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[10] Wie die Iranier, die Hebräer, die Muhammedaner und Christen haben auch die Inder ihre heiligen Religionsbücher, ihre »Bibel«, der sie, für ihre geistige Einstellung charakteristisch genug, den Namen »Weda«, das »Wissen« im Sinne des absoluten, heiligen, inspirierten Wissens gegeben haben. Von diesem altindischen Weda, einer ganzen riesigen religiösen Literatur, sind vier große religiöse Textsammlungen auf uns gekommen: 1. der Rigweda, das »Wissen von den Preisliedern«, in dem uns hauptsächlich die brachmanische Priesterpoesie der Götterhymnen überliefert ist; 2. Der Samaweda, das »Wissen von den Melodien«, eine Sammlung von Texten, die als Träger wedischer Hymnenmelodien dienten; 3. der Jadschurweda, das »Wissen von den Opfersprüchen«, eine Sammlung von Gebetstexten, die bei den großen wedischen Opfern gesprochen wurden; 4. der Atharwaweda, das »Wissen von den Zaubersprüchen«, eine Sammlung, die im Gegensatz zu den vorgenannten drei anderen Weden in Indien nie recht als kanonisch anerkannt worden ist. Das hat seinen Grund in dem mehr volkstümlichen Inhalt dieses eigenartigen Weda, der mehr für den Hausgebrauch bestimmt war, als daß er zu dem öffentlichen wedischen Opferwesen in Beziehung stand. Trotzdem ist der Gebrauch dieses Weda ein nicht weniger lebhafter gewesen, als der der anderen Sammlungen.
Der vierte altindische Weda hat mehrere beachtenswerte Namen, von denen der älteste »Atharwangirasas« lautet, d.h. »die Atharwans und die Angiras«, Namen uralter Feuer- und Zauberpriestergeschlechter, von denen der der Atharwans sicher in indoiranische Zeit zurückgeht, wie der iranische Parallelname der »Athrawans« im Awesta beweist. Im Laufe der Jahrhunderte scheint sich die Bedeutung dieser altehrwürdigen Namen dahin verschoben zu haben, daß man unter Atharwans und Angiras nicht mehr die alten Priestergentes selber, sondern deren Zaubersprüche verstand, wobei dann mit dem Worte atharwan der Begriff des Heils- und Glückszaubers, mit angiras dagegen der des feindlichen, unheilbringenden Zaubers verbunden wurde. Außerdem kommt der Name »Bhrigwangiras« vor, der sich dadurch erklärt, daß man für den Namen der Atharwans den der Bhrigu's, eines anderen mythischen Feuerpriestergeschlechtes, einsetzte. – Ein ganz später Name lautet »Brachmaweda«, der auch soviel wie »Weda der Zaubersprüche« bedeutet. Was endlich den Namen Atharwaweda angeht, so stellt dieser nur eine Kurzform der vollständigeren alten Bezeichnung Atharwangirasas dar und bedeutet einmal »Weda der Atharwans«, dann, wie schon erwähnt, »Wissen von den Zaubersprüchen«, und zwar sowohl von den atharwanischen wie von den angirasischen.
Was den Umfang des Atharwaweda anbetrifft, so enthält er 731 Hymnen mit zusammen annähernd 6000 Strophen in 20 Büchern, von denen das zwanzigste fast ausschließlich dem Rigweda entnommene Buch nicht ursprünglich zu der Sammlung gehört. Auch das neunzehnte Buch scheint diesem Weda erst später zugefügt zu sein. Die übrigen 18 Bücher, von denen etwa ein Drittel ihres Gesamtumfanges sich ebenfalls im Rigweda wiederfindet, lassen in ihrer äußeren Aufmachung eine gewisse vorwiegend nach der Strophenzahl der Lieder vorgehende redaktionelle Tätigkeit nicht verkennen. So sind in den ersten sieben Büchern hauptsächlich kürzere Hymnen in der Weise zusammengestellt, daß in den einzelnen Büchern in der Regel eine bestimmte Strophenzahl der Lieder vorherrschend ist. Die Hymnen mit höherer Strophenzahl dagegen finden sich im achten bis vierzehnten, siebzehnten und achtzehnten Buche vereinigt. Eine Berücksichtigung auch des Inhalts der Lieder bei der redaktionellen Zusammenstellung dieses Weda merkt man u.a. daran, daß öfter mehrere Lieder desselben Inhalts zusammengeordnet worden sind; mehr aber noch daran, daß zwei Bücher, das vierzehnte der Hochzeitslieder und das achtzehnte der Totenbestattungshymnen, dem Inhalte nach ganz einheitlich sind. Neben der Poesie macht sich im Atharwaweda die Prosa breit, die etwa ein Sechstel seines ganzen Umfanges, darunter das ganze fünfzehnte und sechzehnte Buch, umfaßt.
Wer nach dem Alter des Atharwaweda fragt, erwarte nicht eine Antwort in sauberen Jahreszahlen, wie wir Abendländer sie gewohnt sind. Es gibt in bezug auf die indische Literatur kein schwierigeres und dunkleres Gebiet als die Chronologie, um die sich der gänzlich unhistorische Sinn der alten Inder nie im geringsten gekümmert hat. Und daß unter diesen Umständen die chronologische Bestimmung in der indischen Literatur um so mißlicher wird, je älter die Werke sind, bedarf keiner Erwähnung. So hört für die wedische oder althochindische Literatur und ihre Werke jegliche Möglichkeit auch nur annähernder chronologischer Angaben auf. Und auch angenommen, sie wäre möglich, so wäre doch für die chronologische Festlegung[11] des Atharwaweda die Schwierigkeit keineswegs behoben, da nämlich diese Sammlung Bestandteile verschiedensten Alters, von den allerjüngsten bis zu den allerältesten, enthält. Nur der Versuch einer relativen Altersbestimmung, nämlich in bezug auf den Rigweda, das älteste Werk der indischen Literatur, kann für den Atharwaweda in Betracht kommen, worauf hier kurz näher eingegangen werden soll. Man wird gut daran tun, hier ein Doppeltes auseinander zu halten: 1. das Alter der Zusammenstellung, bzw. Redaktion des Atharwaweda, wie sie uns vorliegt; 2. Das Alter des eigentlichen alten Zaubergutes in eben diesem Weda. – Abgesehen von Sprache und Metrik des Atharwaweda, die sich von der des Rigweda merklich unterscheiden, aber doch aus hier nicht weiter ausführbaren Gründen keine sicheren Alterbestimmungskriterien abgeben können, finden sich in dem Zauberbuche unzweideutige Anzeichen dafür, daß die Redaktion dieses Weda jünger ist als der Rigweda: Es hat sich im Atharwaweda eine bedeutende Veränderung der geographischen und kulturellen Verhältnisse gegenüber denen des Rigweda vollzogen. Die atharwanischen Inder sind bereits bis in das Gangesgebiet vorgedrungen und dort seßhaft geworden. Der Tiger, das im Rigweda noch unbekannte, in den Dschungeln Bengalens hausende königliche Raubtier, wird im Atharwaweda als gefürchteter Räuber häufig erwähnt. Das rigorose altindische Kastensystem ist hier völlig ausgebildet. Dem mehr und mehr schwindenden Einflusse der wedischen Götter entspricht eine zunehmende Häufigkeit theosophischer und kosmogonischer Spekulationen, die an die Philosophie der Upanischads erinnern. Am deutlichsten vielleicht zeigt sich das geringere Alter der Atharwaweda-Redaktion in dem zunehmenden Einflüsse des immer arroganter auftretenden brachmanischen Priestertums. Die Tatsache, daß die Atharwaweda-Redaktion durchaus brachmanisch-priesterlich orientiert erscheint, spricht unzweideutig dafür, daß ihre Redaktoren brachmanische Priester waren, auf die denn auch alle typisch brachmanischen Bestandteile der Sammlung, vor allem jene ganze Klasse von Hymnen, welche die Interessen der Brachmanenkaste zum Gegenstande haben, zurückzuführen ist. So ist es auch nicht verwunderlich, daß die eigentliche alte Zauberpoesie des Atharwaweda, die wie alle Zauberpoesie rein volkstümlichen Ursprungs ist, hier nicht mehr überall den Charakter reiner Volksdichtung trägt, sondern in weitgehendem Maße priesterlich zugestutzt, brachmanisiert erscheint. Das sind die hauptsächlichsten Gründe, die für ein geringeres Alter der Atharwaweda-Redaktion gegenüber dem Rigweda sprechen. – Auf der anderen Seite ist es unzweifelhaft, daß das eigentliche alte Zaubergut, das dem Atharwaweda seine eigentümliche Färbung gibt, uralt, ja älter als der Rigweda selber ist, daß es zurückreicht in namenlose vorgeschichtliche Zeiten, wie die Zauberpoesie aller anderen Völker, die so alt wie der Aberglaube, so alt wie die Menschheit ist.
Der Inhalt des Atharwaweda steht, wenn wir von den theosophischen und kosmogonischen Hymnen, von den Beschwörungsliedern im Interesse der Brachmanen, von den Liedern und Sprüchen zu Opferzwecken, von den Zauberliedern für die Wohlfahrt der Könige absehen, im wesentlichen unter dem Zeichen eines durchgehenden Dualismus von weißer und schwarzer Magie. Auf der einen Seite Lieder und Sprüche zur Heilung von Krankheiten und Gebrechen und zur Bannung ihrer als Teufel und Unholde vorgestellten Erreger; Gebete um Glück in Handel, Ackerbau und Viehzucht, Krieg und Spiel, um Gesundheit, langes Leben und Nachkommenschaft, um Erfolg in der Liebe und Segen in der Ehe; Entsühnungsformeln zur Abwendung der Folgen von Sünde und Fehl usw. – auf der anderen Seite wilde Verwünschungen und rasende Verfluchungen gegen Nebenbuhler und Nebenbuhlerinnen, gegen Feinde und Schädiger aller Art, gegen Nachtgespenster, Dämonen, Zaubergeister, Teufel und Kobolde: das ist in groben Zügen der Inhalt dieses seltsamen Zauberweda, der die Äußerungen des Fühlens und Denkens unserer ältesten arischen Vorfahren aus den weltgeschichtlichen Fernen mehrerer Jahrtausende in unsere Gegenwart hinübergerettet hat. –
Ästhetisch betrachtet, bietet der Inhalt des Atharwaweda eine Reihe poetischer Schönheiten. Selbst in den alten Zauberformeln wird den Leser der Schwung ihrer Sprache, die Schönheit ihrer Bilder, die Sinnigkeit ihrer Vergleiche nicht selten überraschen. Auch der urwüchsigen Wildheit und Rassigkeit in der Sprache der Verfluchungslieder wird sich niemand verschließen können. Und manche atharwanische Hymnen, die freilich kaum zum eigentlichen Befand des Zauberkodex gehören, sondern sich irgendwoher dahinein verirrt haben müssen, bedeuten Höhepunkte wedischer Poesie, die ihresgleichen suchen. Nur zwei Hymnen – »Hymnen« im wahren Sinne des Wortes! – seien hier namhaft gemacht, womit beileibe nicht gesagt sein soll, daß sich die Reihe poetisch wertvoller Atharwanlieder nicht erheblich verlängern ließe: zunächst der Hymnus Ath. IV, 16, jene großartige, in ihrer Sprache an die Psalmen erinnernde »Anrufung Waruna's« (S. 38), von der RUDOLF ROTH, der große Bahnbrecher der Wedaforschung, gesagt hat, es gebe kein Lied in der ganzen wedischen Literatur, das die göttliche Allwissenheit so nachdrücklich[12] ausspräche. Dann der wundervolle Hymnus Ath. XII, 1 an die Erde (S. 185 ff.), »eines der schönsten Erzeugnisse der religiösen Dichtung Altindiens«, wie WINTERNITZ dieses unsterbliche Lied mit gutem Rechte nennt.
Den Geist des eigentlichen Atharwaweda trennt von dem des Rigweda eine Welt. Mit kurzen Warten kann man diesen abgrundtiefen Gegensatz so ausdrücken: Dort, im Rigweda, herrscht Religion, hier, im Atharwaweda, Magie. Dort der gottgläubige Priester und Sänger, der seine großen Götter verehrt und sich vor ihnen beugt. Hier der selbstherrliche magische Zauberer, der mächtiger ist als selbst die wedischen Götter, die er seinen Zwecken dienstbar macht; der mit seinen allmächtigen Zauberkräutern und Zauberamuletten unvermittelt eingreift in die Räder des Weltgeschehens und es seinen Wünschen entsprechend lenkt. Dort herrliche, glaubenerfüllte Preislieder, die hier auch in ihren schönsten Stücken in das Prokrustesbett der Zauberpraxis gespannt werden. Dort die lichte Welt des wedischen Götterhimmels, hier die düstere Welt der feindlichen Mächte, der Zaubergeister und Dämonen, der Nachtmahre und Kobolde, der Incubi und Succubi, der unheimlichen Nixen und Nymphen, der Poltergeister und Teufel, die alle überraschend an die proteushaft wechselnden Wahngestalten des germanischen Volksglaubens erinnern. Und hinter all diesem abenteuerlichen Spuk, hinter all den Zauberformeln und Beschwörungen gegen diesen, ja hinter dem Selbstbewußtsein der Magier selber grinst die unheimliche Weltangst des atharwanischen Menschen. Man wird erinnert an die Zeiten der Gotik. »Überall in der Natur und in der Menschheit webt es, brütet Unheil, bohrt, zerstört, verführt: das Reich des Teufels. Es durchdringt die ganze Schöpfung; es liegt überall auf der Lauer. Ein Heer von Kobolden, Nachtfahrenden, Hexen, Werwölfen ist ringsum da und zwar in menschlicher Gestalt. Niemand weiß von dem Nächsten, ob er sich nicht den Unholden verschrieben hat. Niemand weiß von einem kaum erblühten Kinde, ob es nicht schon eine Teufelsbuhle ist. Eine entsetzliche Angst, wie vielleicht nur noch in ägyptischer Frühzeit, lastet auf den Menschen, die jeden Augenblick in den Abgrund stürzen können«: Gelten diese Worte, die OSWALD SPENGLER im zweiten Bande seines »Untergangs des Abendlandes« (S. 354) über den Teufelsglauben zur Zeit der Gotik schreibt, nicht mutatis mutandis vielleicht auch für die Welt des Atharwaweda? Auch wenn sich das Erleben des atharwanischen Menschen wohl nicht entfernt mit der ungeheuren Wucht gotischer Weltangst vergleichen läßt, wenn es leiser ist, leise wie etwa der wedische Hymnus gegenüber der rauschenden Pracht althebräischer Lyrik und den inbrünstigen Dithyramben des gotischen Mittelalters? Und erwuchs nicht letzten Grundes die ganze Zauberwelt des Atharwaweda aus derselben Wurzel, wie die dämonischen Höllenfratzen, die »steingewordene Angst« gotischer Dome?
In der Weltliteratur steht der Atharwaweda einzig da als das älteste, umfangreichste und wichtigste Denkmal altarischen Volksglaubens, das wir besitzen, und das darum von unschätzbarem Werte ist. »Für die allgemeine Kulturgeschichte ist kein Werk der indischen Literatur so wichtig wie der Atharwaweda. Wenn auch nur für Indien bestimmt und aus indischem Geiste geschaffen, hat er über seine Heimat hinaus den größten Wert für die Erkenntnis des Geisteslebens anderer indogermanischer und gänzlich unverwandter Völker. Er bestätigt, daß zu allen Zeiten und in allen Ländern die Staatsreligion immer nur der Firnis ist, der die Religion des Volkes, den Aberglauben, überdeckt.« So urteilt R. PISCHEL. »Gerade darin liegt die große Bedeutung der Atharwaweda-Samhita, daß sie für uns eine unschätzbare Quelle ist für die Kenntnis des eigentlichen, von der Priesterreligion noch unbeeinflußten Volksglaubens, des Glaubens an zahllose Geister, Kobolde, Gespenster und Dämonen aller Art, und des ethnologisch und religionsgeschichtlich so überaus wichtigen Zauberwesens.« So urteilt M. WINTERNITZ. Wenn man erwägt, der Atharwaweda wohl zweifellos am Ende einer langen Entwicklung der altindischen Zauberpoesie steht, deren Wurzeln in graue Vorzeiten zurückreichen; daß bei seiner Zusammenstellung nur die Bruchstücke einer riesigen verloren gegangenen Zauberpoesie in ihn aufgenommen worden und so uns erhalten geblieben sind, dann gibt uns diese merkwürdigste aller religiösen Sammlungen einen Maßstab einmal dafür, welch ein ungeheurer Reichtum an altindischer Zauberpoesie einstmals vorhanden gewesen sein muß; dann dafür, welche unermeßlichen Schätze alter Zauberpoesie im Laufe der Kulturgeschichte speziell der alten Völker – nicht zuletzt auch der germanischen! – in dem dunklen Schoß ewiger Vergessenheit versunken sein mögen. Diese bedeutsame Erkenntnis hätten wir ohne den Atharwaweda nie auch nur annähenrd erahnen können! Und wenn man dann noch weiter bedenkt, daß die Ethnologie und Folkloristik aus der Vergangenheit und Gegenwart aller Völker der Erde immer wieder neue Materialien zur Zauberliteratur ans Licht fördert, die mit denen des Atharwaweda übereinstimmen und so die[13] Gleichförmigkeit des primitiven Denkens in der gesamten Menschheit an der Hand dieses Weda erkennen lassen, dann wird man dessen Bedeutung für die Menschheitsgeschichte nicht leicht zu hoch einschätzen.
Bisher ist der Atharwaweda in den weiteren gebildeten Kreisen Deutschlands viel weniger bekannt geworden als der Rigweda. Das wird in der Beschaffenheit und mangelhaften Zugänglichkeit der bisherigen deutschen Übersetzungen des Atharwaweda, die hier kurz charakterisiert werden sollen, seinen Grund haben. Deutsche Übertragungen größerer Stücke des Zauberbuches gab zuerst der große Berliner Sanskritist ALBRECHT WEBER, der das erste bis fünfte und vierzehnte Buch im 4., 13., 17., 18. und 5. Bande der Indischen Studien, ferner das achtzehnte Buch in den Sitzungsberichten der Preußischen Akademie der Wissenschaften (1895/6) metrisch übersetzt und mit Anmerkungen versehen herausgab. Abgesehen davon, daß diese Arbeiten Webers in gelehrten Zeitschriften erschienen sind, die im allgemeinen außerhalb des Gesichtskreises des gebildeten Laien zu liegen pflegen, sind die Versionen bei all ihrem wissenschaftlichen Wert ästhetisch betrachtet ungenießbar, dazu die Anmerkungen nur dem Indologen verständlich. Ähnliches gilt von der großen Auswahl von Prosaübersetzungen atharwanischer Lieder, die ALFRED LUDWIG im 3. Bande seines »Rigweda« (Prag 1878, S. 428–551) gegeben hat. Das fürchterliche Deutsch dieser philologisch vielleicht zuverlässigsten deutschen Atharwaweda-Versionen und die noch fürchterlichere Orthographie machen leider deren Lektüre zu einer Qual. – Das fünfzehnte Buch ist von TH. AUFRECHT im 1. Bande der Indischen Studien übersetzt worden, steht also auch an nicht allgemein zugänglicher Stelle. – Die ersten 50 Hymnen des sechsten Buches hat C. A. FLORENZ in seiner Doktordissertation (Göttingen 1887) metrisch sehr hübsch übertragen. Doch wendet Florenz die alle Hauptwörter klein schreibende gelehrte Orthographie an, und die Anmerkungen sind wiederum nur für den Fachmann berechnet. – Eine gewandte metrische Auswahl-Version gibt JULIUS GRILL in seinen »Hundert Liedern des Atharwa-Weda« (2. Aufl. 1888), leider auch mit zwar für den Sanskritisten wertvollen, aber für den Nichtfachmann unverständlichen Noten. – Eine Auswahl von Prosa-Übersetzungen atharwanischer Hymnen von KARL GELDNER enthält endlich das von A. BERTHOLET herausgegebene Religionsgeschichtliche Lesebuch in Einzelausgaben, Teil 2: Vedismus und Brahmanismus. Tübingen 1911. – Eine vollständige deutsche Atharwaweda-Übertragung gibt es bislang nicht.
Da keine der genannten deutschen Versionen es bisher vermocht hat, die Kenntnis des altindischen Zauberbuches in weitere gebildete Kreise Deutschlands zu tragen, kann man die erstaunte Frage nicht unterdrücken, warum die so hervorragende deutsche indologische Fachwissenschaft bis auf den heutigen Tag gänzlich achtlos an der bedeutsamen Tatsache vorübergegangen ist, daß der deutsche Dichter FRIEDRICH RÜCKERT, der größte Übersetzungskünstler aller Zeiten, auf Grund umfassendster wedischer Studien eine reiche metrische Auswahlübertragung von Atharwaweda-Liedern hinterlassen hat. Diese in der indologischen Fachliteratur meines Wissens nirgends erwähnte Übersetzung Rückerts ist nicht gerade zum Ruhme der deutschen Indologie bis heute ebenso wie seine anderen umfangreichen Arbeiten zur Wedaforschung, über die ich später in einer größeren Spezialabhandlung berichten werde, bis auf den heutigen Tag so unbekannt geblieben, daß noch im Herbst 1921 ein namhafter Indologe sie mit gutem Grunde als scheinbar »nicht mehr vorhanden« bezeichnen konnte. Sie galt als verschollen. Es ist mir deshalb eine große Freude, diese wertvolle Arbeit Rückerts, die, wie ich später genauer begründen werde, im Jahre 1856 gleich nach dem Erscheinen der großen Ausgabe des Atharwaweda von Roth und Whitney entstanden sein muß, der deutschen Leserwelt in einem prächtig ausgestatteten Drucke als die erste und wohl wertvollste Probe wedischer Übersetzungen des Dichters vorlegen zu können. Und ich glaube der Hoffnung Ausdruck geben zu dürfen, daß diese Version mehr als alle früheren dazu beitragen werde, die deutsche Leserwelt mit einem der merkwürdigsten Werke der Weltliteratur bekannt zu machen.
Zwar ist Rückerts Atharwaweda ebenso wie die anderen älteren Übersetzungen in manchen Einzelheiten selbstverständlich von der Forschung überholt worden, wie die Anmerkungen zu der in Vorbereitung befindlichen großen Ausgabe dieser Version genauer nachweisen werden. Das hindert aber nicht, daß sie ein klassisches Meisterwerk der Übersetzungskunst ist, wie es nur der sprachgewaltige Rückert schaffen konnte, eine so vollendete und grandiose künstlerische Wiedergabe fast eines Drittels des Originals, wie sich einer solchen von gleicher formaler Vollkommenheit keine andere Sprache der Welt rühmen darf. Deshalb ist auch der Gesamteindruck, den diese Übertragung vom Original vermittelt, ein so getreuer, daß er kaum überboten werden kann. Wer den indischen Urtext mit Rückerts Wiedergabe zu vergleichen vermag, wird auf Schritt und Tritt die gelungensten Treffer in der Übertragung finden und immer wieder von neuem bewundern müssen, mit welcher Kunst der Dichter die für die deutsche Sprache so spröde wedische Metrik meistert und alle Redefiguren und Wortspiele des Originals bis in die feinsten Nuancen hinein mühelos[14] in wahrhaft genialer Weise nachzubilden weiß. Diese Kunst des Dichters wird auch dem Nichtfachmann bei aufmerksamer Lektüre kaum entgehen, wenn er bedenkt, daß jedes Wortspiel, jede sprachliche Eigentümlichkeit der Version ein Äquivalent der indischen Vorlage denkbar vollendet nachahmt. Auch eine vergleichende Heranziehung der anderen metrischen deutschen Übersetzungen wird geeignet sein, dem Leser die Höhe Rückertscher Kunst in diesem Werke deutlich zu machen. – Dem Feinsinn der Übersetzung stellt sich der Feinsinn der Auswahl zur Seite. Treffende Oberschriften charakterisieren den Inhalt der einzelnen Lieder. – Ein besonderes Interesse verdient Rückerts Atharwaweda auch insofern, als er ganz und gar auf selbständiger Forschung des Dichters beruht. Rückert hatte – davon zeugt sein mir vorliegender wedischer Nachlaß – die anderen Weden bereits gründlich studiert, als er auf der Höhe seines künstlerischen Könnens und seiner enormen philologischen Gelehrsamkeit an die Verdeutschung des Atharwaweda heranging. Er war sich dessen klar bewußt, auf was für einem schwierigen und dunklen Gebiete philologischer Forschung er sich befand. Wo et anstelle der zahlreichen bis auf den heutigen Tag dunklen Wörter und Namen des Originals vermutungsweise deutsche Äquivalente einsetzt, da fehlt in den Anmerkungen nie eine entsprechende Note, wie: er habe hier »nur ratend übersetzen können« usw. Jede für Rückert unerklärliche Form, jedes dunkle Wort des Originals findet sich in den Noten mit einem Fragezeichen versehen wieder, ein Beweis dafür, welche ernste und gründliche philologische Arbeit der Dichter hier wie überall seiner feinsinnigen Verdeutschung zu Grunde gelegt hat.
So mag denn dies bisher unbekannte große Werk des unvergleichlichen Sprachmeisters, das unverdienterweise und sicher nicht zum Vorteil der Wissenschaft das »Nonum prematur in annum« mehr als sechs Mal erfüllt hat, ehe es ans Licht kam, hinausgehen als eine literarische Überraschung und als ein neues Ruhmesblatt an dem mächtigen Baume deutscher Übersetzungskunst. Möge es einem bisher in Deutschland zu wenig bekannten Werke der indischen Literatur und auch dem noch immer nicht genug gewürdigten großen Dichter und Übersetzer neue Freunde werben. – Den Lesern aber, die in das Verständnis der oft so fremden und rätselhaften altindischen Zauberwelt eindringen wollen, sei der Rat mit auf den Weg gegeben, sich bei der Lektüre der Rückertschen Übersetzung stets den Gedanken gegenwärtig zu halten, daß der Inhalt des Atharwaweda, der uns in Rationalismus und Materialismus seelisch verarmten Europäern als törichter Aberglaube erscheint, für die atharwanischen Menschen einstmals ein furchtbar ernster Glaube war![15]
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