9.

[53] Als ich das Gymnasium besuchte, spielte in den kleineren Städten die Frage, ob sich in der gleichen Stadt eine Universität befand oder nicht, eine wichtige Rolle. War das Gymnasium, wie in Bruchsal, selbst die oberste Gelehrtenschule, so galt, wie das vielleicht heute noch der Fall ist, der Gymnasiast als Student; in der Universitätsstadt blieb er Schüler bis zu seinem Abiturium. Um so mehr strebte er der Universität zu und suchte, soweit es ging, die Gewohnheiten des Studenten vorauszunehmen. Gegen das Verbot des Direktors, Wirtshäuser zu besuchen, rauchend über die Straße zu gehen oder, wie unser Direktor sich ausdrückte, den Gesetzen des Gymnasiums Hohn zu rauchen, galt als ein besonderer Genuß. Dem Streben zum Akademiker kam aber wiederum dieser wohlwollend entgegen. Wie der Korpsstudent zu Anfang des Semesters bei jedem Zug zum Bahnhof strömte, um die neu ankommenden Füchse abzufangen, so sah er sich unter den Gymnasiasten des Orts bereits nach geeigneten künftigen Genossen seiner Verbindung um. So war denn jene Ferienzeit, die zwischen Abiturium und Immatrikulation liegt, für den künftigen Verbindungsstudenten eigentlich die glücklichste seines akademischen Lebens. Ledig aller Pflichten behandelten ihn seine künftigen Korpsgenossen mit bestechender Liebenswürdigkeit. In dem Augenblick freilich, wo er in die Verbindung eingetreten war, veränderte sich seine Lage beträchtlich. Nun wurde er als Fuchs einem der älteren Burschen zugeordnet, dessen Befehle er pünktlich zu befolgen hatte, um in dem Jahr, während dessen diese Sklaverei andauerte, selbst nach diesem Vorbild zur vollen Burschenherrlichkeit erzogen zu werden, bis endlich, wenn die akademischen Semester sich ihrem Ende nahten, der ältere Bursche sich wieder von dem Geräusch des[53] Tages mehr zurückzog, um den Sorgen des Examens entgegenzusehen und in der Verbindung etwa noch den Füchsen seinen wohlwollenden Schutz angedeihen zu lassen.

War dies der normale Verlauf, so konnte derselbe freilich auch manche Abänderungen erfahren, und ich selbst bin gewissermaßen das Opfer einer solchen geworden. Ich gehörte auf der Schule zu einem Trifolium von Freunden, die sich einigen ihnen angefreundeten Studenten und sich selbst verpflichtet hatten, künftig in deren Korps eintreten zu wollen. Von ihnen hat aber schließlich nur ein einziger seine Absicht wirklich erreicht, indem er am Ende seiner akademischen Laufbahn in das Beamtentum einmündete, zu welchem das betreffende Korps vorzubereiten pflegte. Der zweite wurde schon vor der Immatrikulation seinem Versprechen untreu, da er sich in der bedenklichen Zeit der vielumworbenen Mauleselferien von einem andern Korps anwerben ließ. Er hat aber auch in diesem seine Laufbahn nicht zu Ende geführt, sondern ist zunächst in die militärische übergegangen und auch aus ihr schließlich wegen finanzieller Schwierigkeiten ausgeschieden, um in den holländischen Kolonialdienst zu treten. Aus ihm ist er nach vielen Jahren wieder zurückgekehrt, um in Heidelberg Medizin zu studieren. Hier, wo ich mittlerweile Privatdozent der Physiologie geworden war, hat er noch bei mir Kolleg gehört und mich gelegentlich nach diesem auf Spaziergängen begleitet, um mir von seinen Schicksalen auf Java und Sumatra zu erzählen. Nach gut bestandener Prüfung hat er sein Leben als tüchtiger Arzt beschlossen.

Der dritte war ich selbst. Ich hielt mein Versprechen, aber da ich mein Studium auf einer andern Hochschule begann, so konnte ich nicht bei dem verabredeten, sondern mußte bei dem dort bestehenden, ihm verbündeten Korps andern Namens eintreten. Da ereignete sich das Mißgeschick,[54] daß sich dieses Korps bald nach Beginn des Semesters wegen mangelnden Zuzugs auflöste. Es fügte sich jedoch, daß ich dieses Mißgeschick keineswegs als solches empfand. Ich hatte sehr bald erkannt, daß mir die Gesellschaft meiner zuvor unbekannten Korpsgenossen wenig behagte, so daß ich froh war, meiner Pflicht ledig geworden zu sein. Ich hospitierte dann noch einige Zeit bei einer andern Verbindung, schied aber bald auch aus dieser aus, um mich nun einem einsamen Leben hinzugeben und in diesem leidenschaftlich auf das Studium der Anatomie zu werfen. Dabei war es die Anatomie des Gehirns, bei der mein eigener damals die anatomisch-physiologischen Fächer in Tübingen vortragender Oheim Arnold mich vor allem anregte. So erwarb ich, indem ich in jenem Sommersemester 1852 von früh bis spät mich ausschließlich in gehirnanatomische Werke und Präparate vertiefte, wie ich wohl sagen darf, eine Kenntnis in diesem speziellen Gebiet, die mir leider in späterer Zeit zu einem guten Teil wieder verloren gegangen ist und von der ich nur in einer Reihe selbstgezeichneter Abbildungen ein Gedächtnis bewahrt habe.

Dauernder als diese schon vor ihrem Entstehen gescheiterte Korpsgenossenschaft hat sich ein zweites Trifolium von Freunden bewährt, dem nur durch den frühen Tod des einen unter ihnen ein Ziel gesetzt worden ist. Diese Freundschaft war aus der Stellung entsprungen, die der älteste unter uns, der zugleich dem älteren Jahreskursus angehörte, als Verwalter der Schülerbibliothek des Heidelberger Gymnasiums einnahm, und der als solcher der literarische Berater des ganzen Gymnasiums und namentlich der oberen Klassen geworden war. Dieser mein ältester Freund war Heinrich Holtzmann, in dessen Charakter nach der Seite des freundschaftlichen Verkehrs schon diese Freundschaft mit Schülern einer jüngeren Klasse, die damals eine seltene Erscheinung[55] war und vielleicht noch ist, einen bezeichnenden Zug bildet, um so mehr, da er sich unmittelbar auf die Universität fortsetzte. Als Holtzmann bereits zum Studium der Theologie übergegangen war und wir beiden andern noch dem Gymnasium angehörten, fanden wir uns noch längere Zeit wöchentlich einmal an einem Abend zusammen, um unsern Verkehr weiterzuführen, obgleich das Studium, das jeder von uns gewählt hatte, ein verschiedenes war, indem unser Trifolium aus einem Theologen, einem Philologen und einem Mediziner bestand. Ich bin mit Holtzmann, nachdem uns unsere Berufe längere Zeit auseinander geführt hatten, später wieder in Heidelberg zusammengetroffen, wo wir beide als Privatdozenten, Holtzmann in der theologischen, ich in der medizinischen Fakultät habilitiert waren, und wir beide jahrelang mit einem kleinen Kreis anderer Dozenten, darunter namentlich mit Adolf Hausrath verkehrten. Dieser, anfänglich ein Schüler Holtzmanns, war später ebenfalls in der theologischen Fakultät habilitiert. Holtzmann selbst, der in den ersten Jahren des Jahrhunderts in den Ruhestand getreten ist und in diesem in Baden-Baden lebte, habe ich zum letzten Mal im Jahre 1908 gesehen, als ich, von einer Erholungsreise auf die Badener Höhe zurückkehrend, ihn besuchte und ihn körperlich gealtert aber in voller geistiger Frische antraf.

Der dritte aus jenem Trifolium, der Philologe, war Karl Hofacker. Ich stand in unserer Gymnasialzeit den beiden andern eigentlich als der unwürdigste gegenüber. Denn sie waren in unserer ganzen Schulzeit die Primi ihrer Klassen gewesen, während ich mich stets in den unteren oder höchstens mittleren Regionen herumtrieb. Hofacker war durch sein vielseitiges Interesse und durch seine frühe Gelehrsamkeit im Griechischen und Lateinischen zum klassischen Philologen vorausbestimmt. Er war darum auf den Rat seines väterlichen Freundes, des bekannten Geschichtsschreibers Georg[56] Weber, der sich des früh Verwaisten schon auf der Schule angenommen hatte, auf die Universität Bonn gewandert, um dort unter dem die hohe Schule der klassischen Philologie repräsentierenden Friedrich Ritschl seine Studien zu vollenden. Auf Ritschls Empfehlung folgte er unmittelbar nach seinem Doktorexamen einer Berufung des Fürsten Wied nach Neuwied, um die Erziehung von dessen Sohn, dem Bruder der späteren Königin von Rumänien, zu übernehmen. Von dort ist er nach mehreren Jahren nach Heidelberg zurückgekehrt, bereits mit dem Keim der tötlichen Krankheit, die ihn nach wenigen Jahren dahinraffte. Hier durfte ich in beinahe täglichem Verkehr noch einmal die alte Freundschaft mit ihm erneuern, aus der mir vor allem die Winterabende erinnerlich sind, an denen wir beide zusammen Kants Kritik der reinen Vernunft lasen. Es war für uns beide die erstmalige Lektüre dieses Werkes, und für mich war es, wie ich wohl sagen kann, die erstmalige eines strengeren philosophischen Werkes überhaupt. Doch hat es gerade damals einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Denn es ist, wie ich glaube, gewissermaßen ein Vorbeugungsmittel gegen gewisse besonders in naturwissenschaftlichen Kreisen verbreitete, dem gegenwärtigen Positivismus verwandte Richtungen für mich gewesen. So erinnere ich mich, daß, als mir später der erste Übersetzer der Logik von John Stuart Mill, mit dem ich freundschaftlich verkehrte, dieses Werk als die auf der Höhe der Zeit stehende Philosophie empfahl, ich bereits damals an den Ausführungen Mills über die Logik der Mathematik beträchtlichen Anstoß nahm.

Quelle:
Wundt, Wilhelm: Erlebtes und Erkanntes. Stuttgart 1921, S. 53-57.
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