21.

[143] Das Buch über die Lehre von der Muskelbewegung vom Jahre 1858 war das erste den Umfang einer größeren Zeitschriftabhandlung überschreitende Werk, das ich erscheinen ließ. Es war von Vieweg und Sohn mit vorzüglichen Abbildungen der Apparate und Methoden ausgestattet, und[143] ich hatte begreiflicherweise auf den Erfolg nicht geringe Hoffnungen gesetzt1. Wenn jemals die Erwartungen eines jungen Autors getäuscht wurden, so ist dies aber den meinigen widerfahren. Die Arbeit über die Muskelbewegung ist nicht bloß geringer geschätzt worden, als ich erwartete – darein würde ich mich als einer selbstverständlichen Erfahrung schließlich leicht gefunden haben – sie ist überhaupt nicht geschätzt, sondern sie ist totgeschwiegen worden, zunächst von den maßgebenden Gelehrten, von Du Bois und der Du Boisschen Schule, dann von den sonstigen Physiologen, endlich von der gelehrten Welt überhaupt. Wer hatte auch Anlaß, sich um diesen beschränkten Ausschnitt aus der Nerven- und Muskelphysiologie zu kümmern, wenn es die in ihr arbeitenden Physiologen nicht taten? Zuerst war ich etwas betrübt über dieses Schicksal, dann fand ich mich mit Resignation, später mit Humor in dasselbe, und zuletzt vergaß ich es ganz und begrub in dieses Vergessen die Arbeit selbst. Als ich jetzt nach vielen Jahren aus Anlaß dieser Erinnerungen versuchte, mir den Inhalt der damaligen Untersuchungen wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, bemerkte ich fast zu meinem Erstaunen, daß mir, während mir früher gelegene Ereignisse noch wohl erinnerlich geblieben waren, diese ganze Arbeit, die sich dereinst über viele Monate erstreckte, nur noch in höchst unsicheren Umrissen gegenwärtig war. Bloß die prägnanten Unterschiede der direkten Muskelkontraktion und der Zuckung infolge der Nervenreizung waren mir gegenwärtig geblieben. Die Apparate waren verloren gegangen, die Versuche und ihre Methoden waren aus meinem Gedächtnis verschwunden, ich hatte nur noch das unbestimmte Gefühl, daß ich in den meisten Fällen[144] zu anderen Ergebnissen gelangt war als meine Vorgänger, und daß ich Erscheinungen neu beobachtet hatte, die jenen entgangen waren. So galt mir denn schließlich meine Arbeit als eine ziemlich wertlose Jugendschrift, die von der Welt mit Recht ignoriert worden sei. Jetzt, wo seitdem über 60 Jahre vergangen sind, und wo mir das eigene Buch so entfremdet ist, als wenn es ein anderer geschrieben hätte, darf ich mich vielleicht für so objektiv in eigener Sache halten, daß mir ein hinreichend unbefangenes Urteil zukommt. Kann ich doch mit gutem Gewissen sagen, daß es mir ziemlich gleichgültig wäre, ob ich es bei der heutigen Lektüre als gut oder schlecht beurteilen müßte. Wohl aber darf ich sagen, daß mir die Frage, wie unter Umständen wissenschaftliche oder künstlerische Leistungen entweder berühmt oder vergessen oder endlich von Anfang an ignoriert werden können, zu einem einigermaßen interessanten Problem geworden ist. Denn dieses Problem ist zweifellos nicht ohne Bedeutung für die Verhältnisse des wissenschaftlichen Lebens und Verkehrs überhaupt und des akademischen Verkehrs insbesondere. Wie ist es nun gekommen, daß, während in jenen Tagen die kleinste, an sich höchst unbedeutende Notiz über irgendeine elektrophysiologische Tatsache sich durch den Strom der physiologischen und medizinischen Zeitschriften bewegte, eine Arbeit, in der eine Fülle von Erscheinungen erörtert, sichergestellt und zum Teil neu beschrieben war, nicht etwa bestätigt oder widerlegt oder aber als längst bereits bekanntes Ergebnis früherer Forschung nachgewiesen wurde, trotzdem aus der Literatur verschwinden konnte, als wenn sie niemals existiert hätte? Als ich vor kurzem, um mir diese Frage zu beantworten, die Arbeit wieder las, kam ich aber bei unbefangener Prüfung zu dem Ergebnis, daß sie keineswegs so wertlos sei, wie man nach diesem Erfolg glauben sollte, sondern daß sie[145] nach Plan und Methode wie nach ihren Resultaten noch heute eigentlich der Beachtung wert ist. Schon die sorgfältig ausgearbeitete Methode des Experiments am lebenden, noch mit seinem Nervensystem und Blutlauf in Zusammenhang stehenden Tier ist in Anbetracht der ebenfalls ausführlich nachgewiesenen Veränderungen des ausgeschnittenen Muskels ein erheblicher Fortschritt. Dazu kommt die Nachweisung der bisher ganz unbeachtet gebliebenen Einflüsse der elastischen Nachwirkung. Ferner die Prüfung der Elastizitätsänderungen im Kontraktionszustand des Muskels nach den verschiedenen nebeneinander möglichen Methoden der Überlastung, Schwingung, Ablenkung usw., die sich wechselseitig bestätigend ergänzen, während man sich bisher mit wechselnden und darum durchgehends zweifelhaften Erfolgen nur der Dehnungsversuche bedient hatte; dann als die Hauptsache die Nachweisung, daß die eintretende Abnahme der Elastizität eine Folge der Kontraktion ist und ohne diese ebenfalls ausbleibt. Als eine wichtige Tatsache muß endlich des völlig vom Nerven verschiedenen Verhaltens des Muskels gegenüber dem konstanten Strom gedacht werden. Diese letztere Tatsache ist freilich im völligen Widerspruch mit der Beobachtung von manchen Autoren noch lange nachher als eine »tetanische«, mit der Wirkung rasch sich folgender Induktionsstöße übereinstimmende bezeichnet worden; im allgemeinen ist aber hier immerhin in anonymer Weise, ohne daß man des Beobachters gedacht hätte, die »Dauerkontraktion des Muskels durch den konstanten Strom« als ein nicht zu bestreitendes Faktum stehen geblieben.

Wie erklärt sich nach allem dem dieser Mißerfolg? Jedem unbefangenen Leser muß sich hier die Überzeugung aufdrängen, daß diese Bearbeitung des Problems die vollständigste ist, die überhaupt existiert, daß es in ihr gelungen ist, eine Menge bisher widerspruchsvoller Ergebnisse[146] in einen verhältnismäßig durchsichtigen Zusammenhang zu bringen, ja daß sie über den zu ihrer Zeit gegebenen Zustand hinaus möglicherweise die Grundgedanken einer Elektrophysiologie der Zukunft vorausnimmt. Auch die Form der Veröffentlichung bewegt sich ganz in den herkömmlichen Geleisen. Ich hatte das Buch Du Bois Reymond gewidmet, weil ich ihm für den Hinweis auf das, wie ich erkannte, fruchtbare Thema aufrichtig dankbar war, und ich konnte um so mehr bei ihm auf eine günstige Aufnahme hoffen, da er schon, als ich in Berlin noch mit dem bloß vorbereitenden Thema über die elastische Nachwirkung beschäftigt war, sogar in seiner Vorlesung über allgemeine Physiologie, der ich selbst beiwohnte, auf die künftig erscheinende Untersuchung hinwies. Aber als ich ihm das Buch übersandte, entschuldigte er sich, daß ihm im Augenblick zur Lektüre die Zeit fehle, und später hat er offenbar diese Zeit niemals gefunden. Ich blieb endgültig ohne Antwort. Was kann ihn verletzt haben trotz der Anerkennung seiner Leistungen und der Beziehung auf seine Arbeiten, woran es das Buch nicht fehlen läßt? Ich glaube schließlich, die Ursache entdeckt zu haben. Sie bestand weder in den angewandten Methoden noch in den gefundenen Tatsachen, sondern es war etwas ganz anderes, woran ich in meiner Harmlosigkeit nicht gedacht hatte. Die Verhältnisse von Nerv und Muskel in ihren Teilfunktionen einerseits und ihrem Zusammenwirken andererseits hatten mich zu der Überzeugung geführt, daß die schablonenhaften Ausführungen über die Mechanik der Lebensvorgänge gegenüber dem verwickelten und doch einheitlichen Ineinandergreifen dieser Vorgänge unzulänglich seien, weil sie durchweg mit bloßen unbestimmten Analogien operierten, die eines Anhaltspunktes zur Interpretation des eigentlichen Wesens dieser Erscheinungen völlig entbehrten, und ich hatte dabei zugleich an die Forderungen angeknüpft,[147] welche die Morphologie der Organismen, so abweichend ihre eigene Aufgabe sein möge, an die physiologische Analyse zu stellen berechtigt sei. Nicht eine reine Anwendung der analytischen Mechanik auf die Lebensfunktionen könne hier in Betracht kommen, sondern eine zukünftige vitale Mechanik, die nicht aus einem bloßen Nebeneinander von Atom- oder Molekularbewegungen, sondern in den Entwicklungsgesetzen der lebenden Wesen ihre Grundlagen finde. Ich kann ja nicht leugnen, daß ich bei diesen Erörterungen, mit denen ich das Buch über die Muskelbewegungen eröffnete, an Ausführungen dachte, wie sie Du Bois etwa in der Vorrede zu seinem Werk über tierische Elektrizität gegeben hatte, aber ich war doch weit entfernt, dies irgendwie anzudeuten oder ihn gar als Beispiel eines solchen Verfahrens zu nennen. Gleichwohl ist mir das Mißgeschick, das ich hier erlebte, eine heilsame Lehre für die Zukunft geblieben. Nicht als ob ich aus dieser Erfahrung gelernt hätte, in künftigen Fällen ähnlicher Art meine Überzeugungen zu verbergen. Aber zwei Vorsätze sind aus Anlaß solcher Erfahrungen in mir lebendig geblieben. Der erste dieser Vorsätze lautet: wenn du je einen Schüler hast, so lasse ihn wo immer möglich selbständig seinen Weg gehen; der zweite: hüte dich, ein Schulhaupt zu werden. Ich habe später mit manchem aus der Du Boisschen Schule freundlich verkehrt, und ich erinnere mich nicht, ihm das Unrecht vergolten zu haben, das er mir bei dieser Gelegenheit etwa angetan hat, denn ich meine, auch für diesen Fall gilt die Regel, daß für die Mängel der Schule nicht der Schüler die Schuld trägt. Was aber jene Vorsätze betrifft, so glaube ich, ihnen mein Leben lang treu geblieben zu sein, obgleich ich bekennen muß, damit nicht immer Dank geerntet zu haben.

Doch das Mißgeschick, das den Versuchen zur Lehre von der Muskelbewegung widerfahren, war es nicht allein, das[148] mich veranlaßte, der Elektrophysiologie vorläufig und für längere Zeit ganz den Rücken zu kehren. Es war ein anderes Problem, das aus früherer Vergangenheit im Vordergrund meines Interesses stand: das Problem der Sinneswahrnehmung. Ich hatte als klinischer Assistent inmitten der berufsmäßigen Beschäftigungen mit Temperaturmessungen und Stoffwechseluntersuchungen meine ganze freie Zeit den hierher gehörigen Aufgaben zugewandt. Es drängte mich daher, die unterbrochenen Studien wieder aufzunehmen.

1

Den Leser, der von der technischen Seite der Arbeit, die sich in der obigen kurzen Beschreibung nicht wiedergeben ließ, eine genauere Kenntnis nehmen will, muß ich hier auf das Buch selbst verweisen.

Quelle:
Wundt, Wilhelm: Erlebtes und Erkanntes. Stuttgart 1921, S. 149.
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