32.

[242] Zum ersten Male habe ich Zürich um das Jahr 1858 gesehen. Es war ein wundervoller Sommertag, als ich abends spät in Zürich ankam. Mein erster Weg ging nach dem See. Der Eindruck ist mir unauslöschlich im Gedächtnis[242] geblieben. Über mir der völlig wolkenlose Sternenhimmel, zu meinen Füßen der diesen Himmel spiegelnde See, bedeckt mit zahllosen Booten, Musik und Gesang von allen Seiten. Es war ein Schauspiel, wie ich es noch niemals vorher und wie ich es eindrucksvoller niemals später erlebt habe. Und als ich am folgenden Morgen zuerst über den See nach dem malerisch am See gelegenen Horgen, von da aus hoch auf dem Dach des Eilwagens durch das obstreiche Hügelland nach Zug, von hier über den tiefblauen Zuger See nach Arth fuhr, um von Arth aus auf die Höhe des Rigi zu wandern, wo sich nun überraschend das Bild des gewaltigen Vierwaldstättersees eröffnete, da meinte ich, schöneres und größeres könne es in der Welt nicht geben. Vollends als sich unter mir, auf der Höhe angelangt, ein plötzlich die ganze Szene verhüllendes Gewitter zusammenzog, dessen nach oben gerichtete Blitze mich von allen Seiten umgaben, da vollendete dieser Kontrast die Macht der Eindrücke, die sich in diese Tageswanderung zusammendrängten. Ich bin später noch manchmal den gleichen Weg gewandert, selbst nachdem die Rigibahnen die Poesie der alten Rigiwanderungen zerstört hatten, aber so überwältigend wie dieses erste Mal ist mir nie wieder die Natur dieser schweizerischen Landschaft entgegengetreten.

Anders war es, als ich 1874 mit meinem Freunde Heinrich Weber, der einige Jahre vor mir als Mathematiker an das Züricher Polytechnikum berufen worden war, an einem heißen Sommermorgen in den Vordörfern von Zürich herumwanderte, um eine von dem Geräusch der Stadt etwas abliegende Wohnung zu finden, in der ich mich mit meiner Gattin im Herbst niederlassen könnte. Uns fiel schließlich als ein für ein stilles Gelehrtendasein geeignetes Asyl ein Häuschen ins Auge, das, zu einem größeren Anwesen gehörend, in freundlicher Umgebung gelegen war. Das aus mehreren[243] Häusern bestehende, von ausgedehnten Höfen und Gärten umgebene Landgut, von dem es einen kleinen Teil bildete, war der Beckenhof von Unterstraß. Der Beckenhof war dereinst Eigentum des aus der Literaturgeschichte bekannten Johann Jakob Bodmer, des schweizerischen Historikers und Dichters der »Noachide« gewesen, und seine Nachkommen und Erben bewohnten noch das stattliche Hauptgebäude des Gutes. Ein letzter Sprosse des Geschlechts hörte bei mir Vorlesungen. Das Häuschen, das ich gemietet, war ein altes Erbstück, wie es als ein kleiner Anbau den größeren Herrenhöfen in der Umgebung Zürichs eigen ist. Es war in der Regel dazu bestimmt, die alten Leute aufzunehmen, die sich, wenn sie ihre Geschäfte und Ämter an ihre Söhne abgegeben, auf diesen kleinen Ruhesitz zurückzogen. Hierin wie in vielem andern boten die zahlreichen Vordörfer weit mehr als die Stadt selbst ein Bild des alten Zürich, wie es schon vor Jahrhunderten bestanden haben mag. Die Einrichtungen mancher dieser Häuser zeigten noch eine Verbindung äußerster Bedürfnislosigkeit mit naiver Offenherzigkeit, wie sie uns heute fremdartig anmutet. So traf ich auf meiner Mietwanderung ein Häuschen, dessen Erbauer offenbar unter den Innenräumen zu einer Badeeinrichtung keinen Platz mehr gefunden hatte. So befand sich denn das Bad auf dem zu dem Haus führenden Hof unter offenem Himmel und unmittelbar neben der offenen Straße. Da in der vorüberfließenden Limmat die Dorfjugend ebenso offenherzig zu baden pflegte, warum sollte man sich dieselbe Freiheit nicht auch auf seinem eigenen Besitz herausnehmen? Auch an der von mir gemieteten Wohnung hatte meine junge Frau manches auszusetzen, was immerhin, so einfach unsere Lebensgewohnheiten waren, doch mit diesen nicht recht übereinstimmen wollte. So gab es in unserer kleinen Küche nur einen einzigen Topf, in welchem die drei Ingredienzien einer gewöhnlichen bürgerlichen Mahlzeit,[244] Suppe, Fleisch und Gemüse, zusammen bereitet und dann auch von den ehrsamen Bewohnern aus einer einzigen Schüssel in der Küche selbst verzehrt wurden. Aber das waren Dinge, bei denen wir bald die nötige Ausgleichung mit unsern eigenen, nicht allzu anspruchsvollen Gewohnheiten zu finden wußten, und die uns im ganzen ein glückliches Jahr in diesem Häuschen des alten Beckenhof durchleben ließen, namentlich im Sommer, wo wir den winterlichen Kampf mit den durch ihre riesigen Dimensionen imponierenden, aber nur spärliche Wärme spendenden Kachelöfen der Züricher Patrizierhäuser überwunden hatten.

Waren solche Reste vergangener Sitten in der Stadt Zürich selbst mit ihren zum Teil modern aufgebauten Straßen und vor dem Fremdenstrom, der sich durch diese ergoß, allmählich verschwunden, so fehlte es aber auch hier nicht an Erscheinungen, die an vergangene Zeiten erinnerten. Da fiel vor allem der Kontrast auf, der in allen Klassen der Gesellschaft zwischen der Beschränktheit und Sparsamkeit des täglichen Lebens und der Freude an dem geräuschvollen Treiben der Festtage und den üppigen Gelagen bestand, von denen diese nicht selten begleitet waren. Alt überliefert waren hier besonders die Zunftfeste, die noch immer alljährlich in den alten Zunfthäusern gefeiert wurden. Die Zünfte selbst waren in ihrer politischen und wirtschaftlichen Bedeutung verschwunden, aber an der Feier der Zunftfeste hielten die Nachkommen fest. Daneben fehlte es nicht an öffentlichen Jahresfesten, in denen sich ein buntes Leben auf den Straßen bewegte. Die in der ganzen Schweiz beliebten Schützen- und Sängertage bildeten besondere Steigerungen derselben. Maskierte Umzüge waren dabei zuweilen ein hervorstechender Festschmuck. Eine merkwürdige Probe davon habe ich auf dem Beckenhof erlebt. Der Schwiegersohn des Hauses, der die Verwaltung des Hofes leitete, war an einem solchen[245] Festzug in der Rolle des Götz von Berlichingen beteiligt. Er starrte in der glänzenden Rüstung des Ritters, die ihm so gefiel, daß er noch Tage nachher in ihr auf seinem Hof und auf der Straße herumstolzierte.

Die prächtige Schilderung, die uns Gottfried Keller im Grünen Heinrich von einer Tellaufführung in der freien Natur hinterlassen hat, bei der die Mitspieler samt Zuschauern die zu Orten der Handlung erkorenen Landschaften durchwandern, gibt ein anschauliches Bild dieser der ganzen Bevölkerung eigenen Neigung, den einmal begonnenen Genuß einer Festfreude so lang wie möglich auszudehnen. Daneben gab es besondere Jugendfeste, die noch lange nach dem Verlassen der Schule die Genossen der gleichen Konfirmation zusammenführten, die Männer und die Frauen getrennt. So konnte es kommen, daß später die Patriziergattin mit ihrem Dienstmädchen ihr Leben lang auf diesem Fuß der Jugendfreundschaft verkehrte. Jetzt werden vermutlich unter der Macht des Weltverkehrs, der auch die Landessitten allmählich der Gleichförmigkeit der Weltmoden weichen läßt, diese Verhältnisse sich geändert haben, ihre Spuren werden schwerlich ganz verschwunden sein. Ein eigenartiges Jugendfest, das sich alljährlich wiederholte, war das sogenannte »Knabenschießen«. Die Polizei hielt im ganzen auch in Zürich streng darauf, daß der Unbefugte keine Waffen trug. Aber an diesem Tage war es anders. Da übergab der Vater seinem halbwüchsigen Sohn seine Büchse mit einer zureichenden Menge blinder Patronen, und nun ging ein betäubendes Schießen los, das den ganzen Tag andauerte. Es mag sein, daß diese Sitte ursprünglich dazu bestimmt war, die junge Generation auf ihren künftigen Waffendienst vorzubereiten, jetzt war sie jedenfalls längst zu einem bloßen Spiel geworden.

Ganz im Geist dieser unvertilgbaren Festfreude gab es[246] aber auch Bräuche festlicher Art, die zu einer bestimmten Zeit des Jahres viele Tage lang andauerten. Eine solche Festzeit war die Weinlese. Der Wein, der an den Ufern des Zürichsees wächst, ist ein sehr saures Getränk, aber wenn er im Hochstadium der Gärung begriffen ist, gewährt er einen höchst erquickenden, freilich auch wegen seiner berauschenden Wirkung nicht ganz unbedenklichen Genuß. Da nun jeder, der seinen eigenen Weinberg hat, auch seinen eigenen Wein keltert, so hat sich die Sitte ausgebildet, daß das sonst auf die Wirtshäuser beschränkte Schankrecht zur Zeit der Weinlese auf jeden Weinbergsbesitzer übergeht, und dieser verfehlt nicht, dies den Vorübergehenden durch ein Plakat mit der Aufschrift »Suser im Stadium«, das er an seinem Fenster anbringt, kundzutun. Daß diese Einladungen fleißig benutzt werden, verraten die schwankenden Gestalten, denen man an diesen Tagen begegnet, und die allen Klassen der Gesellschaft angehören. Der Seewein ist übrigens in Zürich allgemeines Nationalgetränk und wird innerhalb aller Klassen der Bevölkerung in ziemlich reichlichen Mengen genossen. Ein Dienstmädchen erhält einen Schoppen, eine im Hause beschäftigte Wäscherin zwei Flaschen als tägliches Deputat. Der wohlhabende Bürger zieht allerdings die süßeren, aber auch schwereren Weine der Südschweiz vor, und der Kantonsrat läßt sich wohl auch um der Popularität willen den Inhalt seiner Bordeauxflasche in eine der für den Landwein bestimmten offenen Flaschen umgießen.

Quelle:
Wundt, Wilhelm: Erlebtes und Erkanntes. Stuttgart 1921, S. 242-247.
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