Unter den philosophischen Episoden, welche dem Mahâbhâratam, diesem grossen Nationalepos der Inder und umfangreichsten Dichterwerke der Welt, eingewoben sind, ist keine so berühmt geworden, steht keine in so hohem und fast heiligem Ansehen wie die Bhagavadgîtâ, »der Gesang des Heiligen«, auch im Plural vorkommend als Bhagavadgäîtâḥ (sc. upaniskadaḥ), »die von dem Heiligen gesungenen (Greheimlehren)«, eine Bezeichnung, welche dieses Werk an Dignität den geheiligten Vedatexten gleichstellt. Keine der in Indien so zahlreichen religiösen Erbauungsschriften wird von den Indern so eifrig studiert wie die Bhagavadgîtâ, viele wissen sie auswendig, und nicht wenige betrachten es als eine religiöse Pflicht, sämtliche 700 Doppelverse des Gedichtes täglich mit Andacht herzusagen.

Diesen hohen Wert, welchen die Inder der Bhagavadgîtâ beilegen, verdankt sie nicht nur der schönen, poetischen Sprache sowie der warmen und erwärmenden Begeisterung, mit welcher hier die edelsten Gedanken des Veda vorgetragen werden, sondern auch der Energie, mit welcher das Gedicht den von Natur zum Quietismus neigenden Inder auf das tatkräftige Handeln als die höchste dem Menschen gestellte Aufgabe hinweist, sowie nicht am wenigsten der theistischen Wendung, welche hier der aus dem Veda überkommenen Âtmanlehre gegeben wird. Das Prinzip aller Dinge, das Brahman, oder, was dasselbe bedeutet, der Âtman (das Selbst), wohnt ganz und ungeteilt in jedem von uns, aber für den gewöhnlichen, zur philosophischen Meditation weniger befähigten Menschen ist es ein tief empfundenes und nicht unberechtigtes Bedürfnis, das in ihm selbst liegende Ewige und Göttliche objektiv aus sich herauszusetzen und als eine ihm gegenüberstehende Persönlichkeit anzuschauen, zu der er reden, die er verehren, der er sich unterwerfen kann; und diesem aus der Schwäche der menschlichen Natur entspringenden Bedürfnis kommt die Bhagavadgîtâ durch die theistische Wendung entgegen, welche sie der von Haus aus pantheistischen Âtmanlehre gibt, indem sie das Brahman, den Âtman, das Prinzip aller Dinge, verkörpert darstellt in Kṛishṇa, welcher eine Inkarnation des Allgottes Vishṇu ist und als Wagenlenker des Arjuna diesen zum Kampfe anfeuert auf Grund der Belehrungen,[6] welche er ihm im Verlaufe der ganzen Dichtung zuteil werden lässt.

Diese grossen Vorzüge der Bhagavadgîtâ lassen hinwegsehen über die nicht weniger grossen Schwächen, welche dem Gedichte als philosophischem Werke anhaften. Es ist kein eigentlicher Philosoph, der hier zu uns redet, sondern ein Dichter, welcher überkommene, hohe und edle Gedanken in seiner Weise sich zurechtgelegt hat und ausspricht, unter häufiger Wiederholung des Nämlichen, ohne logische Ordnung und ohne strenge Bestimmung der Begriffe. Dazu kommt, dass dieser Dichter in einer Übergangszeit lebt, in welcher der reine Idealismus der ältesten Upanishad's schon stark durch das Überwuchern realistischer Neigungen getrübt ist, wie sie schliesslich zum Sâ khyasysteme sich kristallisierten, dessen Grundbegriffe wir hier schon überall hervortreten sehen. Die Grundanschauung ist die alte Upanishadlehre geblieben, nach welcher der Âtman die einzige Realität, die Welt eine blosse Illusion, eine Mâyâ ist (vgl. S. 53, 14), aber diese Mâyâ hat sich für die Zeit und den Standpunkt unseres Dichters schon zu einer sehr konkreten Urmaterie, der Präkṛiti, verdichtet, von welcher sich loszusagen nunmehr als die höchste Aufgabe erscheint. Das fortwährende Hineinspielen von Sâ khyabegriffen[7] einerseits und des populären Theismus andererseits in die als Grundlage fortbestehende idealistische Upanishadlehre gibt dem ganzen Gedichte sein mehr das religiöse Bedürfnis als die philosophischen Anforderungen befriedigendes Gepräge.

Näher betrachtet zerlegen sich die achtzehn Gesänge in drei deutlich unterschiedene Teile, einen ethischen (I-VI), einen metaphysischen (VII- XII) und einen psychologischen (XIII-XVIII). Der ethische Teil stellt als höchste Aufgabe des Menschen das selbstlose Handeln auf, der metaphysische zeigt, dass ein solches Handeln die Einswerdung mit Gott zum letzten Ziele hat, und der psychologische Teil schildert in der Prakṛiti die hemmenden Kräfte, welche überwunden werden müssen, um dieses Ziel zu erreichen. Sonach fehlt es dem Gedichte bei aller Verschiedenheit der in ihm verarbeiteten Motive doch nicht an einem einheitlichen Grundgedanken. Wir wollen versuchen, aus der bunten Mannigfaltigkeit der hier in einander verflochtenen Betrachtungen die wesentlichsten Gedanken hervorzuheben.

Quelle:
Der Gesang des Heiligen. Eine philosophische Episode des Mahâbhâratam. Leipzig 1911, S. VI6-VIII8.
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