19.

[127] Die Begründung der modernen oder, wie sie sich selbst nannte, der exakten Physiologie bildet einen bemerkenswerten[127] Bestandteil der allgemeinen Entwicklung der Naturwissenschaften um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie wird vorbereitet durch die philosophische Bewegung, die sich um diese Zeit der Physik und der Chemie, dieser beiden in ihrer modernen Entwicklung der Physiologie vorausgehenden Gebiete, bemächtigt hatte. Besonders die chemischen Theorien, die bereits von Anfang des Jahrhunderts an die alte Atomistik auf eine neue Grundlage gestellt hatten, forderten hier zu allgemeineren Spekulationen über das Wesen der Naturvorgänge heraus. Unter den in dieser Beziehung epochemachenden Arbeiten nehmen durch ihre weitreichende Wirkung Justus Liebigs im Jahre 1844 erschienenen »Chemischen Briefe« eine hervorragende Stellung ein. Sie waren es, die insbesondere auch in der Generation der in der folgenden Zeit auftretenden Physiologen den Streit der hauptsächlich durch die mathematische Physik des vorangegangenen Jahrhunderts angeregten mechanischen Weltanschauung mit den vitalistischen Theorien der älteren Physiologie erweckten. In diesem Streit nahmen Liebigs chemische Briefe und das gegen sie gerichtete Werk Jakob Moleschotts »Der Kreislauf des Lebens«, das sein Verfasser als »physiologische Antworten auf die chemischen Briefe« bezeichnete, eine zentrale Stellung ein. Die originale Bedeutung der chemischen Briefe bestand darin, daß hier zum erstenmal ein Naturforscher das Wort ergriff, um für den alten Vitalismus eine Lanze zu brechen. Auch Liebig hatte das wesentlich als Physiologe getan, denn es waren seine Arbeiten zur Pflanzen- und Tierchemie, die hier ausnahmsweise den modernen Naturforscher das Wort zugunsten des alten Vitalismus ergreifen ließen. Anders stand es mit Moleschotts physiologischen Antworten. Er zählte sich selbst zwar zu den modernen Physiologen, aber diese nahmen ihn doch eher als einen Anhänger der materialistischen Philosophie[128] denn als einen Physiologen von Fach, und gleich ihm fanden daher die anderen populären Schriftsteller, wie Karl Vogt und Ludwig Büchner, wenig Beachtung, sondern man berief sich mit Vorliebe auf einzelne Physiologen der vorangegangenen Zeit, wie Schwann, Schleiden, besonders aber auf die frühesten Schriften von Hermann Lotze, dessen »Allgemeine Physiologie« in besonderem Ansehen stand. Die Autorität, die er hier unter den jüngeren Physiologen genoß, war freilich von kurzer Dauer. Seiner 1851 erschienenen allgemeinen Physiologie folgte schon 1852 seine »Medizinische Psychologie«, die, so großen Einfluß sie auf einzelne Psychologen und Physiologen ausübte, die Physiologen der modernen Schule enttäuschte, weil sie die Spuren der zeitgenössischen Philosophie allzu sehr an sich trug. Meinte doch einer der Vertreter dieser Physiologie, die Wendung, die sich zwischen beiden Werken in der kurzen Frist eines Jahres vollzogen habe, aus der Übersiedlung Lotzes von Leipzig an die konservativere Universität Göttingen erklären zu dürfen. Das war freilich ein Irrtum, der aber immerhin für die mangelhafte philosophische Orientierung der sogenannten exakten Physiologen dieser Zeit ein bemerkenswertes Zeugnis ablegt, das übrigens auch darin sich aussprach, daß bereits Liebig durch seine chemischen Briefe sein naturwissenschaftliches Ansehen in diesen Kreisen einigermaßen beeinträchtigt hatte.

Darum waren es Mathematik und Mechanik, die die moderne Physiologie als ihre Vorbilder betrachtete. Immerhin ging diese im allgemeinen übereinstimmende Tendenz nach zwei charakteristisch verschiedenen Richtungen auseinander, deren eine unter den Begründern der exakten Physiologie besonders von Emil Du Bois-Reymond in dem Vorwort seines Werkes über tierische Elektrizität und in sonstigen Ausführungen, die andere von Carl Ludwig in der Einleitung[129] zu seinem Lehrbuch der Physiologie vertreten wurde. Die Bemerkungen von Du Bois bewegten sich ganz in allgemeinen Gesichtspunkten. Ihm galt als ausgemacht, daß vermöge der Zurückführung aller Naturvorgänge auf Bewegungen, die nach den Gesetzen der Mechanik erfolgten, auch die Physiologie lediglich aus einer Reihe von Anwendungen der analytischen Mechanik bestehen müsse. Auf der einen Seite war daher seine Polemik gegen jene vermeintlich exakte Physiologie gerichtet, die in zahlenmäßigen empirischen Feststellungen bestand und besonders durch Valentins Lehrbücher vertreten war. Im Gegensatz zu diesen mehr statistischen als exakten Ausführungen war es vielmehr die mathematische Betrachtung, verbunden mit der Anwendung der allgemeinen Theorie der naturwissenschaftlichen Prinzipien auf die physiologischen Vorgänge, die von Du Bois in erster Linie gefordert wurde, ohne daß von ihm den allezeit provisorischen numerischen Feststellungen ein besonderer Wert zugeschrieben worden wäre. Charakteristisch blieb bei ihm als ein emphatischer Ausdruck dieser Forderung die in jenen Jahren eine große Rolle spielende »Laplacesche Weltformel«, die Fiktion, nach welcher schließlich eine einzige eventuell freilich unendliche Differentialgleichung Ausdruck des gesamten kosmischen Geschehens von dem einfachen mechanischen Vorgang an bis zu irgendeinem komplexen physiologischen Prozeß sein sollte. Von dem berühmten Mathematiker und Astronomen Laplace rührte diese Idee her. Sie spiegelte einigermaßen den Charakter der naturwissenschaftlichen Weltanschauung im Zeitalter der strengen Galilei-Newtonschen Theorie oder der analytischen Mechanik des Lagrange. Sie würde im jetzigen Zustand der Wissenschaft ein ungeeignetes Bild sein, weil gegenwärtig die analytische Mechanik nicht mehr als das für alle Naturkräfte, z.B. nicht für Elektrizität und Licht, gültige Hilfsmittel[130] angewandt werden kann. Aber zur Zeit, als sich Du Bois über diese allgemeinen Fragen äußerte, war die universelle Bedeutung der Gravitationsmechanik noch unbestritten, und der berühmte Elektrophysiologe ist daher entschuldigt, wenn er diesem Gleichnis einen höheren Wert beilegte, als ihm wirklich zukommt. Immerhin waren schon für ihn die Schwierigkeiten, in die er sich infolgedessen mit dem kosmologischen Unendlichkeitsproblem verwickelte, groß genug, um diesen extremen Folgerungen der mechanischen Weltanschauung einen skeptischen Zug beizufügen, der geeignet war, solche Folgerungen in Frage zu stellen. Er versäumte nämlich nicht, zu bemerken, daß im Grunde alle Vorstellungen, die wir uns von den Atomen, ja zum Teil schon von den Molekülen und Molekularbewegungen machen, hypothetischer Art seien. So kam es, daß bei Du Bois und bei anderen Vertretern der mechanischen Weltanschauung diese zwischen einer universellen Mechanik von unbeschränkter Gültigkeit und einem radikalen Skeptizismus schwankte. Auch dieses Schwanken fand übrigens in den Reden Du Bois seinen charakteristischen Ausdruck, wie dies besonders in seiner berühmten Rede auf der deutschen Naturforscherversammlung zu Leipzig von 1872 hervortrat, wo er auf die Verhältnisse der verschiedenen Naturkräfte zueinander, besonders aber auf die der physiologischen Vorgänge zu den Bewußtseinserscheinungen hinwies. Das viel besprochene »Ignorabimus«, mit dem er diese Rede schloß, wurde sogar von manchen seiner physiologischen Kollegen als ein Rückschritt gegenüber seinen früheren Äußerungen betrachtet, ähnlich wie dies vorher Lotze bei seinem Übertritt von der medizinischen in die philosophische Fakultät widerfahren war. Der Vorwurf ist natürlich ungerechtfertigt. Der Skeptizismus fehlt so wenig in den früheren Äußerungen wie die Laplacesche Weltformel in den späteren. Beide gehören zusammen, aber[131] die Verbindung gewinnt ein etwas verschiedenes Aussehen, je nachdem die eine oder die andere Seite bevorzugt wird. Um eine von beiden ganz los zu werden, muß man entweder mit dem alten Berkeley alle mechanischen Bewegungen in bloße Vorstellungen, oder man muß mit La Mettrie die Empfindungen in mechanische Bewegungen verwandeln. Das ist erst in neuester Zeit wieder annähernd möglich geworden, nachdem, wie Jaques Loeb in seiner »Dynamik der Lebenserscheinungen« gezeigt hat, die Physiologie des Pflanzen- und Tierreichs hinreichend viele sogenannte »Tropismen« bietet, um mit diesen die Bedürfnisse aller möglichen Lebenserscheinungen befriedigen zu können.


Wesentlich verschieden von diesem Programm einer allgemeinen physiologischen Mechanik lauten die Aufgaben, die Carl Ludwig in dem Eingang zu seiner Physiologie dem Experiment am Organismus und seinen Teilen stellt. Er gliedert sie im wesentlichen in drei Verfahrungsweisen. Die erste besteht darin, daß sie an der Hand der Anatomie und Chemie die Bedeutung der Organe zu ermitteln sucht. Die zweite geht von mehr oder weniger komplizierten Apparaten und Leistungen aus und sucht die Faktoren festzustellen, aus denen sich diese als ihre Resultanten zusammensetzen. Die dritte und an sich die vollkommenste, die darum womöglich von Anfang an verfolgt wird, sucht irgendeine Leistung als eine Funktion der sie erzeugenden Bedingungen darzutun. Ist diese dritte Aufgabe vollständig gelöst, so hat die Physiologie damit die an sie gestellten Forderungen endgültig erfüllt. Als Beispiele solcher Funktionsanalysen werden die künstliche Verdauung, die Nacherzeugung des Stromlaufs in elastischen Röhren, die Messung des Blutdrucks und der Geschwindigkeit des Blutlaufs an verschiedenen Stellen der Strombahn usw. angeführt.[132]

Es ist klar, dieses Programm besteht lediglich in einer Reihe einzeln aufgezählter konkreter Aufgaben und der durch ihre Lösung zu erklärenden Erscheinungen. Der einzige Allgemeinbegriff, der dabei Verwendung findet, ist der Begriff der Resultanten, ohne daß übrigens namhaft gemacht wird, aus welchen Faktoren sich dieser zusammensetzt, oder wie er sich etwa von einer bloßen Summe einzelner Erscheinungen unterscheidet. Es ist zwar von Messen und Zählen, aber nirgends von Mathematik im allgemeinen die Rede, und vollends solche Bilder wie die Laplacesche Weltformel liegen dem Verfasser völlig fern. Auch davon, daß die Physiologie der mathematischen Mechanik und Physik sich anzuschließen habe, ist keine Rede; unter dieser Bestimmung einzelner Aufgaben könnte man daher auch eine ganz andere als die mathematisch-mechanische Methode der Funktionsanalyse verstehen. Denn es ist im Grunde nur dies ausgedrückt, daß der Physiologie die Aufgabe zukomme, die Funktionen des Organismus in ihre Teile zu zerlegen, und das ist nichts anderes als eben eine Anwendung des Begriffs der Funktion überhaupt oder, wie wir dies abstrakt logisch ausdrücken können, der Leistungen des Organismus nach ihren kausalen Verknüpfungen. Wenn man dem Du Boisschen Programm vorwerfen kann, es sei einerseits eine Einkleidung in inadäquate Formen und andererseits ein unbestimmtes Bild für irgendein Gebiet der abstrakten mathematischen Mechanik, so könnte man vielleicht von dem Programm Ludwigs sagen, es wende lediglich die allgemeinen Begriffe von Ursache und Wirkung auf einzelne physiologische Erscheinungen an, ohne zu bestimmen, wie gerade diese Erscheinungen zu dem Ganzen der Lebensvorgänge erforderlich seien.

Damit soll sicherlich den beiden ausgezeichneten Physiologen, von denen diese programmatischen Ausführungen herrühren,[133] kein Vorwurf gemacht, sondern nur hervorgehoben werden, wie groß die Schwierigkeiten sind, wenn man noch dazu für ein eben erst im Entstehen begriffenes Gebiet in irgend zureichender Weise derartige Definitionen unternehmen will. Immerhin wird man eingestehen, daß für die praktische Anwendung des Physiologen die Formulierung Ludwigs die brauchbarere ist. Auch besteht ihre größere Brauchbarkeit nicht zum wenigsten darin, daß sie allgemein und darum unbestimmt genug ist, um nicht von vornherein an gewisse Methoden, wie z.B. die der mathematischen Analyse oder der mechanischen Konstruktion, gebunden zu sein.

Als ich in Berlin meine Studien zur Nerven- und Muskelphysiologie begann, war dieses Gebiet in besonders lebhaftem Aufschwung begriffen. Den entscheidenden Einfluß hat hier Du Bois-Reymond geübt, von dem man wohl sagen kann, daß er, so gering an Zahl die jüngere Generation war, die sich der Physiologie zuwandte, doch eine Art Schule gebildet hat. Ludwig stand damals in Zürich noch etwas außerhalb der deutschen Gelehrsamkeit, ebenso Brücke, der sein Leben lang an Österreich gefesselt blieb. So waren es denn auch die Fragen, die Du Bois in den ausführlichen historischen Übersichten seines Werkes behandelte, die unter seinen Schülern eine Reihe von Bearbeitern fanden. Besonders der Einfluß des elektrischen Stroms auf Muskeln und Nerven, das sogenannte »Gesetz der Zuckungen« u.a., stand im Vordergrund dieser Arbeiten. Die Art, wie man dabei den Begriff des Gesetzes handhabte, ist charakteristisch für die exakte Richtung dieser Schule beim Beginn des neuen Zeitalters. Als Zuckungsgesetz pflegt man nach dem Vorbild, das hier schon die Vorläufer der Elektrophysiologen vor Du Bois gegeben, die Reihenfolge zu bezeichnen, in der mit der Verstärkung des Stromes von der noch unter der Reizschwelle gelegenen Grenze aus bis zu den stärksten[134] galvanischen Reizen die Zuckungen eines vom Nerven aus gereizten Froschschenkels auftreten. Zunächst bestand der exakte Charakter dieses sogenannten Gesetzes höchstens darin, daß diese Reihenfolge regelmäßig in der gleichen Weise eintritt, mit der Zuckung bei der Schließung schwächster Ströme bei auf- und absteigendem Strom beginnend, mit der Zuckung bei Öffnung der gleichen stärksten Ströme schließend und bei der dazwischen liegenden allmählichen Verstärkung die Zuckung in allen vier Akten durchwandernd. Nun ist eine solche Regelmäßigkeit der Aufeinanderfolge gewisser Erscheinungen noch kein Gesetz im exakten Sinne des Wortes, solange ein diese Regelmäßigkeit begründendes kausales Verhältnis unbekannt ist. Das würde aber allenfalls heute, wo wir mit den physikalischen Eigenschaften der Kathode und Anode näher vertraut sind, gesagt werden können; zur Zeit als die Untersuchungen über das Zuckungsgesetz schwebten, war das nicht im geringsten der Fall, sondern es läßt sich wohl eher sagen, daß hier die Elektrophysiologie die Vorläuferin der Elektrophysik gewesen ist. Dazu kommt, daß die oben angegebene Gesetzmäßigkeit nicht einmal unbestritten galt, da verschiedene Beobachter das Zuckungsgesetz in einer etwas abweichenden Anordnung formulierten, wahrscheinlich weil dabei die Einflüsse der Jahreszeit, der Ermüdung der Nerven oder des Absterbens der Tiere eine Rolle spielten.

Quelle:
Wundt, Wilhelm: Erlebtes und Erkanntes. Stuttgart 1921, S. 127-135.
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