Duchenne, G.-B.

[420] Duchenne, G.-B. (D. de Boulogne), geb. 17. September 1806 zu Boulogne sur mer, machte seine med. Studien in Paris, von wo er 1831 nach seiner Vaterstadt zurückkehrte, um daselbst zu praktizieren. Angeregt durch die Arbeiten von Sarlandières und Magendie über Elektropunktur begann er 1855 sich mit Untersuchungen über die Heilwirkungen der Elektrizität zu beschäftigen. Er siedelte 1842 nach Paris über und lebte hier bis zu seinem Tode ohne jede offizielle Stellung als. Lehrer oder Hospitalarzt, auch ohne eine solche zu suchen, hauptsächlich damit beschäftigt, das Krankenmaterial der Pariser Hospitäler für seine Spezialuntersuchungen nach Kräften zu benutzen, soweit ihm dies von den Leitern der Kliniken und Hospitäler gestattet wurde. Trotz vieler Schwierigkeiten, die sich D. hierbei entgegenstellten, und obwohl er nicht selten angefeindet und zurückgewiesen wurde, gelang es ihm dennoch, allmählich ein reichhaltiges und brauchbares Beobachtungsmaterial zu gewinnen. Dies wurde die Grundlage, auf die er die moderne Elektrodiagnostik und Elektrotherapie aufbaute, als deren Schöpfer er unbedingt zu bezeichnen ist. Hauptsächlich kommt ihm das Verdienst zu, die »Electrisation localisée« eingeführt zu haben, wobei er unter Vermeidung der früheren Elektropunktur einfachere, nicht mit Hautverletzungen einhergehende Methoden verwertete, namentlich führte er die Applikation gut angefeuchteter und auf die feuchte Haut anzudrückender Stromgeber, sowie den Gebrauch des faradischen Pinsels bei der »Faradisation cutanée« ein. D. fand so die in diagnostischprognostischer Beziehung so ungemein wichtige »electromusculäre Contractilität (faradische Muskel- und Nervenreizbarkeit)«, und die elektrokutane Sensibilität, Methoden, welche A. eulenburg mit Recht den physikalischen Untersuchungsmethoden der Perkussion und Auskultation an die Seite stellt. Auf diesen Arbeiten fussten die späteren Forschungen der Remak, Ziemssen, die 1857 die Elektrotherapie durch Einführung des konstanten Stromes erweiterten. – D. erwarb sich ferner ein unsterbliches Verdienst um die Muskelphysiologie, resp. die myologische[420] Funktionslehre, indem er die von ihm ausgebildete Methode isolierter elektrischer Erregung der einzelnen Skelettmuskeln zur funktionellen Prüfung derselben und zu genauer Bestimmung ihrer vereinzelten oder kombinierten Wirkung unter bestimmten Verhältnissen, Stellungen u.s.w. benutzte. – Späterhin wandte D. seine Forschungen wesentlich der Pathologie und der pathologischen Anatomie des Nervensystems zu und gelangte auch hier zu wichtigen Resultaten. Ganz unbestreitbar gehören dahin die eigentliche, klassische progressive Muskelatrophie (sog. »Typus Duchenne-Aran«), die »Paralysie glossolabiolaryngée« (Glossopharyngolabialparalyse, progressive Bulbärparalyse, Duchenne'sche Lähmung) und die von ihm sogenannte »Paralysie pseudohypertrophique« oder »myosclérosique« (in Deutschland häufiger als Pseudohypertrophie der Muskeln bezeichnet). Die in Frankreich ihm gewöhnlich zugeschriebene Entdeckung der »Paralysie atrophique graisseuse de l'enfance« und der »Ataxie locomotrice progressive« bedarf dagegen insofern einer Einschränkung, als die in Rede stehenden Krankheiten beide schon früher in Deutschland, jene als essentielle Kinderlähmung (Heine), diese als Tabes dorsualis (Romberg u.a.), beschrieben wurden; doch hat D. namentlich bei der letztgenannten Krankheit um Feststellung des entscheidenden Symptoms »Ataxie« immerhin wesentliche Verdienste. Die von ihm ferner noch aufgestellte Krankheitsgruppe der »Paralysie générale spinale« oder »Paralysie générale spinale antérieure subaigue« erwies sich weiterhin als ein fruchtbares Feld für Aufdeckung und Differenzierung neuer klinischer Krankheitsbilder, wohin namentlich die »subcutane und chronische atrophische Spinallähmung der Erwachsenen« und die »amyotrophische Lateralsklerose« Charcot's gehören. – D.'s zahllose in Journalen zerstreute Aufsätze sind fast insgesamt aufgenommen und vereinigt in seinem grossen Hauptwerke »De l'électrisation localisée et de son application á la pathologie et à la thérapeutique« (Paris 1855; 3. Aufl. 1872; deutsch von Erdmann 1856). Für die spezielle Muskelphysiologie ist nächstdem von besonderer Wichtigkeit seine »Physiologie[421] des mouvements« etc. (Paris 1867) und das den mimischen Antlitzbewegungen gewidmete Einzelwerk: »Mécanisme de la physionomie humaine ou analyse électrophysiologique de l'expression des passions, applicable à la pratique des arts plastiques.« (Paris 1862).

Quelle:
Pagel: Biographisches Lexikon hervorragender Ärzte des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin, Wien 1901, Sp. 420-422.
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