Simon, Gustav

Simon, Gustav
Simon, Gustav

[1595] Simon, Gustav, zu Heidelberg, berühmter Chirurg, geb. 30. Mai 1824 zu Darmstadt, studierte in Giessen und Heidelberg, promovierte in Giessen 1848, trat dann als Militärarzt in das hess. Truppen-Korps ein, war zuerst Unter- und bis 1861 Oberarzt; zugleich hatte er die Armen-Praxis übernommen. Entscheidend für die spätere Richtung seiner chir. Thätigkeit war ein Aufenthalt in Paris 1851 bis 52, wo er durch den Besuch von Jobert's Klinik die erste Anregung zur Operation von Blasenscheidenfisteln erhielt, indem er hier wirkliche, bisher bei denselben unerreichte Erfolge vor Augen sah. Neun befreundete Kollegen, darunter S., gründeten darauf in Darmstadt ein kleines Hospital für chir. und Augenkranke und dieses war das Feld, auf dem S. zuerst seine Lorbeeren auf dem Felde der Fisteloperationen gewann. Er fand bei seinen bezüglichen Operationen, dass Jobert's Methode, namentlich dessen Naht, einer Vervollkommnung bedürfe und so entstand das in der nachstehenden Publikation beschriebene Verfahren: »Ueber die Heilung der Blasenscheidenfisteln; Beurtheilung[1595] der Opération autoplastique par glissement von Jobert de Lamballe in Paris. Neue Methode der Naht, die Doppelnaht (Entspannungs- und Vereinigungsnaht) zur Vereinigung der Fistelränder« (Giessen 1854). Von da mehrten sich seine glücklichen Operationen; sein Ruf als Fisteloperateur breitete sich immer mehr aus und gab ihm zu mehrfachen weiteren Publikationen über solche Operationen (Monatsschr. f. Geburtsk., 1857, 58, 59; Scanzoni's Beiträge, 1860 u.s.w.) Anlass. 1861 wurde S., als Nachf. Strempel's, zum a. o. Prof. der Chir. in Rostock und in demselben Jahre noch zum Prof. ord. und Direktor der chir. Klinik ernannt und erwarb er sich auch hier rasch den Ruf eines geschickten Operateurs. Seine erste grössere litter. Arbeit daselbst galt wieder der gynäkol. Plastik, indem er die erzielten Erfolge mit dem von ihm »deutsche Methode«, gegenüber der Jobert'schen und Sims'schen, genannten Verfahren in der Monographie: »Ueber die Operation der Blasenscheidenfisteln durch die blutige Naht und Bemerkungen über die Heilung der Fisteln, Spalten und Defecte, welche an anderen Körpertheilen vorkommen« (Rostock 1862), bekannt machte. Daran schloss sich eine grosse Reihe weiterer, im älteren biogr. Lexikon zitierter Abhandlungen, von denen er mehrere auf dem Krankenlager verfasst hatte, an das er (1864 bis 65) durch ein Hüftgelenksleiden gefesselt war; auch in den Verrichtungen in seiner Klinik war er bis zum Anfange 1866, wo er die Krücken ablegen konnte, sehr beschränkt. 1866, während des deutschösterr. Krieges, leitete er in Berlin das Vereins-Reserve-Lazarett in der Ulanen-Kaserne bei Moabit. Nach 7 jähr. erfolgreicher Thätigkeit in Rostock schied S. 1867 von da, um einem Rufe nach Heidelberg zu folgen. Hier erhielten seine wissenschaftl. Bestrebungen einen neuen Impuls dadurch, dass ihn eine Frau konsultierte, die nach einer glücklich überstandenen Hysteroovariotomie eine Harnleiter-Bauchfistel zurückbehalten hatte, zu deren Heilung, nach monatelangen vergeblichen Bemühungen, kein anderes Mittel übrig blieb, als die Exstirpation der gesunden Niere, die er mit bestem Erfolge (1869) ausführte. Von da an war die Chir. der Nieren ein Lieblings-Thema[1596] für ihn geworden; 1870 folgte die Exstirpation einer kolossalen kongenitalen Hydronephrose, 1871 die einer Steinniere. 1871 erschien der 1. Teil seiner »Chirurgie der Nieren« (Stuttgart), den erwähnten ersten Fall enthaltend, während der 2. Teil: »Operat. Eingriffe bei Verletzungen und chir. Krankhh. der Nieren und Harnleiter« erst 1876, nach seinem Tode herauskam. Von anderen Arbeiten, ausser der über »Kolpokleisis«, fallen in die Heidelberger Zeit: »Ueber die Wirkung des Urins und Speichels auf nackte, d.i. nicht mit Epithel überkleidete Gewebe« (D. Kl. 1869) – »Die Auslöffelung breitbasiger, weicher, sarcomatöser Geschwülste aus Körperhöhlen« (Beitr. z. Gyn. u. Geb. herausg. v. d. Ges. f. Geb. in Berlin, 1870). Während des deutsch-franz. Krieges 1870, 71 entwickelte er als Generalarzt der bad. Reserve-Lazarette eine aufopfernde Thätigkeit. Er schrieb in der Folge noch: »Ueber die künstliche Erweiterung des Anus und Rectum zu diagnost., operat. und prophylakt. Zwecken und über deren Indicatt. bei chir. Krankh. des Mastdarmes« (A. f. k. C. 1872) – »Ueber Einführung langer elastischer Rohre und über forcirte Wasserinjectionen in den Darmcanal« (Ib.) »Ueber manuale Rectal-Palpation der Beckenu. Unterleibsorgane« (D. Kl., 1872) u. gab damit wertvolle neue diagnost. Hilfsmittel an die Hand. Sein Tod erfolgte, nachdem er seine klin. Thätigkeit schon lange hatte aufgeben müssen, 28. Aug. 1876 an einem die Lungen stark komprimierenden Aneurysma der Aorta thorac.; wegen grösster Athemnot hatte er noch die Tracheotomie an sich ausführen lassen. Die letzte, kurz vorher vollendete Abhandlung war gewesen: »Zur Operation der Blasenscheiden-Fistel Vergl. der Bozeman'schen Operationsmethode mit der des Verfassers« (W. m. W. 1876). – Autodidakt im vollen Sinne des Wortes, unbeeinflusst von allen Vorurteilen, welche einer Schule ankleben, bewahrte er sich jene Originalität, die allein zum wahren Fortschritt führt, und hat deshalb,[1597] wie wenige, fördernd und Neues schaffend in der Wissenschaft gewirkt, wie schon allein aus der Betrachtung der Titel seiner zahlreichen Arbeiten sich ergiebt. Ernst und gewissenhaft und mit strengster Selbstkritik unterwarf er jede neue Idee einer gründlichen Prüfung; wo er aber etwas als richtig erkannt hatte, da verfolgte er es mit eiserner Hartnäckigkeit bis in seine äussersten Konsequenzen; als Beispiel hierfür möge an seine erste Nieren-Exstirpation erinnert werden. Dabei besass er eine Thatkraft und eine Ausdauer, welcher kein Hindernis zu gross, kein Weg zu weit war. Nur so sind die Erfolge mit seinen Fisteloperationen, an denen vor ihm so viele gescheitert waren, zu erklären; ihm aber gebührt das Verdienst, durch die Vervollkommnung der Methode gleiche Erfolge zum Gemeingut aller gemacht zu haben. Wenn auch nicht durch glänzenden Vortrag, so doch durch direkte Anleitung zur prakt. Übung war er der stets anregende und fördernde Lehrer; unerschütterlich, wenn auch manchem unbequem, war er in seiner strengen Wahrheits- und Gerechtigkeitsliebe.

Quelle:
Pagel: Biographisches Lexikon hervorragender Ärzte des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin, Wien 1901, Sp. 1595-1598.
Lizenz:
Faksimiles:
1595 | 1596 | 1597 | 1598
Kategorien: