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Ich wurde im Jahre 1842, am 12. Januar, im Dorfe Fockbeck bei Rendsburg geboren. Meine Eltern hatten sich 1828 verheiratet; mein Vater, der von Beruf Hufschmied war, hatte im gleichen Jahre in Fockbeck eine Schmiede mit etwas Ackerland angekauft. Er stammte aus dem Holsteinischen, aus früher wohlhabender Familie des großbäuerlichen Grundbesitzes. Doch Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts ging durch die allgemein schlechten Zeiten und die traurigen politischen Verhältnisse der Wohlstand der Familie zurück, so daß eben mein Vater zum Handwerk griff und Hufschmied wurde. – Meine Mutter stammte aus einer Kaufmannsfamilie in Rendsburg (was man damals dort Kaufmann nannte). Wir waren sechs Kinder, davon zwei Brüder und eine Schwester älter als ich und zwei Schwestern jünger. Da beide Eltern äußerst tätig und sehr sparsam waren, so darf man annehmen, daß sie gut gestellt waren, zumal mein Vater für die Schmiedestelle nicht sein ganzes Vermögen hingegeben, sondern ein nettes Kapital – für dortige damalige Verhältnisse – für alle Fälle übrig behalten hatte. Dazu kam, daß mein Vater äußerst geschickt in seinem Handwerk war, so daß er sich sehr bald nicht nur im Dorfe Fockbeck und den Nachbardörfern, sondern auch in Rendsburg einen guten Namen erworben hatte. Neben dem tüchtigen Vater stand die ebenso tüchtige und fleißige Mutter.[7] Nicht nur in allen weiblichen Handarbeiten, wie Nähen und Sticken u.a., leistete sie Hervorragendes, sondern sie war auch ebenso tüchtig in der Küche und in der Haushaltung.
Der Vater war im allgemeinen ernst in seinem Wesen, aber nicht unfreundlich, jedoch strenge gegen sich und die Seinen. Die Mutter war mehr heiteren Gemüts, wenn auch in ihrer Art wohl strenge, aber voll Freundlichkeit und Güte. Kein Armer ging ungetröstet von unserer Tür. Die Mutter gab mit vollen Händen, und sie gab mit freundlichem und warmem Herzen. »Frau Vossen« (so wurde sie im ganzen Dorfe genannt) wurde zu Hilfe gerufen, wenn irgendwo im Dorfe jemand ernstlich erkrankt oder verunglückt war, gleichviel ob bei großen Bauern oder bei kleinen Leuten. Sie wußte Rat und konnte helfen, wenigstens bis ein Arzt herbeigerufen war.
Wie die Eltern, so waren auch wir Kinder alle gesund an Geist und Körper, und deshalb waltete im Hause im allgemeinen eine heitere, ja fröhliche Stimmung, doch alles fest geordnet und gesittet. Vater hatte ein strammes Regiment, ohne viel zu schelten, ein Blick genügte. – Bei Muttern ging es schon lustiger her, wurde es aber zu arg, so gab's wohl mal einen Klaps mit der Hand. Aber solche von der Mutter schmerzen bekanntlich nicht so sehr.
Wenn ich auch gesund war, so war ich als Kind doch sehr zart. Das scheint auch die Ursache gewesen zu sein,[8] warum ich erst mit acht Jahren in die Schule geschickt wurde: In die Dorfschule mit einer einzigen Klasse von 150 bis 160 Kindern, Knaben und Mädchen, und mit einem einzigen Lehrer! Bei aller Tüchtigkeit und allem Fleiß des lieben, guten, alten Lehrers Jürgen Sievers war es doch wohl nicht möglich, einer solchen Zahl von Kindern mehr als einen sehr bescheidenen Begriff von Schulbildung beizubringen. Da ich schon vorher von meiner Mutter immer Unterricht empfangen hatte, so war ich bei meinem Eintritt in die Schule meinen gleichaltrigen Kameraden überlegen. Ich hatte also durch meinen späten Eintritt nichts verloren. –
Einige Jahre später wurde dann eine zweite Klasse gebaut und ein Unterlehrer dafür angestellt. Das gab Luft! – Der neue Unterlehrer, Eggert Dose, hatte außer anderen guten Eigenschaften und Fähigkeiten auch die, daß er ein guter Zeichner war. Er richtete eine Abendzeichenschule ein. Da ich nun Luft zum Zeichnen hatte und schon zu Hause aus eigenem Antrieb zeichnete, so wurde ich sofort Schüler in seiner Zeichenschule und erhielt dort den ersten Unterricht im Freihandzeichnen. Als ich dann später nach vollendetem 14. Lebensjahre in Rendsburg die sogenannte Rektorschule besuchte, unter Herrn Rektor Beckmann, erhielt ich gleichzeitig Privatzeichen-Unterricht in der Zeichenschule eines Herrn Ludwig Mertens (ein tüchtiger Künstler in Stahl- und Kupferstich), der leider bald erblindete. Im Frühjahr 1857, nach leider nur einjährigem Besuch der Rektorschule,[9] wurde ich mit 151/4 Jahren konfirmiert. Damit fand meine Schulbildung einen frühzeitigen Abschluß.
Der Schulbesuch, besonders der Fockbecker, ließ mir viel freie Zeit, und wenn davon auch ein gewisser Teil zum Spielen verwendet werden durfte, so sorgte schon mein Vater dafür, daß in der übrigen tüchtig gearbeitet wurde, sei es im Garten oder in der Schmiede. Seit dem 12. Jahre mußte ich oft stundenlang beim Ausschmieden von Hufeisen und von Spaten und Schaufeln als Zuschläger helfen. Das war schwere Arbeit für einen so zarten Burschen wie ich. Es hat mir aber nichts geschadet, sondern wahrscheinlich zu meiner späteren körperlichen Entwickelung vorteilhaft beigetragen. Mein ungefähr zwei Jahre älterer und sehr kräftig entwickelter Bruder Hinrich hatte einen wesentlich schwereren Hammer als ich und schlug schon einen kräftigen Schlag. Immerhin wurde bald unter dem Dreischlag von dem Vater und seinen beiden noch jungen Söhnen ein Spaten fertig. Mein ältester Bruder Johannes (sechs Jahre älter als ich), ein sehr begabter junger Mensch, vollendete damals schon seine Lehre bei einem Schmiedemeister in Rendsburg, nachdem er vorher beim Vater gelernt hatte.
In der ganzen Familie wurde viel gearbeitet, aber auch viel gesungen bei der Arbeit, wenn's ging, besonders aber in freien Stunden, also nach Feierabend. Es waltete im Elternhause neben einer gewissen ernsten Grundstimmung eine herzliche Fröhlichkeit. Meine[10] Mutter hatte eine schöne Sopranstimme und konnte viele Lieder, und da wir Kinder alle mehr oder minder gut musikalisch veranlagt waren, so erklangen oft die alten Volkslieder in – für jene Verhältnisse – schönem, oft zweistimmigem Chorgesang. Es ist wohl verständlich, daß dieses, zusammen mit der schon erwähnten verschiedenartigen Begabung meiner Mutter, auf die umgebende Bauernschaft nicht nur anziehend wirkte, sondern auch, ich darf wohl sagen, einen erziehenden Einfluß ausgeübt hat. Junge Bauerntöchter, nicht nur Fockbecks, sondern aus oft stundenweiter Umgebung, kamen zu meiner Mutter, um sich in Handarbeiten unterrichten zu lassen. Es hat damals der vornehmste Bauer, der alte Claus Jürgens, Vorsteher des Dorfes, einmal den Ausspruch getan: Den Segen, den meine Eltern nach Fockbeck gebracht hätten, könnten vier Pferde nicht ziehen – wie er sich in seiner Art bildlich ausgedrückt hat. Hiernach ist es einleuchtend, daß meine Eltern eine sehr angesehene Stellung in der Dorfschaft einnahmen, überall hoch geachtet wurden und viele Freunde hatten.
Im Alter von 151/4 Jahren, am 19. April 1857, kam ich in die Lehre auf die Carlshütte des Herrn Hartwig Holler bei Rendsburg, um den Maschinenbau zu erlernen. Da aber die Maschinenfabrik gerade mit Lehrlingen besetzt war, so mußte ich zunächst in die Schlosserei mit mehreren Kameraden eintreten. Hier wurde ich einem sogenannten Lehrgesellen (Jürgens) zugeteilt, der hauptsächlich gußeiserne Öfen zusammenbaute und mit[11] Beschlägen usw. fertigstellte. Es wurde nur in Akkord gearbeitet, und da ich von Haus aus eine gute Vorbildung am Schraubstock usw. besaß, so war ich ihm bald eine gute Hilfe. Ich war von Kindheit an, soviel ich nur durfte und es meine Zeit erlaubt hatte, in der Schmiede meines Vaters gewesen und hatte mich mit Schmieden und Arbeiten am Schraubstock beschäftigt und allerhand kleine Dinge angefertigt. Diese frühe Beschäftigung ist gewiß nicht ohne Einfluß auf meine spätere Ausbildung in meinem Berufe geblieben: Handfertigkeit, Ausbildung des Auges für Materialkenntnis und Formengebung usw. – Der alte Jürgens erkannte das an und war stets sehr nett mit mir. Daß ich aber immer drängte, nach der Maschinenfabrik zu kommen, das paßte ihm gar nicht. Er nahm daher oft Veranlassung, den Maschinenbauerberuf in meinen Augen herabzusetzen, denn, meinte er eines Tages: »Reisen kannst du auf Maschinen ja doch nicht. Ich bin als Schlossergeselle bis Nürnberg gekommen, und so weit wirst du als Maschinenbauer in deinem ganzen Leben nicht kommen!«
Diese Arbeit konnte mich aber nicht befriedigen, und da ich immer noch nicht versetzt wurde, obgleich schon mehrere Kameraden in die Maschinenfabrik übergetreten waren, was wohl hauptsächlich zwischen den betreffenden Meistern geregelt wurde, so sprach ich auch verschiedentlich mit den in Frage kommenden Meistern, hatte damit aber – trotz alles Versprechens – keinen Erfolg. Ich[12] war ganz verzweifelt, und meine Eltern hatten abends, wenn ich von der »Hütte« heimkam, ihre liebe Not, mich zu trösten.
Da entschloß ich mich, mit Herrn Hudemann, Neffen des Herrn Holler und Direktor des Werkes, zu sprechen. Als ich dem mein Anliegen vortrug, lächelte er und meinte scherzend: »Das hat ja keinen Zweck, du bist doch gar zu klein und kannst nicht an den Schraubstock reichen.«
Darauf erlaubte ich mir zu erwidern: »Je, Herr Direktor, aber Wilhelmsen ist auch nach der Maschinenfabrik gekommen, obgleich er fast noch kleiner ist als ich, und der muß auch auf einem Schemel stehen, um an den Schraubstock zu reichen.«
Ich weiß zwar nicht das Maß meiner damaligen Körpergröße, man kann aber hiernach schließen, wie klein ich gewesen sein muß! – »Nun, dann wollen wir mal sehen,« meinte er freundlich lächelnd.
Nach einigen Tagen kam der alte Herr Holler selbst durch die Schlosserwerkstatt, und wie er bei meinem Lehrgesellen vorüberging, fragte er ihn sehr laut, daß ich es hören konnte: »Jürgens, haben Sie einen Lehrling mit dem Namen Voß? Der soll der erste sein, der von hier aus nach der Maschinenfabrik versetzt wird.« Meine Bitte war also erhört worden.
Ich kam dann gegen Michaelis in die Maschinenfabrik und wurde da ebenfalls einem Lehrgesellen zuerteilt. Damit hatte ich entschieden Glück, denn dieser,[13] Sohst mit Namen, war einer der tüchtigsten Maschinenbauer der ganzen Werkstatt und hatte infolgedessen die schwierigsten, aber auch interessantesten Arbeiten auszuführen. Sohst war auch als Mensch ein sehr anständiger Charakter, treu und gewissenhaft, so daß er mir in dieser Lehrzeit ein musterhaftes Vorbild gewesen ist. Er hat sich keine Mühe verdrießen lassen, mich mit allen Arbeitsweisen und Kunstgriffen des praktischen Maschinenbauers gründlich bekannt zu machen. Wie weit ihm das gelang, wurde dadurch bewiesen, daß mir schon nach etwa zwei Jahren von dem Maschinenmeister (Tudsen) größere Arbeiten übertragen wurden, die ich durchaus selbständig, unter Beihilfe von unter meinem Kommando stehenden Lehrkollegen, fertigzustellen hatte.
Im fünften Jahre meiner Lehrzeit kam ich in die Dreherei und lernte das Eisen- und Metalldrehen. Auch hier hatte ich das Glück, einem ganz hervorragenden Eisendreher namens Beyer zugeteilt zu werden. Dieser war erst vor einigen Monaten von Berlin durch den neuen Direktor Herrn Meyn herangezogen worden, bekam einen hohen Lohn und wurde von den alten einheimischen Arbeitern daher sehr beneidet. Er war allgemein begabt und leistete als Dreher Außergewöhnliches. Seine Arbeitsweisen in der Dreherei sowohl wie in der Anfertigung und Formgebung der betreffenden Werkzeuge waren, gegen die bisher in der Werkstatt gekannten, vollständig neu. Beyer mochte mich wohl gern leiden, denn es machte ihm Freude, mich gründlich in all[14] das, was zum Fach gehörte, einzuweihen, so daß ich mir bald eine Fertigkeit angeeignet hatte, die von meinem Drehermeister (Hans Prinz, selbst ein sehr begabter und tüchtiger Mann) besonders anerkannt wurde. Auch die schwierige Freihanddreherei – das Gewindeschneiden und Formgeben aus freier Hand – hatte mein guter Beyer mir nach seinen vorzüglichen Methoden vollständig beigebracht. –
Nun muß ich zurückgreifen auf den Anfang meiner Lehrjahre und berichten, wie ich die freie Zeit ausnutzte, die mir außer der Arbeitszeit in der Fabrik blieb, also die Abende und Sonntage. Im ersten Jahre wurde der Unterricht im Freihandzeichnen Sonntags morgens fortgesetzt und nach dessen Abschluß die Sonntagsschule des »Rendsburger Arbeitervereins« besucht. Hier wurde, außer Freihandzeichnen und Modellieren in Ton, auch Linear- und Fachzeichnen gelehrt. Am Schluß des Unterrichts – Ostern 1858 – erhielt ich zur weiteren Anspornung eine Auszeichnung in Form einer bronzenen Medaille.
Auf der Carlshütte dauerte die Arbeitszeit damals von morgens 6 Uhr bis abends 7 Uhr, und da ich vom Elternhaus in Fockbeck bis zur Carlshütte eine Stunde zu gehen hatte, war ich täglich 15 Stunden aus dem Hause! Das Mittagessen, das heißt die einzige warme Mahlzeit, nahm ich daher erst abends ein, und es blieb nicht allzuviel Zeit zum Schlafen. Morgens 1/25 Uhr mußte aufgestanden werden, um rechtzeitig in der Fabrik[15] sein zu können. Im Winter dauerte die Arbeitszeit nur von morgens 6 bis abends 6 Uhr, und vom Jahre 1858 ab wurde auch im Sommer nur noch von 6 bis 6 Uhr gearbeitet.
Ostern 1858 kam ein junger Hamburger, Adolph Jantzen, auf der Carlshütte in die Lehre. Wir lernten uns bald näher kennen und waren eine Reihe von Jahren unzertrennliche Freunde. Jantzen war nicht nur von Haus aus begabt, sondern er hatte auch eine vorzügliche Schulbildung genossen. Der Umgang mit ihm war daher für mich, bei meiner geringen Schulbildung, von guter Einwirkung. Im Herbst 1858 erklärte mir nun mein Freund, daß er sowohl abends als auch Sonntags Privatunterricht von Herrn Ingenieur William Pape erhalten solle. Herr Pape war Angestellter in der technischen Leitung des Werkes und ein vielseitig gebildeter, tüchtiger Mann von 26 bis 27 Jahren. Von Jantzen angeregt, brannte ich darauf, den Unterricht mit ihm zusammen zu genießen. Mein Vater, dem die Sache von Herren der Carlshütte wohl empfohlen war, erklärte sich auf meine Bitte hin bereit, das Opfer an Schulgeld zu bringen. Er machte mich aber darauf aufmerksam, daß, wenn ich einmal damit begonnen hätte, ich die Stunden im Sommer und im Winter fortsetzen müßte. Er gab mir ferner dabei zu bedenken, daß ich den weiten Weg abends und bei jedem Wetter allein gehen müßte und recht spät nach Hause kommen würde; aber einmal begonnen, dürfte die Sache nicht wieder aufgegeben werden.[16]
Das hatte ich mir alles schon vorher gesagt. Ich war entschlossen, diese Gelegenheit, mich weiter zu bilden, tatkräftig zu ergreifen. Im Herbst 1858 begann denn also der Unterricht an fünf Abenden in der Woche und am Sonntag-Vormittag. Der Unterricht in der Sonntagsschule des Arbeitervereins hörte damit auf. Der Abendunterricht erstreckte sich hauptsächlich auf Mathematik, englische Sprache, Stenographie und Sonntags auf Linearzeichnen. Herr Pape wohnte in der Nähe der Fabrik, in Büdelsdorf, ebenso mein Freund Jantzen. Bei ihm brachte ich die freie Stunde von 6 bis 7 Uhr zu. Der Unterricht war für die Zeit von 7 bis 8 Uhr angesetzt. Es wurde aber meistens später begonnen und wesentlich später, als beabsichtigt war, geschlossen. Ich kam daher selten vor 10 Uhr, zuweilen erst gegen 11 Uhr abends, nach Hause. – Alles schlief, mein Essen war warmgestellt. Wenn man bedenkt, wie zart und körperlich wenig entwickelt ich war, dann erscheint es geradezu als ein Wunder, wie ich dabei habe bestehen und mich körperlich entwickeln können. Fünf, höchstens sechs Stunden Schlaf! Körperlich den ganzen Tag, am Abend noch geistig angestrengt, und selbst Sonntags nur den Nachmittag frei für die Erholung! Trotzdem begann von meinem 16. Jahre an mein Körper sich kräftig zu entwickeln, und bis zum Ende des 18. Jahres hatte ich so ziemlich meine jetzige normale Körpergröße erreicht. Die Liebe zu meinem Beruf war aber so groß, daß alle anderen Interessen und die Schwierigkeiten zurücktreten[17] mußten. Deshalb wurden auch die Sonntag-Nachmittage, die Festtage und die Abende, an denen der Unterricht durch Herrn Papes Verhinderung ausfallen mußte, für allerlei Studien benutzt. Bernoullis Dampfmaschinenkunde und dessen, »Vademekum des Mechanikers« wurden fleißig studiert.
Dann begann ich eine kleine Dampfmaschine zu konstruieren. Als ich die Zeichnung dazu fertig hatte, wurde mit festem Mut an die Ausführung gegangen. Nach zwei Jahren fleißiger Arbeit konnte ich – mit Vollendung meines 18. Lebensjahres – die Maschine unter Dampf in Gang setzen.
Die Maschine war mit ihrer Grundplatte auf den Kessel geschraubt, ähnlich wie bei Lokomobilen, die ich mit meinem Lehrgesellen Sohst zusammen auf der Carlshütte baute. Die kleine Maschine war mit allem ausgerüstet, was dazu gehörte. Sie hatte einen Kugelpendel-Regulator, eine Dampfpfeife und selbstverständlich eine Speisepumpe, die den Kessel speiste.
Als ich nun an einem Sonntag-Vormittag zum erstenmal in der Schmiedewerkstätte meines Vaters Dampf aufgemacht hatte, da ließ ich die Pfeife ertönen, öffnete das Dampfventil, und die Maschine begann – zuerst langsam, dann immer schneller und schneller – sich zu drehen. Sie machte schließlich bis 330 Umdrehungen die Minute. Jetzt wurden die Eltern und Geschwister herbeigerufen, und alle waren erfreut, am meisten wohl meine Eltern. Mein Vater sagte nicht[18] viel, nickte aber mit dem Kopfe und meinte: »Das hast du gut durchgeführt.«
Ich hatte die Maschine natürlich in der Schmiedewerkstatt meines Vaters gearbeitet, und hier fand, wie gesagt, auch die erste Probe statt. Nachmittags wurde nun die Maschine aus der Werkstatt nach der Straßenseite hinausgestellt und in Gang gesetzt, nachdem ich die kleine Dampfpfeife hatte ertönen lassen. Das gab dann einen Zusammenlauf, namentlich der Jugend aus dem Dorfe, und es war ein großer Jubel. Dies kleine Schauspiel hatte viel von sich reden gemacht, und ich war ein kleiner Vielgenannter in Fockbeck und den umliegenden Dörfern. – Die Maschine ist noch erhalten und steht in meinem Hause in Hochkamp.
Danach begann ich eine Fourneyron-Turbine zu entwerfen und führte sie auch ganz sachgemäß aus. Sie arbeitete durch Wasser, das ihr von der Pumpe zugeführt wurde, ganz tadellos. Nach diesen kleinen, ermutigenden Erfolgen begann ich mit dem Bau einer viel schwieriger durchzuführenden Jonval-Henschel-Turbine. Die Turbinenräder, das Leit- und das Laufrad, hatte ich kunstgerecht in Lehm geformt, mit allen Kernen für die vielen Schaufeln, und dann in sogenanntem Schriftmetall gegossen. Nach mehreren Fehlgüssen waren sie mir doch schließlich vollkommen gelungen. Das zylindrische Turbinengehäuse hatte ich auf einer Glashütte in Glas ausführen lassen, so daß man das Arbeiten des Wassers in dem darin laufenden Turbinenrad[19] von außen beobachten konnte. Diese Turbine machte sich besonders hübsch. Ich darf hier erwähnen, daß die Einzelteile an diesen drei kleinen Maschinen in der Formgebung durchaus wie im großen Maschinenbau üblich ausgeführt waren, so auch die Schraubenbolzen mit ihren Muttern, die Spur- und Halslager, Spindeln und Wellen usw.; nicht etwa so, wie es in der Feinmechanik und Uhrmacherei üblich ist, solche Teile herzustellen. Das Ganze war in genauer und sauberer Maschinenbau-Arbeit ausgeführt. Die beiden Turbinen befanden sich lange im physikalischen Laboratorium des Rendsburger Realgymnasiums; vielleicht sind sie noch da vorhanden.
Ich fühle mich verpflichtet, hier in dankbarer Erinnerung hervorzuheben, daß die damaligen Herren der Carlshütte mit großer Freundlichkeit und Güte es mir gestattet haben, die seinen Dreherarbeiten für die kleinen Maschinen Sonntags in der Maschinenwerkstatt auszuführen. – Es war gewiß das erstemal, daß einem Lehrling so etwas gestattet wurde. – Ohne dieses große Entgegenkommen der Herren hätte ich die Maschinen überhaupt nicht ausführen können.
Meine praktische Lehrzeit neigte sich jetzt ihrem Ende zu; im Frühjahr 1862, am 19. April, waren die fünf Lehrjahre vollendet. Jeder der Ausgelernten erhielt einen gedruckten Lehrbrief, sie hatten daher alle den gleichen Wortlaut. Nur in meinem Lehrbrief befand sich von Herrn Direktor Meyn eine Nachschrift; eine[20] Auszeichnung, wie sie bis dahin noch nicht vorgekommen war. Ich wurde darum von meinen Lehrkollegen sehr beneidet. Der Lehrbrief lautet:
Ernst Voß aus Fockbeck hat hierselbst seit dem Jahre 1857 ordnungsmäßig 5 Jahre in der Maschinenwerkstätte gelernt, und er hat sich während dieser Zeit als ein ordentlicher und fleißiger Arbeiter betragen.
Carlshütte, den 19. April 1862.
Ich kann nicht umhin, seine besondere Aufmerksamkeit und Fähigkeit, die er im mechanischen Fache bewiesen, sehr rühmend hervorzuheben; ihm gleichzeitig wünschend, daß es ihm gelingen möge, durch höheres Studium sein Fortkommen fester zu gründen.
J. C. C. Meyn,
Techn. Direktor.
Über die Carlshütte möchte ich hier noch folgendes erwähnen: Gegründet von Herrn Hartwig Holler 1828, wurde sie unter großen Schwierigkeiten, mit außerordentlichem Geschick immer höher entwickelt, bis sie das bedeutendste Eisenwerk – Gießerei und Maschinenfabrik – Schleswig-Holsteins geworden war. Der Begründer hatte später seinen begabten und energischen Neffen, Herrn Karl Hudemann, mit ins Geschäft genommen, und dieser war auch Leiter der ganzen Geschäftsführung, als Herr Holler 1858 starb. Der einzige Sohn, das[21] einzige Kind des Herrn Holler, Hartwig, trat nach dem Tode des Vaters zunächst eine längere Reise ins Ausland an. Als dann 1859 oder 60 auch Herr Hudemann starb, wurde Herr J. C. C. Meyn, früher Maschinenfabrikbesitzer in Hamburg, von Herrn Holler jun., der inzwischen zurückgekehrt war, zum Direktor des Werkes bestellt. Später, Anfang der siebziger Jahre, hat Herr Holler dann die Firma in eine Aktiengesellschaft verwandelt.
Bald nach Beendigung meiner Lehrzeit reiste ich nach Altona-Ottensen und arbeitete dort in der Maschinenfabrik von Lange & Zeise einige Monate. Als es mir dort nicht mehr gefiel, ging ich zu Marquardt & Gräfe in Billwärder; in deren Maschinenfabrik arbeitete ich bis September. Einige Abende in der Woche und Sonntag-Vormittags besuchte ich die Schule des »Arbeiter-Bildungsvereins«, Böhmkenstraße, Hamburg.
Mein Freund Jantzen, der noch auf der Carlshütte weiter lernte, wollte zum Herbst die Königl. Preuß. Provinzial-Kunst- und Gewerbeschule in Erfurt besuchen, und ich wagte, meinem Vater mit der Bitte zu kommen, mich Jantzen anschließen zu dürfen. Obwohl mein Vater, wie er mir noch am Morgen meiner Abreise gesagt hatte, sehr dafür war, daß ich mein Brot mit den Händen verdiene, so gab er doch schließlich seine Einwilligung. Anfang Oktober 1862 reisten Jantzen und ich nach Erfurt ab. Herr Pape, der selbst Erfurter Schulen besucht hatte, gab uns einen warmen Empfehlungsbrief[22] an den Direktor der Gewerbeschule, Herrn Prof. Dr. Koch, mit auf den Weg. Er hatte diesem auch wohl schon früher geschrieben; er war ihm wohlbekannt, denn er hatte die Realschule besucht, als Prof. Koch deren Direktor gewesen war.
Der ganze Kursus der Schule dauerte programmmäßig zwei Jahre, aber Jantzen und ich waren kühn genug, uns gleich für die I. Klasse anzumelden, um, wenn möglich, die Schule in einem Jahre zu erledigen. Wir wußten zwar sehr wohl, daß wir dafür nicht reif waren, hofften aber, durch eifrige Arbeit das Ziel erreichen zu können. Das war nur möglich, wenn man uns gestatten würde, in die I. Klasse einzutreten.
Während nun die alten Schüler der II. Klasse ihr Übergangsexamen ablegten, standen wir beide im Aufnahme-Examen. Es fielen verschiedene durch, uns beiden wurde aber von der Prüfungskommission mitgeteilt, daß man es uns gestatten wolle, zu versuchen, die Lücken unseres Wissens für die I. Klasse in den nächsten drei Monaten auszufüllen. Wir sahen wohl ein, daß wir das Examen nicht bestanden hätten! – Das war großmütig gehandelt, zumal wir Ausländer waren. Ich, als Schleswig-Holsteiner, war dänischer Untertan, und Jantzen, der zwar unter gleicher Flagge segelte, war Hamburger.
Wir beide wohnten zusammen; es war am Fischersand in Erfurt. Und nun ging es mit frischem, fröhlichem Mut an die Arbeit, um das vorgesteckte Ziel zu erreichen. Die Unterrichtsstunden der Kunstschule (diese[23] Schule befand sich in einem alten Karthäuser-Kloster) dauerten von morgens 8–10 Uhr. Es wurde unterrichtet in Luftperspektive, Licht- und Schattenlehre. Säulenordnung, Freihandzeichnen, Modellieren in Ton und anderem mehr. In der Gewerbeschule begann der Unterricht um 101/4 Uhr vormittags. Da diese im Augustiner-Kloster, recht weit von jener entfernt lag, so hatten wir immer große Eile, rechtzeitig dort zu sein.
Im Laufe der Wochen wurde von den Lehrern in der Gewerbeschule oft geprüft und wiederholt, und wir merkten nach und nach, daß wir Oberwasser gewannen und immer besser abschnitten. Schließlich, es muß kurz vor den Weihnachtsferien gewesen sein, rief während der Mathematikprüfung Prof. Dr. Zernikow (ein vorzüglicher, flotter Lehrer) laut in die Klasse hinein: »Sie beide, meine Herren vom Norden, haben uns vollkommen eingeholt. So etwas ist mir noch nicht vorgekommen. Ich mache Ihnen mein Kompliment!« – Das war zunächst mal die Mathematik. Wir schnitten aber bei den Prüfungen vor den Weihnachtsferien im allgemeinen so gut ab, daß wir, da uns vom Herrn Direktor nichts Gegenteiliges gesagt worden war, die Schule ruhig weiter besuchten.
Die Kunstschule war der Königl. Akademie der Künste in Berlin unterstellt, und dorthin mußten eine Anzahl der besten Zeichnungen am Semesterschluß. Ostern, eingeschickt werden. Wir erfuhren bald, daß auch von unseren Zeichnungen einige dazu auserwählt[24] waren. Als dann später im Staatsanzeiger auch unsere Namen erschienen, lasen wir sie mit großer Freude: Jeder von uns hatte die kleine silberne Medaille von der Akademie der Künste erhalten. Mit frischem Mut und großem Selbstvertrauen arbeiteten wir in der Gewerbeschule weiter, um auch dort zu siegen.
Wir waren nur zwölf Schüler in der I. Klasse, von denen zwei vor dem Schlußexamen abgingen. Als dies im August stattfand, bestand ein einziger mit dem Prädikat »sehr gut«, der aber schon das Gymnasium hinter sich hatte, dann kamen einige mit »gut«, unter denen auch wir beide uns befanden, während sich die übrigen mit »genügend« bescheiden mußten. Wir beiden zogen dann mit fröhlichem und dankbarem Herzen in die heimatlichen Gefilde.
Wenn ich an jene Zeit und die Verhältnisse zurückdenke, so muß ich es noch heute bewundern, mit welcher Nachsicht und Güte man uns dort entgegengekommen ist. Wir waren doch Ausländer, und das Königl. Preuß. Schulkollegium stellte uns alles zur Verfügung. Das Schulgeld war außerordentlich bescheiden. Ich darf wohl behaupten, daß die von uns allein bei den chemischen Arbeiten verbrauchten Chemikalien usw. einen großen Teil des gezahlten Schulgeldes verschlungen haben. Das war Preußen! – Aber gearbeitet mußte werden! – »Das kann der Preußische Staat von Ihnen verlangen!« sagte der Direktor Prof. Dr. Koch., »Für Faulenzer wird das Geld nicht gegeben!«[25] – Er selbst war ein ganz hervorragender Lehrer. ...
Nach diesen Erfolgen hatte sich mein Mut sehr gesteigert, ich wollte weiter studieren, um Ingenieur zu werden. Die sich diesem Bestreben entgegenstellenden Schwierigkeiten waren außer anderem die Beschaffung der Geldmittel. Wenn mein Vater für damalige Verhältnisse auch ganz gut gestellt war, so waren doch außer mir die anderen Geschwister auch noch da, die natürlich um meinetwillen nicht zu kurz kommen durften. Mein Vater entschloß sich endlich, mir meinen etwa zukommenden Teil am Vermögen auszukehren. Damit sollte ich durch sparsame Wirtschaft versuchen, meine Studien soweit wie möglich zu vollenden. Bald darauf führte mich mein gütiges Geschick in die Nähe des jungen Herrn Holler. Er begegnete mir nicht weit von der Carlshütte, und als ich ihn grüßte, kam er sofort auf mich zu und erkundigte sich, wie es jetzt mit einem Weiterstudieren stände. Er kannte mich von der Carlshütte her, hatte von mir gehört, und ich hatte wohl sein Interesse erregt.
Nachdem ich dann meine Lage und Verhältnisse dargelegt hatte, lud er mich ein, am nächsten Vormittag bei ihm in seinem Privatkontor vorzukommen, dort wollten wir einmal weiter darüber sprechen. Als ich der freundlichen Einladung Folge leistete, machte er mir die überraschende und gütige Mitteilung, daß er mir das für mein ferneres Studium nötige Geld (außer dem von[26] meinem Vater empfangenen) vorstrecken wolle. – Mit vor Glück und Freude übervollem Herzen kehrte ich zu meinen Eltern zurück.
Anfang Oktober 1863 trat ich meine Reise nach Zürich an, um das dortige Polytechnikum (damals wohl das berühmteste Polytechnikum mit den hervorragendsten deutschen Professoren) zu besuchen und mich zum Maschinenbau-Ingenieur auszubilden. Als ich mich in Zürich zum Eintritt meldete, wurde ich auf Grund meiner Zeugnisse von Erfurt ohne weiteres aufgenommen und immatrikuliert. Die Erfurter Schule, sagte mir der Professor Dr. Bolley, sei ihm rühmlichst bekannt.
Für die nächsten drei Jahre, bis zum Sommer 1866, warf ich mich nun mit Luft und Liebe auf das Studium der Ingenieurwissenschaften. Ich blieb die ganzen drei Jahre ununterbrochen in Zürich, ohne in den Ferien nach Hause zu fahren, um das Reisegeld zu sparen, dann aber auch, um diese freie Zeit noch zum Studium zu verwenden. Daraus soll aber nicht geschlossen werden, daß mein Sinn nur auf das Studium erpicht war, und daß ich gewissermaßen – verochste. – Gewiß nicht! Ich habe es zum Glück verstanden, auch die Freuden und Zerstreuungen des Studentenlebens zu genießen und mit dem ernsten Streben in meinen Studien zu verbinden. ...
Um mir auch in allgemeiner Bildung voranzuhelfen, habe ich während der drei Jahre fleißig folgende Vorlesungen besucht: Johannes Scherr, Neuere Geschichte[27] von 1740 bis in die neueste Zeit usw. – Theodor Fischer, Geschichte der neueren deutschen Poesie, Faust, Die Dramen Shakespeares. Dann Lübke, Allgemeine Kunstgeschichte, Geschichte der Malerei, Geschichte der Plastik usw.
Meine vorhergegangene gründliche praktische Ausbildung in meinem Fache erleichterte mir auch das theoretische Studium. Ganz besonders aber gab es mir meinen sämtlichen Studiengenossen gegenüber einen großen Vorsprung. Eine so ausgedehnte, vieles umfassende Lehrzeit hatte keiner von ihnen durchgemacht. – Als es daher im Herbst 1865 zum theoretischen Teil, und vom Mai bis August 1866 zum eigentlichen ingenieurwissenschaftlichen Teil des Diplomexamens kam, da durfte ich mich wohl dafür vollständig gerüstet halten und mit Mut und Selbstvertrauen in dasselbe eintreten. Zwar wurde, wie es in einer Fußnote des Diploms heißt, kein Grad erteilt, sondern dafür ein höherer Maßstab angelegt, so daß diejenigen, die das Diplom erhielten, als über den Durchschnitt veranlagt gelten sollten; es war jedoch vom Schulrat angeordnet, daß bei dem feierlichen Schlußakt in der Aula im Verlesen der Namen der Bestandenen die Rangordnung zum Ausdruck kommen sollte, mit welchem Grad der Vollendung der einzelne das Diplomexamen bestanden hätte.
Der zuerst verlesene Name war der eines Schweizers, der zweite war der meinige. Es waren im ganzen achtzehn »Diplomaten«, wie sie scherzweise genannt wurden.[28] Meine Freunde waren damit durchaus nicht zufrieden, sie behaupteten, mir gebühre die Nummer eins; der andere wäre Erster geworden, weil er Schweizer sei. – Ich selbst war aber voll zufrieden, und ich war glücklich, mit diesem Ergebnis vor die Augen meiner Eltern und meines Wohltäters, des Herrn Holler, treten zu können.
In dieser Studienzeit hatte ich mir eine Anzahl lieber Freunde erworben, deren Freundschaft unser Leben durchdauert hat. Einer meiner teuersten Freunde aus jener Züricher Zeit war Wilhelm Kalkmann aus Hamburg. Er hatte mich eingeladen, auf meiner Heimreise durch Hamburg einige Tage in seinem Elternhause zu wohnen. Ich wurde mit großer Liebenswürdigkeit von den Eltern und Geschwistern empfangen, und lernte nun seine einzige Schwester, Lina, kennen. Als ich dann nach einigen Tagen Abschied nahm, um zu meinen Eltern zu reisen, da wußte ich, wie teuer die Schwester meines Freundes meinem Herzen geworden war. –
Seit meiner dreijährigen Abwesenheit von der Heimat hatte sich hier, wie im ganzen deutschen Vaterlande, vieles geändert. Die Kriege von 1864 gegen Dänemark und 1866 gegen Österreich lagen hinter uns. Ich war als dänischer Untertan ausgezogen und kam als angehender preußischer zurück. – Hier muß ich erwähnen, daß ich mich vor meiner Abreise nach Zürich beim dänischen Militär für meinen Dienstantritt um drei Jahre hatte zurückschreiben lassen, um in meinen Studien nicht gestört zu werden. Durch den Krieg von 1864 war[29] diese Angelegenheit für mich erledigt. – Schleswig-Holstein wurde gerade im Herbst 1866 zu einer preußischen Provinz gemacht. Meinem politischen Gefühl entsprachen diese neuen Verhältnisse durchaus. In meinem Elternhause hatte immer ein sehr reger deutsch-patriotischer Geist gewaltet, und die Freude darüber, daß wir endlich von der Dänenherrschaft befreit und nun dauernd deutsch geworden waren, unter dem mächtigen Schutz Preußens, war in meiner Familie und meinem ganzen Freundeskreise allgemein und tiefgehend. In Rendsburg hatten sich gegen 20 junge Männer zusammengefunden, die zum Teil noch im Studium auf Universitäten und Polytechnischen Schulen standen, zum größten Teil aber – wie ich – dies eben vollendet hatten. Wir trafen oft zusammen und bildeten in Rendsburg »Jung-Schleswig-Holstein«, das mit Begeisterung Preußen – Großdeutschland! – in die Arme eilte.
Im November-Dezember mußten die Dienstpflichtigen sich zum Militärdienst melden. Einige meiner Freunde und ich meldeten uns zum Eintritt bei der Fußartillerie in Rendsburg. – Der Jahrgang 1841 wurde entgegenkommender Weise von vornherein vom Dienst ausgeschlossen, ferner wurden die dann folgenden Jahrgänge mit großer Rücksicht auf persönliche Verhältnisse behandelt. Da ich am 12. Januar 1842 geboren war, so war ich nur um 12 Tage zu jung, um überhaupt vom Dienst befreit zu sein. Nach nochmaliger ärztlicher Untersuchung, unmittelbar vor meiner Einstellung, sollte[30] ich bis zur »Superrevision« im Juni 1867 zurückgestellt werden. Ich hatte aber, durch Empfehlung des Herrn Holler an ein großes Londoner Haus, Aussicht in London Anstellung zu bekommen und ging nun, als ich diese Nachricht erhielt, direkt zum Gouverneur Schleswig-Holsteins, Herrn von Scheel-Plessen in Schleswig. Nach kurzem Warten wurde ich vorgelassen und freundlich empfangen, trug ihm nun mein Anliegen vor und bat, gütigst veranlassen zu wollen, daß ich schon jetzt vom Militärdienst freigesprochen würde und nicht erst bis zum Sommer warten müsse, weil mir die Stellung, die mir in London in Aussicht stände, bis dahin ohne Zweifel verloren gehen würde. Er war sehr freundlich, stellte einige Fragen, die mich vermuten ließen, daß ich schon einen Fürsprecher gehabt hatte, und sagte: »Nun, Herr Voß, dann wollen wir Ihren Namen ganz streichen lassen, damit Sie gleich vom Militärdienst fürs ganze Leben befreit sind.« Er klingelte: Ein Leutnant erschien, dem der Befehl erteilt wurde, in meiner Gegenwart meinen Namen in der Liste der Dienstpflichtigen zu streichen. – Die neue Regierung war also sehr entgegenkommend. In Rendsburg erhielt ich auf meinen Antrag einen Königl. Preuß. Reisepaß ins Ausland auf unbestimmte Dauer, und nun konnte die Reise nach England losgehen.
In diesen letzten Monaten hatte ich fast ausschließlich bei meinem Schwager Frahm gewohnt; dieser hatte eine Schiffswerft für Holzschiffbau von der Carlshütte[31] gepachtet. Dort war es mir daher interessanter, und ich war auch näher bei Rendsburg. Mein Schwager und seine Frau Auguste – meine älteste Schwester – haben mir immer viel Liebes erwiesen. Sie war nicht nur geistig ganz ungewöhnlich begabt, sondern auch zugleich ein selten edles Menschenkind; sie hat stets voller Liebe und Güte mich gefördert, und mein Schwager Frahm nahm hieran den regsten Anteil.
Mein Vater war immer sehr vorsichtig und sparsam mit seinem Lob mir gegenüber gewesen. Er gab seiner Freude über die bis dahin errungenen Erfolge maßvollen Ausdruck. Als ich aber von meinen beiden Eltern Abschied nahm, und der Mutter dabei die Tränen über die Wangen liefen, da sagte er tröstend zu ihr: »Nun, Mutter, weine nicht, einen solchen Sohn kannst du schon ziehen lassen, der findet seinen Weg.« –
Gerade in dieser Zeit erhielt ich von den Eltern meines Freundes Wilh. Kalkmann eine Einladung zur Feier ihrer silbernen Hochzeit, die also zufällig mit meiner Abreise nach England zusammenfiel. Gern machte ich von der Gelegenheit Gebrauch, meine Freunde, vor allem aber meine im stillen Angebetete vor meiner Abreise noch einmal zu sehen. An der Feier im Kreise der Familie beteiligte ich mich, doch an der großen Abendgesellschaft nahm ich nicht mehr teil, sondern ging statt dessen an Bord meines Schiffes (ein alter Raddampfer »Princeß Royal« der General-Steam-Navigation Co.), das früh am Morgen des nächsten Tages[32] seine Reise nach London antreten sollte. Es war mir nicht möglich, mich weiter an dem Fest zu beteiligen. Mir war das Herz zu voll und zu schwer. Ich hatte mich sterblich verliebt und durfte doch so nicht hoffen, jemals ans Ziel meiner Sehnsucht zu gelangen. Jedenfalls mußte ich erst etwas leisten, das war mir vollkommen klar, und bis dahin war sie, die Herzensgeliebte, vielleicht längst für mich verloren. –
Am Tage nach meiner Ankunft in London stellte ich mich dem Chef des Hauses vor (William Bird & Co., ein Welthaus ersten Ranges), an das ich von Herrn Holler empfohlen war. Ich wurde sehr liebenswürdig empfangen und erhielt einen Empfehlungsbrief an eine große Ingenieurfirma. Hier war für mich eine Stellung in Aussicht gewesen, doch hatte sich inzwischen die Geschäftslage so verschlechtert, daß man mir trotz größter Freundlichkeit erklärte, man bedauere, mich wegen Mangel an Beschäftigung nicht einstellen zu können, da kaum genügend Beschäftigung für die alten Angestellten wäre. – Ich holte mir nun neue Empfehlungen von Bird, doch waren alle Bemühungen vergebens. Als ich dann doch wieder zu Bird gehen wollte, glaubte ich im Gedränge der Canon Street ein mir bekanntes Gesicht erblickt zu haben. Ich machte kehrt, um es nochmal zu sehen, und als sich dabei unsere Augen trafen, rief der Betreffende: »Hallo! – Voß, wo kommst du denn her, und was willst du hier in London?«
Es war ein Herr Moll, Schweizer aus Zürich. Er[33] machte schon sein Diplomexamen, wie ich noch im ersten Semester war. Er war bei den »Helvetern« aktiv, wo ich ihn auf der Kneipe kennengelernt hatte. Diese kurze Bekanntschaft von damals war nun für mich von sehr wichtigen Folgen. – Als ich ihm auf seine Frage volle Auskunft gegeben hatte, da hakte er mich ein mit den Worten: »Komm, altes Haus, dir kann geholfen werden!« und kehrte mit mir um. Wir waren kaum einige Minuten gegangen, als er stehen blieb. Es war vor dem Hause Nr. 89. – »Hier,« sagte er. »Diese Firma, John & Henry Gwynne, Hydraulic and mechanical Engineers, habe ich soeben verlassen, um nach der Schweiz, in meine Heimat, zurückzukehren. Dort gehst du morgen früh hin und meldest dich mit dem Ersuchen um Anstellung als Ingenieur; die werden dich ohne Zweifel nehmen, denn sie müssen für mich Ersatz haben. Jetzt begleite mich zum schweizerischen Konsul.« –
In der weiteren Unterhaltung bemerkte ich bald – der arme Moll war geisteskrank geworden. – Was er mir aber gesagt hatte, war richtig, denn als ich mich am nächsten Morgen bei Gwynnes meldete und mich dabei u.a. auf das zufällige Zusammentreffen mit Herrn Moll bezog, wurde ich sofort angestellt, und zwar zunächst auf sechs Wochen Probe für 36 sh. die Woche Gehalt.
Die beiden jungen Herren John und Henry Gwynne hatten sich von ihrem älteren Bruder, Inhaber der Firma Gwynne, getrennt und bauten in Hammersmith an der Thames eine eigene neue Fabrik; die Entwürfe[34] dafür wurden im Bureau der »City Office«, Cannon Street, angefertigt. Es waren in diesem der Bureauvorsteher, »headdraughtsman« genannt, und außer mir noch zwei »constructor draughtsmen«, diese drei waren wohl als beste Kräfte von der alten Firma mit herübergenommen. Im Anfang erhielt ich gewöhnliche Zeichnerarbeiten für den Neubau der Fabrik. Als es sich aber sehr bald nach meinem Eintritt darum handelte, nach Aufträgen Umschau zu halten, da galt es, Entwürfe auszuarbeiten für Anlagen, die zum Wettbewerb ausgeschrieben waren. Bei einer solchen Gelegenheit wurde ich eines Morgens in das Privatzimmer der Herren, zu Mr. John Gwynne, gerufen. Er fragte mich zunächst, ob ich wohl »Hydraulik« verstände, und als ich das bejahte, fing er an, mich gewissermaßen in dem Fache zu prüfen. Er schien zufrieden mit meinen Antworten, war sehr freundlich und machte mir Angaben über eine zu entwerfende Entwässerungsanlage. Die Pumpen müßten Zentrifugalpumpen sein (noch heute eine Spezialität der Firma), die durch Dampfmaschinen angetrieben würden. Zunächst möchte ich ihm die Hauptdaten für eine solche Anlage berechnen, also Größe und Umdrehungszahl der Pumpen, Größe der Saug- und Druckrohre, der Maschinen-Zylinder, der Dampfkesselanlage usw.[35]
Als ich ihm am nächsten Morgen in seinem Zimmer die Ergebnisse der ganzen Berechnung überreichte, schien er höchst überrascht zu sein über die schnelle Erledigung. Ich hatte natürlich abends so lange gearbeitet, bis die Sache fertig war. Dann schenkte er der Umdrehungszahl und der Größe der Pumpen seine besondere Beachtung; nachdem er sie mit zusammengestellten Ergebnissen solcher Pumpen verglichen hatte, rief er laut aus: »Weiß Gott, es stimmt!«
Hier muß ich erwähnen, daß vom Züricher Polytechnikum für die Studierenden ihrer beiden letzten Semester 1866/67 eine Preisaufgabe ausgeschrieben wurde. Es sollte die Theorie der Zentrifugalpumpen entwickelt und eine Kritik der darüber vorhandenen Literatur geschrieben werden. An dem ersten Teil der Aufgabe hatte ich mich beteiligt und die Theorie dieser Pumpen entwickelt. Dagegen nicht an dem zweiten Teil, weil mir keine Bücherei mit solcher Literatur zur Verfügung stand. Das war für mich auch von keiner Wichtigkeit. Meine Theorie paßte mir aber für den obigen Fall ausgezeichnet.
Herr Gwynne fragte mich nun, ob ich wohl imstande sei, nach den berechneten Ergebnissen einen fertigen Entwurf einer solchen Anlage zu machen, und zwar bis zu einem bestimmten Tage, den er angab. Ich fühlte mich dadurch sehr geehrt und bejahte selbstverständlich die Frage. – Nun hieß es aber zu zeigen, was ich konnte.
Ich warf mich mit Freude und Eifer auf die Arbeit.[36]
Abends, daheim, berechnete ich die Einzelheiten und skizzierte Entwürfe, und wenn ich dann morgens im Bureau erschien, war ich voll geladen, und der Entwurf sprang auf dem Zeichenbrett nur so in die Erscheinung. Beide Herren kamen jeden Morgen ins Konstruktionsbureau; traten natürlich auch an mein Brett heran, machten aber selten Bemerkungen. Nur Mr. John schmunzelte dann wohl, und daraus glaubte ich entnehmen zu können, daß ihm der Entwurf wohl gefiele.
Als ich nun eines Morgens den beiden Herren den fertig ausgearbeiteten Entwurf vorlegen konnte, da machte ich ihnen den Vorschlag, die für das Angebot nötige Pause des Entwurfs von einem andern Herrn anfertigen zu lassen. Ich sei inzwischen weiter in die Sache eingedrungen und könne einen zweiten, wesentlich verbesserten Entwurf samt der in Farben angelegten Pause noch rechtzeitig zum festgesetzten Tage fertigstellen. Natürlich waren die Herren mit meinem Vorschlag einverstanden. Wenig angenehm war es natürlich für den älteren englischen Berufsgenossen, der nun meine Zeichnung pausen mußte.
Ich muß hier erwähnen, daß meine englischen Kollegen zwar erst sehr kühl und zurückhaltend waren, nach und nach aber ganz freundlich und zutraulich wurden. Sie merkten sehr bald, daß der Deutsche mit seiner gründlichen praktischen Ausbildung, dazu vom Polytechnikum ausgerüstet mit den Wissenschaften seines Faches, ihnen etwas überlegen war. So war es zu verstehen, daß sie[37] mich zunächst wenigstens achteten, dann aber traten sie auch – wie gesagt – mir immer freundlicher gegenüber. Mr. John Gwynne meinte auch einmal bei einer späteren Gelegenheit: »Die Herren vom Kontinent sind meistens gute Theoretiker, aber sie haben gewöhnlich keine Ahnung von der Praxis, davon machen Sie eine große Ausnahme. Sie sind in beiden, in der Theorie und der Praxis, bewandert.«
Als es mir dann gelungen war, durch eifriges Arbeiten den zweiten Entwurf fertigzustellen, meinten die Herren, dieser Plan sei noch wesentlich besser als der erste. Jetzt müßte ich aber noch die Pause davon machen. Mr. Marshall, so hieß mein älterer Herr Kollege, der die Pause meines ersten Entwurfs machte, war damit noch immer nicht fertig, und zwar war er dabei, sie sehr schön zu tuschen. Ich hatte in Zürich von einem Wiener Herrn, der damals Assistent bei Professor Zeuner war, nebenher eine vorzügliche Art und Weise des Aquarellierens technischer Zeichnungen kennengelernt. Statt nämlich die Zeichnungen erst zu tuschen und danach mit den betreffenden Materialfarben anzulegen – die alte, bis dahin gebräuchliche, viel Zeit in Anspruch nehmende Ausführungsart –, legte man die Zeichnungen gleich mit Materialfarben an. Die verschiedenen Holzarten und Mauerwerk, Betonschüttung und Erdreich konnte man auf diese Art in sehr kurzer Zeit vorzüglich – in Ansicht und Querschnitt – darstellen. Die Pause selbst hatte ich schnell fertig. Nun drehte ich sie um (das war[38] der Kunstgriff der Methode, daß man die Pause auf der Rückseite unmittelbar und derb mit Materialfarben behandelte. Von der Vorderseite betrachtet, sah dann das Bild außerordentlich zart aus) und begann die Zeichnung also auf der Rückseite mit den Farben anzulegen. Als die beiden Herren Gwynne am nächsten Morgen meine Arbeit sahen, waren sie einigermaßen verblüfft, da sie diese Art nicht kannten.
»Mr. Marshall!« rief Mr. John. »What do you think of Mr. Voss method of coloring his tracing?«
»Oh,« antwortete Mr. Marshall, indem er seine Brille etwas höher auf die Nase schob, »I think it will be a thorough failure, Sir.«
Mr. John schmunzelte und sagte: »Well, let us see when it is finished.«
Natürlich hatte ich es so eingerichtet, daß ich gerade fertig war, als die Herren am nächsten Morgen ins Bureau und an mein Brett traten; ich schnitt die Pause von der Zeichnung – dem Original – herunter und streckte sie, sie umdrehend – also die rechte Seite wieder nach oben kehrend – auf einem schon dafür zurechtgelegten weißen Bogen Zeichenpapier. Ich durfte selbst[39] sagen: das Ding war mir gelungen, es sah sehr gut aus. Die beiden Herren waren baff, und Mr. John rief:
»I say, Mr. Marshall, Mr. Voss has beaten you thoroughly, it is a perfect success!«
Old Marshall war noch nicht ganz fertig mit seiner Pause. – Ich war inzwischen in der Achtung meiner beiden Herren gestiegen. Mein Gehalt war schon vor Ablauf der sechs Probewochen auf 42 sh. (2 Guineas) die Woche erhöht, und ich war natürlich auch fest angestellt.
Ich habe hier etwas weit ausgeholt, weil es meine ersten Schritte waren, die mich als Ingenieur in mein Arbeitsfeld einführen sollten, und das mag diese Kleinmalerei entschuldigen. – Es ist entschieden als ein besonderes Glück für mich zu betrachten, daß ich in den beiden Herren Gwynne so liebenswürdige Menschen und vornehme Charaktere fand – »perfect Gentlemen!« – Es waren mir auch die Umstände insofern sehr günstig, als ich sofort Gelegenheit fand, meine Kenntnisse zu verwerten und weiter zu entwickeln. ... In der Fabrik lernte ich gleich einen englischen Fabrikbetrieb neuester Form kennen. Im Bureau hatte ich immer die interessantesten Arbeiten, obgleich nach und nach mehr englische Herren angestellt waren. Inzwischen war mein Gehalt wieder erhöht worden, und ich durfte wohl zufrieden sein, weil auch hierdurch zum Ausdruck kam, daß man mit mir zufrieden war.[40]
Trotzdem fühlte ich, daß ich nicht lange dort bleiben konnte. Ich sehnte mich nach großem und größtem Maschinenbau, und den konnte ich nur im Schiffsmaschinenbau finden. – Nun traf es sich, daß in ihrem Zimmer die beiden Herren mit mir über meine ferneren Absichten sprachen und mir dabei andeuteten, daß sie mich gerne behalten möchten. Als ich dann vom Schiffsmaschinenbau sprach, und daß ich die Absicht hätte, dazu überzugehen, da wurden sie doch etwas ungehalten und gewiß mit Recht. Ich bat, sie möchten meinen Entschluß nicht als Undankbarkeit auffassen, ich fühle mich ihnen gegenüber für alle erwiesene Freundlichkeit und Güte sehr verpflichtet. – Nun hatte ich gerade mit der Konstruktion einer neuen Maschine begonnen: den direkten Antrieb einer Zentrifugalpumpe durch eine schnelllaufende Dampfmaschine. Das war eine ganz neue Sache, die es damals noch gar nicht gab. Die Herren meinten denn schließlich, wenn ich doch durchaus von ihnen fortwolle, so möge ich doch erst diese neue Maschine fertig konstruieren. Sie wollten sie gleich ausführen lassen, damit sie im Frühjahr 1868 auf der »Maritimen Ausstellung in Havre« ausgestellt werden könne. Es war mir natürlich eine Ehrenpflicht, diesen Wunsch zu erfüllen. Ich arbeitete mit großem Eifer an dieser Konstruktion und legte hinein, was ich konnte, um die möglichste Vollkommenheit zu erreichen. Als ich Anfang April von den Herren Gwynne fortging, stellten sie mir ein vorzügliches Zeugnis aus. So ehrend das für[41] mich war, so bezeichnend war es für die vornehme Denkweise jener Herren. – Als ich später in Sunderland war, erhielt ich eines Tages von den Herren Gwynne ein Telegramm mit der erfreulichen Mitteilung, daß sie auf die erwähnte Maschine die goldene Medaille in Havre erhalten hätten.
Von London ging's nach Newcastle on Tyne; ich war wieder mit den besten Empfehlungen an die dortigen ersten Firmen für Schiff- und Schiffsmaschinenbau von der Firma William Bird & Co. bestens versehen. Allein die Geschäftslage war noch immer schlecht, und es gelang mir nicht, eine Stellung bei diesen Firmen zu finden trotz freundlichen Entgegenkommens. Doch gab mir einer dieser Herren den Rat, nachdem er mein Zeugnis von Gwynne gelesen hatte, mich an Herrn John Fredric Spencer, Direktor der North Eastern Marine Engineering Co. in Sunderland, zu wenden. (Diese Fabrik war ganz neu aus dem Vollen mit vielen Geldmitteln geschaffen.) Ihm sollte ich das Zeugnis zeigen, er wäre sicher, daß mich der, wenn es ihm irgend möglich wäre, einstellen würde. Ich folgte dem Rat umgehend, und richtig, nachdem Mr. Spencer das Gwynnesche Zeugnis gelesen hatte, wurde ich nicht nur sofort angestellt, sondern er faßte mich unter den Arm und führte mich durch die neue, mit den allerbesten Einrichtungen und Werkzeugmaschinen versehene Fabrik. Mr. Spencer war als sehr strenger, hohe Anforderungen stellender und etwas schwer zugänglicher Herr bekannt.[42] Daher hatte – wie ich später erfuhr – seine Freundlichkeit mir gegenüber bei den Angestellten einige Aufmerksamkeit erregt. – Mein Bureauvorsteher war ein deutscher Ingenieur namens Scheffer. Außerdem war noch ein deutscher Ingenieur im Konstruktionsbureau. So hatte ich mich denn auch sehr schnell hier eingelebt. Meine Arbeiten waren für mich sehr interessant, weil ich ja zum erstenmal im Schiffsmaschinenbau mitwirkte. Sie haben mir keine Schwierigkeiten bereitet.
Etwa im September erhielt ich aus Edinburgh von meinem Freund und Gönner, Herrn Hartwig Holler, einen Brief, in dem er mich einlud, ihn dort zu besuchen, wo er mit einem Freunde weile, mit dem er eine Reise durch Schottland gemacht habe. Er machte mich zugleich darauf aufmerksam, daß ich in Glasgow an der Clyde auf den großen Werften mich gewiß noch besser in den Schiff- und Schiffsmaschinenbau hineinarbeiten könne, als in Sunderland. Auf diesen Wink hin nahm ich bei der N. E. M. E. Co. meinen Abschied. Ich erhielt auch von Herrn Scheffer ein sehr gutes Zeugnis ausgestellt, leider nicht von Herrn Spencer, der leidend geworden und auf einer langen Erholungsreise abwesend war.
In Glasgow hatte ich an das große deutsche Kaufmannshaus »Robinow & Marjorybanks« (Robinow war geborener Hamburger) Empfehlungen von W. Bird & Co. und von Herrn Holler. Ich wurde von Herrn Robinow besonders freundlich aufgenommen.[43]
Nun wandte ich mich zunächst um eine Anstellung an die Firma Randolph Elder & Co., Glasgow. Die Werft befand sich Clyde-abwärts in Goven bei Glasgow. Es war das damals wohl die größte und berühmteste Schiffsbaufirma der Welt. Mir war mein Taschenbuch im Omnibus gestohlen worden, und dadurch war ich meiner Zeugnisse und Empfehlungen beraubt. (Erstere erhielt ich dann von den beiden Firmen neu ausgestellt.) Ich benutzte aber zunächst die Empfehlungen von Robinow und hatte das Glück, vom ersten Direktor, Mr. Jamieson, empfangen zu werden, der mir eine Anstellung in Aussicht stellte. Zunächst möge ich aber Konstruktionszeichnungen vom Polytechnikum in Zürich, die ich erwähnt hatte, dem Konstruktionschef Mr. Charles Smith vorlegen. Mr. Smith, Mitte Dreißiger, ein sehr tüchtiger Herr – wie ich vorweg gleich bemerken will –, empfing mich am nächsten Morgen mit der nötigen Herablassung. Indem er meine Zeichnungen durchsah, hob er meine zu geringe Erfahrung im Schiffsmaschinenbau hervor und sagte: »You see, an assistent draughtsman is not a very lucrativ piece of furniture!«
Er wollte damit andeuten, daß ich doch nur der »Assistent« eines Zeichners sein könnte, also nicht mal ein Zeichner! – Das war mir aber doch zu stramm, und ich erwiderte: »Mr. Smith, Sie scheinen[44] mir die Sache denn doch gar zu schwer anzusehen. Ich muß bekennen, daß ich da gar keine Schwierigkeiten sehe, denn wenn man die Theorie der Dampfmaschine gründlich kennt und konstruieren kann, dann braucht man sich auch vor dem Konstruieren einer Schiffsmaschine nicht zu fürchten.«
Diese Erwiderung schien ihm zu gefallen, er lächelte und sagte: »All right, Mr. Voss. You may commence tomorrow morning.«
Dabei hatte er eine von meinen im ersten Semester in Zürich sehr sein getuschten Zeichnungen ausgewählt und bat mich, sie ihm einige Tage zu überlassen. – Später erzählten mir meine schottischen Freunde, er habe das ganze Bureau zusammengerufen und ihnen gesagt, indem er ihnen meine Zeichnung zeigte, sie könnten überhaupt nicht zeichnen, die Zeichnung habe ein junger Deutscher gemacht, der könne zeichnen.
Mr. Smith und ich verstanden uns bald sehr gut, und er wurde später einer meiner besten schottischen Freunde. Ich verkehrte dann auch in seinem Hause, wo ich seine prächtige und liebenswürdige Gattin kennen und hochschätzen lernte. Schon etwa zwei Jahre nach unserer ersten Bekanntschaft wurde er infolge seiner Tüchtigkeit und großen Begabung Leiter der großen Schiffsmaschinenfabrik von Richardson & Sons in Westhartlepool. Leider ertrank er wenige Jahre später[45] im Vierwaldstätter See, wo ihn beim Baden ein Schlaganfall traf.
Trotz des Mißtrauens, mit dem die schottischen Kollegen – es waren wohl einige 30 – mich, den fremden Eindringling, anfangs betrachteten, gewann ich doch sehr bald nicht nur ihr Vertrauen, sondern ich konnte die besten unter ihnen zu meinen guten und treuen Freunden rechnen. Diese Freundschaft hat mit mehreren von ihnen ein Menschenleben überdauert. Jetzt sind fast alle dahingestorben. –
Es ist verständlich, daß infolge der Achtung, die mir mein Chef, Mr. Smith, immer mehr entgegenbrachte, ich bald die besten, das heißt auch die schwierigsten Konstruktionsarbeiten von ihm erhielt; dadurch wurde mir die Gelegenheit geboten, mich bei dieser hervorragenden Firma in den Groß-Schiffsmaschinenbau hineinzuarbeiten und zu versenken.
Im Frühjahr 1869 erbat ich mir für einige Wochen Urlaub, um die Heimat zu besuchen. Der Vater meines treuen Freundes Wilhelm Kalkmann hatte mich schon früher eingeladen, wenn ich nach Deutschland zurückkäme, doch einige Tage in seinem Hause zu verweilen. Mein Freund Wilhelm war in Wilmington Delaware in Nordamerika in einer Schiffbaufirma als Ingenieur tätig. Aus schon früher angedeuteten Gründen war mir die Einladung sehr willkommen. War mir dadurch doch der Weg geebnet, diejenige wiederzusehen, die während der letzten Jahre meine ganze Seele erfüllt hatte. Ich hatte[46] – von unten aufsteigend! – manches Ziel erreicht, aber dies schien mir zu hoch, obwohl die ganze Familie mir wohlgesinnt war.
Ich verlobte mich am 4. Juni mit dieser einzigen Tochter, Fräulein Lina Kalkmann.
Diese Verlobung und das Glück, später diese Braut als meine Gattin heimführen zu können, betrachte ich als den größten Triumph meines Lebens. – »Jedoch, es schreiten Engel über die Erde, aber sie weilen nicht lange.« – Auch sie weilte nicht lange. Nach dreijähriger glücklichster Ehe schied sie im zweiten Wochenbett von mir und meinen beiden Kindern Hermann und Helene.
Als ich damals bald nach meiner Verlobung nach Glasgow zurückgekehrt war, da hatte mein Freund Mr. Smith eine sehr interessante Aufgabe für mich bereit. Es war die Konstruktion der Maschinen-Anlage für das Kriegsschiff »Tenedos« der englischen Marine. Das Schiff wurde auf einer der Staatswerften gebaut, die Maschinen-Anlage war aber der Firma Randolph Elder & Co. übertragen. ...
Über die Inhaber der Firma will ich hier einflechten, daß Mr. John Elder im besten Mannesalter im Winter 1869 gestorben war. Der Vater, Mr. Randolph, hatte sich seines Alters wegen vom Geschäft zurückgezogen, so daß Mrs. Elder nunmehr alleinige Inhaberin der Firma geworden war. ... Sie hatte zu ihrem Beirat ihren Bruder, Mr. Ure, einen sehr berühmten Zivilingenieur in die Firma aufgenommen. Ein stiller Teilhaber der[47] Firma war Glasgows größter Finanzmann, Mr. Cunliff, auch schon ein betagter, sehr gebildeter Herr. Seine Schwester, eine seine, alte Dame, bei der ich eingeführt war, erzählte mir einst, daß sie und ihr Bruder in ihrer Jugend zu ihrer weiteren Ausbildung nach Leipzig geschickt waren und während der Schlacht, am 18. Oktober 1813, im Keller steckten. – Sie meinte, sie hätte keine Gelegenheit, deutsch zu sprechen, aber ihre Bibel könne sie nur in deutscher Sprache recht genießen. Wie denn die deutsche Sprache überhaupt über eine so wundervolle Ausdrucksweise verfüge, wie man sie sonst gar nicht wieder fände. Sie war später im Leben nie wieder in Deutschland gewesen und schwärmte immer noch für das schöne Deutschland.
(Es folgen nun in den »Erinnerungen« Ausführungen über die Entwicklung der Schiffsmaschine als Verbund-Maschine, die Schnelldampfer, die beteiligten Werften und die leitenden Männer. Sie zeigen auch, daß England die Bahnbrecher auf diesem Gebiete, seine großen Ingenieure, Werftgründer und Reeder zu ehren wußte. So wurde Alexander Kirk in Anerkennung seiner Verdienste um die Entwicklung der großen Schiffsdampfmaschine von der Universität Glasgow zum Dr. phil. e. h. ernannt; William Pearce, ein hervorragender Schiffbau-Ingenieur und Werftleiter, der eigentliche Vater der »Greyhounds of the Ocean«, der Windhunde des Ozeans, also der Schnelldampfer, wurde zum Baronet »Sir William« Pearce ernannt. – Man wußte wohl,[48] daß man diesen Männern viel verdankte: Einen Aufschwung im Verkehr, in Handel und Industrie; die Herrschaft auf dem Meere. O ja, man wußte wohl, was man tat!)
Im Spätherbst kehrte mein Freund Wilhelm Kalkmann, und nunmehr mein zukünftiger Schwager, von Amerika in die Heimat zurück. Er kam über Liverpool und besuchte mich zu meiner großen Freude in Glasgow. Hier machte ich ihn mit meinen schottischen Freunden bekannt. Ich muß hier einflechten, daß ich in gesellschaftlicher Beziehung während meines ganzen Aufenthaltes in England und besonders auch in Schottland, wo ich am längsten weilte, sehr viel Liebe und Freundschaft genossen habe, die nicht von mir vergessen werden kann. – Wilhelm Kalkmann spielte sehr hübsch die Geige, und die schottischen Damen, alt wie jung, waren sehr entzückt, wenn er ihnen etwas vorspielte. Auch die liebe alte Miß Cunliff ließ es sich nicht nehmen, ein richtiges kleines Fest zu Ehren meines Freundes zu veranstalten. Im übrigen lebte ich abends still und zurückgezogen. Ich arbeitete dann und Sonntagvormittags für mich daheim. Nur Sonnabend- und Sonntagabends ging ich in den deutschen Klub, der damals gerade sehr blühte. Dort fand ich immer gute Gesellschaft.
Ich machte auch wohl Sonntags mit Herrn Jellinek von der Firma Robinow oder mit Johannes Kiep, in Firma Carl Kiep & Brother, Spaziergänge. Diese Gebrüder Kiep stammten aus Hamburg-St. Pauli; ich[49] war mit beiden sehr befreundet. Carl starb früh, Johannes zog sich im Alter mit seiner Frau (einer Deutschen) nach Deutschland zurück. Auch die Kinder, ob. gleich in Schottland geboren, waren oder sind gute Deutsche. Die Unterhaltung mit jedem dieser Herren war ernster Art; meistens handelte es sich wohl um mehr oder minder wissenschaftliche Fragen oder um allgemein geschäftliche. Als ich bei Jellinek einmal den Mund wohl etwas voll nahm bei der Beurteilung der großen Glasgower Werften, da rief er: »Was wollen Sie denn, etwa in Deutschland eine noch größere und vollkommenere Werft bauen, als diese hier an der Clyde sind?« – Schade, daß ich nicht weiß, ob Jellinek noch lebt und wo, sonst möchte ich ihm doch mal die Werft von Blohm & Voß zeigen. Er würde finden, daß sie nicht nur weit größer, sondern auch besser eingerichtet ist, als jene esdamals waren und sein konnten.
Es war im Spätherbst, etwa gegen Weihnachten, als ich von Elders und damit einstweilen von Glasgow Abschied nahm.
Ich ging nach Deutschland zurück, um mit meinem Freund und zukünftigen Schwager Wilhelm Kalkmann, wenn möglich, selbst eine Werft für Eisenschiffbau mit Maschinenfabrik und Kesselschmiede zu begründen. Den Winter über wurde fleißig an Plänen dafür gearbeitet. Wir hatten aber Schwierigkeiten, das nötige Kapital zusammenzubringen. Als wir uns nach und nach dem Ziele endlich näherten und glaubten, das Werk ins[50] Leben rufen zu können, da kam, wie der Blitz aus blauem Himmel, Mitte Juli der Krieg mit Frankreich! Das änderte mit einem Male die ganze Sachlage. Alle Pläne wurden beiseite gelegt, da niemand wußte, was nun werden würde. –
Während meines Aufenthaltes in Hamburg hatte ich ein Anerbieten von einer großen schottischen Werft – James & George Thomson, Clydebank; es handelte sich um Geschäfte in Süd-Amerika – gehabt, die ich aus den bekannten Gründen abgelehnt hatte. Nun hatte ich kurz vor dem Ausbruch des Krieges ein Anerbieten von der Stoomvaart Maatschappy, »Nederland« in Amsterdam erhalten, die eine Dampferlinie zwischen dem Mutterlande und der reichen Kolonie Java ins Leben rufen wollte. Die Dampfer, für den Beginn vier Stück, waren sämtlich bei der Firma Elder & Co. in Glasgow bestellt, und die Gesellschaft bot mir die Baubeaufsichtigung der Schiffe und damit die Stelle eines Assistenten des technischen Direktors an. –
Das war eine Stellung, wie ich sie mir passender gar nicht wünschen konnte. Sie bot mir Gelegenheit zur weiteren geschäftlichen Ausbildung in meinem Fache. Auch der Umstand, daß die Schiffe bei der Firma Elder in Bau gegeben waren, bei der ich so gute Freunde, und zu der ich so gute Beziehungen hatte, ließ das Anerbieten als sehr günstig erscheinen.
Wie schon früher erwähnt, war ich vollkommen militärfrei, und da Hamburger Freunde, die auch nicht militärisch[51] ausgebildet waren, und die sich sofort zum Eintritt in die Armee gemeldet hatten, nicht angenommen wurden, so glaubte ich, die angebotene Stellung nicht ausschlagen zu dürfen. Ich nahm also an.
Die Hamburger Freunde gingen dann wohl zur Krankenpflege mit nach Frankreich; so war auch mein lieber Freund Wilhelm Kalkmann sogleich der ersten, von Hamburg abgesandten und ausgerüsteten Sanitätskolonne beigetreten. Mit diesem Entschluß opferte er sein Leben für sein Vaterland. Bei einem Zusammenstoß des betreffenden Zuges mit einer eingestürzten Brücke in Frankreich wurde er schwer am Kopfe verletzt. Er starb dann später, als man schon glaubte, daß er transportfähig sei, am 11. September 1870 in Frankfurt a. M. noch vor Eintreffen seiner tief erschütterten Eltern. Der Tod dieses edlen, ältesten Sohnes war für sie, wie für die ganze Familie, ein harter Schlag. Der Vater hat ihn bis an sein Ende nie ganz überwunden.
Die Todesnachricht, die ich in Glasgow erhielt, versetzte mich in tiefste Trauer. Nicht nur waren jetzt alle Pläne, mit ihm zusammen einst große Schiffe in Deutschland zu bauen, dahin; ich hatte auch einen unersetzlichen, treuen Freund verloren. Was hatte ich seiner Freundschaft nicht alles zu verdanken! Er hatte mich zu seiner Familie geführt, die mich in Liebe aufgenommen, ja, er hatte mich zu seiner einzigen, edlen Schwester geführt, die mir ihre Liebe schenkte. –
Ich verließ also Hamburg, und zwar mit dem letzten[52] Dampfer, der vor Eröffnung der Feindseligkeiten von Hamburg nach Leith ging. Meine Stellung bei der »Nederland« begann am 1. August 1870, an welchem Tage ich meine Tätigkeit für sie bei der Firma Elder anzutreten hatte.
(Es folgen in den »Erinnerungen« nun nähere Angaben über die Direktoren der, »Nederland« u.a.m.; davon mag hier erwähnt werden, daß der technische Direktor, Charles Viehoff, der Vorgesetzte von Ernst Voß war. Er hatte diesen einmal in Glasgow im deutschen Klub flüchtig kennengelernt. Viehoff hatte sich wegen eines Assistenten an Elder gewandt; dort hatte man gesagt, er solle versuchen, Herrn Voß zu gewinnen. Auch ein gutes Zeugnis! – Es handelte sich um eine zweijährige Anstellung mit einem Gehalt von 200 Pfund engl. jährlich; schon nach fünf Monaten erhöhte man dies um 50 Pfund und legte jedes halbe Jahr weitere 50 Pfund hinzu.
Es handelte sich um Dampfer, die um jene Zeit große Schiffe waren – 320 und 350 Fuß lang – sie waren sehr vornehm ausgestattet. Im Frühjahr 1871 machte der erste Dampfer »Willem III« mit vollem Erfolg auf der Clyde seine Probefahrt. Ernst Voß brachte ihn mit nach Holland in den Hafen von Niewediep. Es war dies der Kriegsschiffhafen der Marine Hollands, doch war es der neuen Gesellschaft gestattet, sich hier zunächst einzurichten, bis der im Bau begriffene Amsterdam-Haarlemer See-Kanal fertiggestellt war.[53] Danach sollte der ganze Betrieb nach Amsterdam verlegt werden.)
Die Ankunft des ersten Dampfers dieser neuen, für Holland so wichtigen Linie erregte natürlich das größte Interesse. Infolgedessen gab es während der Ausrüstung und Befrachtung bis zur ersten Ausreise viele Festlichkeiten an Bord: Festessen für den Aufsichtsrat, für die Honoratioren der Stadt Amsterdam, mit dem Oberbürgermeister an der Spitze usw., besonders aber für Prinz Hendrik der Nederlande, Gouverneur von Luxemburg. Dieser hatte nicht nur im allgemeinen große Verdienste für das Ins-Lebentreten der Gesellschaft, er hatte ihr auch eine große Summe für eine Reihe von Jahren zinslos zur Verfügung gestellt. Er war daher auch Ehrenvorsitzender der Gesellschaft. Gleich am Tage nach der Ankunft des Schiffes erschien er mit kleinem Gefolge, um sich das Schiff gründlich anzusehen, geführt von den Direktoren und mir. Er selbst war Seemann und Admiral der holländischen Flotte. Als ich nach der Vorstellung englisch sprach, meinte er wohlwollend: »Wir wollen deutsch sprechen, Herr Voß, da ich höre, daß Sie Deutscher sind.«
Er kam nun öfter an Bord, und dann unterhielt er sich über alles mit mir. Ich mußte auch, selbst bei sehr kleiner Zahl von Personen, mit ihm speisen. Als eines Tages der Kronprinz, »Prins van Oranje,« an Bord kam, und ich mich zurückgehalten hatte, ließ Prinz Hendrik mich rufen, faßte mich unter den Arm und stellte mich[54] dem Kronprinzen vor. Dieser, eine stattliche Erscheinung, war sehr freundlich, ich mußte ihn führen und ihm alles erklären.
Als dann das Schiff zum Antritt seiner ersten Reise befrachtet und fertig ausgerüstet war, holte es nachmittags vom Kai ab und legte sich draußen auf der Reede vor Anker. Dabei fuhren wir an der Königlichen Kriegswerft vorüber. Auf dem Wachtschiff spielte das Musikkorps die Nationalhymne »Wien Neerlandsbloed«. Von hier sollte es am nächsten Morgen früh seine Reise antreten. Ich war rechtzeitig auf den Beinen; als ich nach einem Rundgang aufs Quarterdeck kam, fand ich Prinz Hendrik auch schon da. Er und die Direktoren fuhren nun mit uns bis zur äußersten Tonne hinaus. Der für diesen Zweck hinausgeschickte Panzer »Scorpion« brachte uns nach Niewediep zurück.
Als ich dann bei der Direktion meine Abrechnung gemacht hatte, meinten die Herren scherzweise, da ich jetzt nach Glasgow zurückreise, so solle ich doch den kürzesten Weg dorthin, d.h. über Hamburg wählen, ich könne dann auch meine Braut besuchen. Ich machte von dem freundlichen Anerbieten gerne Gebrauch und reiste am nächsten Tage, einem Sonnabend, nach Hamburg.
Als ich dann am Sonntagmorgen mit der Familie Kalkmann beim Morgenkaffee saß, da las Vater Kalkmann aus einer Hamburger Morgenzeitung die für mich sehr aufregende und erschütternde Nachricht vor, daß der Dampfer »Willem III« im Englischen Kanal mit Feuer[55] an Bord an Grund gesetzt, Passagiere und Mannschaften unter der ausgezeichneten Leitung des Kapitäns Ohrt gerettet seien!
Das war ein harter Schlag für die »Nederland«, gleich bei der ersten Reise ihres ersten Dampfers von einem solchen Unglück getroffen zu werden. Doch die Holländer sind nicht zaghaften Charakters; mit frischem Mut und großer Energie ging es weiter. Es wurde gleich ein neuer Dampfer bei John Elder & Co. als Ersatz bestellt. Bei den Nachforschungen über die Entstehung des Feuers ergab sich die unzweifelhafte Tatsache, daß das Feuer durch Selbstentzündung in der zuletzt an Bord gebrachten und im Großraum verstauten Ladung entstanden war. Diese war im letzten Augenblick von England eingetroffen und bestand aus Webwaren. Da die »Nederland« als starke Konkurrenz für die englisch-indischen Dampferlinien betrachtet wurde, so behaupteten böse Zungen, jene letzte englische Ladung habe mit Absicht darin verpackte selbstentzündliche Stoffe enthalten. –
Der nächste Dampfer war der »Prins van Oranje«. Ich brachte ihn wieder von Glasgow herüber und erledigte als Agent der Stoomvaart Maatschappy »Nederland« (das war jetzt mein offizieller Titel) die ganzen Geschäfte, die mit der Reise und Übernahme verknüpft waren, selbstverständlich unter Anordnung der Direktion in Amsterdam und unter Beihilfe der dafür bestimmten Unterbeamten.[56]
In der Zeit meines Aufenthaltes in Glasgow hatte ich die holländische Sprache studiert. Mein Freund Henry van Ek, ein junger Schwager des Herrn Direktor Viehoff, hatte mir auch Unterricht darin erteilt. Als ich daher Prinz Hendrik jetzt an Bord des »Prins van Oranje« begrüßte, konnte ich mich der holländischen Sprache bedienen. Auch mein Briefwechsel mit der Direktion war schon in letzter Zeit in holländischer Sprache geführt. Der Umstand, daß Plattdeutsch meine Muttersprache ist, hatte mir bei Erlernung des Holländischen große Dienste geleistet. Die beiden Sprachen sind einander bekanntlich sehr ähnlich. Und in jener Ähnlichkeit liegt gerade wieder die Schwierigkeit, die holländische Sprache wenigstens einigermaßen richtig zu erlernen. –
Nachdem das Schiff seine Ausreise angetreten hatte, durfte ich wieder auf dem »kürzesten Wege« über Hamburg nach Glasgow zurückkehren. Von der Direktion war nunmehr bestimmt worden, daß ich vom Herbst dieses Jahres (1871) an meinen ständigen Wohnsitz in Niewediep nehme, da meine z. T. sehr tüchtigen Assistenten in Glasgow schon genügend eingeweiht waren, um unter meiner Oberaufsicht den Bau der Schiffe zu überwachen; meine stetige Gegenwart war dort also nicht erforderlich. Ich benutzte daher jetzt in Hamburg die Gelegenheit, meine Schwiegereltern um ihre Einwilligung zu bitten, im Herbst meine Braut als meine Frau heimführen zu dürfen. So schwer es ihnen war, besonders[57] dem Vater, sie namentlich von Hamburg ins Ausland fortgeben zu müssen, so freudig erhielten meine Braut und ich andererseits doch ihre Zustimmung.
Die Hochzeit war im Hause Kalkmann, Ende November 1871, und ich reiste mit meiner jungen Frau zunächst über Rendsburg nach Fockbeck zu meinen Eltern. Für diese war es eine große Freude, die junge Schwiegertochter empfangen zu können. Dann reisten wir wieder nach Hamburg und von dort über Berlin und Hannover langsam nach Amsterdam. Auf Einladung Viehoffs wohnten wir einige Tage bei ihnen, um dann nach unserem künftigen Wohnort Niewediep überzusiedeln. Hier hatte ich in der Hauptstraße ein gemütliches Häuschen von 5 bis 6 Zimmern gemietet und bereitstellen lassen. Die Möbel u.a. waren inzwischen von Hamburg angekommen; wir wohnten solange im Hotel, bis die Wohnung fertig eingerichtet war.
Unsere Nachbarn und alle, mit denen wir zu tun hatten, kamen uns hier so freundlich entgegen, daß wir, auch meine junge Frau, uns sehr schnell heimisch fühlten ... Im folgenden Februar (1872) mußte ich auf einige Wochen meine junge Frau allein lassen. Ich mußte nach Glasgow, um die Geschäfte, die mit der Fertigstellung des dritten Dampfers »Prinz Hendrik«, verbunden waren, zu erledigen. Während dieser Zeit meiner Abwesenheit hat man sich meiner Frau auf das liebenswürdigste angenommen. ... Man hat uns soviel Liebes erwiesen, daß wir immer dankbaren Herzens an die[58] glückliche Zeit, die wir dort verleben durften, zurückgedacht haben. –
Es könnte nach all diesem Entgegenkommen im allgemeinen und nach der Anerkennung meiner Leistungen seitens der »Nederland« im besonderen unfreundlich und undankbar erscheinen, wenn ich trotzdem auf Stimmen lauschte, die von Deutschland, von Hamburg, herüberklangen. – Nach den ruhmreichen Siegen unseres herrlichen Heeres gingen die Wogen der Begeisterung drüben im deutschen Vaterlande sehr hoch; eine Begeisterung, die alle Gebiete durchströmte und neue Lebens- und Schaffensfreude schuf. Es folgte die sogenannte Gründerzeit, die manches Zweifelhafte und Verfehlte, aber auch viel Gutes geschaffen hat. Auch in Hamburg waren Neugründungen mancher Art entstanden; so auch eine neue Dampfschiffahrt-Gesellschaft, die »Adler-Linie«, als Konkurrenz gegen die »Hamburg-Amerikanische Paketfahrt-Aktien-Gesellschaft«. Der »Adler-Linie« war ich wohl von seiten meiner Freunde und Gönner empfohlen worden. Ich erhielt einen Wink, mich dort schriftlich für die Stellung eines Oberingenieurs zu melden und mich dann dem Aufsichtsrat während dessen Sitzung vorzustellen. Da nun auch mein Schwiegervater drängte, doch die Gelegenheit zu ergreifen, endlich ins Vaterland, nach dem neu aufblühenden Deutschland, zurückzukehren, so entschloß ich mich zu diesem Schritte. Selbstverständlich war meine junge Frau froh in dem Gedanken, schon so bald nach Hamburg[59] und somit in die Nähe der Eltern zurückkehren zu können, trotz des angenehmen Lebens im schönen Holland.
Ich stellte mich also dem Aufsichtsrat vor, dessen erster Vorsitzender Herr Robert M. Sloman war, und zwar während einer Sitzung, zu der ich geladen war. Der Erfolg war, daß kurz darauf Herr Johannes Mooger, Direktor der »Adler-Linie«, mich im Kontor meines Schwiegervaters Kalkmann aufsuchte, um mir die erfreuliche Mitteilung zu machen, daß der Aufsichtsrat beschlossen und ihn beauftragt habe, mich als Oberingenieur der Gesellschaft anzustellen. Als Gehalt wurde die Summe von 9000 Mark im Jahr festgesetzt, die im nächsten Jahr, 1873, auf 10000 Mark erhöht werden sollte. Das war für jene Zeit gewiß ein schönes Gehalt, und namentlich für einen jungen Mann im eben vollendeten 31. Lebensjahre.
Meine Kündigung bei meiner Gesellschaft »Nederland« in Amsterdam konnte ich nur mit schwerem Herzen vollziehen. Auch die Herren waren wohl zuerst enttäuscht, doch erkannten sie meine Gründe vollkommen an, namentlich den, ins Vaterland zurückkehren und ihm meine Kraft widmen zu wollen. Sie waren, wie sie immer gegen mich gewesen waren, entgegenkommend und vornehm, das beweist auch das mir beim Abgang ausgestellte Zeugnis. In der zweiten Hälfte des September, nachdem ich meine Geschäfte mit der Gesellschaft abgewickelt und alles der Direktion übergeben hatte, nahm ich mit dankerfülltem Herzen meinen Abschied.[60]
Ich reiste nach Hamburg, wohin sich schon 14 Tage früher meine Frau in Gesellschaft einer Tante begeben hatte. Bald nach meiner Ankunft wurde unser Sohn Hermann im Hause seiner Großeltern Kalkmann geboren. Leider hatte mein guter Schwiegervater diese Freude nicht mehr erleben können. Er war im Frühjahr, als er sich auf einer Reise zu uns nach Holland befand, in Bremen bei seinem Schwager Weltjen eingekehrt, wurde krank und starb an Herzlähmung. Die Todesnachricht war für uns und besonders für meine liebe Frau tief erschütternd. Zwischen ihr und dem Vater hatten immer sehr innige Beziehungen bestanden.
Vom Oktober ab arbeitete ich einstweilen im Kontor der »Adler-Linie« in Hamburg. Später, im November, mußte ich dann nach Glasgow hinüber, wo sich fünf große Dampfer für die Gesellschaft im Bau befanden; ein sechster wurde nachbestellt. ...
Mir war jetzt wieder ein großes Feld eröffnet; so konnte ich mich auch bei drei weiteren, ersten Schiffbau-Firmen an der Clyde im Schiffbau weiterbilden, eine Gelegenheit, die ich mit Eifer und Freude ergriff. Meine freundschaftlichen Beziehungen zu den leitenden Männern der Firma John Elder & Co. ebneten mir schnell auch die Wege zu den Herren der drei neuen Firmen, bei denen ich selbstverständlich von meiner Gesellschaft unmittelbar eingeführt war. Von den Leitern bzw. Inhabern dieser drei großen Firmen, mit denen ich jetzt zu tun hatte, war es Mr. John Napier, der alleinige Inhaber[61] der Firma »Robert Napier & Sons«, mit dem ich in enge persönliche Beziehungen trat. Er war mir immer gewogen und schenkte mir volles Vertrauen. Später, als Herr Blohm und ich unsere Werft in Betrieb setzten, schenkte mir Mr. John Napier, infolge eines Briefes, in dem ich ihm von der Anlage unserer Werft Mitteilung machte, vollkommen ausführliche Bücherauszüge über die Selbstkosten zweier Dampfer und zweier Segelschiffe verschiedener Größe und Typen usw. Sie sollten uns als Grundlage dienen bei Berechnung der Selbstkosten für Offertabgaben für den Bau neuer Dampf- und Segelschiffe. Es war das ein vornehmer Zug von ihm! Jene Auszüge haben uns, Blohm & Voß, im Anfang gute Dienste geleistet, bis wir Gelegenheit gehabt hatten, eigene Ergebnisse durch unsere Buchführung zu sammeln. Auch mit den Herren James und George Thompson stand ich auf gutem Fuß. Diese beiden Firmen waren gewohnt, große und in jeder Beziehung erstklassige Schiffe zu bauen, und alles ging glatt.
Etwas anders war es schon bei den Herren Alex. Stephen & Sons. Es war dies eine alte, berühmte Segelschiffbau-Firma; sie hatte sich eben die große Werft in Govan gebaut und war vollständig neu, nicht bloß im Dampfschiffbau, sondern vor allem im Bau so großer und vornehmer Dampfer wie die von der »Adler-Linie« in Auftrag gegebenen Schiffe. Sie hatte u.a. viele Segelschiffe für Wätjen, Bremen, und für Sloman, Hamburg, gebaut, und letzterer Firma hatte sie wohl[62] auch diese großen Aufträge zu verdanken. Genug, ich hatte Veranlassung, dort oft sehr kritisch und scharf aufzutreten, so daß ich auf allzu große Liebe bei den Herren selbst nicht rechnen durfte. ...
Als einer der Herren Aufsichtsräte der »Adler-Linie« s. Z. in England im Eisenbahnzuge mit einem der Leiter einer der erstgenannten Firmen zusammenfuhr, erkundigte er sich, was man an der Clyde von mir hielte, und bekam – wie mir damals gleich wieder erzählt wurde – die Antwort: »O, Mr. Voss is far too good for you, he is not for repairing ships and engines, he should build new once.« – Das habe ich später dann ja auch getan. –
Den Schiffsmaschinenbau hatte ich auf der »hohen Schule« bei Elders gründlich erlernt; nun richtete ich meine Aufmerksamkeit auf den praktischen Schiffbau, um mich darin weiter zu bilden; dazu war mir eine Gelegenheit geboten, wie ich sie besser nicht wünschen konnte. Ich rechnete damals allerdings nicht damit, daß ich vier Jahre später eine Werft für den Eisenschiffbau mitbegründen helfen würde, aber der Gedanke daran mag doch wohl auch eine der Triebfedern gewesen sein: ich arbeitete mit einem tief inneren Drange auf eine immer gründlichere Ausbildung in meinem Berufe hin.
Im Mai 1873 hatte ich in Hamburg bei der Direktion[63] Geschäftsangelegenheiten zu erledigen und nahm nun auf der Rückreise nach Glasgow meine junge Frau, unser Söhnchen und ein Kindermädchen mit hinüber. Vor meiner Abreise von dort hatte ich schon eine Wohnung mieten können, und zwar – durch einen glücklichen Zufall – in einem ganz im Grünen gelegenen, alten herrschaftlichen Landhaus (Mansionhouse), bei einem auf seinem Altenteil sitzenden Mr. Craig. Mit dem zuerst fertiggestellten Schiff, dem »Goethe«, fuhren wir im Juli zusammen nach Hamburg zurück. – Die Direktion hatte beschlossen, daß ich von jetzt ab, wo die Schiffe nach und nach in Dienst gestellt wurden, den schiffs- und den maschinentechnischen Betrieb zu übernehmen hatte. Meine Erfahrungen in der vorher innegehabten Stellung bei der »Nederland« hatten mich hierfür wohl am geeignetsten erscheinen lassen; jedenfalls war der Beschluß nicht auf mein Betreiben gefaßt worden.
Ohne auf Einzelheiten meiner geschäftlichen Erlebnisse und Erfahrungen in dieser meiner Stellung bei der »Adler-Linie« weiter einzugehen, darf ich erwähnen, daß ich bei verschiedenen wichtigen Vorkommnissen mit meinem fachmännischen Urteil gut abschneiden konnte, und zwar so, daß selbst die großen schottischen Schiffbaufirmen, deren Interessen oft dabei getroffen wurden, nicht umhin konnten, mein Urteil als richtig anzuerkennen. – Der einzige Direktor der »Adler-Linie« war, wie schon erwähnt, Herr Johannes Mooyer, ein mir sehr lieber und wohlgesinnter Vorgesetzter; ich war mit ihm bis zu[64] seinem verhältnismäßig frühen Tod durch treue Freundschaft verbunden.
Als im Sommer 1874 die Schiffe der »Adler-Linie« der H. A. P. A. G. überliefert wurden, da waren Direktor Mooyer und ich dazu ernannt, die Schiffe nacheinander, wie sie von den Reisen heimkehrten, an jene zu übergeben bzw. abzuliefern. Die Ursache, warum diese Übernahme vor sich ging oder gehen mußte, kommt hier nicht in Betracht. Ich möchte hier aber hervorheben, daß die Schiffe der »Adler-Linie« denen der H. A. P. A. G. in jeder Beziehung, namentlich aber durch sparsamen Betrieb, weit überlegen waren; das war allerdings nicht zu verwundern, denn jene waren nicht nur neu und auch – für die damalige Zeit – aufs beste eingerichtet, sondern ihre Kessel- und Maschinenanlagen waren auch nach den neuesten Erfahrungen ausgeführt: die Maschinen also nach dem Verbund-System, die Kessel für höheren Arbeitsdruck gebaut. Die Maschinen der H. A. P. A. G.-Schiffe wie die des Nordd. Lloyd in Bremen waren noch die gewöhnlichen Expansionsmaschinen mit niedrigem Kesseldruck. ...
Meine Stellung bei der »Adler-Linie« endete mit dem 30. September. Ich hatte also genügend Zeit, meine Geschäfte für die Gesellschaft bis dahin abzuwickeln.
Ich nahm nun in Hamburg meinen Wohnsitz als Zivilingenieur für Schiff- und Schiffsmaschinenbau, zugleich für technische Vertretungen. Im Geschäftshaus meines verstorbenen Schwiegervaters Kalkmann, Kleine[65] Reichenstraße, war mir ein passendes Kontor zur Verfügung gestellt. Da ich mich in England bei maßgebenden Persönlichkeiten eines guten Rufes erfreute, so ernannte der Engl. Lloyd mich zum Maschinen-Surveyor für sämtliche deutschen Häfen, nach dem ich veranlaßt worden war, mich schriftlich um diese Stellung zu bewerben. Es war das die erste derartige Stelle, die der Lloyd ins Leben rief. Bis dahin kannte er nur Schiff-Surveyors wie die anderen Klassifikationsgesellschaften auch. Auch wurde ich von der Hamburger Handelskammer zum beeidigten Schiffsbesichtiger ernannt. Auf der so geschaffenen Grundlage hoffte ich weiterzuarbeiten.
Ein Jahr später, im Herbst 1876, besuchte mich in meinem Kontor ein Ingenieur, Herr Hermann Blohm, der aus Glasgow kam und mir einen Gruß von einem meiner dortigen Freunde überbrachte. Er gefiel mir gut, und da das Gefallen auf Gegenseitigkeit beruht haben muß, so besuchte er mich von Zeit zu Zeit auf meinem Kontor. Wir unterhielten uns dann auch wohl über Schiff- und Schiffsmaschinenbau und allgemein technische Fragen; dabei bemerkte er eines Tages, daß er Luft hätte eine Werft anzulegen und fragte mich, ob ich wohl Neigung hätte, mich daran zu beteiligen. ...
Bald besiegelte ein Händedruck unseren Bund. –
Vorher hatten wir schon einen passenden Platz für die Werft gefunden, und zwar hatten wir als den einzigen[66] dafür sich eignenden Platz die Nordostecke des Kuhwärders erkannt. Der Platz wurde also begrenzt im Osten vom Schanzengraben und im Norden von der Elbe, im Westen und Süden von Sumpf und Wie sen. Hier war allerdings nur eine verhältnismäßig kleine Fläche genügend aufgehöht, aber groß genug für den Anfang. Diese Werftfläche war am Schanzengraben entlang gemessen 150 Meter tief und hatte eine Elbfront von 100 Metern. – Im übrigen war das ganze Kuhwärder frei und bot Raum für zukünftige Entwicklung. Es weideten dort die Kühe, soweit die Wiesen nicht bei jeder höheren Flut unter Wasser standen. Hermann Blohm hatte vom Hamburgischen Staat auf seinen Namen diese Fläche von 15000 Quadratmetern gepachtet und entsprechend die Pläne für die Werftanlage entworfen. ... Im April 1877 wurde mit dem Bau der Werft begonnen.
* * *
Zu diesem Teil der Lebensgeschichte von Ernst Voß, den er in seinen »Erinnerungen« am eingehendsten behandelt, möchte ich zunächst folgendes bemerken.
Er gibt Einblicke in die »alte Zeit«; er zeigt auch den großen Vorsprung, den das Ausland vor uns hatte. Damals war England für die deutschen Ingenieure – und die es werden wollten – die hohe Schule der Praxis. Ich kenne eine ganze Anzahl von älteren Fachgenossen, die dort lernend etwas leisteten. Wer jetzt durch unser glänzend entwickeltes westliches Industriegebiet[67] streift, wer auch nur einen Teil der verschiedenartigen, großen, mustergültig eingerichteten Werke dort und im übrigen Deutschland kennt, und wer unsere Werften im Küstengebiet – vom Westen bis zum äußersten Osten – gesehen hat, der weiß, daß wir uns nicht nur von England unabhängig gemacht, sondern es auf vielen Gebieten übertroffen hatten. Davon legten u.a. die auf englischen Werften und an englischen Kais stehenden deutschen Riesenkrane Zeugnis ab, das zeigte sich im Wettbewerb der Reedereien und Werften, in der Eisen- und Stahlerzeugung und in vielen anderen Industrien, das – wußte man in England. Und die Furcht vor dieser »Übermacht« war auch wohl einer der Gründe, daß man uns »einkreiste«. – Bemerkenswert ist das ruhige Selbstbewußtsein, das Ernst Voß – vertrauend auf sein Wissen und Können – den Engländern zeigte, wenn sie sich zu erhaben fühlten. Das machte auf sie Eindruck! –
Vielleicht könnte aber ein Leser zu der Auffassung kommen, daß aus den »Lebenserinnerungen« hervorgehe, der Verfasser habe von manchen Seiten Förderung erfahren: Man habe ihn »protegiert«. – Natürlich erkannte man, daß er ungewöhnlich fleißig und strebsam und sehr begabt war, und es ist gewiß nicht verwunderlich, daß man ihn nun in seinem Streben unterstützte. Er genoß also die Förderung nicht als ein »Begünstigter«, sondern weil er sich durch seinen Fleiß und seine Leistungen ein Anrecht auf das Wohlwollen erworben[68] hatte. Und er war fürwahr kein »Streber«, wenn er auch mit aller Kraft bestrebt war, vorwärts zu kommen. Er war auch keiner, der nur bemüht war, einseitiges Fachwissen in seinen Gehirnkammern aufzuspeichern, sondern er suchte sich allgemein zu bilden; er hatte viel Kunstverständnis, Liebe zur Natur und Sinn für Literatur. Das erkennt man auch aus der Wahl der Vorlesungen, sowohl in Erfurt als in Zürich.
Er entstammte einem kernigen Geschlecht: Der Vater schlicht und gerade, tüchtig und strebsam; die Mutter fleißig, menschenfreundlich und hilfreich, dabei fröhlichen Gemüts. Von beiden hatte Ernst Voß das mitbekommen, was ihn im Leben tüchtig, im Umgang lieb und wert machte. So hatte er auch wohl, wie Goethe, »von Mütterchen die Frohnatur ...« – Ich erinnere mich dabei eines Wortes, das er mir sagte, als er eines Tages fand, daß ich abgespannt aussah: »Ich glaube, Sie grübeln abends oder gar nachts noch weiter über Ihre Werftsachen nach. Das muß man nicht. Wenn man die Werfttür hinter sich zumacht, dann müssen die Werftsorgen drinnen bleiben. – Wenn man dann den anderen Tag wieder frisch an das herangeht, was abends nicht recht gelingen wollte, so findet man die Lösung schneller und besser, als wenn man im abgearbeiteten Gehirn die Gedanken hin und her wälzt. Immer rechtzeitig umschalten!« – Ja, das konnte er. – Und das ist auch ein Stück Lebenskunst.
Seine Herkunft, seine lange Lehrzeit in der Fabrik[69] hatten ihm noch etwas anderes mitgegeben, was ihm nützlich und nötig war in seiner späteren Laufbahn: Die Kenntnis der Volksseele, so auch die der Arbeiter. Er verstand es nicht nur, sie nach ihren Leistungen als Maschinenbauer oder Dreher, Schlosser oder Schmied einzuschätzen, weil er selbst in diesen Handwerken beschlagen war, er wußte außerdem die Charaktereigenschaften und sonstigen Fähigkeiten zu bewerten, wenn einer von ihnen aufrücken sollte. Bei seinen täglichen Rundgängen durch die Werkstätten sprach er mit manchem Arbeiter, und man sagte, daß er sich mit einem alten, tüchtigen Maschinenbauer, mit dem er seinerzeit auf der Carlshütte zusammengearbeitet hatte, noch duze. – Die Arbeiter aber und Meister wußten es, daß er seine und ihre Sache verstand; das ist von Wichtigkeit für das Verhältnis zwischen beiden Teilen und auch für den Wert der Arbeit. So war es auch in den Zeichensälen. – Er ließ einem gerne freie Hand, namentlich wenn er sah, daß man die Sache zu meistern verstand und selbständig dachte, also nicht einfach nachmachte, was andere gemacht hatten. Er kam auch nicht selten mit neuen Gedanken und freute sich, wenn ein tüchtiger Konstrukteur etwas daraus zu machen wußte. Wo er an einer Stelle mit seiner Kritik einsetzte, da tat man gut, gewissenhaft zu prüfen und dem Fingerzeig zu folgen; lange Erfahrung und Übung hatten ihm einen sicheren Blick für Vorzüge und Schwächen gegeben. So war er nicht nur ein sicherer Führer, sondern auch ein williger Helfer. In[70] den letzten Jahren meines Dortseins zog er sich – seines Alters wegen – mehr von dieser Tätigkeit zurück. Als wir damals ein Schwimmdock für die Werft bauten, das alle Docks der Welt weit hinter sich ließ, sagte ich eines Tages: »Herr Voß, die Hauptzeichnungen zum Dock sind fertig, darf ich sie Ihnen mal vorlegen?«
»Ist nicht nötig,« sagte er. »Die Verantwortung dafür übernehmen Sie nur selber.«
»Will ich auch! – So ist das nicht gemeint,« erwiderte ich. »Aber von Ihnen habe ich doch seinerzeit das Dockbauen gelernt; wir haben auch später immer alles miteinander durchgesprochen, und es ist manches besser geworden durch Ihr Urteil und Ihre Mitarbeit. So dachte ich denn, Sie sollten dies wenigstens ansehen, und ich könnte dann Ihr Urteil hören über dies und jenes. Das wäre mir nicht nur eine Beruhigung, sondern auch für die Sache von großem Wert.«
Er sah sich ernst die große Rolle Zeichnungen an, die ich schon in meinem Zimmer bereit gelegt hatte. »Gerne,« sagte er dann. »Ich will morgen früh etwas zeitiger kommen. Kommen Sie dann mit den Zeichnungen nach oben. Wir wollen sie zusammen durchsehen und besprechen.« – So geschah es.
Was nun im weiteren Ernst Voß über die Gründung und Entwickelung der Werft – bis 1911 –, über ihre Leistungen und geschäftlichen Beziehungen zu Reedereien u.a. schreibt, ist für Fachkreise berechnet und für solche, die nähere Beziehungen zur Werft haben oder[71] hatten. Ich benutze das als Richtschnur und werde Einzelbilder hineinfügen, um dem Leser zu zeigen, wie durch das Zusammenwirken beider Männer aus kleinen Anfängen eine Werft von Weltruf entstand.
Im Frühjahr 1877 wurde der Bau der Werft begonnen. Sie umfaßte: Ein Kesselhaus, eine Maschinenfabrik, Kesselschmiede, Schmiede, den Schiffbauschuppen mit Winkelschmiede, eine Zimmerei, Tischlerei, Schlosserei mit Kupferschmiede und Malerei. Am Eingang der Werft lag das Kontorgebäude mit Arbeiterkontrolle, kaufmännischem Kontor und technischem Büro für Schiff- und Maschinenbau. Am 12. Januar 1878 – dem Geburtstag von Ernst Voß – wurde die Dampfmaschine zum erstenmal in Betrieb gesetzt. Nach und nach wurde alles betriebsfähig; die Aufträge konnten kommen. Aber sie kamen nicht. Einmal war die Geschäftslage im allgemeinen nicht günstig, und dann hatten die Hamburger Reeder es auch nicht so eilig, »Versuchskarnickel« der neuen Werft zu spielen, zumal sie in England zur Zufriedenheit bedient wurden und »kein Risiko liefen«, wenn sie bei den dortigen großen und angesehenen Werften – von denen in den »Lebenserinnerungen« die Rede gewesen ist – ihre Schiffe bestellten. –
Es dürfte hier der Platz sein, einen Blick auf die schwierige Lage zu lenken, in der sich damals die deutsche Industrie befand. Von Englands Vorsprung und Übermacht ist zu Anfang schon die Rede gewesen, und[72] die Erwägungen, von denen die Reeder ausgingen, waren maßgebend für viele deutsche Käufer: Englische Erzeugnisse wurden bevorzugt. Dagegen gab es keinen Schutz. Im Jahre 1875 noch hatte der Abgeordnete Bamberger behaupten können: »Niemand wagt mehr, uns das alte Lied vom Schutzzoll vorzutragen. Es ist auch nicht mehr möglich, es gibt keine Schule mehr, keine Lehrer, keine Doktrin, in Deutschland wenigstens nicht, die den Schutzzoll vertritt.«
Aber Bismarck war noch da! In der Thronrede, mit der am 12. Februar 1879 der Reichstag eröffnet wurde, hieß es: »Ich halte es für meine Pflicht, dahin zu wirken, daß wenigstens der deutsche Markt der nationalen Produktion insoweit erhalten werde, als dieses mit anderen Gesamtinteressen verträglich ist ...« Am 12. Juli nehm der Reichstag den Zolltarif und das Zolltarifgesetz endgültig mit 217 gegen 117 Stimmen an. So wurde unsere deutsche Arbeit geschützt, und es folgte das Aufblühen der Industrie. –
Aber der deutsche Schiffbau stand außerhalb dieser Zollschutzmauer. Ein Schiff war keine »Ware«, die man verfrachtete und verschickte. Schiffe aller Völker liefen in deutschen Häfen ein und aus, wurden gekauft und verkauft, wurden im Auslande gebaut und führten dann die deutsche Flagge. Den deutschen Schiffbau konnte also kein Schutzzoll schützen; er mußte sich aus eigener Kraft emporringen. Zudem mußte er Kohlen und Eisen aus England beziehen, weil diese an der[73] Küste billiger waren, als die deutschen Erzeugnisse; England war eben in jeder Hinsicht günstiger gestellt.
Um in Gang zu kommen, wurde auf der Werft von Blohm & Voß zunächst für eigene Rechnung ein Segelschiff von 1000 Registertons als Nr. 1 in Bau genommen. Diese Art und Größe von Segelschiffen war damals beliebt; man durfte daher hoffen, daß sich bald ein Liebhaber dafür finden würde. Dann liefen Aufträge auf Reparaturen ein.
Endlich, im November 1878, kam der erste Auftrag auf einen Neubau: Es war ein Raddampfer für die Fahrt zwischen Hamburg und Brunshausen. Wie leicht erklärlich, suchte die bestellende Gesellschaft sich zu decken gegen das »Wagnis«, bei einer neuen Werft ein Schiff zu bestellen: Sie stellte in bezug auf Tiefgang, Schnelligkeit und Kohlenverbrauch scharfe Bedingungen und zahlte einen recht niedrigen Preis. Blohm & Voß wußten recht gut, daß die Baubedingungen nicht gerade leichte waren, es lag ihnen aber daran, einen Auftrag zu erhalten; so wurden denn die Vorschriften angenommen und garantiert.
Am Sedantag 1879 war die Probefahrt. Als in die Geschwindigkeits- und Kohlenmeßfahrt eingetreten wurde, saß der Vorsitzende des Aufsichtsrats selbst – in Hemdärmeln – im Heizraum vor dem Kessel, um sich zu überzeugen, ob und wie man mit der vorher abgewogenen Kohlenmenge auskomme. Und siehe da: Nicht nur die vorgeschriebene Geschwindigkeit wurde[74] überschritten, sondern es blieb auch noch von der erlaubten Kohlenmenge ein netter Rest übrig. – Viele tausend Male ist seitdem die »Elbe« von der St. Pauli-Landungsbrücke aus an der Werft ihrer Erbauer vorübergefahren, hat sie wachsen und sich ausdehnen sehen, und fährt – wenn die Kohlen- und andere Not sie nicht zum Aufliegen gebracht hat – wohl noch heute ihre Strecke. So war schon das erste Schiff technisch ein voller Erfolg, »verdienstlich« war die Sache – aus den angeführten Gründen – allerdings nicht. –
Neue Aufträge waren inzwischen nicht eingegangen, aber die Reparaturen mehrten sich, wurden auch umfangreicher. Der Segler wurde als »Arbeitsreserve« gehalten, mußte aber dann doch vom Stapel und wurde später an eine Hamburger Reederei verkauft. Die nächsten Bestellungen gingen alle von auswärts ein: aus Lübeck, Heiligenhafen, Danzig, Bremerhafen. Inzwischen gab es sehr flaue Zeiten; das Schiff Nr. 8 wurde geradezu als Notarbeit auf Stapel gelegt, es war ein kleiner Dampfer, der noch heute der Werft für den Reparaturbetrieb im Hafen dient. Auch das Schiff Nr. 9 mußte für eigene Rechnung aufgesetzt werden; es war ein Dampfer von Größe und Maschinenkraft, wie sie einige Hamburger Linien in Betrieb hatten. Die Hamb. Süd-Amerik. A. G. kaufte ihn dann; er erhielt den Namen »Rosario«. Auch weniger stolze Fahrzeuge liefen in dieser Zeit vom Stapel: Klappschuten für den Baggereibetrieb des Hamburger Staates.[75]
Endlich kamen die Hamburger Reeder. Zuerst 1881 die Reederei Adolph Jakob Herz Söhne, dann die Hansa-Linie, dann 1882 die Firma C. Woermann mit dem Dampfer »Carl Woermann«, Stapelnummer 18. Durch diesen Auftrag wurde eine Geschäftsverbindung eröffnet, die für Blohm & Voß bedeutungsvoll werden sollte; es folgten im Laufe der Jahre viele weitere Aufträge. Der Chef der Firma, Adolph Woermann – später auch Reichstagsabgeordneter – wurde ein Freund der beiden Werftinhaber und ist es bis zu seinem Tode geblieben. Er hat es nicht mehr erlebt, daß all das, was er in unseren Kolonien geschaffen hatte, uns entrissen wurde. – Neben Adolph Woermann war es der bekannte Schiffsreeder Carl Laeiß, der die große Bedeutung einer leistungsfähigen Werft für den Hamburger Hafen und Handel erkannte; ihr fördernder Einfluß ist für die Werft von Bedeutung gewesen.
Zu jener Zeit gab es im Hamburger Hafen nur zwei kleine, alte hölzerne Schwimmdocks der Firma Stülcken, außerdem ein kleineres und ein größeres Trockendock; das letztere gehörte der H. A. P. A. G. Es diente in erster Linie zum Docken ihrer Schiffe. Diese Docks genügten nicht mehr dem wachsenden Schiffsverkehr, so daß viele Schiffe im Ausland docken mußten.
Es gab aber immer mehr Reparaturen auszuführen. Gelegentliche Zusammenstöße von Schiffen auf der Elbe, namentlich im Herbst mit seinen Stürmen und im Winter mit seinem Eisgang sorgten für »Havaristen«.[76] Aber Schiffe mit Bodenschäden konnte man nicht an die Werft herannehmen, weil man kein Dock hatte, und das waren sehr oft gerade Sachen, »die sich lohnten.«
Was ist nun ein Dock eigentlich? Ein Trockendock ist eine ins Land hineingebaute tiefe Grube, die nach dem Hafen zu durch ein Tor vom Außenwasser abgesperrt ist. Dies Tor wird geöffnet, dann ist der Wasserspiegel drinnen und draußen gleich hoch. Das Schiff wird hineingezogen. Das Tor wird geschlossen. Das Innenwasser wird ausgepumpt, so daß sich das Schiff zunächst auf eine unten am Dockboden befindliche Reihe von Stapel-bzw. Kielblöcken setzt. Dann wird es seitlich abgestützt und steht schließlich, wenn das Wasser ganz ausgepumpt ist, auf dem Trocknen. Das ist leicht verständlich.
Ein Schwimmdock besteht in der Regel aus einem im Querschnitt U-förmigen Kasten von gewisser Länge. Der untere wagerechte Teil ist der tragende Teil, der Bodenponton; auf ihm befinden sich die Kielblöcke. Die beiden senkrechten Teile sind die Seitenkasten; sie sitzen auf dem Bodenponton fest und geben u.a. dem untergetauchten Dock das Gleichgewicht. Will man ein Schiff docken, so läßt man Außenwasser in den Bodenponton; dann auch in die Seitenkasten. Dadurch senkt man nun das Dock, bis die Kielblöcke so tief eintauchen, daß das Schiff ins Dock (also zwischen die Seitenkasten) hineingeholt werden kann. (Es ragen dann natürlich nur die oberen Teile der Seitenkasten aus dem Wasser.)[77] Das Schiff wird nun gerade über die Kielblöcke gebracht, und man beginnt, aus den Dockräumen Wasser auszupumpen. Nun hebt sich das Dock: die Kielblöcke legen sich an den Kiel des Schiffes und heben dieses etwas. Dann wird das Schiff seitlich abgestützt, und es wird weiter gepumpt, bis die Decke des Bodenpontons aus dem Wasser auftaucht. Dann liegt das Schiff trocken.
Die Engländer waren damals die Erbauer und Lieferanten von Schwimmdocks für die ganze Welt, und man muß anerkennen, sie leisteten etwas in diesem Fache! Noch bis ins erste Jahrzehnt unseres Jahrhunderts hinein lieferten sie Bauzeichnungen von Schwimmdocks nach Deutschland, obwohl man das damals bei Blohm & Voß viel besser konnte, als die betreffenden englischen Firmen. So groß war der alte Ruf der englischen Schwimmdock-Konstrukteure, namentlich der Firma Clark & Standfield, daß man an die Sache einfach gar nicht heranging. Die konnten's ja doch besser. – Oder man baute Trockendocks, zu denen die »alten Seebären« überhaupt mehr Vertrauen hatten, denn in solchen hatten sie mit ihrem Schiff »doch was Festes unter den Füßen«! – Blohm & Voß konstruierten und bauten schon ihr erstes Schwimmdock selbst. In den »Lebenserinnerungen« heißt es darüber: »Als ich im Frühjahr 1880 nach schwerer Krankheit (Kopfrose mit Gehirnaffektion) mich in Genesung befand und der Geist wieder seine Schwingen regte, da habe ich daheim das Dock I in Handskizzen bis in die Einzelheiten[78] entworfen und berechnet, so daß es nach meiner Rückkehr ins Geschäft in den Bureaus in Arbeit gegeben werden konnte. Im Laufe von 1880 und 1881 wurde es auf der Werft fertiggestellt und Neujahr 1882 mit dem schwer havarierten Dampfer ›St. Pauli‹ eingeweiht. –
Dieser Schritt zum Bau der Docks ist von außerordentlicher Wichtigkeit gewesen, nicht nur für die Firma selbst, sondern auch für die Entwicklung des Hamburger Hafens, denn durch diese Schwimmdocks (es sind jetzt – 1911 – fünf Stück bis zu den größten Abmessungen bei der Firma vorhanden) wurde der Hamburgischen Schiffahrt die Gelegenheit zum schnellen Docken und Reparieren ihrer Schiffe gegeben, ohne welche promptes Expedieren und ein schneller, regelrechter und lohnender Reedereibetrieb nicht möglich ist. Aber auch für uns sind unsere Schwimmdocks von Segen gewesen, sie haben uns über flaue Zeiten durch Docken und Reparieren von Schiffen hinweggeholfen; sie haben es ermöglicht, auch in solchen schlechten Zeiten den Stamm der Arbeiterschaft zu halten, und sie haben auch ihr Teil zum schließlichen finanziellen Erfolg der Firma beitragen.«
Der Kohlendampfer »St. Pauli« hatte mit einem französischen Dampfer Havarie gehabt. Es war das Schott zwischen Maschinen- und Hinterraum mitgetroffen, und diese Räume waren voll Wasser gelaufen. Man brachte das tiefliegende Schiff ins Dock und fing an zu pumpen. Das Heben konnte natürlich nur langsam[79] geschehen, denn das im Schiff befindliche Wasser mußte dabei abfließen. So kam es denn, daß man vom Land aus nur sah, »daß das Schiff nicht hoch wollte«, und an der Börse ging daraufhin das Gerücht, das Dock von Blohm & Voß sei bei dem ersten Versuch zusammengebrochen. – Aber im Dock ging alles seinen guten Gang, obwohl die Erstlingsarbeit schwierig war. Man mußte Niete der Außenhaut des Schiffes herausschlagen, damit das Innenwasser herausfließen konnte, und dabei mußten die Arbeiter im Wasser stehen. Aber es wurde gemacht. Zoll um Zoll stieg das Schiff. Endlich konnte man unter dem Kiel durchgucken. Nun hatte man gewonnen. Sobald die Mannlochdeckel auf dem Decke des Dockkastens frei wurden, öffnete man diese. Die Herren Blohm und Voß stiegen hinab in den Ponton, um mit Probierhämmern Niete und gespannte Stäbe der Dockspanten zu beklopfen: alles war heil und dicht und fest und sicher! Ein großer Tag war das! Eine gute Probe für das neue Dock. Ein großer Erfolg für die Werft!
Es bewahrheitete sich denn auch hier die alte Regel, daß die einmal Totgesagten sich nachher eines langen Lebens erfreuen. Das Dock I tut noch heute, nach mehr als 40 Jahren, in guter Gesundheit seine Arbeit.
Das Reparaturgeschäft hob sich, und zwar benutzten nicht nur deutsche Schiffe diese Dockgelegenheit, sondern auch Ausländer, namentlich Engländer, fanden sich ein, und ein Jahr später hatte die Hamburger Werft Gelegenheit[80] zu zeigen, daß sie »arbeiten könne wie in England«. So wenigstens lautete das Urteil einer großen englischen Reederei, als ihr Dampfer »Euphrates«, an dem eine große Bodenreparatur auszuführen war, über Erwarten schnell und gut fertiggestellt wurde. Der Dampfer hatte auf der Unterelbe auf Grund gesessen, und eine große Anzahl Bodenplatten waren eingedrückt, die erneuert werden mußten. Es war vereinbart, daß die Arbeit in 30 Tagen fertiggestellt werden sollte; am 22. Tage schon konnte das Schiff wieder laden. Die Reederei sprach in einem besonderen Schreiben der Firma Blohm & Voß ihren Dank aus und fügte hinzu, daß sie bei sich bietenden Gelegenheiten die Werft ihren Freunden empfehlen würde. Das ist denn auch geschehen.
So mußte das Reparaturgeschäft mithelfen, durchzukommen, denn Aufträge auf Neubauten liefen damals noch immer spärlich ein; wenn man etwas erhielt, so waren die Preise durch den englischen Wettbewerb in der Regel sehr gedrückt und die sonstigen Bedingungen nicht selten hinaufgeschraubt.
Zu Anfang der achtziger Jahre war es, als der Anschluß Hamburgs an die Zollgemeinschaft des Deutschen Reiches beschlossen wurde; dazu war es nötig, daß für den Außenhandel und manche Industrien – wozu namentlich die Werften gehörten – ein großes Freihafengebiet geschaffen wurde. Hierfür kam das linke Elbufer und namentlich Steinwärder in Betracht. Nun wurde es Zeit für Blohm & Voß, zu handeln, sonst[81] stand zu erwarten, daß man die Werft durch Häfen und Kaianlagen einengen würde. Es muß hier nämlich bemerkt werden, daß das ganze weite Gelände dort dem Hamburger Staat gehört; die Väter des Gemeinwesens waren seit alters her klug genug gewesen, nichts davon zu verkaufen. Wer sich ansiedeln wollte, mußte den Grund und Boden pachten; die Verträge lauteten natürlich auf längere Zeiträume; aber mit ganz wenigen Ausnahmen steht dort alles auf Staatsgrund, auch die Werftanlagen von Blohm & Voß. Ja, die Hamburger Kaufleute hatten von jeher einen weiten Blick! –
Im Jahre 1887 schloß man daher einen neuen Vertrag mit der »Hamburger Finanzdeputation« ab. Die Werftfläche wurde dadurch von 15000 Quadratmeter auf ungefähr 150000 Quadratmeter vergrößert; aus den 100 Metern, die sie vorher an der Elbe eingenommen hatte, wurden nun 550 Meter. Das war ein kühner Entschluß, der allerdings erst nach gründlicher Überlegung und sorgfältigem Abwägen aller in Betracht kommenden Verhältnisse gefaßt wurde. Der neue Vertrag lautete auf 50 Jahre.
Der Baugrund mußte erst geschaffen werden. Die Feldmesser erschienen im Frühjahr 1886, wateten durch Morast und Wasser, bahnten sich ihren Weg durch dichte Schilffelder und steckten Stangen mit der rotweißen Hamburger Flagge dort ab, wo die Ecken des neuen Werftgeländes waren. Die Nordwestecke lag draußen auf dem Elbsand, von der Flut überspült; bei Ebbe war dort ein[82] großes, freies Elbdock für Schuten und Ewer. Bei Flut wurden die Fahrzeuge auf Grund gesetzt und abgestützt; bei Ebbe dann überholt, geflickt, kalfatert und geteert. Bei der nächsten Flut wurden sie wieder flott. Und die alten Ewersührerbaase brummten: »Watt will de Warst mit all dat Land? – Väl to groot!« – Aber sie waren nicht die einzigsten, die solche Bedenken hegten; es gab auch weiterschauende Leute, die ähnlich dachten.
Ach, es gab viele, denen diese Gebietserweiterung gar nicht paßte, und die sich in ihren Rechten sehr geschmälert sahen, als es hieß, nahezu die ganze Elbinsel solle für Hafenanlagen, Speicher, Werften, Fabriken u.a. umgewühlt und aufgehöht werden. Ich rede da nicht von den wilden Enten, die sich in den Gräben und sonstigen Wasserflächen tummelten, von den Rohrsängern, die in den Schilfwäldern nisteten oder den Kühen, die im Wiesengras weideten. Aber die Jungens von St. Pauli, die dort – wie ihre Väter und Vorväter auch – die schönen, braunen Rohrkolben holten; die Naturfreunde, die auf jenen Gefilden liebliche Schachblumen und bunte Blumenbinsen pflückten und am Elbdeich sich lagerten, um sich der Wildnis zu freuen; die Mitglieder des Vereins für naturwissenschaftliche Unterhaltung, die in jener Einsamkeit seltene Käfer und Schmetterlinge erbeuteten, diese alle fühlten sich in ihren alten Rechten sehr geschädigt, und sie konnten nicht wie die verdrängten Vögel einfach weiter ziehen in eine andere, entferntere Wildnis. –[83]
Noch andere gab es, die den Kopf schüttelten, wenn sie den Bauplatz sahen und an den Baugrund dachten. – Sumpf und Morast bis tief hinunter und überall unsicherer Baugrund! – Aber die Sache bekam schon ein anderes Aussehen, als die Bagger sich daran machten, vor der Werft einen Hafen zu schaffen, der als Liegeplatz für Schiffe und die Docks dienen sollte. Der hier gewonnene gute Baggersand wurde zur Aufhöhung des Werftgeländes benutzt; diese Aufschüttung war durchweg 5 bis 6 Meter stark und diente dazu, einen verhältnismäßig guten Baugrund zu schaffen, zumal man die Grundmauern der Gebäude diesem anpaßte.
Es dauerte denn auch nicht lange, so zischten, stöhnten und polterten am Elbufer die Dampframmen, um Vorsetzen und Kais zu schaffen; Baugruben wurden ausgehoben und mittels Kreiselpumpen voll Wasser gefüllt, damit der Baugrund fest »geschlämmt« werde, und dann tauchten die Grundmauern aus der Erde auf, starke und hohe Eisenbauten bildeten die Gerippe und Dachverbände der Gebäude, die Außenwände wuchsen zwischen ihnen auf. Geräumige und hohe Hallen entstanden, von vielen bewundert, aber es gab auch Leute, die meinten: Zu großartig, zu solide für eine Werft auf Staatsgrund! –
Wie jede »Solidität« im Geschäft sich aber bewährt und sich eben auch in jeder Weise und zu jeder Zeit bei Blohm & Voß bewährte, so auch diese. – In den neuen Werkstätten entwickelte sich bald ein reges Leben und Treiben. Von den Hamburger Reedereien liefen nach[84] und nach immer mehr Aufträge auf Neubauten ein, und mit dem schnell wachsenden Verkehr im Hamburger Hafen wurde auch das Dockgeschäft immer umfangreicher. Zum Dock I war Dock II gekommen, nun entstand Dock III; auch damit machte man einen großen Sprung nach aufwärts, es trug 17500 Tonnen und war 1897 bei weitem das größte der Welt. In den »Lebenserinnerungen« heißt es darüber: »Man soll damals in den betreffenden Kreisen Hamburgs sich über diesen in der Größe ›so übertriebenen‹ Dockbau sehr gewundert haben. – Wir hatten aber damit doch das Richtige getroffen. Es trat eine so schnelle Entwickelung der Dampfschiffe, namentlich der Größe nach, ein, daß dieses Dock sich schon einige Jahre später, bald nach 1900, als zu klein erwies, so daß wir uns entschlossen, das Dock IV zu bauen. Es hat ziemlich die gleiche Tragfähigkeit wie Dock III, und ist so konstruiert, daß einzelne Abteilungen davon mit Dock III verbunden werden können. Von dieser Einrichtung mußte dann gleich Gebrauch gemacht werden, als die ›Deutschland‹, das damals neue Riesenschiff der H. A. P. A. G. in Dienst gestellt wurde.«
Das war nun die »Neue Werft«. Auf ihr wurde auch das erste der Werft übertragene Kriegsschiff gebaut, der kleine Kreuzer »Condor«, der seine Schwesterschiffe in seinen Leistungen übertraf. Manches Handelsschiff aber lief von ihren – zuerst sieben – Helgen, die dann, als die Schiffe in der Breite wuchsen, auf fünf[85] vermindert wurden. Auch mit dem Norddeutschen Lloyd in Bremen war es Blohm & Voß inzwischen gelungen, in geschäftliche Verbindung zu treten. Allerdings handelte es sich zuerst nicht um Neubauten, sondern um Umbau bzw. Verlängerung von drei der größeren Dampfer, die der Lloyd mit Reichsunterstützung hatte bauen lassen. Blohm & Voß wollten dies in ihrem Schwimmdock II machen, damals ihr größtes Dock. Die Schiffe sollten gedockt werden; an bestimmter Stelle sollten dann sämtliche Niete der Quernähte und der betreffenden Längsverbände entfernt werden. Dann wollte man das Vorderschiff – nachdem Schlitten darunter gebaut waren – vorziehen, bei »Bayern« und »Sachsen« 15,7 und bei »Preußen« sogar 20,8 Meter, und zwischen Vorder- und Hinterschiff ein Stück hineinbauen. Ähnliche Arbeiten waren zwar schon auf ausländischen Werften ausgeführt, aber es hatte sich dabei um wesentlich kleinere Schiffe gehandelt. Daß man aber so große Schiffe in einem Schwimmdock, das noch dazu aus mehreren Abteilungen bestand, auseinander hauen und verschieben wollte, war schon bedenklich, und dazu kam noch, daß die Tragkraft des Docks gerade für das Schiff ausreichte, nicht mehr! – So hatte denn die Verwaltung des Lloyd natürlich ihre Bedenken. Im Trockendock, ja! – Aber im schwimmenden Eisenkasten?! – Man war doch auch für seine Schiffe verantwortlich. – –
Die Werftinhaber aber erreichten es, daß eine[86] schiffbautechnische Kommission damit betraut wurde, sich an Ort und Stelle über alles zu unterrichten und ihr Urteil abzugeben. Diese ließ sich überzeugen, daß die beabsichtigte Art der Ausführung zweckmäßig sei, und die Aufträge wurden erteilt.
Nachdem an der »Bayern« zunächst am Kai die nötigen Vorarbeiten ausgeführt und die oberen Verbände gelöst waren, kam sie am 2. Mai 1893 ins Dock. Die drei Dockabteilungen waren durch Laschen so miteinander verbunden, daß sie eine genügende Längsfestigkeit hatten. Unter das Vorderschiff wurden Bahn und Schlitten gebaut, wie zu einem Stapellauf; sämtliche in Betracht kommenden Verbände wurden gelöst, und am 19. Mai konnte die Fahrt losgehen. Die nötige Zugkraft gab eine vorn im Dock eingebaute, besonders für diesen Zweck konstruierte Vorrichtung, die durch Druckwasser von 100 Atmosphären betätigt wurde, das man von der Werft herüber leitete. Für den Anzug konnte dieser Druck durch einen Dampf-»Multiplikator« auf 300 Atmosphären (300 Kilogramm auf einen Quadratzentimeter) gesteigert werden. Angesehene Gäste in nicht geringer Zahl, Fachleute und Laien, hatten sich zudem Augenblick eingefunden, wo's losgehen sollte. – Ein Ingenieur bewegte langsam einen kleinen Hebel. das Wasser sauste in der Leitung: Ein kurzer, kaum merkbarer Ruck aus der Ruhe in die Bewegung, stetig und sicher rückte das Schiff vor. Nach ein paar Stunden war der Weg gemacht. Beim Vorrücken der Last mußte[87] natürlich in die dadurch entlasteten Dockabteilungen Wasser eingelassen und aus den belasteten Teilen Wasser ausgepumpt werden. Alles ging wie am Schnürchen. Jeder war auf seinem Posten. Sehr befriedigt zogen die Gäste ab. Dann hallte wieder der Trommelschlag der Niethämmer durch Dock und Schiff: Der Zwischenteil wurde eingebaut. So wurden ohne weiteren Unfall diese drei Schiffe – und dann auch noch ein viertes – verlängert, und zwar sehr zur Zufriedenheit der Reederei. Unter welcher Flagge sie heute fahren – wer weiß es! –
Ein Fachmann, der dies heute liest, wird vielleicht sagen: »Kein Kunststück!« – Das sollte es auch nicht sein, aber es war für damalige Zeit und mit den damaligen Hilfsmitteln doch eine »Leistung«! – Vieles mußte inzwischen vergehen und kam ins alte Eisen, weil Größeres und Besseres ersonnen und geschaffen wurde. Und einer der Ingenieure stand dabei geistig auf der Schulter des anderen. – Durch diese Arbeiten, die zur vollen Zufriedenheit ausfielen, war die Verbindung mit dem Bremer Lloyd hergestellt; sie führte dazu, daß von ihm bei Blohm & Voß zwei Doppelschraubendampfer bestellt wurden. So lohnte es sich, daß man an die Verlängerungen mit Entschlossenheit herangegangen war.
Der Stapellauf des einen dieser beiden Schiffe, des, »Wittekind«, wurde zu einem Ereignis für die Werft. Es war das hundertste Schiff, das vom Stapel lief. –[88] Es war dies am 2. September 1893. Eine zwanglose Feier für Angestellte und Arbeiter, an der jeder so teilnahm, wie er von der Arbeit kam, wurde nachher auf der Werft veranstaltet; alle die Tausende wurden bestens bewirtet, und es fehlte auch hier nicht an guten Leistungen. –
Zu Anfang des Jahres 1898 wurde bei Blohm & Voß zum erstenmal vom Reichsmarineamt ein großes Panzerschiff bestellt, es war »Kaiser Karl der Große«. In diesem Jahre liefen sieben große Dampfer vom Stapel. Als im nächsten Jahr der, »Kaiser Karl« vom Stapel lief, stand »der alte Häseler« auf der Taufkanzel. – Viele Tausende verfolgten mit Spannung das Schauspiel des Ablaufes, und zwar nicht nur von den auf der Werft gebauten Tribünen aus, sondern überall, wo drinnen und draußen Platz war, stand die Menge Kopf an Kopf; »halb Hamburg« war auf den Beinen. Es war ein wundervolles und buntes, großartiges und belebtes Bild, dem auch ein glänzendes militärisches Gepräge nicht fehlte. – »Es war einmal! ...« Es war einer der großen Tage für die Werft. – Und dann ging die Arbeit ruhig weiter ihren Gang.
Für den Bau des »Kaiser Karl« hatten die Helgen der bisherigen Werft schon nicht mehr ausgereicht; man hatte schon nach Süden zu weiteres Gelände zur Werft schlagen müssen. Bald darauf – um die Wende des Jahrhunderts war es –, als die rasch zunehmende Vermehrung[89] der Handelsflotte und das überraschende Wachsen der Schiffsgrößen sowohl der Handels- als der Kriegsmarine die Herren Blohm & Voß veranlaßte, die Hand nach weiterem Werftgelände – nach Süden und Osten – auszustrecken. Nach und nach wurde es aufgehöht und von der Werft in Anspruch genommen. Zu Anfang des Jahres 1908 wurde der Mietsvertrag mit dem Hamburger Staat abgeschlossen. Dadurch vergrößerte sich die Werft um 300000 Quadratmeter, so daß die gesamte Werftfläche 460000 Quadratmeter umfaßte, das heißt, sie wurde dreißigmal größer als die erste 1877 gebaute Werft.
Viel schneller, als man im allgemeinen gedacht hatte, ging es mit der Entwickelung vorwärts. Es war die Zeit, wo es in die Erscheinung trat, daß der Gefechtswert eines Kriegsschiffes mit der Tragweite seiner Geschütze, der Widerstandsfähigkeit der Panzerung und der Schnelligkeit gewaltig steigt, das heißt: Große Schiffe bauen! – England ging voran; Deutschland wollte nicht ins Hintertreffen kommen.
Das Reichsmarineamt bestellte bei Blohm & Voß – von 1901 bis 1904 – die großen Panzerkreuzer »Friedrich Carl«, »York« und »Scharnhorst«, dann 1906 den ersten schnellen Turbinenkreuzer »Dresden«. Dann kam der gewaltige Sprung nach oben. Es folgte der große Turbinenkreuzer »Von der Tann« und schnell nacheinander die Bestellung weiterer vier großer Kreuzer. So waren auf der Werft gleichzeitig vier der allergrößten[90] Panzerschiffe in Bau, wie sie noch nirgends so groß gebaut waren. Keiner in- oder ausländischen Werft waren jemals Aufträge in solchem Maße übertragen worden. Es stellte das also die größten Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der Werft; trotzdem blieb aber der Bau der großen und vornehm ausgestatteten Fracht- und Personendampfer die Grundlage für die Weiterentwicklung.
Früher schon war es, wo man sich von den »Windhunden des Ozeans« abkehrte zu großen, bequem und vornehm eingerichteten Schiffen, auf denen die Reisenden sich so wohl fühlten, daß sie gerne etwas länger unterwegs waren, als auf den schnellsten Schnelldampfern. Es waren immerhin keine langsamen Schiffe; sie liefen 17 bis 18 Knoten und machten die Reise nach Newyork in sieben Tagen.
Mit dem Docken der »Deutschland« war man noch fertig geworden, aber die Schiffe wuchsen fast sprunghaft. So wurde denn wieder ein neues Schwimmdock gebaut, wieder das weitaus größte der Welt, es trug 46000 Tonnen und wurde 1909 in Dienst gestellt.
Es ist hier nun nicht der Platz, ausführlich auf die weitere Entwicklung der Werft einzugehen, es sollten nur einige Streiflichter geworfen werden auf das Werk, dessen Mitbegründer Ernst Voß war, und dem seine Lebensarbeit galt. Und da würde etwas fehlen, wenn man nicht der beiden Schiffe gedächte, auf die ganz Deutschland stolz war: »Vaterland« und »Bismarck«,[91] die beide auf der Werft von Blohm & Voß gebaut wurden, nachdem schon früher dem »Vulcan« in Hamburg der »Imperator« übertragen war.
»Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus.« Es galt eine Entscheidung zu treffen über die Lage und Größe der neuen Helgen auf der vergrößerten Werft und über die Art der Helgenkrananlage, die dazu dienen sollte, die Spanten und Platten und sonstigen Bauteile für die Schiffe dorthin zu bringen, wo sie eingebaut werden. Und solche folgenschweren Entscheidungen mußten getroffen werden, ohne daß man sich klar darüber war, wie weit die Reedereien mit ihren Anforderungen gehen, bis zu welchen Größen die Schiffe noch anwachsen würden. – Machte man die Anlagen zu klein, so war man nachher nicht leistungsfähig, machte man sie zu groß, so war unnütz Geld hinausgeworfen. Und es handelte sich um sehr große Summen, die solche Anlagen kosteten. Und die Frage war nicht von der Hand zu weisen: Wird dieser Aufwärtsbewegung nicht bald ein Abwärts folgen? – Da galt es, vorsichtig zu wägen und doch für das Größte gerüstet zu sein. Die Zukunft zeigte, daß man das Richtige getroffen hatte. »Wir haben noch immer recht getan, wenn wir weit ausgriffen!« sagten beide Herren. Sie taten einen weiten Schritt vorwärts und blieben die führende Werft. –
Im Frühjahr 1911 bestellte die Hamburg-Amerika-Linie zunächst den Riesendampfer, der den Namen »Vaterland« erhielt. Im Dezember des gleichen Jahres[92] folgte die Bestellung des »Bismarck«. Es sei hier einiges über diese Schiffe angeführt.
Das 56000-Tonnen-Schiff »Bismarck« hat eine Länge – übers Heck gemessen – von 291 Metern, eine Breite von 30,5 Metern, eine Tiefe – von Kiel bis Seite Hauptdeck – von 19,2 Metern. Die Kesselanlage umfaßt 48 Wasserrohrkessel von insgesamt 20400 Quadratmeter Heizfläche. Die Gesamtleistung der Vorwärts-Turbinen – zum Antrieb der vier Schrauben – betrug bei der Probefahrt des »Vaterland« 80000 bis 90000 P.S. Das Gewicht einer Niederdruckturbine beträgt 375 Tonnen, ihr Gehäusedurchmesser ist 5,62 Meter. Diese Turbine enthält 116105 Schaufeln; die Schaufelzahl der gesamten Turbinenanlage beträgt 551665 Stück. Als Durchschnittsgeschwindigkeit des Schiffes war 22,5 Knoten zugesichert; es lief bei der Probefahrt im Mittel 25,8 Knoten.
Die Ausstattung der einzelnen Räume hier zu beschreiben, würde zu weit führen. Alle Zeitungen waren seinerzeit voll davon. Man hob hervor, daß die Gesellschaftsräume prunkvoll waren, wie dies namentlich von den amerikanischen Fahrgästen gefordert wird, doch nirgends überladen, sondern künstlerisch schön bis ins kleinste hinein. Diese Räume und die Kabinen zeichneten sich durch eine vornehme Behaglichkeit aus. Wer durch das Schiff hindurchgeführt wurde – denn allein fand man sich als Fremder darin nicht zurecht –, der staunte über das, was deutscher Unternehmungsgeist und[93] deutsche Kraft im großen und kleinen, in technischer und künstlerischer Hinsicht geschaffen hatten. Und er wurde als Deutscher mit Stolz erfüllt. –
Es sei noch angeführt, daß in der ersten Kajüte 750, in der zweiten 650, in der dritten 850 Personen Unterkunft finden konnten. Für die Unterbringung von Zwischendeckern standen außer einer Anzahl gemeinsamer Schlafsäle auch Kammern für 2, 4 und 6 Personen zur Verfügung. Und wer sich aus den Schilderungen alter Amerikafahrer das »Zwischendeck« ungemütlich vorgestellt hatte, der wunderte sich nicht wenig über diese hellen und wohnlichen Räume.
Was nützen aber die schönsten und bequemsten Einrichtungen – auch der Schiffsküchen –, wenn man sich ihrer nicht erfreuen kann, wenn man seekrank wird! – Mit einem gewissen Ingrimm sieht dann der Seekranke, wie der Seefeste sich vom Schiff wiegen läßt, mit Freude das Schauspiel der bewegten See genießt und mit Behagen die frische Seeluft atmet. – Man zeigt ihm die Speisekarte mit all den leckeren Gerichten, auf die er sich schon gefreut hatte, er hört von fernher die fröhlichen Klänge der Tafelmusik, und muß dem allen fernbleiben, weil er krank und willenlos und von allen guten Geistern verlassen auf seinem Lager liegt. Kein Arzt kann ihm helfen, keins der Mittel, mit denen ihn Freunde und Verwandte versorgt hatten, hat geholfen. – Das Schiff schlingert, daß er sich nur mühsam auf seinem Lager halten kann. – Wenn er nur erst drüben wäre! –[94]
Ja, man hat vieles versucht, um der Seekrankheit Herr zu werden, und da handelt es sich nicht nur um Sachen, die den einzelnen angehen, ihn fest machen sollen gegen diese niederträchtige Krankheit, sondern man hat auch versucht, das ganze Schiff gewissermaßen seefest zu machen: Ihm das Schlingern abzugewöhnen. Bekannt ist der »Schlicksche Kreisel«. Er hat sich im großen nicht bewährt. Als wirksamer bzw. leichter – auch im großen ausführbar – erwiesen sich die, »Schlingertanks«. Es war ein langer und mühsamer Weg, der den Neffen von Ernst Voß, den Ingenieur Hermann Frahm, Direktor der Werft von Blohm & Voß, dorthin führte, die Schlingerbewegungen auch der größten Seeschiffe dämpfen zu können. Jahrelang sind auf der Werft Versuche nach dieser Richtung hin gemacht worden; aber diese taten es nicht allein, die Wissenschaft mußte den Weg zeigen. Aus dem Zusammenwirken beider gingen dann Regeln und Konstruktionen hervor, die zum Ziele führten. Es kann darüber nur kurz dies gesagt werden: Bei den querschiffs in U-Form angeordneten Frahmschen Schlingertanks werden die Schwingungen des darin enthaltenen Wassers so abgestimmt, daß ihre Wirkung dem Einfluß der Wellen entgegenwirkt bzw. diesen das Gleichgewicht hält. Es ist überraschend zu sehen, wie dann verhältnismäßig geringe Wassermengen die Wirkung der Ozeanwellen zu dämpfen vermögen! – Eine große Anzahl von deutschen und ausländischen Schiffen ist seit dem Jahre 1910 mit[95] solchen Frahmschen Schlingertanks ausgerüstet worden, so auch ein Teil unserer ehemaligen größten Panzerschiffe.
Am 3. April 1913 fand der Stapellauf des »Vaterland« statt. Auf der Taufkanzel führte der Hamburger Bürgermeister Dr. Schröder u.a. folgendes aus:
»Als die Hamburg-Amerikanische Paketfahrt-A.-G. im Jahre 1856 ihre beiden ersten Dampfer ›Hammonia‹ und ›Borussia‹ bestellte, mußten diese, obgleich sie nur ungefähr 2000 Registertonnen groß waren, in England gebaut werden, weil der deutsche Schiffbau solchen Aufgaben noch nicht gewachsen war. Und heute baut man in Hamburg bereits Schiffe von der 25fachen Größe; Schiffe, von denen jedes 200mal so viel Raum besitzt, wie die Karavellen, die Kolumbus auf seiner großen Entdeckungsreise befehligte. Welch ein Wandel!«
Eigenartig, die Verleumdung von »Deutschlands Schuld am Weltkriege« widerlegend, klingt in unsere Zeit hinein, was der Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg im weiteren ausführte. Der Redner hob hervor, daß das Jahr 1913 ein Erinnerungsjahr sei. Das brennende Moskau hatte Napoleon ein Halt geboten. Yorck hatte dem französischen Kaiser die erzwungene Gefolgschaft gekündigt. Das preußische Volk erhob sich. Der König rief und alle, alle kamen. Der Wahlspruch der Landwehr: »Mit Gott für König und Vaterland!« hallte durchs Land. Das Franzosenjoch wurde gesprengt durch des deutschen Volkes Ansturm.[96] Dann wies der Redner auf die Zeit hin, wo wieder ein Napoleon unser Vaterland bedrohte, und wo wiederum Nord und Süd sich zu kräftiger Abwehr erhoben, um dann neu geeint das Deutsche Reich zu gründen. – Und wörtlich dann:
»Doch wenn es auch kriegsgerüstet steht, auf Frieden nur ist unser Reich bedacht. Im friedlichen Wettbewerb tritt es in die Schranken mit den anderen Nationen. So sollst denn auch du, stolzes Schiff, unserem Vaterlande geweiht, auf weitem Meere friedlichem Wettbewerbe dienen und sollst die Bande der Freundschaft zwischen den Völkern der Erde fester stets und enger knüpfen.«
Wenn man sich heute diesen Augenblick vergegenwärtigt, wenn man sich diese Worte in die Erinnerung ruft und das Hurra der Zustimmung, mit der sie von den vielen Tausenden der Besucher aufgenommen wurden, dann steigt Bitterkeit im Herzen auf: Waren es doch – außer dem alten Haß der Franzosen – die Siege im friedlichen Wettbewerb, die uns neue Gegner geschaffen hatten. Und Amerika, mit dem gerade diese Schiffe das Band der Freundschaft fester knüpfen sollten, mit dem uns schon so viele Bande des Blutes verknüpften, gab schließlich im ungleichen Kampfe den Ausschlag; dann überließ man es unserem Todfeinde, uns die Schlinge um den Hals zu legen. – Welch ein Unterschied damals und heute! – Damals auf stolzer Höhe und jetzt in einer Tiefe, aus der wir kaum einen[97] Ausweg sehen. Und doch muß es heißen: Trotzdem! – Trotzdem und alledem!
Als der Krieg ausbrach, lag »Vaterland« im Hafen von Newyork. Dort war es wohlgeborgen, wie wir glaubten. – Später wurde es beschlagnahmt, seiner prächtigen Einrichtungen beraubt und dazu benutzt, Mannschaften, Munition und Kriegsgerät mancher Art nach England zu bringen. Jetzt fährt es unter fremder Flagge. Wer hätte sich das beim Stapellauf denken können! –
Dieser Stapellauf ging glatt vonstatten. Man schätzte die Zahl derer, die dem Schiff auf seiner ersten Fahrt zujubelten, auf 30000. Und die Männer, die beim Stapellauf beteiligt waren, schüttelten sich glückwünschend gegenseitig die Hände. Keiner von ihnen hatte daran gezweifelt, daß er gelingen würde, daß jede Vorrichtung und jeder Mann zu gegebener Zeit seine Pflicht tun würde. – Der Zuschauer sieht das Schiff auf seinem Schlitten – anscheinend – ganz frei auf den Gleitbahnen liegen, bereit – nachdem die Zimmerleute die letzten Stapelblöcke und Keile entfernt haben –, seinem Elemente entgegenzueilen. Das Schiff hält aber – nach der Mitte zu – eine starke Vorrichtung fest, die erst im letzten Augenblick durch Wasserdruck ausgeschaltet wird, so daß nun erst das Schiff gleiten kann, wenn – es will. Ist die Reibung aus der Ruhe in die Bewegung zu groß, zögert also das Schiff, so bewegt die Hand, die die Hemmvorrichtung ausschaltete,[98] wieder einen kleinen Hebel: Nun strömt Druckwasser in einen oder zwei Zylinder, deren Kolben den Schlitten vorschieben. Eine kleine Strecke nur, dann gleiten Schlitten und Schiff ohne Hilfe. Schneller und schneller eilt der stolze Bau dem Wasser zu. – Das alles ist kein »Wagnis«, aber es gehört mancherlei Erfahrung dazu, damit so ein Stapellauf sicher vor sich geht.
Im April 1913 machte »Vaterland« seine Probefahrten und wurde bald darauf in Dienst gestellt. Ein Jahr früher erfolgte die Kiellegung seines Schwesterschiffes, das dann den Namen »Bismarck« erhielt.
Natürlich reichte nun für so große Schiffe Dock V nicht mehr aus; man mußte zudem damit rechnen, daß die Entwicklung und der Wettbewerb die Handels- und Kriegsschiffe noch weiter wachsen lassen würde. Nun wurden aus Dock V durch Um- und Anbauten die Docks V und VI; letzteres wurde so bemessen und gestaltet, daß es den ersten Teil zu einem späteren einheitlichen Riesendock bilden konnte. Die beiden so geschaffenen Docks tragen zusammen 78000 Tonnen. Keine andere Werft, kein inländischer oder ausländischer Hafen hat etwas aufzuweisen, das an diese Schwimmdocks heranreicht.
Am 30. Juni 1913 ließ die Firma Blohm & Voß folgendes Schreiben an ihre Geschäftsfreunde ergehen:
Wir beehren uns, Ihnen anzuzeigen, daß der Mitbegründer unseres Werkes und persönlich haftende[99] Gesellschafter, Herr Ernst Voß, sich, wegen seiner vorgeschrittenen Jahre, zu unserm großen Bedauern entschlossen hat, mit dem Ablauf unseres diesjährigen Geschäftsjahres, am 30. Juni, von der Geschäftsleitung zurückzutreten.
Wenn dadurch auch Herrn Voß' Unterschrift erlischt, so werden wir uns doch glücklicherweise seiner Mitarbeit und seines bewährten Rates auch fernerhin erfreuen dürfen.
Blohm & Voß
Kommanditgesellschaft auf Aktien.
Ernst Voß trat nun von der Geschäftsleitung zurück, im 72. Lebensjahre stehend, nachdem er mehr als 36 Jahre lang sein Wissen und Können, all seine Kraft der Werft gewidmet hatte. Der um sechs Jahre jüngere Herr Blohm blieb weiter an der Spitze des Werkes, unterstützt von erfahrenen Direktoren und tüchtigen Mitarbeitern; an seine Seite traten dann seine beiden Söhne.
Wie die beiden Begründer und langjährigen Leiter der Werft allezeit zueinander standen, zeigen die Worte, die Ernst Voß im Jahre 1911 schrieb:
»Wenn Hermann Blohm und ich jetzt auf das in 34 Jahren in gemeinschaftlicher Arbeit geschaffene Werk blicken, dann dürfen wir wohl mit unserem Schicksal zufrieden sein. Wir haben nie einen plötzlichen großen Gewinn zu verzeichnen gehabt, wie es ja in kaufmännischen Geschäften wohl vorkommt, wir[100] haben auch nie und von keiner Seite uns einer besonderen Protektion zu erfreuen gehabt, sondern der ganze Erfolg ist durch unentwegte, nicht rastende Arbeit errungen worden.
Mein Freund Hermann Blohm und ich haben uns immer gut verstanden und uns auch gegenseitig ergänzt; dadurch wurde ein inniges Zusammenarbeiten erst möglich. Ohne solch inniges gegenseitiges Verstehen und Wertschätzen wäre das Werk sicherlich nicht gelungen.«
Ernst Voß hätte nun, nachdem er von der frühen Jugend an bis ins späte Alter hin gearbeitet hatte, sich der vollen, wohlverdienten Ruhe hingeben können. Sein schönes Haus in Hochkamp, das so manche künstlerisch wertvolle Schätze barg und so sein und behaglich eingerichtet war, sein schöner, großer Garten boten genug, um ihn ans Heim zu fesseln. Und er hatte so viel Verständnis und Liebe für alles, was ihn umgab. Aber zu den bestimmten Zeiten brachte ihn doch der Dampfer auf die Werft, saß er wieder an seinem Schreibtisch, musterte er Entwürfe und Angebote, ging er durch die Werkstätten; kurz, widmete er sich geschäftlichen Dingen. Und obwohl er sich zu Hause unter der Fürsorge seiner treu sorgenden Gattin sehr wohl fühlte, verlebte er doch gerne seine Ferientage mit ihr im östlichen Holstein oder an einem schönen und stillen Weltwinkel. Zuweilen machte er sich auch alleine auf die Reise; dann erhielt[101] man von ihm ganz unerwartet einen Brief oder eine Karte aus Erfurt oder aus Schleswig oder sonst woher, wo man ihn nicht vermutete. Ja, in Erfurt! – Da stiegen dann in ihm die alten Erinnerungen auf an die Jugendzeit, wenn er an den Stätten weilte, wo er als Jüngling – voller Lernbegierde und Liebe zu seinem Fach – den Vorträgen der Männer gelauscht hatte, die nun schon lange, lange schliefen. Gedanken und Bilder, die viele Jahre unter Werftsorgen und Fachwissen vergraben gelegen hatten, tauchten wieder auf; es war, als wenn ein Griffel die Runen nachzeichnete, die damals im jugendlichen Gehirn haften geblieben waren. Und wenn er dann heim kam, erzählte er davon, und der Hörer erlebte mit ihm diese Zeit des Werdens und der Erinnerungen.
Oder er war in Eisenach. Von dort schrieb er mir:
»Bei Rauhreif und Schnee und bei Sonnenschein ist die Umgebung mit den Wäldern, die Burg und das Ganze ein so wunderbar schönes Naturbild, wie ich noch keins gesehen habe. Morgens um acht Uhr rückte ich schon aus, so daß ich den Sonnenaufgang ganz genießen konnte. Das waren geradezu ergreifende Augenblicke. Ganz einsam und allein in den Wäldern und ringsumher all diese Schönheit!«
Aber es war nicht allein die Liebe zur Natur oder zur Einsamkeit, die ihn hinaustrieb, von einem anderen Grunde noch redet ein Brief:
[102]
»Mein altes Herz scheint mir etwas ausgeleiert. – Mir sagen freilich die Ärzte: ›Mit dem Herzen kommen Sie noch lange aus.‹ – Das meinige war im allgemeinen ein fröhliches, ist es auch heute noch. Das war oder ist ein schönes Geschenk! Es hüpft mir aber oft ohne besondere Veranlassung, und dann kann ich nicht oder doch nur sehr mangelhaft schlafen. Und das hält man auf die Dauer nicht aus. Mein Arzt treibt mich denn auch fort, und ich folge, wenn auch zuweilen schweren Herzens. Doch wenn ich noch etwas leben und auch im Geschäft herumhoppeln soll, dann muß ich dem Rat des Arztes wohl folgen. Ich gehe also morgen wieder auf eine Erholungsreise. Ich könnte ja hier in Hochkamp bleiben, wo ich es so gut habe, doch da gibt's keine rechte Ruhe. Man muß schon weiter fort vom Geschäft, sonst hört man die Hämmer schlagen und das Herz schlägt mit in gar zu schnellen Schlägen. Zunächst lenke ich meine Schritte nach Mecklenburg zu meinen Kindern, von dort geht's dann weiter nach einer schönen, stillen Ecke, von denen es in unserem lieben Vaterlande ja so viele gibt ...«
Ernst Voß spricht hier von seinem Heim in Hochkamp und von seinen Kindern, dazu sei bemerkt, daß seine Tochter Helene sich mit einem Neffen von Herrn Hermann Blohm verheiratete; sie wohnt auf Gut Thürkow in Mecklenburg. Sein Sohn, Dr. jur. Voß, ist Landrichter in Hamburg. – Und dann will ich das[103] anfügen, womit Ernst Voß 1911 seine Lebenserinnerungen schließt:
»Zum Schluß muß ich noch einmal auf das Jahr 1874 zurückgreifen. Am 10. Dezember dieses Jahres starb mir, wie schon früher erwähnt, meine so heißgeliebte Frau Lina geb. Kalkmann gegen alles Erwarten, nachdem am 1. Dezember unser Töchterlein Helene geboren war. Dieser Verlust warf einen tiefen Schatten auf meinen Lebensweg und ich brauchte Jahre, um ihn zu überwinden. – Nachdem ich dann elf Jahre lang Witwer gewesen war, führte ein gütiges Geschick mich in die Nähe und in den Besitz meiner jetzigen lieben, guten Frau Alwine geb. Günter. Auch sie hat mich sehr glücklich gemacht; nicht nur ist sie den beiden Kindern erster Ehe, Hermann und Helene, eine treue und gütige Mutter gewesen, sie hat auch mir wieder ein trautes Heim geschaffen und mir durch ihre aufopferungsvolle Liebe und Treue es erst möglich gemacht, mich meinem schweren Beruf so mit andauernder Kraft und Energie widmen zu können, daß solches Resultat erreicht werden konnte. Durch ihren Fleiß und ihre Wirtschaftlichkeit hat sie mitgewirkt, das Errungene zu sammeln und zu gestalten. Meine Alwine ist mir dadurch zum reichen Segen geworden.«
In den letzten Jahren war dem Manne, der sein liebes Vaterland hatte groß und stark werden sehen, und der selbst so wacker und so erfolgreich mit zu dem gewaltigen[104] Aufschwung der Industrie beigetragen hatte, das Herz oft schwer genug geworden! – So schrieb er mir nach dem Zusammenbruch 1918:
»Über die tieftraurige Lage, in der sich unser teures deutsches Vaterland befindet, kann ich nicht schreiben. Mir ist das Herz zu voll und der Kopf zu schwer von Sorge über das, was nun werden wird ... Wir wollen aber nicht verzagen und müssen den Kopf hochhalten ... Das deutsche Volk geht nicht unter, es will und wird wieder hinauskommen und sich zu neuer Blüte entwickeln. Das walte Gott!«
In dieser festen Überzeugung ist Ernst Voß am 1. August 1920 entschlafen. Er fühlte wohl, daß sein Ende herannahe; es war, als er in Eutin zu seiner Erholung weilte. So reiste er denn heim und schlief dort, von Liebe umgeben, sanft ein.
Ich erhielt sogleich die Todesnachricht, und man bat mich, als einen »der Alten«, im Namen der Beamten und Arbeiter unserem lieben alten Herrn Voß unseren letzten Gruß und Dank ins Grab und übers Grab hinweg darzubringen. Ich tat das mit den Worten:
Verehrte Leidtragende! Ich möchte anknüpfen an das Wort, das an dem Sarge dieses uns teuren Toten steht: »Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein!« Es wird oft gebraucht, aber auf diesen Mann paßt es wie sonst selten.[105]
Schauen Sie hinüber nach Steinwärder auf die hochragenden Krangerüste und die stolzen Bauten der Werft von Blohm & Voß, horchen Sie auf das vielstimmige Lied der Arbeit, das von dort herüberklingt, und Sie werden verstehen, wie ich das Wort deute: »Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein!« – Wir leben zwar in einer Zeit, wo man über die »Hochburgen der Arbeit« vielfach anders redet, als man früher es tat, und als wir Alten es gewohnt sind. Aber, wir werden arbeiten und sein, oder wir werden nicht sein! –
Wir lebten in einer Zeit, die überragende Männer entstehen lassen konnte. Sie gab ihnen erstrebenswerte Ziele, so daß sie all ihr Wissen und Können, ihre ganze Lebens- und Willenskraft daran setzten, Großes zu schaffen: etwas, das allgemeine Bewunderung, im Auslande oft auch Neid erregte. – So wurde von den beiden Männern, deren Namen die Werft dort drüben auf Steinwärder trägt, ein Werk geschaffen, das Tausenden Arbeit, ihnen und ihren Familien Brot gibt. Die Namen Hermann Blohm und Ernst Voß sind für alle Zeiten mit dem Aufblühen der deutschen Industrie, besonders aber mit den hervorragendsten, den von aller Welt bewunderten Leistungen des deutschen Schiffbaus verknüpft. Daher gilt Ernst Voß dies Wort: »Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein.«
Wir Älteren und Alten, wir haben dies Werden und Wachsen der Werft miterlebt. Viele freilich sind schon dahingegangen, haben ihren ewigen Feierabend bekommen;[106] andere haben sich, fern vom Werftgetriebe, zur Ruhe gesetzt; andere sind noch dort drüben auf ihrem Posten. Eine ganze Schar solcher, die grau geworden sind in der Arbeit, steht heute hier. Wir sind gekommen, um Abschied zu nehmen von einem Manne, dem wir viel, sehr viel zu danken haben. Und viele, die später kamen, die noch in der Vollkraft ihrer Jahre stehen, sind heute als Vertreter der auf der Werft von Blohm & Voß schaffenden Männer zu dem gleichen Zwecke hier. Sie alle wissen, was Ernst Voß dem Werke war, auf dem ihr Lebensschiff seinen Ankergrund fand.
Die Jüngeren und Jüngsten freilich, die sahen in den letzten Jahren nur noch an einigen Tagen der Woche gegen Mittag einen alten Herrn durch die Werkstätten gehen. Der blieb hier und da prüfend und sinnend vor einer Maschine oder einem Arbeitsstück stehen, sprach hier mit einem alten Arbeiter und nickte dort einem Jungen freundlich zu. Dann sagte wohl von diesen einer dem anderen: »Das ist der alte Herr Voß.« – Sie, die Jungen, kannten ihn nicht anders. Wir aber haben ihn anders gekannt! Er kam täglich zu uns ins Bureau und ging von einem Zeichenbrett zum anderen. Sein scharfes Auge, sein durchdringender Verstand fand die Vorzüge und Schwächen der Konstruktion; seine reiche Erfahrung, seine vielfachen Kenntnisse halfen Besseres schaffen. Sein Urteil war uns oft ein Wegweiser zum Ziel. Seine Anerkennung hob uns empor, wir sahen in ihm den Meister. Die Schwächen tadelte er nicht[107] selten mit Humor, in einer Art, daß dem Betreffenden die Erkenntnis erst nach einigem Nachdenken kam. Nicht anders in den Werkstätten. Er kannte Arbeit! Hatte er doch selbst eine lange, eine nicht leichte Lehrzeit durchgemacht. Er hatte sich dann ein reiches Wissen erworben, und er hatte am Zeichenbrett mancher Idee Form und Leben gegeben. Ja, er kannte Hand- und Geistesarbeit. Und er kannte auch Menschen!
Es ist in dieser Zeit viel die Rede vom, »Aufstieg der Begabten«. Man möchte mit allen Hilfsmitteln der Wissenschaft die Begabten aus der Masse auswählen und sie dann hegen und züchten. Man hat darin recht: Deutschland braucht überragende Männer! – Menschenwertung! Das sollte – mehr denn je! –die Losung sein. Aber schon Goethe sagte: »Man muß ein bedeutender Mensch sein, um wieder tüchtige und talentvolle Leute zu erkennen und zu wählen. Denn man sage, was man will, der Gleiche kann nur vom Gleichen erkannt werden ...« Darum: Es ist kein Zufall, sondern es liegt tief in ihrem Wesen begründet, daß überragende Männer, wie Ernst Voß einer war, auch gute Menschenkenner sind. Ein gleiches wissen wir noch von manchem anderen Begründer und Führer unserer Großindustrie. So hat denn dieser Mann, dessen Augen nun für immer geschlossen sind, mit scharfem Blick den Funken erkannt, der in manchem Begabten schlummerte. Und er hat ihn emporkommen lassen »aus dem Dunklen ins Helle«. Nicht mit dem Mittel, das man[108] Protektion nennt, sondern dadurch, daß er ihm Gelegenheit gab, zu zeigen, was er könne. Leicht war daher manchem der Aufstieg nicht. Aber nicht wahr, liebe Freunde, alte und junge Berufsgenossen aus den verschiedenen Abteilungen der Werft, ist nicht mancher von Ihnen hier, der es diesem Manne noch über das Grab hinaus dankt, daß er ihm Gelegenheit gab, Wissen und Können zur Geltung zu bringen?! – So gilt auch hier das Wort: »Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein!« –
Ich möchte nicht unterlassen, hervorzuheben, daß dieser Grundzug seines Wesens, die Herzensgüte, der Wunsch und Wille, anderen zu helfen, bei ihm ein Gegengewicht fand. Das war seine klug abwägende Vorsicht, dann seine energische Art, das Schlechte abzuwehren, und das feste Zupacken, wo es galt, das Rechte zu fassen. Ich wies hier am Grabe auf das erstere hin, weil Fernstehende meist glauben, die Schöpfer so großer Werke sähen in den Menschen nur Werkzeuge. Die das meinen, kennen nichts vom inneren Leben und Erleben solcher Männer, übersehen die Macht des Einflusses, die von der Persönlichkeit ausgeht, die sich – unwägbar und unsichtbar! – durch die Werft bis tief hinein in die Werkstätten erstreckt. Gerade bei den Herren Blohm und Voß zogen sich seit jeher solche Fäden, die den Menschen mit dem Menschen verknüpfen, durchs Werk, gab es außer den geschäftlichen auch persönliche Beziehungen. Und beide Herren legten großen Wert[109] darauf, daß das so war. – Wahrlich, es gehören viele hervorragende Fähigkeiten und Eigenschaften dazu, um ein bedeutendes Werk, wie die Werft von Blohm & Voß ist, aus kleinen Anfängen so groß zu machen.
Und nun? Wir stehen an einem Grabe. Und das nicht nur heute und nicht nur hier. – Vor kurzem schrieb mir der Verstorbene: »Sie sollen wieder ein Lebenszeichen von mir haben. Ja, ein Lebenszeichen, denn manchmal wundert man sich, daß man es bei all dem Toten und Traurigen unserer Zeit noch durchhalten kann. Zum Glück gibt es doch auch wieder einige Lichtpunkte ...« – Ja, Ernst Voß wußte die Lichtpunkte im Leben zu finden und festzuhalten. Er hatte Sonne im Herzen! Als einen solchen Lichtpunkt bezeichnete er dann die erhebende Feier, die in Flensburg stattfand, als nach der glänzenden Abstimmung die fremden Truppen abzogen, als die Stadt wieder frei und deutsch war. Das war ihm ein Lichtblick, denn er war ein treuer Sohn seiner lieben, alten, schleswig-holsteinischen Heimat, deren beste Stammeseigenschaften in ihm sich vereinigten. Als ich das in seinem Briefe las, fiel mir das Dichterwort ein: »Der ist in tiefster Seele treu, wer die Heimat liebt wie du.« Aus der Heimatliebe wächst die Vaterlandsliebe, die Ernst Voß tief im Herzen trug. Er ließ auch in den traurigen und schweren Zeiten der letzten Jahre die Hoffnung nicht fahren, daß wir uns wieder aufraffen würden. Und er betonte, daß es unsere heilige Pflicht sei, uns wieder einen Platz an[110] der Sonne zu erobern, daß es dazu aber nur einen Weg gebe: Es ist der, von dem der Ingenieur und Dichter Heinrich Seidel sagt:
»Nur die Arbeit kann erretten,
Nur die Arbeit sprengt die Ketten,
Arbeit macht die Völker frei.«
So forderte denn auch Ernst Voß: Arbeit! Arbeit! und wieder Arbeit! In solchen Gedanken schritt er durch die hohen Hallen der Fabrik; das hob er hervor in seinen Briefen und im Kreise der Bekannten. Und wenn er davon sprach, dann wurde seine Stimme hell und hart. Arbeit war ja sein ganzes Leben gewesen! –
So war er uns ein Vorbild. Und heute in dieser Morgenstunde, wo wir an seinem Grabe stehen, wollen wir es uns und ihm geloben: Wir wollen seine Mahnung beherzigen. Wir wollen Täter des Wortes sein. – Männer der Werft von Blohm & Voß, mögen Sie in den Bureaus, in den Kontoren oder in den Werkstätten schaffen, Sie alle, die Sie mit den Hirnen und den Händen arbeiten, helfen Sie, soviel an Ihnen liegt, daß dort drüben auf Steinwärder wieder in vollen und starken Akkorden das hohe Lied der Arbeit erklingt, daß es von dort hinüberhallt nach der alten Hansestadt und neues Leben erwecken hilft. Das ist die beste Ehrung für den Mann, der dort so viele Jahre, oft in schwerer Sorge, oft mit stolzer Freude gearbeitet hat.[111]
Das Schweigen des Toten sei eine Predigt für die Lebendigen! Eine Mahnung zur Treue! Eine Mahnung zur Arbeit!
Ernst Voß aber, der nun als einer der Ältesten von den Alten eingegangen ist zum ewigen Feierabend, er ruhe in Frieden! Ehre seinem Andenken!
Amen!
Damit will ich schließen. Nur einen Wunsch noch will ich anknüpfen: Möge es in der kommenden schweren Zeit unserem deutschen Volk nicht fehlen an Männern, die – wie Ernst Voß – sich emporzuarbeiten vermögen! – Je schwerer die Zeit, desto mehr kommt es darauf an, daß die Fähigsten zu Führern auf den verschiedenen Wirtschaftsgebieten werden. Was im Großen gilt, gilt auch im Kleinen. Möge jeder bestrebt sein, an seinem Platze sich auszuzeichnen.
Freie Bahn den Tüchtigen![112]
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