Wilhelm Wien

Ein Rückblick

Am 13. Januar 1864 bin ich in Gaffken bei Fischhausen in Ostpreußen geboren. Meine Eltern stammen beide aus Mecklenburg, woher in damaliger Zeit viele Landwirte in Ostpreußen einwanderten, wo das Land noch billig war. Wie der bis in den Anfang des 18. Jahrhunderts zurückgehende Stammbaum aufweist, waren fast sämtliche Vorfahren Pächter von Gütern in Mecklenburg und die Landwirtschaft der überlieferte Familienberuf. Der Name meiner Familie hat nichts mit der österreichischen Hauptstadt zu tun. Ob er die niederdeutsche Bezeichnung für Wein sein soll oder wie von manchen behauptet wird Wiese bedeutet, kann ich nicht entscheiden. Unser Familienwappen enthält die Weintraube und die Getreideähre und soll wohl auf den Namen und gewöhnlichen Familienberuf hinweisen. Der Name Wien ist ziemlich selten, kommt aber vereinzelt in ganz Norddeutschland vor und die Abarten Wiens, Wieneken zeigen, daß ihm eine bestimmte Bedeutung zugekommen ist. In Westfalen kommen Ortsbezeichnungen wie Wienhausen vor.

Während die meisten meiner Vorfahren als Gutspächter ein bescheidenes Leben führten, gelang es einem noch in Mecklenburg ansässigen Zweig der Familie, einen größeren Landbesitz zu erwerben und zu größerer Wohlhabenheit zu gelangen. Von dem überlieferten Beruf des Landwirts wichen zwei Brüder meines Vaters ab, die Kaufleute wurden. Da sie sehr tüchtig waren, wurden sie schon in jungen Jahren Teilhaber eines großen Getreideexportgeschäftes[1] in Königsberg in Ostpreußen, das sie bald ganz übernahmen.

Da sie rasch zu Wohlhabenheit gelangten, so ermöglichten sie es ihren drei Brüdern, die Landwirte geworden waren, sich in Ostpreußen eine selbständige Existenz zu verschaffen. Der älteste der Brüder und mein Vater kauften mit dem ihnen geliehenen Gelde Güter, während der jüngste eine große Staatsdomäne pachtete. Leider war das Gut, das mein Vater kaufte, Gaffken, zu groß und außerdem in schlechtem Zustande, so daß er zu große Geldmittel von seinen Brüdern leihen mußte, um das Gut in Ordnung zu bringen. Es mußte sehr viel gebaut werden und die meisten Wirtschaftsgebäude des Gutes stammen von meinem Vater. Es war ihm aber nicht möglich, die geliehenen Summen rechtzeitig zurückzuzahlen, und so kaufte, als ich zwei Jahre alt war, mein Onkel Gaffken, während mein Vater ein kleineres Gut, Drachenstein bei Rastenburg in Ostpreußen erwarb. Mein Vater hat diesen Wechsel niemals ganz verwunden, da er anderthalb Jahrzehnte seines Lebens auf die Einrichtung und das Ausbessern von Gaffken verwendet hatte und nun von neuem beginnen mußte. Es kam hinzu, daß er zu Anfang in Drachenstein Mißernten hatte und schwer kämpfen mußte. Obwohl er ein ausgezeichneter Landwirt war, von dem die Leute in Drachenstein noch heute sprechen, war er doch in seiner Tätigkeit durch ein körperliches Leiden behindert, das ihm das Gehen erschwerte. Er war als kleines Kind gestürzt und hatte eine Rückgratsverletzung erlitten, die mit den Jahren schlimmer wurde, so daß er nur im Rollstuhl gefahren werden konnte. Diese Behinderung meines Vaters brachte es mit sich, daß meine Mutter sich mehr um die Landwirtschaft kümmern mußte, als gewöhnlich Landfrauen zukam. Sie war eine tüchtige und energische Frau, konnte aber doch nicht die Tätigkeit eines[2] Mannes vollständig ersetzen. Mein Verhältnis zu meinen Eltern war immer ein sehr gutes. Mein Vater pflegte, da er weder gehen noch reiten konnte, in einem kleinen Wagen herumzufahren und die Arbeiten zu beaufsichtigen. Ich fuhr sehr häufig mit und lernte da von Jugend auf den landwirtschaftlichen Betrieb kennen. Mein Vater sprach dann von seinen Erfahrungen namentlich bei der Ausführung landwirtschaftlicher Bauten und von Drainagen, da er sowohl in Gaffken wie in Drachenstein viel gebaut und drainiert hatte. Er war einer der ersten, der erkannte, daß die früher üblichen, aus Stein gebauten Getreidescheunen unpraktisch waren, weil sie zu viel kosteten, und der Luft zum Trocknen des Getreides nicht genug Zugang gestatteten. Er baute eine der ersten, ganz aus Holz errichteten Scheunen mit Bretterverschalung. Auch hatte er großes Verständnis für die Baukonstruktionen und hat, ohne eigentliche technische Schulung zu besitzen, die Entwürfe zu seinen Bauten selbst gemacht und ausführen lassen. Dann war er ein ausgezeichneter Pferdekenner, der den Wert und die Leistungsfähigkeit eines Pferdes mit einem Blick beurteilen konnte. Die Fahrten mit meinem Vater auf den Feldern unseres Gutes gehören zu meinen liebsten Erinnerungen. Meine Mutter besorgte die ganze Hauswirtschaft und die Molkerei. Außerdem besaß sie große Kenntnisse des Gartenbaus und hatte nicht nur einen großen Teil des Gartens neu bepflanzt, sondern sorgte auch ohne eigentlichen Gärtner nur mit Hilfe von Taglöhnern für den Gemüsegarten. Sie hatte ein wunderbares Gedächtnis und hatte die ausgebreitetsten Kenntnisse in der Geschichte und Literatur. Von Natur schwerblütig, nahm sie landwirtschaftliche Sorgen ernster als für diesen Beruf zweckmäßig ist. Die Unsicherheit in den Ernten, die eine Folge des rauhen ostpreußischen Klimas ist, brachte häufig finanzielle Schwierigkeiten, die meine Mutter bedrückten. Sie ging ganz in ihrer Tätigkeit auf und gönnte sich nur selten eine kleine Reise. Ihr Aufwand für Kleider und Luxus war überraschend gering. Meine Mutter und ich standen uns besonders nahe und als ich älter war, pflegte sie mir ihr Herz auszuschütten. Ich selbst war mehr nach der Art meines Vaters und mehr geneigt, alles in mir selbst zu verarbeiten. Meine Jugendzeit war deshalb eine einsame, da ich auf den Nachbargütern, mit denen wir verkehrten, keine Altersgenossen fand.

So kam es, daß ich in früher Jugend neben den Vorteilen und Reizen des Landlebens auch die Schwierigkeiten und Sorgen miterlebte.[3] Zwar liebte ich das Landleben über alles und mochte niemals in der Stadt sein. Mit einem Knaben aus dem Dorfe, der mein Spielkamerad war, streifte ich durch die Felder und Wiesen und kannte jeden Fleck in der ganzen Umgegend. Ich beobachtete die Tiere und Pflanzen, aber nicht wie ein Zoologe oder Botaniker, da ich wenig Sinn für Systematik hatte und auch niemals in meinem Leben ein Sammler war. Ich lernte früh Schwimmen, Schlittschuhlaufen und Reiten und ritt schon als kleiner fünfjähriger Knabe in die Stadt, um die Post zu holen. Aber ich wurde nie ein schulgerechter Reiter und mein Vater war immer unzufrieden mit meiner Reitkunst.

Bevor ich noch zur Schule ging, hatten meine Eltern eine französische Schweizerin ins Haus genommen, damit ich französisch lernte. In der Tat konnte ich sehr früh französisch sprechen. Da ich aber noch nicht schreiben und lesen konnte, so hatte ich von diesen französischen Kenntnissen nur den Vorteil, daß ich das Französische verhältnismäßig gut auszusprechen vermochte. Den ersten Unterricht erhielt ich in der Dorfschule. Da dieser Unterricht nicht genügte, so nahmen meine Eltern einen Hauslehrer ins Haus. Dieser Unterricht war sehr unregelmäßig und mangelhaft, ich lernte wenig und meine Eltern entschlossen sich, mich auf das Gymnasium in Rastenburg zu schicken. Da die Entfernung zu groß war, um sie zu Fuß zurückzulegen, so ließen meine Eltern einen geschlossenen Wagen bauen, mit dem ich jeden Tag zur Schule fuhr. Mittags aß ich bei dem Direktor des Gymnasiums. – Die Erinnerungen an diese Schulzeit sind für mich keine angenehmen. Die Lehrer waren unzufrieden mit mir, weil meine Vorbildung eine sehr lückenhafte war. Besonders in der Mathematik war ich ganz ohne Kenntnisse und ich konnte dem Unterricht deshalb auch nicht folgen. Die Schüler betrachteten mich mit Mißgunst, weil ich mit einem Wagen zur Schule fuhr, was den demokratischen Grundsätzen der Schule widersprach. Mir selbst war die Schule in der Stadt verhaßt, und ich wollte lieber durch die heimatlichen Fluren und Felder streifen und das freie Leben führen, das ich von Jugend an gewohnt war. Mit zwölf Jahren lernte ich ein Gewehr führen und auf die Jagd gehen und wurde bald zu Jagden mitgenommen, wodurch aber mein Interesse für die Schule nur vermindert wurde.

In den Schulferien kam ich mit meinen Vettern zusammen, die etwas jünger waren als ich und in Königsberg lebten. Ihr[4] Vater war der Besitzer von Gaffken und ich ging meistens in den Sommerferien nach Gaffken, während die Vettern in den Osterferien nach Drachenstein zu kommen pflegten. Wir benahmen uns, wie es Knaben in dem Alter zu tun pflegen, und führten zusammen viele Knabenstreiche aus. In Gaffken war das Baden in der See immer das schönste, wir fuhren in einem besonderen Badewagen ans Meer, wo die Küste ganz einsam ist und jede Badeeinrichtung fehlte. Obwohl wir alle schwimmen konnten, war das Baden in der See nicht ungefährlich, weil bei starkem Winde außer dem Wellenschlage starke Strömungen vom Lande fortzogen. Ich erinnere mich, daß wir einmal zu weit hinausgeschwommen waren und nur mit größter Anstrengung und sehr ermüdet die Küste wieder erreichten.

Es wird jedem Menschen vorkommen, daß gewisse Augenblicke im Leben sich im Gedächtnis festsetzen und von allen anderen, die flüchtig dahinschwinden, unterscheiden. So erinnere ich mich, daß ich an meinem Geburtstage, als ich 15 Jahre alt wurde, mit Schlittschuhen allein auf das Eis der an der Deine überschwemmten Wiesen ging und lange in Betrachtungen über mein zukünftiges Leben versank, das ich so tüchtig wie möglich gestalten wollte, ohne natürlich über den Weg im klaren zu sein.

In diesem Jahr trat eine wesentliche Veränderung in mein Leben ein. Der Direktor des Gymnasiums in Rastenburg, der mit meinem Vater befreundet war, wöchentlich einmal zum Kartenspiel mit ihm zusammenkam und manchmal die Ferien bei uns verbrachte, riet ihm, mich aus der Schule zu nehmen und Landwirt werden zu lassen, was ja doch das naturgemäße sei. Da ich das einzige Kind meiner Eltern war, so war es ja natürlich der Wunsch meiner Eltern, daß ich später einmal das Gut übernehmen und ihr Lebenswerk fortsetzen sollte. Wegen meiner lückenhaften Vorbildung waren meine Leistungen auf der Schule keine guten und besonders in der Mathematik unzulänglich. Aber meine Eltern waren der Meinung, daß es für meine Ausbildung unbedingt nötig sei, das ganze Gymnasium durchzumachen. Sie nahmen mich daher aus der Schule, ließen mir aber von den besten Lehrern des Gymnasiums Privatunterricht geben, um die Lücken meiner Ausbildung auszufüllen. Bei diesem Unterricht gelang mir dieses schnell. Besonders lernte ich in kurzer Zeit bei einem ausgezeichneten Lehrer der Mathematik, Switalski, nicht nur die erforderlichen Kenntnisse erwerben, sondern auch großes[5] Interesse an der Mathematik gewinnen. Ich begann mich schon bald mit der Infinitesimalrechnung zu beschäftigen, die eigentlich außerhalb des Bereichs der Schule lag. Nachdem ich ein Jahr lang diesen Unterricht genossen hatte, beschlossen meine Eltern, mich wieder auf die Schule zu schicken, aber nicht wieder nach Rastenburg, sondern nach Königsberg auf das Altstädtische Gymnasium, wo auch meine Vettern waren. Dort machte mir die Schule keine Schwierigkeit mehr. Ich brauchte nur wenig mehr zu Hause zu arbeiten und hatte keine Schwierigkeiten, die Schulaufgaben zu lösen. Ich trieb vieles andere, las Goethe, konnte bald den Faust auswendig und spielte während der Schulstunden Schach. Morgens kamen meine Vettern und ich häufig zu spät zur Schule und drangen dann, da die Tür verschlossen war, durch die Fenster, um noch gerade unsere Plätze zu erreichen. Trotz dieser Unregelmäßigkeiten beendete ich die Schule früher, als eigentlich vorgeschrieben war. Da mein Interesse sich hauptsächlich der Mathematik und Naturwissenschaft zugewandt hatte, so beschloß ich diese Wissenschaften zu studieren, obwohl der Wunsch meiner Eltern nach wie vor der blieb, daß ich Landwirt werden sollte. In der Hauptsache war es allerdings der Wunsch meines Vaters, während meine Mutter dem Gedanken, daß ich studieren sollte, mehr und mehr zuneigte.

So ging ich im Sommer 1882 nach Göttingen. Es war das erste Mal, daß ich aus der Heimat fortkam und das Leben und Treiben an der Universität war mir völlig neu und fremd. Der Hauptlehrer in der Mathematik war damals in Göttingen H.A. Schwarz, an den ich durch den Königsberger Mathematiker Heinrich Weber empfohlen war. Seine ganze Art und seine Vorlesungen zogen mich aber so wenig an, daß ich außerordentlich wenig studierte. Da ich von den Göttinger Studenten niemand kannte und Anschluß suchte, kam ich mit dem Korps Hannovera in Berührung und trat dort als Fuchs ein. Die vom Korps gemachten Ansprüche waren so groß, daß schon aus diesem Grunde ein regelmäßiges Studieren unmöglich war. Es herrschte damals noch bei den studentischen Verbindungen der Trinkzwang, der mir sehr wenig zusagte. Außerdem stellte die Verbindung mehr Ansprüche an Aufwand, als sich mit meinem Wechsel vertrug. Mein die Unabhängigkeit liebendes Wesen konnte sich mit dem Zwang des Korpslebens nicht befreunden und ich beschloß daher, das Studium in Göttingen vorzeitig abzubrechen. Ich nahm Urlaub und reiste[6] bereits vor dem Schluß des Sommersemesters ab. Meine Eltern hatten mir noch gestattet, eine kleine Reise zu machen und so fuhr ich denn zunächst nach Köln, wo ich den ersten großen gotischen Dom sah und dann den Rhein hinauf bis Mainz. Die innere Unzufriedenheit, die eine Folge des verbummelten Semesters war, die Unsicherheit der Zukunft, die Unentschlossenheit, was ich eigentlich werden sollte, ließen einen wirklichen Genuß der Reise nicht aufkommen. Ich weilte überall nur kurze Zeit und fuhr über Frankfurt nach Thüringen, das ich auch noch sehen wollte. Ich wanderte von Eisenach über die Wartburg, ging ein Stück auf dem Rennsteig, eilte dann nach Weimar, um die Goetheschen Stätten zu sehen, und fuhr dann, da meine Geldmittel gänzlich erschöpft waren, direkt nach Hause. Meine Eltern waren von meinem Studium wenig erbaut. Ich hatte viel mehr Geld verbraucht, als mit unseren Verhältnissen verträglich war, und mußte gestehen, daß ich nichts studiert hatte. In der damaligen Gemütsverfassung erklärte ich mich nun bereit, Landwirt zu werden. Mein Vater wollte mich auf ein Gut in Mecklenburg zum Erlernen der Landwirtschaft schicken, ich kam aber dort nicht gleich an, so riet er mir, zunächst mein Militärjahr abzudienen. Ich ging nach Danzig, um bei den schwarzen Husaren einzutreten, wurde aber nicht angenommen und ging wieder nach Hause zurück. Nun schlug mein Vater mir vor, auf einem nahen Gut die Landwirtschaft zu erlernen. Ich gab mir dort soviel ich konnte Mühe, den landwirtschaftlichen Betrieb kennenzulernen. Hierbei wurde es mir besonders schwer, jeden Tag um 1/25 Uhr aufzustehen. Ich habe mein ganzes Leben lang viel Schlaf gebraucht und konnte Schlafmangel durchaus nicht vertragen. Mein gütiger Lehrmeister kam bald zu der Überzeugung, daß ich nicht für die Landwirtschaft geboren sei. Nachdem er insgeheim mit meinem Vater verhandelt hatte, teilte er mir eines Tages seine Meinung mit und schlug mir vor, zum Studium zurückzukehren.

So ging ich denn nach Berlin, wo ich verspätet anlangte und wieder mit dem Studium der Mathematik und Physik begann. Ohne bestimmte Anleitung hörte ich alle möglichen Vorlesungen durcheinander, wurde mir aber bei den Vorlesungen von Kronecker und Weierstraß bald klar, daß die reine Mathematik, wie sie sich neuerdings entwickelt hatte, nichts für mich sei. Von Physik wußte ich damals so gut wie nichts, da wir auf der Schule nur wenig davon erfahren hatten. So war ich über meinen Lebensberuf[7] völlig im unklaren und ich tastete nach allen möglichen Richtungen, sogar nach der literarischen Seite. Auf diese Weise war auch mein zweites und drittes Studiensemester noch wenig von systematischer Arbeit angefüllt. Meine Eltern waren natürlich sehr unzufrieden mit mir, und die Frage, ob ich nicht doch Landwirt werden sollte, wurde wieder aufgeworfen. Dann trat ich im Wintersemester 1883–1884 in das Helmholtzsche Laboratorium ein und kam nun zum ersten Mal mit der Physik wirklich in Berührung. Zwar waren meine Kenntnisse höchst lückenhaft und ich erinnere mich, daß Heinrich Kayser, der damals Assistent von Helmholtz war, sehr wenig zufrieden mit mir war. Ich habe später gehört, daß er diese ungünstige Meinung, die er sich von mir gebildet hatte, niemals ganz abgelegt hat. Immerhin fing ich an zu lernen, wie man physikalisch arbeitet und es war ein großer Vorteil, daß man damals nicht wie jetzt nur wenige Stunden in der Woche arbeiten konnte, sondern den ganzen Tag. Im Sommer 1884 ging ich zu Quincke nach Heidelberg, bei dem ich sehr viel gelernt habe. Ich war damals der einzige, der physikalisch in Heidelberg arbeitete, da P. Lenard gerade im Bunsenschen Laboratorium tätig war. Quincke beschäftigte sich daher viel mit mir und war unzufrieden, wenn ich einmal fortblieb. So hatte ich einmal[8] den amerikanischen Astronomen J.E. Keeler, den ich in Berlin kennengelernt hatte, als er mich in Heidelberg besuchte, bis nach Rüdesheim begleitet und das Laboratorium versäumt, worüber Quincke schon ungehalten war. In den Pfingstferien machte ich mit anderen Studenten eine Wanderung durch den Schwarzwald, der mir noch in schöner Erinnerung geblieben ist.

Im Winter 1884–1885 ging ich wieder nach Berlin zu Helmholtz zurück. Ich erhielt damals schon das Thema zu einer Doktorarbeit[9] über die Beugung des Lichtes an photographischen verkleinerten Gittern, eigentlich viel zu früh, hatte ich doch kaum zwei Semester wirklich Physik studiert. Tatsächlich gelang es mir auch nicht, Mikrophotographien von Gittern herzustellen, da ich vom Photographieren keine Ahnung hatte. Bei dem Herumexperimentieren mit starken Lichtquellen, besonders mit Sonnenlicht beobachtete ich die Beugung an scharfen Schneiden, bei denen Polarisation und Färbung des Lichtes auftritt. Helmholtz interessierte sich sehr dafür und so gelang es mir in der kurzen Zeit von zwei Semestern eine Dissertation anzufertigen. Meine Eltern, die von dem Gange des Studiums nichts wußten, hatten erfahren, daß man nach 6 Semestern das Doktorexamen machen könne und erwarteten das von mir als selbstverständliche Leistung. Aber bei der Lückenhaftigkeit meines Studiums war ich eigentlich für die Doktorprüfung noch gar nicht genügend vorgebildet und hatte außerdem noch das Unglück, von dem Mathematiker Fuchs so geprüft zu werden, daß ich trotz meiner immerhin nicht schlechten mathematischen Kenntnisse bei ihm sehr schlecht abschnitt, im ganzen also eine recht mangelhafte Prüfung ablegte. Immerhin hatte ich einen Abschluß meines Studiums erreicht und es entstand die Frage, wie sich mein Leben weitergestalten sollte.

Zunächst wurde es durch ein unerwartetes Ereignis beeinflußt. Als ich in den Osterferien 1886 zu Hause weilte, und mit meinem Vetter Theodor, der Landwirt wurde, gerade die Drainage in der Nähe unseres Gutshofes untersuchte, stiegen plötzlich auf dem Gutshofe dunkle Wolken auf. Bald schlugen aus der Meierei helle Flammen empor und eine große Feuersbrunst entstand, die eine größere Zahl von Gebäuden einäscherte, bevor die Feuerspritzen von den benachbarten Gütern angelangt waren. Meine Mutter war gerade auf Reisen, es war selbstverständlich, daß ich meinem Vater helfen mußte. Das Feuer hatte besonders gute Gebäude betroffen, während der alte Hof gerettet worden war. Die Versicherungssumme genügte nicht, um die Gebäude vollkommen wieder herzustellen und so mußten die Materialien eines Gebäudes des alten Hofes, das niedergerissen wurde, zum Bau verwendet werden. Ich blieb während des ganzen Sommers zu Hause, um meinen Eltern beim Aufbau der Gebäude zu helfen.[10] Auch im darauffolgenden Winter konnte ich Drachenstein noch nicht ganz verlassen. Ich ging zwar eine Zeitlang nach Berlin, um im Laboratorium von Helmholtz weiterzuarbeiten und begann Untersuchungen über die Durchlässigkeit dünner Metallschichten für das Licht. Die natürliche Entwicklung schien nun noch dahin zu führen, daß ich Landwirt werden sollte. Die Zweifel und Kämpfe der Berufswahl erfüllten die nächsten Jahre.

Helmholtz war im Jahre 1883 Präsident der Physikalisch-technischen Reichsanstalt geworden und Kundt sein Nachfolger an der Berliner Universität. Ich fing an bei ihm wissenschaftlich zu arbeiten, aber weder bei ihm noch bei Helmholtz fand ich Ermutigung, die wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen. Allen schien es natürlich zu sein, daß ich als einziger Sohn eines ostpreußischen Gutsbesitzers Landwirt wurde, ich könnte ja die Wissenschaft in meinen Mußestunden so viel treiben wie ich wollte, ohne mich dem Risiko der wissenschaftlichen Laufbahn auszusetzen. Ich war in einer schweren Lage, hatte keine Erfahrung und keine Unterstützung in Universitätsangelegenheiten; wenn ich in der Wissenschaft keinen Erfolg hatte, aber die Landwirtschaft endgültig aufgab, würde mein Leben leicht ein verfehltes sein. Die Sorge und Kämpfe um die Berufswahl haben mir damals schwere Stunden bereitet. Auf der einen Seite hing ich am Landleben, mir war der Gedanke schrecklich, daß unser schönes Gut in andere Hände übergehen sollte, das mir eine unabhängige Existenz für später gesichert hätte. Auf der anderen Seite fühlte ich, daß die Landwirtschaft nicht mein natürlicher Beruf war, die technischen Seiten zwar wurden mir leicht, aber meine Kenntnis des Viehs, besonders der Pferde, war mangelhaft und ich hätte mir nicht zugetraut, ein Pferd zu kaufen. Eine besondere Schwierigkeit machte mir auch der Verkehr mit den Arbeitern. So leicht es mir in meinem ganzen Leben gefallen ist, mit gebildeten Leuten zu verkehren und zu verhandeln, so schwierig war mir immer der Verkehr mit nicht gebildeten und undisziplinierten Leuten. Als weitere Schwierigkeit kam hinzu, daß das Gut meinen Eltern gehörte und fraglich war, ob sich eine Möglichkeit für mich bieten würde, die Wirtschaft in absehbarer Zeit zu übernehmen. Meine Eltern waren nicht wohlhabend, es wäre schwierig für das Gut gewesen, noch eine zweite Familie zu ernähren. Immerhin waren in jenen Jahren die Ernten gut und die wirtschaftlichen Erfolge befriedigend. Es wäre denkbar gewesen, das Gut zu behalten, und[11] doch die wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen. Aber ich sah voraus, daß dies ein bedenklicher Weg gewesen wäre. Ich war mir klar darüber, daß sowohl die Landwirtschaft auf einem ostpreußischen Gut, wie die Wissenschaft den ganzen Mann beanspruchten, wenn nicht ein Mißerfolg entstehen sollte.

Da kam die Entscheidung schneller als ich erwarten konnte. Im Jahre 1889 trat eine vollständige Dürre und eine gänzliche Mißernte ein, so daß die Ersparnisse der letzten Jahre aufgezehrt wurden. Als sich nun im Frühjahr 1890 ein Käufer für das Gut einstellte, entschloß sich mein Vater zum Verkauf. Für mich selbst bot sich die Gelegenheit, als Assistent von Helmholtz in der Physikalisch-technischen Reichsanstalt einzutreten. Meine Mutter war damals schwer krank und konnte sich nur wenig um den Umzug kümmern. In derselben Zeit, in der wir uns anschickten, die alte Heimat zu verlassen, trat ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung ein, die Entlassung Bismarcks. Da meine Mutter, eine große Verehrerin des gewaltigen Staatsmannes, krank zu Bett lag, wagten wir nicht, ihr Zeitungen zu bringen, weil wir wußten, daß die Nachricht sie furchtbar aufregen würde. Für uns jüngere, die wir national fühlten, war die Nachricht eine schreckliche Enttäuschung. Wir hatten geglaubt, daß der junge Kaiser das Werk seines Großvaters fortsetzen und an Bismarck festhalten würde. Ein trübes Ahnen einer trüben Zukunft bemächtigte sich unser. Ich selbst hatte seit jener Zeit das Vertrauen zum Kaiser verloren. Ein Herrscher, der den größten Staatsmann, der in Deutschland gewirkt, und den alten Traum der deutschen Einheit erfüllt hatte, daran hindern konnte, sein Werk zu vollenden, konnte uns nichts Gutes bringen. Es war mir unverständlich, daß viele trotz der Warnungen Bismarcks, den Kaiser für einen genialen Staatsmann halten konnten. Ich habe mich später von dem verbreiteten Byzantinismus ferngehalten, und vermieden mit dem Kaiser in Berührung zu kommen. Als die Regierung des Kaisers lange Jahre friedlich geblieben war, hatte ich gehofft, daß wir seine Regierung vielleicht doch ohne Katastrophe überstehen würden, und erst nach dem Kriege den Bismarckschen Ausspruch kennengelernt: »Ich fürchte, daß die Krisen, die uns nach meiner Überzeugung bevorstehen, um so schlimmer sein werden, je später sie eintreten.«

Unter trüben Stimmungen schied ich von meiner alten Heimat. Ich sehe noch die Pferde den Acker bestellen, während mich[12] die Eisenbahn fortführte. Ich habe Drachenstein zweimal wiedergesehen. Einmal, neun Jahre nach unserem Fortgange, als ich meiner Frau meine heimatlichen Gefilde zeigen wollte, dann vor wenigen Wochen, siebenunddreißig Jahre nach unserem Wegzuge. Es ist natürlich, daß sich vieles verändert hat. Eine Eisenbahn geht der Länge nach durch die Felder. Eine uralte Linde, die an einem Bach stand und ein Hauptziel unserer Jugendspiele war, ist nicht mehr vorhanden. Die Erlenumsäumung der Bäche fehlt. Auf dem Friedhof, der auf zwei von der Fahrstraße getrennten Hügeln angelegt war, sind die uralten Kiefern gefällt. Als ich den Weg vom Kirchhof durch die Felder nach so langer Zeit wieder zurücklegte, wurde ich von Jugenderinnerungen bestürmt. Ebenso auf dem Gutshof und im Garten, wo die Veränderungen noch größer sind. Aber das alte Bild der Heimat ist trotz der langen Zwischenzeit dem Gedächtnis fester eingeprägt als das wirklich bestehende neue. Ich sehe immer nur die alte Jugendheimat im Geiste vor mir.

Mit unserem Fortgang von Drachenstein war meine Jugendzeit beendet. So schön das Leben auf dem Lande war, die Erinnerung an jene Zeit ist für mich eine wehmütige. Die Sorgen, die Kämpfe um die Berufswahl, endlich die Aufgabe der Heimat und der Schmerz, der besonders meinem Vater dadurch bereitet wurde, lassen mich an die Jugendzeit nicht so fröhlich zurückdenken, wie andere Menschen. Von den Vergnügungen der Jugend, von frohen Spielen und Festen hatte ich wenig gemerkt. Außer dem Verkehr[13] in Berlin mit meinen Studiengenossen, lebte ich auch später auf dem Lande einsam, mit jungen Mädchen kam ich überhaupt so gut wie nicht zusammen.

Nach dem Verkauf von Drachenstein zogen meine Eltern mit mir nach Westend bei Charlottenburg. Ich konnte von dort aus leicht zur Reichsanstalt, wo ich tätig war, fahren und für meine Eltern war das Leben im ländlichen Vorort kein so schlimmer Übergang wie es eine richtige Stadtwohnung gewesen wäre. Da jedoch das gemietete Haus wenig schön war, beschloß mein Vater, sich ein eigenes zu bauen. Aber auch im neuen Haus gelang es ihm nicht, sich an das Stadtleben zu gewöhnen. Er vermißte die Getreidefelder, die Äcker und Wiesen, die man in der Sandwüste um Berlin nicht sah. In dem neuen Haus lebte mein Vater nur noch ein Jahr, dann starb er am Herzschlag. Sein Tod bereitet mir auch heute noch besonderen Kummer. Ich war in den Ferien, nachdem ich mich als Privatdozent habilitiert hatte, nach Norwegen gefahren, hatte dort zufällig einen Assistenten von A. Kundt mit seinem Bruder getroffen und mit ihnen Wanderungen durch die norwegischen Hochgebirge gemacht. Die Verbindung mit der Heimat hatte ein Zeitlang ganz aufgehört. Verschiedene Briefe meiner Mutter erreichten mich nicht. Erst in Stockholm fand ich ein Telegramm vor, das mich sofort nach Hause rief. Die Reiseverbindungen waren durch die in Hamburg ausgebrochene Cholera verändert, so daß ich noch in Kopenhagen aufgehalten wurde. Als ich nach Hause kam, war mein Vater schon 10 Tage tot und längst begraben. Ich fand meine Mutter schwer erschüttert und brauchte selbst längere Zeit, um mich von der eigenen Erschütterung zu erholen.

Als ich bei der Reichsanstalt eintrat, war sie noch in den ersten Anfängen. Die Gebäude waren noch nicht fertig und wir arbeiteten in einem Flügel der Technischen Hochschule in Charlottenburg. Damals war an der Anstalt eine wissenschaftliche und eine technische Abteilung. Für beide war von Helmholtz ein Programm ausgearbeitet, mit dem gerade damals begonnen wurde. Mir fiel die Aufgabe zu, an der Herstellung einer neuen Lichteinheit mitzuarbeiten, was ich mit Hilfe eines Platinbleches versuchte, dessen Temperatur mit einem Le Chetelierschen Thermoelement gemessen werden sollte. Es wäre am einfachsten gewesen, das Blech mit Wechselstrom zu heizen, aber dafür reichten unsere Hilfsmittel nicht aus. Die erforderliche Temperatur mußte mit[14] einem Gasofen hergestellt werden. Die Versuche führten zu keinem Ziel und auch heute ist die Aufgabe, eine Lichteinheit außer der bekannten Hefner-Kerze herzustellen, ungelöst. Außer mit den Experimenten beschäftigte ich mich mit theoretischer Physik. Ich hatte während meines ländlichen Aufenthaltes viel theoretische Physik getrieben und suchte nun nach eigenen Aufgaben. Es war gut für mich, daß Helmholtz keine Neigung hatte zu irgend welchen Aufgaben anzuregen, weil ich so früh dazu kam, meine Aufgaben selbst zu suchen. Zwar waren die ersten Arbeiten auch nicht sehr erfolgreich. Immerhin fand meine Arbeit über die Lokalisierung der Energie Helmholtzs Beifall und diente mir als Habilitationsschrift. Auch die Arbeiten, die ich im Anschluß an Helmholtzsche Untersuchungen über die Gestalt der Meereswellen unternahm, waren nicht sehr wirkungsvoll. Ich bin erst viel später zu der Einsicht gekommen, daß alle theoretischen Untersuchungen über die Wasserwellen einschließlich denen von Lord Kelvin, Lord Rayleigh und Helmholtz nicht den wesentlichen physikalischen Kern des Problems treffen, weil es sich um einen turbulenten Vorgang handelt, der mit den gewöhnlichen Methoden nicht behandelt werden kann. Von meinen hydrodynamischen Arbeiten halte ich die über die Cyklone für besser, weil sie die Dynamik dieser Vorgänge tatsächlich beschreiben.

Wenn so meine ersten wissenschaftlichen Anfänge noch nicht sehr großen Erfolg brachten, so waren sie doch im hohen Maße geeignet, mich an die wissenschaftliche Arbeit zu gewöhnen. Ich habe damals ungemein viel gearbeitet, allerdings mit schlechtem[15] Nutzeffekt, weil ich an die Probleme herantrat, ohne zu fragen, ob die Aussicht sie zu lösen groß oder klein war. Das Herausfinden erfolgversprechender Aufgaben erfordert viel Erfahrung, die man in der Jugend noch nicht hat. Ich habe es später zweckmäßig gefunden, gewählte Aufgaben nicht gleich in Angriff zu nehmen, sondern gewissermaßen ablagern zu lassen, weil sich mit der Zeit neue Gesichtspunkte und neue Methoden einstellen. So habe ich viele Aufgaben, die ich bearbeiten lassen wollte, wieder verworfen, weil sie mir nach längerer Prüfung weniger geeignet erschienen. Die dauernde Arbeit jener frühen Zeit ist mir auch seelisch in hohem Maß wohltuend gewesen. Die Erschütterungen, die mit meiner Berufswahl zusammenhingen, hatten mich aus dem Gleichgewicht gebracht, da außer meinen Eltern niemand Verständnis für mich hatte. Die meisten meiner Verwandten hielten mich für einen Toren, der die besten Aussichten für ein bequemes Leben in den Wind schlug, um irgendwelchen phantastischen Lebensplänen nachzujagen. Für die Angehörigen meiner Kreise gab es nur drei mögliche Lebensberufe: Landwirt, Verwaltungsbeamter und Offizier. Kaufmann war schon bedenklich und nur zulässig, wenn sich besonders große Erfolge einstellten. Indessen waren auch meine wissenschaftlichen Kollegen kaum anderer Ansicht. Auch ihnen war es unverständlich, wie man ein Rittergut aufgeben könne, um sich der unsicheren wissenschaftlichen Laufbahn zu widmen. Damals lernte ich, bei wichtigen Entschlüssen, nur meinem eigenen Urteil folgen und Ratschläge wohl anzuhören, aber nur so weit zu befolgen, als sie meiner eigenen Kritik standhielten. Von Natur war ich keineswegs von meiner eigenen Überlegenheit überzeugt, sondern eher geneigt auf das Urteil anderer zu viel Gewicht zu legen. Aber ich sah, daß man für sein Schicksal selbst die Verantwortung trägt und daß das Wesen der Verantwortlichkeit darin liegt, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln.

Die bald errungene Selbständigkeit auf wissenschaftlichem Gebiet trug denn auch bald Früchte. Ich verfiel auf das Gebiet der Wärmestrahlung und konnte hier, ohne eigentlich große Mühe aufzuwenden, neue Gesetze auffinden, welche den Beifall der wissenschaftlichen Welt fanden. Es ist mir noch jetzt eine große Genugtuung, daß die erste Veröffentlichung des Verschiebungsgesetzes von Helmholtz der Berliner Akademie vorgelegt wurde, allerdings[16] nach einigem Widerstreben. Er sagte mir nämlich, daß er der Meinung gewesen sei, daß die Strahlung sich nicht mehr thermodynamisch behandeln lasse, aber er habe sich jetzt überzeugt, daß ich recht habe. Mir waren die Helmholtzschen Bedenken unverständlich, da nach meiner Meinung die strahlende Wärme ein untrennbarer Bestandteil der Wärme selbst war, also auch denselben Gesetzen gehorchen müßte. Erst später erfuhr ich, daß Lord Kelvin sich noch viel entschiedener gegen meine Theorien ausgesprochen hatte, indem er sagte: »Thermodynamics are going mad.« Die allgemeine Formulierung meiner Gedanken über die Eigenschaften der Wärmestrahlung legte ich in der Abhandlung »Temperatur und Entropie der Strahlung« nieder. Sie ist wohl, von wenigen nebensächlichen Punkten abgesehen, vollständig von der theoretischen Physik angenommen. Die bisher von mir aufgestellte Strahlungstheorie baute sich auf den anerkannten Grundlagen der Elektrodynamik und Thermodynamik auf. Es waren eigentlich nur Folgerungen und naturgemäß Verallgemeinerungen ohne alle Hypothesen und willkürlichen Annahmen. Aber damit war noch eine wesentliche Lücke geblieben, nämlich die Frage, wie sich die Intensität der Strahlung auf die verschiedenen Wellenlängen verteilt. Diese Aufgabe war nicht ohne Hypothesen zu lösen. Ich suchte zunächst auch hier mit möglichst wenig Annahmen auszukommen und allgemeine Gesetze, die erfüllt sein mußten, heranzuziehen. Hätte ich noch die Forderung hinzugenommen, daß die Intensität der Strahlung bei unendlich hoher Temperatur unendlich hoch sein müsse, so wäre ich vielleicht auf das später von Planck aufgestellte Strahlungsgesetz verfallen.

Trotzdem schien zunächst das von mir aufgestellte Gesetz der Wirklichkeit zu entsprechen und Planck, der sich bald nach meinen Arbeiten ebenfalls mit der Theorie der Wärmestrahlung zu beschäftigen begann, leitete aus ihr zunächst ebenfalls das von mir aufgestellte Gesetz ab. Die Beobachtungen zeigten dann aber später, daß es nur ein Grenzgesetz für niedrige Temperaturen und kurze Wellenlängen der Strahlung ist. Der Weg, den Planck zur Aufstellung seines neuen Gesetzes einschlug, führte dann zur Quantentheorie und den größten Umwälzungen, welche die theoretische Physik jemals erfahren hat.[17]

Mir ist es später in England einige Male vorgekommen, daß ich für einen Mann gehalten wurde, der schon ein sehr hohes Alter erreicht haben müsse. Es kam diese Meinung daher, daß bei der äußerst schnellen Entwicklung der Theorie meine eignen Arbeiten ungemein weit zurückzuliegen schienen, da sich schon eine so lange Entwicklungsreihe an sie angeknüpft hatte. In der Tat hatte sich an meine Arbeiten die Plancksche Quantentheorie, an diese die Bohrsche Theorie angeschlossen, die sich dann wieder in die Quantenmechanik umwandelte, welche dann, obwohl kaum zwei Jahre alt, selbst schon wieder die mannigfaltigsten Veränderungen erfahren hat.

Als ich meine theoretischen Untersuchungen über die Wärmestrahlung beendet hatte, ging an der Reichsanstalt eine große Veränderung vor sich. Im Herbst 1894 starb Helmholtz und F. Kohlrausch wurde sein Nachfolger. Während Helmholtz die Reichsanstalt mehr wie ein physikalisches Institut behandelt hatte, fühlte sich Kohlrausch verpflichtet, für die Einhaltung der dienstlichen Vorschriften zu sorgen, nach welchen die Anstalt eine Behörde mit bestimmtem Arbeitsplan und festen Arbeitsstunden war. Mir lag diese Art der Arbeit nicht, weil die eigentliche Forschung mein Feld war, das nicht durch Vorschriften der Behörden umgrenzt werden kann. Aber Kohlrausch hatte doch zugegeben, daß die experimentelle Prüfung der Strahlungsgesetze in das Arbeitsprogramm der Reichsanstalt aufgenommen wurde. Ich hatte inzwischen mit Holborn noch zur Helmholtzschen Zeit die Messungen hoher Temperaturen begonnen. Diese experimentellen Arbeiten entsprachen nicht ganz den Anforderungen, die man an Arbeiten der Reichsanstalt stellen mußte. Indessen war Helmholtz ein Physiker, der gewohnt war, mit einfachen Hilfsmitteln zu arbeiten. Er war nicht geneigt, große Aufwendungen zu machen. Anstatt mit elektrischen Öfen zu arbeiten, mußten wir bei den Versuchen über die Lichteinheit uns mit Gasöfen begnügen, deren Constanz sehr unbefriedigend war. Ich bin damals auf den Ausweg verfallen, das Le Chateliersche Thermoelement, das zur Temperaturmessung diente, in das Innere des Luftthermometers einzuführen. Die ganze Methode hat das Kopfschütteln der späteren Experimentatoren erregt, führte aber doch zu leidlichen Ergebnissen.

Als im Jahre 1895 die Röntgenstrahlen entdeckt waren, wurde ich vor die Aufgabe gestellt, diese Strahlen auch herzustellen.[18] Die Versuche mißlangen zunächst wegen der Anwendung ungeeigneter Kristalle von Bariumplatincyanür, die nicht leuchteten. Erst als ich zufällig einen großen Kristall benutzte, wurden die Röntgenstrahlen beobachtbar. Ich hatte nun eine Zeitlang für die Militärlazarette mit Röntgenstrahlen photographische Aufnahmen zu machen, ohne daß dabei ein wissenschaftliches Ergebnis gewonnen worden wäre. Im Sommer 1896 wurde ich mit Holborn nach München geschickt, um Messungen bei tiefen Temperaturen in den Lindeschen Werken auszuführen. Es hatten sich auch damals Verstopfungen der Maschinen für Luftverflüssigung durch eine feste Substanz gezeigt, die für festen Stickstoff gehalten wurde. Wir konnten durch Temperaturmessung nachweisen, daß es feste Kohlensäure war.

Diese Arbeiten waren die letzten, die ich an der Reichsanstalt ausführte. Auch Kohlrausch riet mir, in die Universitätslaufbahn einzutreten. Im Herbst 1896 fragte mich die Preußische Universitätsverwaltung, ob ich eine Stelle als außerordentlicher Professor an der Technischen Hochschule in Aachen annehmen wolle. Obwohl die Stelle keineswegs glänzend war, zögerte ich keinen Augenblick zuzusagen, da ich mir längst gesagt hatte, daß ich die freie wissenschaftliche Arbeit, wie ich sie brauchte, nur als Leiter eines Hochschulinstitutes würde finden können. So war nach sechsjähriger Tätigkeit meine Arbeit an der Reichsanstalt und gleichzeitig mein Berliner Aufenthalt beendet. Es war eine Zeit sehr fleißiger Arbeit und ungestörter wissenschaftlicher Entwicklung gewesen. Niemals später habe ich mehr so ausschließlich mich der wissenschaftlichen Arbeit widmen können. Ich denke auch jetzt noch gern an diese Zeit, in der ich in bescheidenster Stellung, aber vollkommen ungestört arbeitete, zurück. Um den nachteiligen Folgen der sitzenden Lebensweise zu begegnen, habe ich immer irgendeine Art von Sport betrieben. Zwar konnte ich in Berlin dem Hauptsport meiner Jugend, der Jagd, nicht nachgehen, aber fast jeden Sonntag zog ich mit einem Gefährten, meistens mit Holborn, in die Wald- und Seegebiete der Mark Brandenburg. Im Winter lief ich Schlittschuh auf den Havelseen und die Ferien, die an der Reichsanstalt auf 4 Wochen im Jahr beschränkt waren, verbrachte ich im Hochgebirge. Ich fing mit dem Bergsport, ebenso wie mit dem Schneeschuhlauf, zu spät an, um noch etwas Besonders darin zu leisten, aber meine in der Jugend zarte Gesundheit wurde ungemein gestählt und abgehärtet.[19]

Im Herbst 1896 verließ ich Berlin, nicht leichten Herzens, denn ich hatte auch meine Mutter und unser gemütliches Haus zu verlassen. Meine Berliner Zeit war fast ausschließlich der Arbeit gewidmet gewesen und nur die Sonntage und Ferien wurden für Wanderungen und Sport benutzt. Da meine Eltern keinen gesellschaftlichen Verkehr mehr angeknüpft hatten, so fehlten mir auch die Gelegenheiten zu geselligen Zusammenkünften. Noch aus meiner Studentenzeit stammte der Verkehr bei der Geheimrätin Abeken, bei der ich durch meine Mutter eingeführt war. Der Geheimrat Abeken selbst war schon lange tot, er war einer der Mitarbeiter Bismarcks und ist als Verfasser der Emser Depesche, die den Krieg von 1870 einleitete, bekannt geworden. Bei Frau Abeken verkehrten Künstler, Gelehrte und Politiker, und viele, die dem Hof nahestanden, Männer und Frauen aus den verschiedensten Kreisen, und es war für mich jungen und unerfahrenen Menschen von höchstem Interesse, mit so verschiedenen und meist interessanten Leuten in Berührung zu kommen. Ich spielte natürlich in dieser Geselligkeit eine recht untergeordnete Rolle, während die Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit der Frau Abeken mir gegenüber sich immer gleich blieb, auch dann als ein gewisser Gegensatz zwischen meinen Anschauungen und denen jener Kreise sich ausbildete. Ich stand nämlich bei Bismarcks Entlassung unbedingt auf der Seite des großen Staatsmannes, während der Salon der Frau Abeken zum Kaiser hielt. Alle Verwandten der Frau Abeken gehörten dem preußischen Adel an, für den unbedingtes Einstehen für den Herrscher oberster Grundsatz war. Ich habe immer vor diesem Bekenntnis hohe Achtung gehabt, diese Einstellung aber doch mehr für eine militärische als staatsmännische Tugend gehalten. In jenem Kreise wurde vor allem, namentlich auch von dem dort viel verkehrenden Unterstaatssekretär Homeyer, dem alten Bismarck der Vorwurf gemacht, daß er die kaiserliche Regierung so oft tadelte und angriff, während es nach meiner Meinung zu nichts Gutem führen konnte, die Kritik an falschen Regierungsmaßnahmen, namentlich bei einem Manne von der Sachkenntnis Bismarcks, unterbinden zu wollen. Bis zu meinem Fortgange von Berlin habe ich dauernd gerne bei Frau Abeken verkehrt und bewahre noch große Dankbarkeit für die Frau, die sich des gesellschaftlich unerfahrenen Jünglings vom Lande so freundlich annahm.

Im übrigen verkehrte ich noch etwas im Hause von du Bois-Reymond,[20] dem bekannten Physiologen, und auch bei Georg Siemens, dem Direktor der Deutschen Bank. Dagegen war ich nur selten im Helmholtzschen Hause.

Auf der Reise nach Aachen besuchte ich O. Wiener in Gießen, der die Stelle in Aachen früher innegehabt hatte, um mich über die dortigen Verhältnisse belehren zu lassen. Ich wurde ungemein freundlich von ihm aufgenommen und er erteilte mir die besten Ratschläge. Das gute Verhältnis zu O. Wiener hat dann die Jahre überdauert bis zu seinem frühen Tode.

In Aachen lernte ich das fröhliche rheinische Leben kennen und die dortigen Gesellschaften waren mir, der ich in Berlin fast gar nicht gesellschaftlich verkehrt hatte, etwas Neues. Auf einer der ersten lernte ich meine spätere Frau kennen, so daß Aachen ein wichtiger Markstein in meinem Leben geworden ist. Das Familienglück, das ich später gefunden habe, verbunden mit der Anerkennung meiner wissenschaftlichen Arbeiten, lassen es berechtigt erscheinen, wenn viele meiner Freunde mein Leben als ein außergewöhnlich glückliches bezeichnen.

Meine wissenschaftlichen Arbeiten in Aachen mußten neu begonnen werden. Die experimentelle Prüfung der Strahlungsgesetze, die ich in Berlin an der Reichsanstalt vorbereitet hatte, mußte der Reichsanstalt verbleiben. Sie ist dort von den Herren Lummer, Pringsheim und Kurlbaum durchgeführt worden, unabhängig von F. Paschen. An der Reichsanstalt hatte ich angefangen mit Röntgenstrahlen zu arbeiten und Erfahrungen in diesen Experimenten gewonnen. Mein Vorgänger in Aachen, P. Lenard, hatte dort Einrichtungen für das Arbeiten mit hohem Vakuum vorbereitet, die ich nun benutzen konnte. Ich wendete mich nun zunächst dem Studium der Kathodenstrahlen zu, durch welche die Röntgenstrahlen erzeugt werden. Es gelang mir durch Anwendung einer früher von Lenard ausgearbeiteten Anordnung, die Kathodenstrahlen in ein hohes Vakuum treten zu lassen und dort elektrischen Kräften auszusetzen. Es zeigte sich, daß sie sich wie negativ elektrisch geladene Teilchen verhielten, was der früher von Hertz geäußerten Ansicht widersprach, daß die Kathodenstrahlen nicht materieller Natur sein könnten. Wenn in der Entladungsröhre die Kathodenstrahlen aus negativer Elektrizität bestehen, die von der Kathode ausgehen, so entstand die Frage nach der dazugehörigen positiven Elektrizität. Es gelang mir, diese in den Kanalstrahlen aufzufinden, die von E. Goldstein im Jahre[21] 1886 entdeckt waren, aber ganz andere Deutung erfahren hatten. Elektrische und magnetische Ablenkung ergab, daß die Kanalstrahlen aus den Ionen des Gases bestanden.

Während ich noch mit diesen Untersuchungen beschäftigt war, erhielt ich im Frühjahr 1899 die Berufung als Nachfolger von O. Wiener nach Gießen. Ich war jung verheiratet, wir wohnten in einem hübschen kleinen Hause in Aachen und mußten nun so schnell von der Heimat meiner Frau fort, und von ihrer Familie, mit der ich immer ein besonderes gutes Verhältnis gehabt hatte. Indessen war über die Frage der Annahme der Berufung kein Zweifel, es handelte sich um die erste wirklich selbständige Stellung. In Gießen fand ich viel Arbeit vor, das neugebaute Institut war einzurichten und die Vorlesungen vorzubereiten. So kam es, daß ich während des Gießener Jahres zu wissenschaftlicher Arbeit nicht gelangte. Doch ist uns diese Zeit immer eine freundliche Erinnerung gewesen. Wir wohnten oben auf dem Nahrungsberg. Das Haus lag mitten in einem großen Garten. Abends machten wir viele Streifzüge zu den bewaldeten Höhen und durch das Lahntal. Doch war unser Verweilen in Gießen zu kurz, um festeren Fuß zu fassen.

Im Winter 1899/1900 wurde ich als Nachfolger Röntgens nach Würzburg berufen und ich kam im Frühjahr 1900 an die Stätte, an der ich länger als 20 Jahre bleiben sollte.

In Würzburg habe ich die glücklichsten Jahre meines Lebens, aber auch die schwersten, die Kriegsjahre, erlebt. Hier sind unsere 4 Kinder geboren, hier bildete sich bald ein froher Freundeskreis, der sich zeitweise wöchentlich unter den Kastanien im Institutsgarten oder in den weiten Räumen unserer Dienstwohnung vereinigte, zu dem sich dann auch die Assistenten und Schüler gesellten. In unser Heim im Phys. Institut am Pleicherring kehrten wir immer gerne zurück von unseren Reisen nach Norwegen, Spanien, Italien, Holland und England, Griechenland, aus den Alpen und der ostpreußischen Heimat.

Nachdem ich mich im Institut eingerichtet hatte, es wurde unter anderem ein neuer Hörsaal gebaut, setzte ich zunächst neue Meßungen an Kanalstrahlen fort und konnte zeigen, daß die Masse dieser Teilchen mit der aus der Elektrolyse bekannten Ionenmasse übereinstimmt. Die langen Arbeitsjahre und die nun eingetretene Ruhe bewirkten indessen eine gewisse Abspannung der wissenschaftlichen Kräfte. Es entgingen mir[22] einige wissenschaftliche Leistungen, die auf meinem Weg lagen und wohl von mir hätten gesammelt werden können. Die erste war die Auffindung der Dopplerverschiebung des von Kanalstrahlen ausgesandten Lichtes durch J. Stark im Jahre 1905. Ich hatte es versäumt, die Spectraluntersuchungen der Kanalstrahlen rechtzeitig in Angriff zu nehmen. Die zweite Unterlassung war die photoelektrische Beziehung, daß die Energie des Photoelektrons gleich dem Energieelement der Quantentheorie ist. Ich hatte diese Beziehung bei Röntgenstrahlen experimentell geprüft, kam aber mit meiner Veröffentlichung zu spät gegenüber Einstein. Obwohl die durch diese Erfahrungen hervorgerufene Enttäuschung nicht sehr groß war, spannte ich doch meine wissenschaftlichen Kräfte wieder stärker an. Allerdings hatte ich die Erfahrung gemacht, daß eine zu starke Anspannung der geistigen Kräfte nichts nützt, sondern schadet. Ich habe daher immer das Bedürfnis gehabt, neben der wissenschaftlichen Arbeit andere geistige Tätigkeit, besonders geschichtliche Lesestoffe zu pflegen. Auch die Literatur habe ich immer zu verfolgen gesucht, besonders auch englische und französische, schon der sprachlichen Übung wegen. Auch die bildende Kunst war mir immer ein geistiger Genuß und Ergänzung des wissenschaftlichen Denkens. Aber ich habe doch sowohl Literatur wie bildende Kunst ganz rein nur genießen können, wenn sie von den Höhepunkten ausging. Diese Höhepunkte sind die klassische, griechische Zeit, die Malerei der großen Niederländer, und Italiener, Spanier und Deutschen, und die große Zeit der englischen und deutschen Literatur. Das Bedürfnis, mich auch in der Kunst als moderner Mensch zu zeigen, habe ich nie gehabt, und wenn ich auch die Entwicklung der neuen Literatur und Kunst verfolge, so können sie mir nie die geistige Freude bereiten, wie Werke des Phidias, des Michelangelo, Tizian, Dürer, Holbein, Velasquez oder Shakespeare und Goethe.[23]

Auch körperliche Betätigung habe ich immer wieder zur Erholung gebraucht. So wurde allabendlich Tennis gespielt. In Würzburg fing ich wieder an zu jagen, und die Stunden auf dem Hochsitz im stillen Walde, in der Nähe von Rimpar, waren mir nicht nur Erholung, sondern die beste Gelegenheit zum Durchdenken wissenschaftlicher Probleme. In Würzburg traten wiederholt Aufforderungen an mich heran, an eine andere Hochschule überzusiedeln. So sollte ich 1902 Nachfolger Boltzmanns in Leipzig werden. Die Stelle hatte manches verlockende, weil ich mich in Leipzig ausschließlich der wissenschaftlichen Forschung hätte widmen können. Ich wollte mich aber nicht ausschließlich der Theorie widmen, was auch nicht meiner wissenschaftlichen Begabung entsprach. 1906 erhielt ich eine Berufung nach Berlin als Nachfolger Drudes, der infolge nervösen Zusammenbruches freiwillig aus dem Leben geschieden war. Berlin hatte den Vorzug,[24] daß ein ungemein anregendes wissenschaftliches Leben dort herrschte, es stellte aber auch an Nervenkraft und Arbeitskraft besondere Anforderungen. Da ich meiner Nerven sicher war, und mir auch die Arbeitskraft zutraute, hatte ich Neigung nach der Stätte, in welcher meine wissenschaftliche Laufbahn begonnen hatte, zurückzukehren. Aber von meiner genauen Kenntnis der Berliner Verhältnisse her, hielt ich das physikalische Institut für ungenügend und nicht verbesserungsfähig. Das Institut liegt an einem der verkehrsreichsten Punkte der inneren Stadt, es ist auf Betonpfeilern im Sumpf unmittelbar an der Spree gebaut. Unter dem Institut verlaufen die Kabel der Berliner Elektrizitätswerke mit Tausenden von Ampere Strom. Infolgedessen sind Erschütterungen und magnetische Störungen so stark, daß eine Reihe physikalischer Arbeiten unmöglich ist. Für das Kind vom Lande kam noch eins hinzu, die Dienstwohnung im Institut mitten im Getöse der Großstadt war unmöglich. In Gießen, sowohl wie in Würzburg hatte ich mitten im Grünen, in großen Gärten gewohnt, ich konnte nicht in das Getöse der Großstadt ziehen. Ich fand bei Althoff, dem damaligen allmächtigen Leiter des Preußischen Kultusministeriums Verständnis. Er sagte, daß er längst den Plan gehegt habe, die naturwissenschaftlichen Institute nach dem Vorort Dahlem zu verlegen und bot mir an, nun[25] damit zu beginnen. Eine schnelle Einigung schien möglich. Mit diesem Anerbieten reiste ich nach Würzburg zurück, in dem festen Glauben, daß ich nach Berlin gehen würde. Kurze Zeit nachher schrieb mir Althoff, daß der Dahlemer Plan gescheitert sei, ich solle mich mit dem alten Institut begnügen. Ich entschloß mich, sofort abzulehnen, obwohl ich erhebliche finanzielle Vorteile aufgab. Ich sagte mir, daß keine Aussicht vorhanden sei, die Verhältnisse im Berliner Institut zu bessern und wollte nicht zeitlebens in unbefriedigenden Verhältnissen wirken. Es ist mir auch heute noch nicht klar, weshalb Althoff seinen Plan fallen ließ, er war ein Mann von großem Einfluß, der seine Pläne sonst durchzusetzen gewohnt war. Ich glaube, daß es für die Berliner Universität verhängnisvoll gewesen ist, daß dieser Plan scheiterte. Denn die Aussichten, die schlimmer gewordenen Zustände zu bessern, sind immer geringer geworden.

Im Würzburger Institut entwickelte sich allmählich ein reges wissenschaftliches Leben. An der kleinen Universität waren nicht viele deutsche Studenten der Physik. Aber es kamen viele Ausländer in mein Laboratorium: Vegard und Holtsmark aus Norwegen, Miß Carter, Miß Laird und Dempster aus Amerika, Saxen aus Finnland, Retschinsky aus Rußland, mögen nur genannt werden außer meinen Landsleuten Harms, Füchtbauer, Rau, Rüchardt.

Meine eigenen Arbeiten ergaben die ersten Energiemessungen der Röntgenstrahlen und eine daraus abgeleitete Bestimmung der Wellenlänge, ferner die Umladung der Kanalstrahlionen und die Messungen der freien Weglänge der die Umladung bewirkenden Zusammenstöße. Im Jahre 1911 erhielt ich den Nobelpreis für meine Arbeiten über die Wärmestrahlung. An die wundervollen Feierlichkeiten in Stockholm denke ich noch mit Genuß zurück. Doch lastete schon ein schwerer Druck auf dem politischen Leben, den man im Ausland besonders stark fühlte. Das schöne wissenschaftliche Leben mit so vielen Schülern und Mitarbeitern ging noch einige Jahre fort. Im Frühling 1912 machte ich mit Altphilologen, zu denen mein Freund Boll gehörte, zusammen eine schöne Reise nach Griechenland. Auf der Rückkehr durch die Dardanellen trat die erste politische Störung ein, das Erscheinen der italienischen Flotte vor den Dardanellenschlössern. Unser Dampfer, ein Rumänier, war der letzte, der durch die Dardanellen gelassen wurde und ein türkisches Torpedoboot führte uns durch[26] die Minensperre. Die Eindrücke von Griechenland sind sehr tiefe gewesen. Zwar liegen die meisten Tempel so sehr in Trümmern, daß man den vollen Eindruck der Architektur nicht empfängt, aber die einzelnen Stücke der griechischen Kunst sind doch unvergleichlich. Wunderbar ist die trümmerbesäte Waldeinsamkeit von Olympia, die arkadische Bergwelt mit dem Tempel von Phigalia in der Felsenwüste, das Riesentheater von Epidauros. Keine zweite Stätte läßt sich mit der Akropolis von Athen vergleichen, wo vor zweitausend Jahren der Sitz der höchsten Kultur war. Und unvergleichlich ist die griechische Landschaft, das Hochgebirge, mit Schnee bedeckt, unmittelbar am Meer der schattige Kiefernwald und die südliche Farbe. Auch Konstantinopel war trotz der türkischen Herrschaft, eine griechische Stadt, die großen Moscheen alle nach dem Muster der Sophienkirche gebaut. Der Alexandersarkophag, vielleicht die besterhaltene größere Skulptur der klassischen Kunst, zeigt mit seiner Bemalung, wie anders die Griechen die Plastiken behandelten.

Nach meiner Rückkehr erhielt ich eine Einladung an der Columbia Universität in New York Vorlesungen zu halten. Welch ein Gegensatz zweier Reisen, das klassische Griechenland, wo alles Geschichte und Erinnerung ist, und New York und Amerika alles Gegenwart und Zukunft ohne geschichtliche Erinnerung.

Nachdem ich im Winter 1912/13 mich auf meine Vorlesungen vorbereitet hatte, ging ich Anfang März ins Gebirge zum Schneeschuhlaufen und fuhr dann nach Antwerpen, um mich mit einem Dampfer der Red star Linie einzuschiffen. Es waren wenige Passagiere und das Wetter rauh und ungemütlich. Da wir sehr nördlich fuhren, erblickten wir viele Walfische und Delphine, doch war das Leben an Bord recht einförmig.

Ich wohnte in New York in dem »Deutschen Haus« unmittelbar neben der Columbia University.

Meine Vorlesungen, die später veröffentlicht wurden, hatte ich »Neuere Probleme der theoretischen Physik« genannt. Sie bezogen sich auf die damalige Quantentheorie und die in ihr liegenden Widersprüche und Schwierigkeiten. Das Leben in New York interessierte mich sehr und ich lernte schnell den »Underground« zu benutzen. Ein Amerikaner, den ich auf dem Schiff kennengelernt, lud mich ein, sein Haus, das in dem alten Teil New Yorks[27] lag und aus dem 18. Jahrhundert stammte, zu sehen. Es war im Stil des Hauses von Washington gebaut. Leider gibt es in Amerika nur wenige solcher Häuser mehr. Der Amerikaner führte mich in seinen Klub, wo wir zusammen aßen und er bestellte für mich eine Anzahl american drinks, denn es war noch nicht die Zeit der Prohibition. Von New York aus besuchte ich Niagara-Falls und Boston, wo ich Verwandte meiner Frau namens Higginson besuchte. Es war ein angesehner Bankier und ich verbrachte in seinem Hause einen gemütlichen Abend. Boston mit der Harward University, wo ich von den dortigen Physikern freundlich empfangen wurde, machte auf mich, von den zahllosen Negern abgesehen, den Eindruck einer englischen Stadt. Auf dem Rückweg nach New York besuchte ich noch New Haven und das physikalische Institut der Yale University.

Meine zweite Reise von New York ging südlich nach Washington, wo ich gastliche Aufnahme im Hause von Prof. Day, dem Schwiegersohn von Kohlrausch fand. Ich besuchte die dortigen Institute und vor allem auch den schönen Landsitz von George Washington. Meine Eindrücke von Amerika sind die eines Landes von unermeßlichen Hilfsquellen und ungeheuerer Entwicklung gewesen. Der Aufbau des Reiches und seiner Wirtschaft hat noch keine Zeit für die Entwicklung einer eigenen Kultur gelassen. Es ist wohl das größte Problem der Gegenwart, wie weit Amerika zur Gestaltung einer solchen gelangen wird.

Die amerikanische Reise endete mit einer starken Magenverstimmung, die durch das amerikanische »food« und ice water hervorgerufen war. Erst eine Flasche Rotwein auf dem Dampfer des Norddeutschen Lloyd rief wieder das Gleichgewicht hervor.

Im Frühjahr 1914 machte ich noch mit meiner Frau eine kurze Reise nach dem Gardasee. Es war die letzte Reise im friedlichen alten Europa. Die Tage in Arco bei schönstem Wetter in der Sonne des Südens waren die letzten schönen Erlebnisse der alten Zeit.

Ich war damals Rektor der Universität Würzburg und hatte als solcher viel zu tun, besonders mußte ich mich daran gewöhnen, bei jeder Gelegenheit eine Rede zu halten. Solche Reden sind mir früher sehr schwer geworden, bis die Gewöhnung und Übung mir die Aufgabe erleichterte. Aber Reden aus dem Stegreif sind auch heute nicht meine Stärke.

Im Sommer 1914 sollte die hundertjährige Zugehörigkeit[28] Würzburgs zu Bayern gefeiert werden. Der König Ludwig III. von Bayern hatte sein Erscheinen mit dem ganzen Hof zugesagt. In der Universität sollte eine Feier stattfinden und ich hatte eine Rede zu halten, für die ich kein wissenschaftliches Thema, sondern ein allgemeines »Über die heutige Bedeutung unserer Universitäten und ihre Stellung im deutschen Geistesleben« gewählt hatte. Am ersten Tag der Feier war eine große Versammlung in der Residenz, bei welcher der König eine Ansprache hielt, in welcher er auf die Notwendigkeit hinwies, daß der Regentschaft ein Ende gemacht und das Königtum wieder aufgerichtet werden müßte. Dann wurden wir alle in den königlichen Gemächern empfangen. Es folgten Festzüge und Aufführungen in der Stadt. Als ich von den Feierlichkeiten nach Hause kam, lief die Nachricht durch die Stadt, daß der österreichische Tronfolger in Serajewo ermordet war. Es war das erste Donnerrollen des heranziehenden europäischen Gewitters. Die Schreckensnachricht verbreitete sich schnell und ich erhielt sehr bald die Nachricht, daß die Feier in der Universität, die am nächsten Tage stattfinden sollte, abgesagt war, wegen der nahen Verwandtschaft des Königs mit dem österreichischen Kaiserhause. Die nächsten Wochen verliefen in unbehaglicher Stimmung. Der österreichisch-serbische Gegensatz trat drohend für den Frieden Europas hervor. Plötzlich wurden wir, die wir ausschließlich Fragen der Wissenschaft und der Universität behandelt hatten, in die Politik hineingeworfen. Ich selbst mochte nicht an einen Krieg glauben. Obwohl ich nach Bismarcks Entlassung die deutsche Politik sehr pessimistisch beurteilt hatte, war mir doch klar geworden, daß der Kaiser durchaus friedliebend war. Auch hatte er sich seit der Kritik, die seine Politik im Jahre 1908 im deutschen Reichstag erfahren hatte, mehr Zurückhaltung in seinen Äußerungen auferlegt. Es war daher sicher, daß die deutsche Regierung auf die Erhaltung des Friedens hinarbeiten würde. Ich konnte mir nicht denken, daß wegen Balkanfragen ein europäischer Krieg ausbrechen könnte. Außerdem erschien mir günstig, daß sogar die englischen Zeitungen eine Bestrafung Serbiens wegen der Mordtat befürworteten. Nachdem der Friede schon so oft in viel kritischeren Lagen erhalten war, glaubte ich bestimmt, daß man einen Ausweg finden und Österreich die Sühne, die es beanspruchen mußte, verschaffen würde. Da kam das[29] österreichische Ultimatum an Serbien, und von dem Augenblick an schien mir allerdings die Kriegsgefahr unmittelbar bevorstehend, da Rußland kein Hehl daraus machte, daß es Serbien helfen würde.

Aber ich glaubte doch, daß der Frieden erhalten bleiben würde, da nach Bismarcks Ausspruch ein neuer Krieg ganz Europa in Brand setzen würde, so daß kein Mensch seinen Ausgang vorausberechnen könne. In diesem Glauben reiste ich am 28. Juli nach Mittenwald. Ich hatte mir dort im Gebirge, unmittelbar am Rande des Waldes, ein kleines Haus gebaut, in welchem ich mit meiner Familie die Ferien zu verbringen pflegte. Im Bergsteigen, Wandern und Schwimmen fand ich die für meine Gesundheit erforderliche körperliche Bewegung. In Mittenwald erlebte ich den Ausbruch des Weltkrieges und konnte infolge der überfüllten Bahnen nicht nach Würzburg zurückkehren. Der Ausbruch des Krieges erfüllte mich mit Sorge, besonders als die englische Kriegserklärung erfolgte, die von unserer Regierung offenbar nicht erwartet war. Noch in Würzburg hatte mich kurz vor meiner Abreise ein belgischer Physiker besucht, der sich das Institut ansah. Wir sprachen natürlich über den drohenden Krieg und zu meiner Überraschung sagte er mir, man erwarte in Belgien den deutschen Einmarsch, den die mangelhafte belgische Armee nicht würde verhindern können. Da ich von dem Schlieffenschen Plan keine Ahnung hatte, so sprach ich meinen Zweifel aus. Ich konnte mir nicht denken, daß unsere Regierung sich durch eine solche Handlung die unmittelbare Feindschaft Englands zuziehen würde. Zweifel an der Führung begannen aufzutreten.

Wenn ich dieses ausspreche, so muß ich folglich hinzufügen, daß nach meiner Überzeugung die Leitung unserer Gegner keineswegs besser war. Der Weltkrieg ist ausgebrochen und hat durch seine Dauer die Kräfte Europas so sehr erschöpft, weil kein überragender Staatsmann von wirklichen Führereigenschaften überhaupt vorhanden war. Daß unter Bismarcks Leitung der Krieg nicht ausgebrochen wäre, braucht für jeden, der Bismarcks Geschichte kennt, keines Beweises. Aber auch ein großer englischer Staatsmann würde im Hinblick auf die unberechenbaren inneren und äußeren Folgen den Krieg verhindert haben.

Am 16. August konnte ich endlich nach Würzburg zurückkehren. Dort trafen bald die ersten Siegesnachrichten aus Lothringen ein und erregten ungeheueren Jubel. Dann folgten die[30] Nachrichten von den Siegen in Belgien, von dem Vormarsch in Frankreich, welche die Hoffnung aufkeimen ließen, daß der Krieg schnell zu Ende sein würde. Mein Institut war leer geworden. Die Ausländer waren geflohen und hatten die Grenze noch glücklich vor der Kriegserklärung erreicht, die Deutschen waren zu ihren Fahnen geeilt. An mich selbst trat die Frage heran, wie ich mich meinem Vaterlande nützlich machen könnte. Ich war 50 Jahre alt und konnte nicht mehr als Soldat eintreten. Aber ich überlegte, wie ich mich sonst betätigen könnte. Es sollten jedoch fast zwei Jahre vergehen, ehe ich wirklich etwas für mein Vaterland tun konnte. Am 30. August reiste ich nach Mittenwald zurück, um meine Familie au holen. Dort traf ich die Nachricht von dem großen deutschen Sieg bei Tannenberg. Mehr noch glaubte ich an schnelle Beendigung des Krieges. Auf dem Rückwege durch München am 6. September blieben zum ersten Male die Siegesnachrichten aus. In den folgenden Tagen waren wir über die Ereignisse im unklaren. Da ich keine ausländischen Zeitungen zu Gesicht bekam, so blieb mir der große Rückschlag im Westen, die Schlacht an der Marne, völlig unbekannt. Wir erfuhren, daß die deutschen Linien weiter rückwärts lagen und daß kein Vormarsch mehr erfolgte, was sich aber ereignet hatte, wußte niemand. Von dem genauen Verlauf der Marneschlacht habe ich erst nach dem Kriege erfahren. Die Frage, welche Mitteilungen die Regierung dem Volke während eines Krieges machen soll, ist schwer zu beantworten. Was unter allen Umständen vermieden werden muß, ist eine Panik. Indessen glaube ich doch, daß die Zurückhaltung der deutschen Regierung während des Krieges zu groß war. Die völlige Unkenntnis des Volkes über die wirkliche Lage hat zum seelischen Zusammenbruch im Herbst 1918 wesentlich beigetragen. Wir glaubten alle, daß nach dem Eingreifen der neugebildeten Armeen im Oktober 1914 der Vormarsch in Frankreich wieder beginnen und den Krieg bis Weihnachten beendigen würden. Das Volk war noch voll kommen einig und niemand zerbrach sich über die Kriegsziele den Kopf. Als aber die Schlacht bei Ypern keine Erfolge brachte, verlor ich meinen Optimismus. Ich sah nicht, wie der Krieg siegreich beendet werden sollte. Mir schien damals die Gelegenheit gekommen zu sein, Frieden zu schließen. Ich habe damals eine kleine Schrift verfaßt und in kleinem Kreise herumgeschickt, in welcher ich diesen Gedanken ausführte. Ich weiß nicht, ob diese Möglichkeit damals vorhanden war. Immerhin[31] scheint mir auch jetzt noch, daß, wenn überhaupt je ein Verständigungsfriede möglich war, er damals eher hätte geschlossen werden können als später. Denn damals hatte die Lügenpropaganda noch nicht die Erfolge erzielt, die Völker waren noch nicht in die Kriegsleidenschaft hineingehetzt, die Deutschen waren noch nicht die »huns« und Lloyd George war noch nicht »manager of the war«.

Meine wissenschaftlichen Arbeiten hatten naturgemäß unter dem Einfluß des Krieges sehr gelitten. Unmittelbar vor dem Kriege hatte ich gezeigt, daß die elektrische Aufspaltung der Spektrallinien sich auch durch magnetische Felder der Theorie gemäß erreichen ließ. Diese Arbeit wurde fortgesetzt und im übrigen nahm die Weiterführung des Instituts, dem fast alle Hilfskräfte genommen waren, viel Zeit in Anspruch. Dabei war es unmöglich, sich von der Politik fernzuhalten. Im Winter 1914/15 begann die große Einigkeit im Volke nachzulassen. Die unpraktische Neigung der Deutschen, die Kriegsfragen theoretisch zu erörtern und leidenschaftliche Meinungskämpfe auszufechten, begann sich zu zeigen. Anstatt die ganze Aufmerksamkeit darauf zu verdichten, daß zunächst einmal der Krieg gewonnen werden müsse, begann man den unfruchtbaren Streit über die Kriegsziele. Bismarck, der große Gründer des Deutschen Reiches, hatte jede Erweiterung unserer Grenzen als unzweckmäßig bezeichnet. Aber eine Anzahl wohlmeinender Patrioten, ohne tiefere politische Einsicht, glaubten für die Sicherung des Reiches die Grenzen möglichst weit hinausschieben zu müssen. Dieser sinnlose Streit hat nicht nur Uneinigkeit im Innern hervorgerufen, sondern unseren Gegnern auch den besten Stoff für ihre Propaganda geliefert. Dabei hatte die Regierung die feste Führung verloren. Bethmann-Hollweg, ein einsichtiger und wohlmeinender Mann, hatte keine von den Eigenschaften, die dem Führer eines Volkes in einem solchen Kriege notwendig sind. Ich hatte manchmal das Gefühl, auf einem steuerlosen Schiff zu treiben. Dabei war vor allem das Pflichtgefühl in mir lebendig, meinem ringenden Vaterlande in irgendeiner Weise nützlich zu sein. Zunächst waren alle meine Bemühungen vergeblich. Ich schlug dem Chef des Nachrichtenwesens in der Heimat vor, daß alle deutschen Physiker einberufen werden sollten, um die Fragen, wie man der Kriegsführung nützen könne, zu prüfen. Ich erhielt jedoch die Antwort, daß der Krieg bald zu Ende sein würde, so daß sich ein so weit ausholendes Unternehmen nicht mehr lohne. Der Versuch, mit dem Ausland,[32] in Verbindung zu treten, um Nachrichten über die dortigen Stimmungen zu erhalten, scheiterte. Auch meine besten englischen Freunde schlugen nur kriegerische Töne an. Von Amerika kamen sichere Anzeigen, daß das Land in starker Strömung in den Krieg treiben würde. Ich konnte mir zunächst nicht denken, daß ein Land, mit dem wir immer in Freundschaft gelebt hatten, uns auch noch mit Krieg überziehen würde. Unrichtigerweise rechnete ich auch auf die angelsächsische Neigung zum fair play, die es verhindern mußte, einen schon mit einer großen Übermacht ringenden Kämpfer anzufallen. Aber später sah ich, daß die Stimmung in Amerika so war, daß die Vereinigten Staaten rettungslos in den Krieg gezogen werden mußten, wenn nicht baldiger Frieden geschlossen wurde.

Es begannen nun allmählich die Folgen der Abschnürung der Mittelmächte sich fühlbar zu machen. Das Kriegsbrot (mit Kartoffelzusatz) und die Brotkarte waren schon lange eingeführt. Aber Kartoffeln, Fleisch, Zucker, Kaffee, Tabak gab es noch reichlich. Es begann aber die sog. »Bewirtschaftung« des Leders und der Kleiderstoffe. Diese Maßregeln waren zweifellos notwendig, um dem Heere die erforderlichen Mengen dieser Stoffe sicherzustellen. Aber es stellte sich bald heraus, daß diese sogleich vollständig aus dem Handel verschwanden. Nur die Brotkarte arbeitete tadellos. Alles übrige war, sobald es »bewirtschaftet« wurde, nur auf Umwegen zu erlangen. Es kam dadurch zu einer vollständigen Ungleichheit, die den besten Beweis lieferte, daß die sozialistischen Ideen undurchführbar sind. Der eine, der gute persönliche Verbindungen hatte, bekam so viel Lebensmittel, Leder, Kleiderstoffe, wie er wollte, der andere bekam nichts. Ich muß zugeben, daß Geld allein nichts nützte. Obwohl wir in Würzburg in fruchtbarer Umgebung lebten, ging es uns doch bald sehr schlecht. Die Fähigkeit, auf den Dörfern herumzuziehen und zu »hamstern«, besaßen wir nicht. Auch von meinen norddeutschen Verwandten erhielten wir so gut wie nichts, weil das Versenden von Lebensmitteln sehr erschwert war. Manche erhielten Sendungen von Amerika. Aber meine Verbindungen dorthin waren nicht von der Art, um solche Sendungen erwarten zu lassen.

Inzwischen ging der Krieg weiter und das Jahr 1915 brachte die größten deutschen Erfolge. Polen wurde erobert, die Dardanellen verteidigt, Serbien niedergeworfen. Aber der Friede kam nicht näher.[33]

Das Jahr 1916 begann mit dem deutschen Angriff auf Verdun. Viele militärische Sachverständige hielten diesen für einen schweren strategischen Fehler. In der Tat leuchtete es auch dem Laien ein, daß zunächst das schon geschwächte Rußland gänzlich hätte niedergeworfen werden müssen. Es ist wohl wahrscheinlich, daß die gegen Verdun gemachte Kraftanstrengung ausgereicht hätte, um Rußland gänzlich zu schlagen. Dann hätte die ganze deutsche Macht gegen Frankreich und England verwendet werden können. Trotzdem dieser Gedankengang durchaus einleuchtete, möchte ich doch nicht mit Sicherheit sagen, daß bei einer solchen Strategie der deutsche Sieg errungen worden wäre. Wäre Rußland 1916 zusammengebrochen, und damit der deutsche Sieg wahrscheinlich geworden, so wäre Amerika schon damals in den Krieg eingetreten, da es entschlossen war, keine Niederlage Englands zu dulden.

Wie dem nun auch sein mag, der deutsche Angriff auf Verdun scheiterte, gleichzeitig griffen die Österreicher die Italiener in Friaul mit großem Erfolg an. Die Italiener wurden durch die Offensive Brussilows in der Bukowina und durch die Sommeschlacht entlastet. Der Krieg kam wieder zum Stehen. Durch die rumänische Kriegserklärung Ende August 1916 bekam er ein für die Mittelmächte bedrohliches Gesicht. Jetzt erst wurden Hindenburg und Ludendorff Führer der deutschen Heere. Es ist eine große Tragik gewesen, daß diese beiden nicht von Anfang an an der Spitze gestanden haben.

Die Kriegserklärung Rumäniens wurde mit dem Angriff beantwortet, der dies Land niederwarf, das nur durch die Russen von der gänzlichen Niederlage gerettet wurde. Aber nun vollzog sich in England eine verhängnisvolle Wendung. Lloyd George wurde erster Minister. Wir haben die Bedeutung dieser Maßregel nicht sogleich erkannt. Lloyd George war Pazifist und Gegner jedes Krieges gewesen. Er war im Kabinettsrat bei Ausbruch des Krieges nur widerwillig auf die Seite von Asquith getreten. Es war nicht ohne weiteres zu erwarten, daß ein solcher Mann, der wildeste Kriegsfanatiker werden würde. Die Haltung ist auch nur verständlich, wenn man weiß, daß Lloyd George kein Staatsmann mit politischen Ideen und Überzeugungen, sondern ein Demagoge ist. Er ist ein Condottiere der Massen, der ihre Führung meisterhaft versteht, dem aber das Ziel gleichgültig ist. Er konnte die englischen Massen ebensogut gegen das Oberhaus, gegen den Grundbesitz wie in den Kriegsfanatismus führen. Lloyd George[34] wurde der Führer nicht als Staatsmann, sondern weil der Krieg bisher nicht energisch genug geführt war und weil man von ihm erwarten konnte, daß er die Massen fanatisieren und ohne Rücksicht auf irgendwelche Bedenken den Krieg gewinnen würde. Daß dies Schwert zweischneidig war und schließlich England in eine wenig erfreuliche Lage bringen würde, wurde damals nicht bedacht. Mit der Ernennung Lloyd Georges war jede Aussicht auf friedliche Verständigung beseitigt. Es ist ein Zeichen gänzlicher Verkennung der tatsächlichen Verhältnisse, daß die deutsche Regierung in diesem Augenblick ein öffentliches Friedensangebot machte.

Zwei Fragen regten damals die öffentliche Meinung besonders auf. Das Friedensangebot und der U-Bootkrieg. Beide hingen in eigentümlicher Weise zusammen. Die deutsche Regierung wollte den letzten Versuch zu friedlicher Verständigung machen, scheiterte er, so sollte hieraus die Rechtfertigung für den U-Bootkrieg abgeleitet werden. Diesen Krieg als letztes Mittel im Falle des Scheiterns aller Friedensversuche anzuwenden, war ein unzweifelhaft richtiger Gedanke. Allein die Ausführung mißlang völlig infolge der Unsicherheit und Unentschlossenheit der Deutschen Regierung. Der U-Bootkrieg war gegen den Willen von Tirpitz schon am Beginn des Jahres 1915 mit völlig unzulänglichen Mitteln begonnen und hatte nur zu politischen Zwischenfällen und Erregungen der Amerikaner geführt. Er sollte dann nach den Regeln des Seekriegsgesetzes geführt werden, was nach Bewaffnung der Handelsschiffe unmöglich war. Wie der spätere Verlauf gezeigt hat, wäre der U-Bootkrieg durchaus geeignet gewesen, Englands Kriegswillen zu brechen, aber nach meiner Meinung mußte er dann überraschend einsetzen und mit aller Kraft geführt werden, um möglichst schnell zum Ziele zu führen. Um die Hemmungen im deutschen Volke gegen den U-Bootkrieg, der sich auch gegen die Neutralen richtete, zu überwinden, schien es mir geboten, ihn als letztes Mittel anzuwenden, wenn alle Mittel, die zum Frieden hätten führen können, erschöpft waren.

Mir persönlich brachte das Jahr 1915 schwere Verluste. Meine Mutter, die mit ganzer Seele die Begeisterung und die Leiden des Krieges mitgemacht hatte, starb im Juni 1915 in Würzburg, wohin sie 1907 gezogen war. Ich brachte sie nach Berlin,[35] wo sie jetzt neben meinem Vater ruht. Dann verlor ich zwei meiner besten Freunde, den berühmten Biologen Boveri und den Philosophen Külpe. Das Leben begann einsamer zu werden.

Indessen konnte ich nur vorübergehend das Interesse an der Politik, von der unsere ganze Zukunft abhing, entfernen. Die Wiederwahl des Präsidenten Wilson im Herbst 1916 erfolgte über den Wahlspruch, »he keeps us out of war«, der sich dann später in das Motto »he keeps us out of sugar« verwandelte. Meiner Ansicht nach war Wilson entschlossen, den Frieden zu vermitteln. Es ist unter diesen Umständen unverständlich, daß die deutsche Regierung mit ihrem eigenen Friedensangebot und der Erklärung des unbeschränkten U-Bootkrieges dazwischenfuhr. Wilson hätte den Frieden leicht erreichen können, wenn er eine für Deutschland annehmbare Form ohne irgendwelche Landabtretungen und Entschädigungen (außer Belgiens) aufstellte. Die Alliierten hätten bei der Drohung des amerikanischen Waffenausfuhrverbots annehmen müssen, die deutsche Regierung hätte jeden einigermaßen erträglichen Frieden angenommen.

Ob Wilson sich zur Aufstellung solcher Friedensbedingungen und zu dem Entschluß, sie den Alliierten gegenüber durchzusetzen, verstanden hätte, kann niemand wissen. Aber man konnte es abwarten. Scheiterten Wilsons Bemühungen, dann war der Augenblick für den U-Bootkrieg gekommen, der dann aber auch mit der äußersten Energie hätte geführt werden müssen.

Meine eigenen Arbeiten für Heer und Marine begannen im Jahr 1916. Ich arbeitete mit meinem Vetter, dem Physiker Max Wien, zusammen, der bei der Nachrichtenabteilung in Berlin als Reserveoffizier arbeitete.

Unsere Heeresausrüstung war in mancher Beziehung gegenüber unseren Gegnern im Nachteil. Besonders Amerika hat sehr viel Neues für die militärische Technik geliefert, unter anderem auch die Anwendung der Glühlampen zur Verstärkung des Schalls, was für die Anwendung für die drahtlose Telegraphie ungemein wichtig war. Zwar war das Prinzip dieser Art der Verstärkung von Deutschland ausgegangen durch die Erfindung der Liebenröhre. Aber dieser Apparat war zu verwickelt in der Anwendung für die Bedürfnisse im Felde. In Amerika war die Liebenröhre durch die Arbeiten der General Electric Co. durch die Glühlampe ersetzt, in der der glühende Faden negative Elektrizität aussendet, die durch elektrische Kräfte leicht beeinflußt werden kann, und[36] dann verstärkte Telephonströme gibt. Es handelte sich nun darum, diese Röhren so einfach und billig wie möglich herzustellen. Wir haben in Würzburg unter Zuziehung einer großen Anzahl von Physikern, Mechanikern und Glasbläsern an diesen Röhren bis zum Schluß des Krieges gearbeitet und wohl auch einiges Nützliche geleistet. Ich habe indessen nicht den Eindruck gewonnen, daß wir, wie überhaupt die deutschen Physiker, wirklich etwas von größerer Bedeutung für die Kriegsführung geleistet hätten. Die englischen Physiker hatten es darin besser, als sie sich in bedeutsamer Weise an der Auffindung geeigneter Methoden zur Entdeckung der U-Boote beteiligen konnten. Die Aufgabe, den englischen Methoden entgegenzuwirken, ist uns leider nicht aufgetragen worden.

Während wir im Winter 1916/17 fleißig arbeiteten, wurde die Not größer. Die Ernte 1916 war mißraten und es gab besonders sehr wenig Kartoffeln. Der schreckliche »Kohlrübenwinter« ist noch allen, die den Krieg in Deutschland durchlebt hatten, in schlimmer Erinnerung. Das traurigste war, daß man nicht genug Nahrung für die Kinder auftreiben konnte. Ich selbst habe oft den Hunger mit einer Zigarre vertrieben. Im Frühjahr 1917 erklärte Amerika uns den Krieg.

Ich habe lange Zeit gebraucht, ehe ich mich von der unzweifelhaften Absicht der Vereinigten Staaten, sich an dem Krieg gegen uns zu beteiligen, überzeugte. Auch heute noch ist mir der eigentliche Kriegsgrund ein psychologisches Rätsel. Daß die Handelskonkurrenz oder die enge finanzielle Bindung Englands an die Vereinigten Staaten diese in den Krieg getrieben hätten, wie viele glauben, kann ich nicht für richtig halten.

Ein hochstehender Amerikaner hat mir nach dem Kriege gesagt, die Vereinigten Staaten hätten sich am Kriege beteiligen müssen, weil sie gefürchtet hätten, daß die Deutschen nach Besiegung Englands mit der eroberten englischen Flotte nach Amerika kommen und dieses zwingen würden, die Kriegskosten zu bezahlen. Diese Wendung mag geeignet gewesen sein, um im amerikanischen Volk die Leidenschaft für den Krieg anzufachen, daß hierin aber einer der leitenden Politiker einen Kriegsgrund hätte erblicken können, halte ich für ausgeschlossen. Ich traue den Amerikanern doch so viel Selbstbewußtsein zu, daß sie sich nicht davor fürchten, daß die von einem vierjährigen furchtbaren Kriege erschöpften Deutschen über den Atlantik kommen würden, um dort finanzielle Eroberungen zu machen. Wenn mir auch der[37] Grund, weshalb die Amerikaner in den Krieg gegen uns zogen, unverständlich war, so ließen doch die von drüben kommenden Nachrichten keinen Zweifel an der dortigen Stimmung. Ich halte es nicht für meine Aufgabe, zu untersuchen, ob die Vereinigten Staaten durch ihren Eintritt in den Krieg ihren eigenen politischen Interessen und ihrer Tradition gefolgt sind. Sie werden die Verantwortung für ihre Handlungen vor der Geschichte selbst einmal übernehmen müssen.

Ich hatte einen mißlungenen Versuch gegen die Agitation für den U-Bootkrieg gemacht, um den maßgebenden Stellen die freie Entschließung zu ermöglichen.

Der U-Bootkrieg hatte zunächst große Erfolge. Im Frühjahr 1917 war ich in Kiel, um mich über die Einrichtungen für drahtlose Telegraphie zu unterrichten. Ich machte eine Übung eines U-Bootes mit und war 6 Stunden unter Wasser. Interessant war mir der Verkehr mit den jungen U-Bootführern, mit denen ich einen Abend zusammen war. Diese jungen Männer waren bescheiden, still und ernst, bereit, Dienst für das Vaterland zu tun und ihr Leben zu opfern, aber weit entfernt von Großsprecherei oder Draufgängertum.

Die Not der Zeit hatte sich inzwischen verschärft. Zu dem Mangel an Nahrungsmitteln kam jetzt der Kohlenmangel, an dem wir noch jahrelang nach dem Kriege gelitten haben. Auch hier hatte die »Bewirtschaftung« zur Folge, daß die ungleichmäßigste und ungerechteste Verteilung der Kohlen eintrat. Viele Jahre lang war jeder Winter ein drohendes Gespenst; die ganze Familie mußte in einem Zimmer hausen.

Im Sommer 1917 gab es neue politische Erregungen. Der U-Bootkrieg hatte die von der Marine erwartete Wirkung nicht gehabt, es kam die Friedensresolution des Reichstags und der Sturz Bethmann-Hollwegs. Unter diesen Umständen mußte eine traurige Stimmung Platz greifen. Die Friedensresolution konnte keine andere Wirkung haben, als die, den Feinden zu zeigen, daß das deutsche Volk dem Zusammenbruch nahe war, was nicht einmal der Wirklichkeit entsprach. Der Sturz Bethmann-Hollwegs war eine Folge seiner Unentschlossenheit und Schwäche. Er war an sich sicherlich berechtigt, aber er erfolgte, ohne daß man einen geeigneten Nachfolger wußte. Von Michaelis wußte niemand etwas, und er verscherzte sich sofort das allgemeine Vertrauen durch die Wendung, »Wie ich die Friedensresolution auffasse!«[38]

Im Herbst hörte ich von Friedensaussichten. Diese Gerüchte stammten wohl von dem angeblichen Schritt Englands beim Vatikan und der Aktion des Münchener Nuntius Pacelli. Wie wir jetzt wissen, war im Sommer in England infolge des U-Bootkrieges eine vorübergehende Friedensneigung vorhanden, die infolge der verbesserten Abwehrmaßnahmen gegen die U-Boote und der Friedensresolution des Deutschen Reichstages verschwand.

Im Oktober 1917 machte ich eine Reise mit dem Vorstand des Deutschen Museums nach Wien, wo ein ähnliches Museum eröffnet wurde. Die Not in Österreich war noch erheblich größer wie bei uns und die Eindrücke waren ernst. Vom deutschen Reichskanzler Michaelis wußte man schon, daß er sich nicht lange würde halten können. Indessen glaubte niemand von den mitreisenden bayerischen Ministern, daß Graf Hertling Reichskanzler werden könne, da er zu alt sei.

Die im Frühjahr ausgebrochene russische Revolution hatte uns zunächst keine Vorteile gebracht, weil die russischen liberalen Mitglieder Kerenski usw. anstatt Frieden zu schließen und dem Lande Ruhe und Ordnung zu geben, sich erst recht in den Krieg stürzten. Die Folge war denn auch die zweite Revolution im Herbst 1917, die eine Folge der vollständigen Kriegsmüdigkeit war und die Bolschewistenherrschaft errichtete. Wir atmeten damals auf, weil der Krieg nach zwei Fronten zu Ende war. Wir glaubten alle, daß die eine Front im Westen unter allen Umständen gehalten werden würde. So verlief der Winter 1917/18 hoffnungsfreudig. Der Beginn der großen Offensive im März 1918 belebte die Hoffnungen auf baldige Beendigung des Krieges. Kurz vorher hatte Wilson seine berühmten 14 Punkte verkündet.

Im April fuhr ich nach dem Baltenland, um in Riga, Dorpat, Reval Vorträge zu halten. Alles war in gehobener Stimmung, doch fiel mir die ungeheuere Zahl der deutschen Truppen im Osten auf. Der Sommer 1918 brachte dann neue Siege, aber keine Entscheidung. Noch sehe ich, als ob es heute wäre, den Heeresbericht vor mir, der die Nachricht von dem Umschwung, dem zweiten Rückzug über die Marne, brachte. Niemand konnte damals die Tragweite übersehen, aber es war uns allen nicht wohl. Dann kamen im August die weiteren Rückschläge und Ende September der Zusammenbruch Bulgariens und das Verlangen der deutschen Heeresleitung, daß ein Waffenstillstand geschlossen werden müsse. Obwohl ich nie zu den Optimisten im Kriege gehört hatte, und sehr[39] zufrieden gewesen wäre mit einem unentschiedenen Ausgang, habe ich doch nie an einen solchen Rückzug des deutschen Heeres gedacht. Auch heute noch sind mir die Gründe dafür nicht klar.

Nach dem deutschen Waffenstillstandsangebot habe ich viele Nächte nicht schlafen können. Mir war nicht nur der Rückzug des Heeres unverständlich, sondern besonders das plötzliche Eingeständnis unserer Niederlage. Daß man uns in diesem Augenblick einen ehrenvollen Waffenstillstand gewähren würde, konnte doch niemand glauben. Nun folgten die schrecklichen Wochen, in denen man auf Wilsons Noten wartete. Wilson hatte sich auf die 14 Punkte verpflichtet, aber gleichzeitig Rückzug und Entwaffnung des deutschen Heeres verlangt. Es war klar, daß Wilson nicht mehr Herr seiner Entschlüsse war. Er hatte sich in den Krieg gestürzt, ohne zu überlegen, daß er damit die Macht, dem Krieg Halt zu gebieten, aufgab. Nun konnte er den Waffenstillstand nur unter den von seinen Verbündeten verlangten Bedingungen gewähren. Nach Entwaffnung des deutschen Heeres mußte der Einfluß Wilsons in dem Maße sinken, wie seinen Verbündeten die amerikanische Hilfe entbehrlich wurde. Es war klar, daß Wilson wohl ein theoretisierender, aber kein praktischer Staatsmann war. Er gibt ein gutes Beispiel, daß in Demokratien keineswegs immer geeignete Männer an die Spitze des Staates gelangen. Als Wilson dann später nach Europa kam, um den Frieden von Versailles abzuschließen, war die Bedeutung seines Einflusses noch mehr gesunken. Er wich schließlich von den garantierten 14 Punkten gänzlich ab, indem er zugab, daß das von ihm so emphatisch proklamierte Selbstbestimmungsrecht auf Millionen von Deutschen keine Anwendung fand und Deutschland eine unabsehbare Kriegsentschädigung auferlegt wurde. Wilson bürdete damit dem großen und selbstbewußten Volke, dessen Unterhändler er war, den Vorwurf des Wortbruches auf. In diesem Zusammenhange ist es zu verstehen, wenn Wilson später sagte: »Ich wünschte, die Deutschen fegten die Franzosen fort.«

Während der schreckliche Wortlaut der Wilsonschen Noten Deutschland erschütterte, erwog die neue Regierung des Prinzen Max von Baden die Wilsonschen Bedingungen abzulehnen und das Volk zu neuem Widerstand aufzurufen. Ich stand diesem Gedanken zweifelnd gegenüber, weil die deutsche Heeresleitung Anfang Oktober selbst darauf verzichtet hatte, zum letzten Widerstand zu rüsten. Lehnte man die Wilsonschen Bedingungen ab,[40] so gab man die 14 Punkte, an die er sich gebunden hatte, auf. Erwies sich dann, wie es der Lage nach wahrscheinlich war, der Widerstand als vergeblich, so wurde man dem Gegner bedingungslos ausgeliefert und der Krieg ins Innere Deutschlands getragen.

Durch das Waffenstillstandsangebot war Deutschland in eine furchtbare Lage gekommen, da traten unerwartet und viel schlimmere Ereignisse ein. Als ich am 8. November auf die Würzburger Kommandantur ging, um technische Fragen zu besprechen, hörte ich, daß in München die Revolution ausgebrochen sei. Eine Handvoll Literaten, an ihrer Spitze Eisner, hatten die Arbeiter aufgewiegelt, die durch die Straßen zogen, die Kasernen besetzten und den König und die Regierung zum Rücktritt zwangen. Ich fragte sofort, ob nicht wenigstens in Würzburg ein Widerstand möglich sei. Die Frage wurde verneint, weil man keine Truppen habe, um Widerstand zu leisten. Nun überstürzten sich die Ereignisse. Nachdem auch die Flotte von meuternden Matrosen zur Rückfahrt gezwungen worden war, war in Kiel offene Empörung ausgebrochen und die revolutionäre Marine zog gegen Berlin.

Die Sozialdemokratie, die keine Revolution gewollt hatte, wurde von den Kommunisten fortgerissen, sie mußte, da ihr die Massen zu entgleiten drohten, mitmachen, und so wurde in Berlin die Republik verkündet, ohne daß irgendein Widerstand geleistet worden wäre. Vergeblich hatte Prinz Max durch Verkündung der Abdankung des Kaisers die Revolution beschwören wollen. Er war seiner Natur nach für die damalige Lage völlig ungeeignet. Von liberaler Gesinnung, aber weich und zu Kompromissen geneigt, versäumte er den einzigen Weg zu beschreiten, der die Revolution hätte vermeiden können, den der militärischen Bekämpfung der Aufrührer. Dieser Kampf mußte später unter viel schwereren Umständen aufgenommen werden, und er ist ohne allzu viel Blutvergießen siegreich durchgeführt worden.

Gleichzeitig mit der Nachricht, daß in Berlin eine neue Regierung eingesetzt war, kam die Nachricht, daß der Kaiser nach Holland geflohen sei. Damit war von dem Träger der Krone selbst alles preisgegeben und jede Möglichkeit, die Monarchie zu retten, hatte aufgehört. Bismarcks prophetische Worte hatten sich erfüllt.

Der Kaiser hatte den vollständigen Bankerott seiner Politik erlebt und konnte sich nicht mehr zum Handeln aufraffen. In[41] seiner Jugend, da er den größten Staatsmann am Werke fand, konnte er seinen Tatendrang nicht bändigen und glaubte in Selbstüberschätzung und in mystischem Glauben an Gottes unmittelbare Hilfe Bismarck das Steuer aus der Hand nehmen zu müssen. Nun, nach dreißig Jahren, da der Augenblick gekommen war, wo er hätte zeigen können, wie ein preußischer König dem Schicksal furchtlos gegenübertritt, hatte er durch seine Mißerfolge das Selbstvertrauen verloren und gab durch seine Flucht nicht nur die Dynastie der Hohenzollern, sondern auch das monarchische Prinzip preis. Wenn man dem Kaiser mit Recht vorwerfen muß, durch Bismarcks Entlassung und das persönliche Regiment schwere Schuld seinem Volke gegenüber auf sich geladen zu haben, so muß man andererseits sagen, daß weder sein Volk noch das Ausland etwas taten, um ihm die Augen zu öffnen. In Deutschland machte sich ein trauriger Byzantinismus breit und aus dem Ausland kamen immer wieder Lobeshymnen, die den Kaiser in dem Glauben an seine Tüchtigkeit bestärken mußten. Besonders haben Amerikaner, denen eine Persönlichkeit von der Impulsivität des Kaisers gefiel, nicht aufgehört, ihn zu preisen, und Carnegie forderte ihn bekanntlich öffentlich auf, die Vereinigten Staaten von Europa zu gründen.

Nach der Flucht des Kaisers überstürzten sich die Ereignisse. In München und Berlin waren die Kommunisten am Ruder, die einen Terror ausübten und die Staatsgelder verschleuderten. Die Inflation begann. Die Zustände in Deutschland wurden viel schlimmer wie im Kriege. Alle Ordnung begann sich zu lockern, die zurückkehrenden Soldaten, die draußen noch volle Disziplin hatten, wurden in die Verwilderung hineingerissen. Nicht besser war es in Österreich. Franzosen und Italiener drangen in Tirol ein und bayerische Truppen wurden nach Süden gerichtet. Unser Landhaus in Mittenwald wurde von deutschen Truppen besetzt und Artillerie neben ihm aufgefahren. Noch im letzten Augenblick vor dem allgemeinen Chaos gelang es meiner Frau, die wertvollsten Sachen fortzubringen.

In meinem Institut hatte natürlich jede Arbeit für das Heer aufgehört. Ich wandte mich wieder wissenschaftlichen Arbeiten zu. Schüler hatte ich damals natürlich keine, aber ich selbst wollte die bei der Kriegsarbeit gewonnenen Erfahrungen auf dem Gebiete der Technik des Hochvakuums anwenden. So kam ich zu den Messungen der Leuchtdauer der ungestört leuchtenden Atome,[42] die mit manchen anderen damit zusammenhängenden Fragen mich bis jetzt beschäftigt haben.

Aber neben der wissenschaftlichen Arbeit wurde ich doch wieder in die Politik hineingezogen. Die zunehmende Bolschewisierung Deutschlands und die dadurch hervorgerufenen unerträglichen Zustände riefen zum Widerstand auf. In Norddeutschland gelang es verhältnismäßig bald, unter Führung des Sozialdemokraten Noske die Bolschewisten zu beseitigen. Die Sozialdemokraten kämpften damals auf unserer Seite, weil sie von den Kommunisten ebenso stark bedroht wurden.

In München war damals die Lage hoffnungslos. Die Kommunisten hatten sich nach dem Tode Eisners der Herrschaft bemächtigt und übten einen Terror aus, wie er in Rußland ausgeübt wird. München konnte sich aus eigener Kraft nicht mehr befreien. Wenn man im Ausland glaubte, daß in Deutschland ein Bolschewistenregiment unmöglich sei, so braucht man nur auf München hinzuweisen. Wäre es den Kommunisten gelungen – und sie waren nicht mehr sehr weit davon entfernt –, überall sich so einzunisten wie in München, so wäre Deutschland russischen Zuständen verfallen.

Von München aus suchten die Kommunisten ihre Herrschaft auszubreiten. Es gelang ihnen das in Würzburg, wo von ein paar Hundert Mann Gesindel, die in der Residenz hausten, die Herrschaft ausgeübt wurde. Die Gefahr war groß, daß ganz Bayern bolschewisiert wurde. Ob dann nicht auch in Norddeutschland wieder die Kommunisten die Herrschaft erringen würden, war mindestens unsicher, denn in Halle, in Sachsen, im Ruhrgebiet waren immer wieder neue Kämpfe. Sollte die Bewegung in Bayern zum Halten gebracht werden, so mußte zunächst Würzburg befreit werden. Da alle Arbeiter unzuverlässig waren und die Bauern sich nicht organisieren ließen, blieben nur Offiziere und Studenten für das Befreiungswerk übrig. Ich war Vertrauensmann der Studentenschaft und verhandelte dauernd mit den Vertretern der Studenten und den Offizieren, welche die militärische Leitung haben sollten. Die Hauptschwierigkeit lag darin, daß die Bolschewisten alle Waffen hatten und es nicht möglich war, Waffen in größerer Menge herzubringen, weil dauernd Verrat geübt wurde. Da die Offiziere glaubten, daß Würzburg nur von außen befreit werden könnte, so gingen viele nach Thüringen, um dort eine Truppe zusammenzustellen. Es mußte aber lange dauern, bis[43] diese zum Anmarsch bereit war. Da wurde mir mitgeteilt, daß einige Batterien der Artillerie sich gegen die Bolschewisten erklärt hätten. Die noch in Würzburg gebliebenen Offiziere meinten, mit einigen Kanonen und den noch zurückgebliebenen Studenten könne man die Tat wagen. Kurz vor der Ausführung wurde offenbar Verrat geübt, denn die Bolschewisten nahmen eine Anzahl angesehener Männer als Geiseln gefangen. Trotzdem sollte nicht gewartet werden, obwohl es klar war, daß dringende Gefahr für die Geiseln bestand. Noch im allerletzten Augenblick war alles zweifelhaft, weil plötzlich die Nachricht kam, die Artilleristen wollten nichts unternehmen. Dann aber donnerte der erste Kanonenschuß befreiend in unsere Ohren. Eine Granate sprengte das Tor der Residenz, eine zweite fuhr in den Sitzungssaal der Bolschewisten. Nach kurzem Maschinengewehrfeuer, dem leider einige Studenten zum Opfer fielen, ergriffen die Bolschewisten die Flucht. Nur um den Bahnhof wurde noch gekämpft, dann wurde die ganze Gesellschaft, außer einigen, die geflohen waren, gefangen genommen. Würzburg war wieder frei.

In den Wochen des Terrors war niemand seines Lebens und Eigentums sicher. Immerhin ist nichts Schlimmes vorgefallen, was an die Münchener Zustände erinnert hätte. Sobald Würzburg wieder frei war, wurde an der Befreiung Münchens gearbeitet. Preußische und schwäbische Truppen wurden schon gegen Bayerns Hauptstadt geschickt, die nicht imstande war, sich aus eigener Kraft der meist aus fremdem Gesindel bestehenden Kommunisten zu entledigen. Es war dringend erwünscht, daß auch bayerische Truppen teilnehmen konnten. Außer einem in Thüringen gesammelten, hauptsächlich aus Bayern bestehenden Freikorps sollte auch ein Würzburger Korps gesammelt werden. Ich bildete einen Werbeausschuß aus allen Kreisen der Stadt, welche Freiwillige anwerben sollten. Das Korps war nach kurzer Zeit marschbereit und zog gegen München, das nach heftigen Kämpfen der von allen Seiten herankommenden Truppen eingenommen wurde. Während diese Truppen in München waren, blieb Würzburg unbeschützt und der Gefahr ausgesetzt, wieder von Kommunisten überrumpelt zu werden. Die Zurückgebliebenen mußten den Schutz der Stadt übernehmen. Auch ich habe damals ein Gewehr auf die Schulter genommen und viele Nächte in der Stadt oder am Bahnhof Posten gestanden. Zu irgendwelchen Kämpfen ist es aber nicht gekommen.[44]

Während dieser Wirren ging meine wissenschaftliche Arbeit ruhig weiter, so daß ich noch im Jahre 1919 die ersten Messungsergebnisse veröffentlichen konnte. Die Zustände in Deutschland schienen sich etwas zu beruhigen, aber wir sollten doch noch viel Schlimmeres erleben als wir alle ahnten.

Im Herbst 1919 zog sich Röntgen vom Lehramt zurück und ich wurde als sein Nachfolger nach München berufen. Der Entschluß ist mir nicht leicht geworden. Ich war nun 20 Jahre in Würzburg, hatte in der Stadt festen Fuß gefaßt und war mit dem Boden verwurzelt. Alle meine Kinder waren dort geboren und hatten ihre Kindheit in Würzburg verlebt. Ich war 55 Jahre alt und hatte geringe Neigung, nochmals den Wohnsitz und das Institut zu wechseln. Auf der anderen Seite bot München viel Anziehendes. Besonders fiel ins Gewicht, daß ich bald wieder eine größere wissenschaftliche Tätigkeit in München entwickeln konnte. Die Schule in Würzburg, die sich allmählich angesammelt hatte und besonders aus Ausländern bestand, war durch den Krieg zerstreut. Daß diese nicht so bald wiederkommen würden, war klar. In München konnte ich auf eine größere Zahl deutscher Schüler rechnen. Allerdings mußte in dem dortigen Institut viel für meine Arbeitsrichtung verändert werden, was in der damaligen Zeit nicht leicht war. An ein neues Institut, das eigentlich hätte gebaut werden müssen, war nicht zu denken, und so mußte ich mich auf das Notwendigste beschränken. Die Verhandlungen zogen sich durch den ganzen Winter 1919/20 hin, schließlich entschloß ich mich, noch einmal die Arbeit von vorne zu beginnen.

Im März 1920 fuhr ich nach Berlin zur Sitzung des Kuratoriums der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt. Dort wurde ich Zeuge einer bedauernswerten Unternehmung, die Deutschland viel geschadet hat, des Kapp-Putsches. Ich war zufällig in Berlin, als die Truppen mit klingendem Spiel durch die Wilhelmstraße zogen und die Ministerien besetzten. Bald zeigte sich aber, daß das Unternehmen gar nicht vorbereitet war. Als die Sozialdemokratie sofort den Generalstreik erklärte, wußten die Leiter des Putsches sich nicht zu helfen und das ganze Unternehmen brach zusammen. Nur für Bayern kam der Vorteil heraus, daß die Sozialdemokraten ganz aus der Regierung entfernt wurden. Es ist mir nie klar geworden, was Kapp eigentlich beabsichtigt hatte. Wenn er Zustände schaffen wollte, wie sie nachher in Bayern eingetreten sind, so war dieses Ziel wohl bei genügender Vorbereitung erreichbar.[45] Er scheint aber viel weitergehende Pläne verfolgt zu haben. Ich selbst hatte unter dem Generalstreik dadurch zu leiden, daß ich nicht nach Hause fahren konnte. Alle Bahnen hatten aufgehört zu fahren. Ich wohnte bei meiner Kusine in Lichterfelde und ging jeden Tag zu Fuß zum Bahnhof, um zu sehen, ob nicht ein Zug ging. Ich fühlte mich schon seit einiger Zeit nicht wohl und wurde dann von einer starken Grippe mit Lungenentzündung befallen, so daß ich ins Krankenhaus in Lichterfelde gebracht werden mußte. Dort blieb ich bis Anfang Mai und konnte erst dann einigermaßen geheilt die Rückreise antreten.

Ich benutzte die Krankheit, um mich ganz aus der politischen Arbeit zurückzuziehen. Solange es wirklich etwas Nützliches zu tun gab, war ich bereit, mich zur Verfügung zu stellen, die politische Versammlungstätigkeit mit Reden und Agitation lag mir nicht. Der Sommer 1920 war der letzte in Würzburg. Wir genossen noch einmal die heitere fränkische Landschaft, die großen Laubwälder und die malerische Bischofsstadt. Zwar schien sich die Übersiedlung nach München noch länger hinauszuziehen, weil wir keine Wohnung fanden, als aber durch Zufall doch eine Etage frei wurde, zogen wir im Oktober nach München.

Kurz vorher war auf der Naturforscherversammlung in Nauheim eine Neuorganisation der Deutsch-physikalischen Gesellschaft beschlossen und ich zum Vorsitzenden gewählt.

Kaum in München angelangt, mußte ich nach Berlin fahren, um mit deutschen Industriellen die Helmholtzgesellschaft zur Unterstützung der Physikalisch-Technischen Forschung zu gründen. In München war das Institut neu zu organisieren, die Vorlesung über Experimentalphysik von Grund auf neu einzurichten. Die Umänderungen und Verbesserungen im Laboratorium haben sich über die ganze Zeit meines Münchener Aufenthaltes erstreckt und sind noch nicht ganz beendet. Im Jahre 1923 war ich Dekan unserer Fakultät, 1925–1926 Rektor der Universität, 1925 hielt ich Vorlesungen in London. Alles dieses zusammen in Verbindung mit meiner sonstigen Berufstätigkeit machten die Münchener Jahre mit zu den arbeitsreichsten meines Lebens. Glücklicherweise hielt meine Gesundheit allem stand. Kurze Unterbrechungen der Arbeit, die ich im Gebirge verbrachte, stellten die Leistungsfähigkeit des Körpers immer bald wieder her. Die Hoffnung, daß nach den schrecklichen Stürmen ruhigere Zeiten kommen würden, zeigte sich aber bald als trügerisch. Die Inflation ging ungehindert durch die[46] Regierung vorwärts und machte alle Lebensverhältnisse unsicher. Die Industrie erfreute sich zwar einer trügerischen Blüte, aber alles stand auf schwankendem Grunde. Reisen ins Ausland waren wegen des niedrigen Standes unserer Valuta fast unmöglich. Als ich einmal 1922 nach Zürich reiste, um dort Vorträge zu halten, mußte ich erst einen Vorschuß von meinem dortigen Honorar nehmen, um überhaupt reisen zu können. Unter der Inflation litt das ganze Leben. Jeder Mensch dachte nur, wie er mit seinem Gelde zurechtkommen könne und war dadurch unfähig, noch viel an andere Dinge zu denken.

Natürlich litt auch die wissenschaftliche Arbeit ungemein, da es fast unmöglich war, Apparate oder selbst Reparaturen zu bezahlen. Trotz aller Schwierigkeiten ging aber doch die Untersuchung im Institut weiter und die Zahl meiner Schüler nahm zu. Im Jahr 1923 kam der Ruhreinbruch der Franzosen, der den deutschen Finanzen den Todesstoß versetzte. Die auf den »passiven Widerstand« gesetzten Hoffnungen erfüllten sich nicht. Märtyrer wie Schlageter zeigten, daß in der deutschen Jugend noch Idealismus vorhanden war, konnten aber den Gang der Ereignisse nicht aufhalten.

Im Sommer 1923 brach die deutsche Währung endgültig zusammen. Anfang August, als ich mit meiner Familie und einigen Freunden in Mittenwald unsere silberne Hochzeit unter schwierigen Umständen aber fröhlich feierte, war eine Goldmark gleich einer Million Papiermark. Wegen des schnellen weiteren Sturzes der Mark mußten wir nach München zurückkehren, weil man Geld nicht mehr schicken konnte. In München empfing man sein Gehalt jeden zweiten Tag und das Geld mußte sofort in Nahrungsmittel umgesetzt werden, weil nach einigen Stunden der Wert um die Hälfte gesunken war. Schon seit langer Zeit konnte man nur noch Nahrungsmittel kaufen, weil der Geldwert nur dafür gerade ausreichte. Im September fuhr ich nach Bonn zur Physikertagung. Die Tagung war erfolgreich und eine Freude für die Bewohner des abgeschnittenen Gebietes.

Leider mußte die Versammlung schon nach 4 Tagen auseinandergehen, weil die Bahn die Fahrpreise plötzlich verdreifachte und die meisten nicht mehr hätten nach Hause fahren können. Allmählich wurde der durch die Inflation geschaffene Zustand unerträglich, und nun endlich raffte sich die Regierung zur Stabilisierung auf. Nach den Vorschlägen Helfferichs wurde die[47] Rentenmark geschaffen und nun begann die Besserung, wenn auch zunächst niemand wußte, ob die neue Währung standhalten würde.

Im November kam eine neue Erschütterung durch den Hitler-Putsch. Hitler war ein geschickter Demagoge, der den Einfluß der Sozialdemokraten und anderer nicht national denkender Kreise brechen wollte. Auch Ludendorff hatte sich der Bewegung angeschlossen. Der Plan war offenbar, daß die Reichswehr in Bayern in Verbindung mit Jugendorganisationen gegen Norden ziehen, daß die preußische Reichswehr der Autorität Ludendorffs folgen würde, so daß dann die Eroberung Berlins und der Sturz der sozialdemokratischen Regierungen leicht sein müßte. Die bayerische Regierung schätzte an Hitler, daß er viele Arbeiter zu der nationalsozialistischen Partei hinüberzog. Sie vermied es deshalb, gegen ihn vorzugehen und glaubte stark genug zu sein, um Übereilungen und törichte Unternehmungen zu verhindern. Aber Hitler wollte seinen Plan mit Gewalt durchsetzen, er nahm einen Teil der bayerischen Regierung bei einer Versammlung gefangen, aber nicht den Chef der Exekution Kahr, der sich ihm scheinbar anschloß, um frei zu bleiben. In der Nacht wurden dann die Reichswehr und die Polizei aufgeboten, um den Hitlerischen Aufstand zu unterdrücken und die Regierung zu befreien. Als nun die Hitler-Leute am anderen Vormittag gegen die Ludwigstraße zogen, um ihren Sieg zu vervollständigen, trat ihnen Reichswehr und Polizei entgegen. Ich höre noch die wenigen kurzen Salven der Maschinengewehre, die den Aufstand unterdrückten. Wäre Hitler erfolgreich gewesen, so hätte es zweifellos einen Bürgerkrieg gegeben, dessen Ausgang unberechenbar war. Eines kann man als sicher annehmen, die deutsche Währung wäre abermals zusammengebrochen, da ihre Stabilisierung noch ganz im labilen Gleichgewicht war.

Der Hitler-Putsch rief unter der Münchner Jugend, besonders unter den Studenten eine unsägliche Verwirrung hervor. Viele der am meisten idealistisch und patriotisch Denkenden standen auf Hitlers Seite und der Kampf der Nationaldenkenden untereinander brachte die größte Enttäuschung und tiefe Niedergeschlagenheit. Schon an demselben Tage rotteten sich die Studenten in der Universität zusammen, alle möglichen unkontrollierbaren Elemente strömten hinzu und es wurden wilde Reden gehalten, gegen die der Rektor und die Professoren, die einzugreifen suchten,[48] machtlos waren. Die Universität mußte für einige Tage geschlossen werden. Es hat ein ganzes Jahr gedauert, bis sich die Studentenschaft beruhigt hatte und ein gutes Verhältnis mit dem Senat wiederhergestellt war.

Inzwischen setzte sich die Stabilisierung der Währung ohne Widerstand des Auslandes durch. Da die Regierung infolge der Inflation ganz ohne Geldmittel war, wurde zunächst eine drakonische Besteuerung eingeführt, außerdem die Gehälter auf einer ganz niedrigen Stufe gehalten. Es gab so gut wie keine Unterschiede zwischen den verschiedenen Beamtenklassen. Im Anfang dieses Jahres 1924 betrug mein monatliches Einkommen noch nicht 300 Mark, wovon 8 Personen leben und außerdem noch Steuern von einem imaginären Vermögen gezahlt werden sollten. Es war die Zeit, schlimmer wie im Kriege, in der man sich kaum einen Bleistift, geschweige denn ein Buch oder Kleider kaufen konnte.

Im Sommer 1924 wurde es dann allmählich besser und die Annäherung an die normalen Verhältnisse vollzog sich langsam. Aber in den nächsten Jahren zeigte sich erst die Verheerung der Inflation. Gerade die vaterlandsliebenden Leute, welche ihr Vermögen zum größten Teil in Kriegsanleihen angelegt hatten, verloren so gut wie alles, da auch die Aufwertung ganz unbedeutend ist. Bei Hypotheken war man dem Zufall preisgegeben, da ganz willkürlich ein Termin des Jahres 1922 herausgegriffen war. War eine Hypothek vorher zurückbezahlt, so war sie verloren. Der deutsche Außenminister Stresemann hat es mit Recht als die schlimmste Folge des Krieges bezeichnet, daß durch ihn der deutsche Mittelstand, der Hauptträger der deutschen Kultur, verarmt ist. Zur Pflege der Kultur gehört ein gewisser Wohlstand, da der verarmte Mensch zunächst die unmittelbarsten Bedürfnisse befriedigen muß. Man kann sagen, daß der deutsche Mittelstand von seinem Vermögen nicht mehr als etwa 15%, also einen ganz unbedeutenden Betrag, gerettet hat. Auch ich habe dieses Opfer bringen müssen.

Die Zahl der Schüler im Laboratorium hat in den letzten Jahren so zugenommen, daß die Zahl der Zimmer vergrößert werden mußte. Aber auch meine Arbeitsweise hat sich verändert. In meiner Jugend griff ich die wissenschaftlichen Probleme an, die mich interessierten, ohne zu fragen, ob ein Erfolg wahrscheinlich war. Vieles mußte daher als undurchführbar liegen bleiben. Es war ähnlich wie beim Bergsteigen. Ich war geneigt, zu schnell[49] zu steigen und mich um den Weg nicht zu kümmern und konnte dann den Gipfel nicht erreichen. Jetzt verwende ich die meiste Zeit darauf, um für mich und meine Schüler geeignete Aufgaben zu finden. Die Erfahrung hat mir gezeigt, daß es viel zweckmäßiger ist, so sorgfältig wie möglich zu prüfen, ob eine Arbeit lohnt. Auch das Gebiet der Arbeit ist beschränkter geworden. Früher bewegte ich mich auf dem Felde der ganzen Physik und es machte mir Freude, bald theoretisch, bald experimentell zu arbeiten. Noch bis in den Krieg hinein konnte ich die Fortschritte der gesamten Physik verfolgen. Jetzt hat sich die Ausdehnung so vergrößert, daß es wohl kaum mehr möglich ist, daß ein Physiker noch die ganze Wissenschaft beherrscht. Die allgemeine Relativitätstheorie und die Quantentheorie haben sich fast als selbständige Zweige entwickelt, die von besonderen Spezialisten bearbeitet werden. Das Laboratorium und die dort gemachten Arbeiten nehmen meine Zeit jetzt vollständig in Anspruch.

Noch darf ich hoffen, eine Anzahl von Jahren der Wissenschaft dienen zu können. Mehr als 40 Jahre bin ich in ihr tätig und kann mir ein Leben ohne wissenschaftliche Arbeit nicht recht vorstellen.

Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, so habe ich alle Ursache zufrieden zu sein, soweit ein Mensch, dem immer von seinen Plänen nur ein Teil gelingen kann, zufrieden zu sein vermag. Wenn mich aber Freunde als besonders glücklich preisen, so muß ich doch entgegnen, daß ein Deutscher meiner Generation, der den Niedergang und Sturz seines Vaterlandes erlebt hat, nicht glücklich sein kann. Persönliches Glück und persönlicher Erfolg können nicht über Unglück und Not des Vaterlandes hinweghelfen. Auch kann ich mich von der Sorge für die Zukunft nicht frei machen. Der Wiederaufstieg Deutschlands, der zweifellos begonnen hat, scheint mir noch nicht so schnell und sicher fortschreiten zu können, wie namentlich das Ausland glaubt. Dazu leiden wir zu sehr unter den Folgen des Krieges, dem Kapitalmangel, den Kriegstributen und dem Sozialismus. Und über Deutschland hinaus kann man für das durch die Friedensverträge in lebensunfähige Staatengebilde zersplitterte Europa keine Hoffnung auf haltbare Zustände hegen. Das Problem der Zukunft, das für jeden dem Ende seines Lebens sich nähernden Manne, besonders schwerwiegend ist, ist für uns wohl schwerer als es früheren Generationen gewesen ist.[50]

Quelle:
Wien, Wilhelm: Ein Rückblick. In: Wilhelm Wien, Aus dem Leben und Wirken eines Physikers. Leipzig 1930, S. 1–50, S. 1-51.
Entstanden 1927. Erstdruck in: Wilhelm Wien, Aus dem Leben und Wirken eines Physikers. Leipzig (Johann Ambrosius Barth) 1930.
Lizenz:

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