25.

[170] Die große wissenschaftliche Bedeutung der von Helmholtz entwickelten Theorie der Gesichtswahrnehmungen besteht darin, daß sie die geschichtliche Entwicklung der physiologischen Wahrnehmungstheorien gewissermaßen zu einem einheitlichen Ganzen gestaltet, indem sie selbst drei Stadien durchläuft, welche deutlich die Spuren der oben geschilderten Entwicklungsstufen der Sinnesphysiologie an sich tragen. Dabei besitzen diese Darstellungen den großen Vorzug, daß sie das Werk eines einzigen und noch dazu desjenigen Forschers sind, der gegenüber den konkreten Problemen der physiologischen Optik eine überragende Stellung einnimmt. Ihre Bedeutung liegt darum aber auch nicht zum wenigsten darin, daß gerade Helmholtz keineswegs an den einmal gefaßten Anschauungen eigensinnig festhielt, wie das sonst so oft zu geschehen pflegt, sondern fortan bemüht war, ebenso den im Laufe der Zeit wechselnden äußeren wissenschaftlichen Einflüssen wie dem Fortschritt seiner eigenen Arbeiten Folge zu leisten. Dadurch gewinnen die hierher gehörigen Schriften dieses Forschers einen durchaus originalen Charakter, der aber daneben für die Geschichte des Übergangs der rein physiologisch fundierten Theorie der Wahrnehmung in die entschieden psychologische kennzeichnend ist. In dieser Beziehung ist die Unbefangenheit anerkennenswert, mit der dieser große Physiologe seine ursprünglichen Anschauungen teilweise aufgab und durch neue, den Zeitverhältnissen und namentlich auch den philosophischen Einflüssen derselben besser angepaßte ersetzte. Einen bemerkenswerten Unterschied bildet dabei übrigens auch der mehr oder weniger populäre oder der streng wissenschaftliche Zweck der verschiedenen Darstellungen.

Mit Rücksicht auf dieses letztere Motiv kann als die getreueste[170] Wiedergabe des Ausgangspunktes und damit des ersten der oben erwähnten Stadien der Entwicklung die in den populären Schriften vom Jahre 1871 erschienene, aber wesentlich früher entstandene Arbeit über die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens betrachtet werden. Denn sie ist ihrem Inhalte nach offenbar eine Zusammenfassung der Anschauungen, von denen Helmholtz ursprünglich selbst ausgegangen war. Ist es doch diejenige seiner Darstellungen, deren Grundlage die beiden für ihn charakteristischen Punkte enthält: die Annahme eines unbewußten Schließens als des Motivs der Wahrnehmung und die Auffassung der Empfindungen als der Zeichen für eine objektive Existenz der Wahrnehmungsinhalte. Negativ kennzeichnend für dieses Stadium ist zugleich der Verzicht auf jede Erkenntnis des Raumes als solchen, indem dieser entweder unmittelbar mit Kant als a priori gegeben oder vom empiristischen Standpunkt aus als eine ursprünglich dem Tastsinn zukommende und dann auf den Gesichtssinn übertragene Eigenschaft angesehen wird. Dafür soll erstens die größere Einfachheit der Verhältnisse des Tastsinns gegenüber dem Gesichtssinn sprechen, vor allem aber auch die Tatsache, daß es Blindgeborene gibt, Menschen also, die niemals gesehen haben, und doch räumliche Wahrnehmungen besitzen, während das Umgekehrte, ein räumliches Sehen ohne gleichzeitige räumliche Tastwahrnehmungen niemals vorkommt. Damit bleibt der Physiologie des Sehens dem Wahrnehmungsproblem gegenüber nur die Aufgabe, die Eintragung der Gesichtsempfindungen in die durch den Tastsinn entstandene räumliche Ordnung zu vermitteln.

Gegenüber dieser einfachsten Form der empiristischen Theorie ist nun die in der ersten Auflage der physiologischen Optik vom Jahre 1866 eine viel verwickeltere. Sie bezeichnet ein zweites Stadium, in welchem neben den angegebenen[171] Motiven, die im wesentlichen unverändert beibehalten werden, andere, aus philosophischen Einflüssen stammende mit berücksichtigt sind. Diese philosophischen Einflüsse kommen aber aus verschiedenen Quellen und sie stehen daher eigentlich im Widerstreit miteinander. Auf der einen Seite substituiert der Verf. dem Kantischen a priori des Raumes der Anschauung das ebenfalls Kantische a priori des Begriffs der Kausalität. Daß Helmholtz hier etwas von dem Schritt gewußt habe, den im gleichen Sinne bereits Schopenhauer getan, ist ausgeschlossen; er hat bis zuletzt Schopenhauer nicht gekannt, was sich aus der späten Verbreitung der Schopenhauerschen Philosophie überhaupt erklärt, wie schon oben bemerkt wurde. Um so bezeichnender ist die unabhängige Entstehung des gleichen Gedankens bei zwei so verschiedenen Autoren dafür, daß diese mißbräuchliche Übertragung des Kausalbegriffs auf ein ihm heterogenes Problem ein dem populären psychologischen Denken an sich naheliegender Zug ist. Auch ist es charakteristisch, daß Helmholtz diese Apriorität des Kausalbegriffs einführt, um damit eine positive Erklärung für die Objektivierung der Empfindungen zu gewinnen, was er ursprünglich als außerhalb der Physiologie liegend abgelehnt hatte. Doch neben Kant ist es noch ein zweiter Philosoph, den er herbeizieht: es ist der in der gleichen Zeit in der deutschen Naturwissenschaft zu hohem Ansehen gelangte John Stuart Mill. Er bildet freilich gerade bei diesem Problem den diametralen Gegensatz zu Kants Apriorismus, der, wenn ihn auch Kant selbst hinsichtlich dieser Verwendung des Kausalbegriffs nicht teilt, doch jedenfalls im Geiste desselben gedacht ist. Mill dagegen, der überall den logischen Begriffen psychologische Anschauungen unterschiebt, erkennt die Existenz apriorischer Begriffe überhaupt nicht an, sondern er verwandelt sie durchgängig in empirische Vorstellungen, die, wo sie von[172] allgemeinerer Beschaffenheit sind, in der Induktion oder, was für ihn mit dieser zusammenfällt, in Analogieschlüssen ihre Quelle haben. Demnach macht auch Helmholtz von einem solchen Analogie- oder angeblichen Induktionsschlusse Gebrauch, um die Objektivierung der Sinneseindrücke zu erklären. Wenn wir, so lautet das für diese Operation charakteristische Beispiel, auf das Auge am Nasenwinkel einen Druck ausüben, so projizieren wir die entstehende Lichtempfindung nicht auf dieselbe, sondern auf die entgegengesetzte Seite, also in den auf der Schläfenseite des Auges liegenden Raum. Diese Lokalisation ist von uns unter Führung des Tastsinns hundertfältig geübt worden, und sie wird daher weiterhin in der gleichen Weise auch dann geübt, wenn ihr der Tastsinn nicht helfend zur Seite steht. So treffen hier, wie man sieht, ein aprioristisches und ein empiristisches Motiv im selben Resultat zusammen: wir verlegen den Eindruck nach außen unter der Führung des apriorischen Kausalprinzips, und wir orientieren ihn nach der entgegengesetzten Seite des Raumes infolge einer empirischen Analogie oder Induktion.

Sind es gemischte Motive, apriorische und empirische, die in dieser zweiten Periode der Theorie zusammenwirken, so ist es nun ein völlig neuer Standpunkt, den Helmholtz in der dritten, endgültigen einnimmt. Es ist die zweite Auflage der physiologischen Optik, die ihn zu dieser Neubearbeitung veranlaßt hat. Sie ist im Jahr 1885 geschrieben, aber erst 10 Jahre später nach seinem Tode erschienen. Hier kehrt er insofern zu seinem Ausgangspunkte zurück, als er die Einmengungen psychologischer Erwägungen gänzlich zurückweist, um bloß die physiologische Seite des Problems zu erörtern. Zu diesem Zweck scheidet er prinzipiell im Anschluß an Kant das ausschließlich der Psychologie überlassene Gebiet des »inneren Sinnes« von den äußeren Sinnen,[173] mit denen es die Physiologie allein zu tun habe, und für dieses Gebiet kommt nur das experimentelle Material der physiologischen Forschung in Betracht. Demnach fallen hier die früher benutzten unbewußten Schlüsse ebenso wie der für die Projektion nach außen herangezogene Kausalbegriff hinweg. Allerdings bleibt ein Rest psychologischer oder logischer Betrachtung insofern bestehen, als die Notwendigkeit der gelegentlichen Heranziehung der Vorstellungsassoziationen anerkannt wird, die dann freilich in der wirklichen Durchführung die dominierende Rolle spielen. Immerhin ist der Physiologie jetzt dadurch die Herrschaft gesichert, daß der Verf. ausschließlich das Material seiner vorangegangenen experimentellen Arbeiten berücksichtigt. Was diese Experimente über das Zustandekommen unserer Vorstellungen von der Existenz, der Form und der Lage äußerer Objekte lehren, das allein wird als die Aufgabe der Physiologie anerkannt. Insbesondere sind es zwei Bestandteile der Gesichtsvorstellungen, die dabei in Betracht kommen: der eine soll in der Lokalisation der Eindrücke, der andere in der Richtung des Sehens bestehen. Für die erste benutzt Helmholtz jetzt ausschließlich den Begriff eines den Netzhautelementen inhärierenden Lokalzeichens, für die Richtung des Sehens nimmt er die bei den Stellungen und Bewegungen des Auges wirksamen »Innervationsgefühle« in Anspruch. Beide sind nach ihm völlig voneinander unabhängige Faktoren der Wahrnehmung, und auf dieser Unabhängigkeit beruhen wesentlich die beiden Erscheinungen, die uns über die physiologische Seite des optischen Wahrnehmungsproblems Rechenschaft geben. Die eine dieser Erscheinungen besteht in den Sinnestäuschungen, die andere in den individuellen Unterschieden der Lokalisation. Eine Sinnestäuschung tritt unabweislich dann ein, wenn zwischen der Lokalisationsvorstellung und der Richtungsvorstellung Abweichungen vom[174] gewohnheitsmäßigen Sehen stattfinden. Dies geschieht z.B., wenn ein Schielender die Lokalempfindungen des rechten und linken Auges mit den Richtungen beider Augen verwechselt: er sieht dann statt des erhabenen ein vertieftes Relief und umgekehrt. Individuelle Abweichungen in den normalen Gesichtsbildern entstehen dann, wenn gewisse Konstanten der Wahrnehmung vermöge individuell abweichender Gewohnheiten in verschiedener Weise sich ausbilden. Dahin gehören z.B. die individuellen Verschiedenheiten der sogenannten Primärstellung der Augen, d.h. derjenigen Stellung, von der aus bei der Bewegung keine Raddrehung derselben gegeneinander eintritt, ein Verhältnis, das auf die gewohnheitsmäßige Höhenlage der Augen zurückzuführen sei. Man muß anerkennen, daß in dieser letzten Fassung der Theorie diese ganz auf den Tatsachen der physiologischen Optik selbst aufgebaut erscheint; aber es ist ebenso unverkennbar, daß dabei überall zugleich die physiologischen Faktoren als die Elemente von Assoziationen und Reproduktionen der Empfindungen verwendet werden, und zwar bilden diese nicht bloß gelegentliche Aushilfen, wie sie genannt werden, sondern beim Lichte besehen sind sie überall die im stillen herbeigezogenen psychischen Motive, ohne die ja überhaupt keine Vorstellung zustandekommt.

In diesem letzten Stadium ihrer Entwicklung hat sich nun aber offenbar die Selbstauflösung der empiristischen Theorie vollendet, nachdem die rein physiologische Interpretation unter Verzicht auf alle psychologischen oder philosophischen Hilfsbegriffe noch einmal den Versuch gemacht hat, aus den Tatsachen der Sinnesempfindung und ihren von physiologischen Gesetzen bestimmten Zusammenhängen die Gesichtsvorstellungen abzuleiten. Hatte der Ausdruck unbewußtes Schließen, von dem die Theorie ausgegangen war, im Hinblick auf den Mangel einer jeden näheren Definition dieses[175] Schlußprozesses nur die Bedeutung einer unbestimmten Anweisung an die Psychologie, die dies zu besorgen habe, so war diese Lage durch die spezielle Übertragung dieser Pflicht an den Tastsinn nicht gebessert worden, so lange demselben nur die allgemeinere und einfachere Natur seiner Funktionen zur Seite stand. Noch weniger konnte die Berufung auf die Blindgeborenen aushelfen, da hierbei außer Betracht blieb, daß der Raumsinn der Blinden nicht nur sehr viel langsamer sich entwickelt als der Gesichtssinn, sondern daß auch die räumlichen Vorstellungen beider Sinne in den Tast- und in den Lichtempfindungen auf völlig verschiedenen Substraten sich aufbauen. Zudem fällt ins Gewicht, daß derjenige Blinde, der über Erinnerungen an räumliche Gesichtsbilder verfügt, regelmäßig seine Tasteindrücke mit den entsprechenden Gesichtsvorstellungen assoziiert, während diese keineswegs der Assoziation mit den Tasteindrücken zu ihrer Lokalisation bedürfen. Eben so ist in der zweiten Form der Theorie die Umkehrung der Sehrichtung beim Druck auf das Auge offenbar keine Wirkung der Lokalisation des Tasteindrucks, sondern diese Interpretation ist eine Umkehrung der wirklichen Verhältnisse: die optische Vertauschung der Sehrichtung folgt nicht der Lage des tastenden Fingers, sondern die Lichtempfindung, die dieser Druck erregt, folgt dem allgemeinen Gesetz der Lokalisation der Lichtreize. Und wenn die Lokalisation nach dem Tasteindruck genügte, so würde die außerdem angenommene Subsumtion unter das Kausalgesetz eine überflüssige apriorische Zugabe sein; denn, wenn der Gesichtssinn an und für sich schon die Fähigkeit hat, seine Eindrücke nach außen zu projizieren, so bedarf er der Beihilfe des Tastsinns überhaupt nicht. Endlich der Ersatz der Kausalität durch die empiristischen Begriffe der Assoziation und Reproduktion im letzten Stadium der Theorie ist wiederum eine Anleihe bei der Psychologie, wobei die Existenz räumlicher Vorstellungen[176] bereits vorausgesetzt wird. Kann doch eine Sinnestäuschung durch verkehrte Assoziation der Eindrücke nur entstehen, wenn eine normale Sinnesvorstellung vorhanden ist, welche ihr vorausgeht; und eine Verschiedenheit bestimmter Vorstellungen infolge des Einflusses der Gewohnheit kann es nur geben, wenn irgendwelche Vorstellungen schon vorhanden sind, die diesem Einfluß Folge leisten. So führt die empiristische Theorie, welche Wege sie auch einschlagen mag, mit innerer Notwendigkeit auf einen nativistischen Ausgangspunkt zurück, indem sie eine ursprüngliche, nicht weiter abzuleitende Erfahrung voraussetzt, welche die Grundlage aller weiteren Erfahrungen bildet, die demnach nur in Verbindungen und Umwandlungen solcher ursprünglicher Inhalte bestehen. Gegenüber den unzulänglichen Hilfsmitteln, deren sich der Empirismus bedient, gibt es daher schließlich nur einen einzigen Weg, auf dem diesem Mangel abzuhelfen ist: das ist die psychologische Analyse der Raumvorstellung als solcher. Um zu erkennen, wie sich einzelne empirische Raumvorstellungen bilden, müssen wir wissen, wie der Raum überhaupt als Funktion unseres Bewußtseins entsteht. Damit enthüllt sich das Problem der Sinneswahrnehmung nach allen diesen vergeblichen Versuchen, ihm von anderen Seiten her beizukommen, als ein psychologisches, das, wie es selbst eine psychologische Analyse fordert, so mit innerer Notwendigkeit die Berücksichtigung des gesamten Inhaltes psychologischer Erfahrungen nötig macht.

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Wundt, Wilhelm: Erlebtes und Erkanntes. Stuttgart 1921, S. 170-177.
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