt, allein wir glaubten diese Bedingung nicht unabänderlich. Vorher war jedoch eine andre zu erfüllen, von welcher der Gönner schlechterdings nicht ablassen wollte; sein Schützling sollte nämlich nicht als Jude auf die Universität gehen, und dieser, ungeachtet alles Widerwillens gegen das Christentum, mußte sich die Taufe gefallen lassen, zu der auch schon alles ohne sein Zutun eingeleitet war. Neumann gab ihm, seinen Mut anzufrischen, eine Schrift von Jakob Böhm über die Taufe zu lesen, und hier zum ersten Male sah er das Christentum von einer hohen geistigen Seite gefaßt und fühlte sich davon angezogen. Der wackre Prediger Bossau erteilte ihm den eigentlichen Unterricht mit verständigem Sinn, hielt eine würdige Rede und vollzog dann die Taufhandlung, bei welcher nur Gurlitt, Neumann und ich Zeugen waren; der neue Christ hieß nun Johann August Wilhelm Neander, und unter diesem Namen ist er mit großen Ehren bekannt geworden.

Quelle:
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens. Berlin 1971, S. 145-166.
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